20 Jahre SGB IX Schwerpunkt - BAR | REHA-INFO
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Editorial 4 Schwerpunkt 20 Jahre SGB IX Gesellschaftlicher Wandel im Spiegel der Sprache 6 Vom Programmsatz zum Leistungsgesetz? Prof. Dr. Helga Seel 7 Ein Meilenstein auf dem Geschäftsführerin der BAR Weg zur Inklusion 8 Was wird im Hoch- schulbereich getan? Liebe Leserin und lieber Leser, 10 Reha-Entwicklung in unruhigen Zeiten, wie wir sie gerade durchleben, treten zurücklie- AOK Baden-Württemberg: gende Ereignisse eher in den Hintergrund. Es gilt, aktuelle Probleme Beratung im Rahmen des schnell zu lösen – da bleibt kaum Zeit und Muße für Rückbesinnung. Bundesteilhabegesetzes Wir haben uns dennoch vorgenommen, ein historisches Thema in 11 Software Easy Reading: dieser Reha-Info als Schwerpunkthema aufzugreifen. Digitale Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten Vor 20 Jahren trat das SGB IX in Kraft. Evolution oder Revolution? 12 Recht Nein, eine Revolution war es nicht – dann hätte man einer Umstruktu Zuständigkeitsklärung nach rierung des gesamten Systems der Rehabilitation den Vorzug gege- § 14 SGB IX: Mehrere Anträge ben. Ja, eine Evolution war es schon. Das Prinzip der Selbstverwaltung bei verschiedenen Reha-Trägern als Vorteil des gegliederten Systems der vier Sozialversicherungsträ- ger wurde beibehalten, das Reha-Geschehen selbst und seine Aus- Impressum gestaltung wurden weiterentwickelt. Reha-Info der BAR, Heft 2, April 2021 Einen zentralen Aspekt der Weiterentwicklung haben die Menschen Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft für mit Behinderungen selbst eingebracht. Mit „Nicht über uns, sondern Rehabilitation (BAR) e. V., Solmsstr. 18, 60 486 Frankfurt am Main mit uns“ haben die Experten in eigener Sache gefordert und durch- Verantwortlich für den Inhalt: gesetzt, dass sie über Organisationen, die auf Bundesebene die Inter- Prof. Dr. Helga Seel essen chronisch kranker und behinderter Menschen vertreten, Mitbe- Redaktion: Günter Thielgen (verantwortlich), Dr. Regina Ernst, Franziska Fink, Bernd Giraud, Dr. Teresia Widera ratungs- und Antragsrechte bekommen. Mit der Verankerung eines Rechtsbeitrag: Dr. Christiane Goldbach, Marcus Schian Rechtsanspruchs auf Förderung ihrer selbstbestimmten Teilhabe Telefon: 069/605018–0 durch Teilhabeleistungen wurde der immer wieder beklagten Wahr- E-Mail: info@bar-frankfurt.de Internet: www.bar-frankfurt.de nehmung, als Bittsteller behandelt zu werden, entgegengetreten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. (BAR) ist der Zusammenschluss der Reha-Träger. Seit 1969 fördert sie im gegliederten Sozialleistungssystem Eine lernende Gesetzgebung akzeptiert gesellschaftlichen Wandel, die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die bindet die Menschen, um die es geht, aktiv ein, nimmt Lebenssituatio- BAR koordiniert und unterstützt das Zusammenwirken der Reha-Träger, vermittelt Wissen und arbeitet mit an nen zum Ausgangspunkt der Hilfeleistung und blickt auf den ganzen der Weiterentwicklung von Rehabilitation und Teilhabe. Menschen. Mit dem SGB IX und seinen vielen neuen Regelungen hat Ihre Mitglieder sind die Träger der Gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, die Bundesagentur der Gesetzgeber das politische Ziel vorgegeben. für Arbeit, die Bundesländer, die Bundesarbeitsgemein- Es reicht nicht, neue Regeln zu beschließen. Damals wie heute gilt, schaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger dass Mitwirkungsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen, der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe, die Kassen- Beratungsdienstleistungen bis hin zu finanziellen Unterstützungsmög- ärztliche Bundesvereinigung sowie die Sozialpartner. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, lichkeiten erst dann mit Leben erfüllt werden, wenn sie genutzt werden. sind nur mit Genehmigung der BAR gestattet. Erfolg und Qualität eines Gesetzes liegen nicht in der 1:1-Umsetzung Druck: reha gmbh, Saarbrücken seiner Vorschriften, sondern in ihrer der Teilhabe von Menschen mit Druckauflage: 3.000 Exemplare Behinderung dienenden Anwendung. Schlussredaktion und Grafik: Perfect Page, Karlsruhe Jill Köppe-Ritzenthaler, Clarissa Rosemann Titelbild: Talaj (1), reeel (1), adobe stock Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre, Composing: Clarissa Rosemann Ihre Helga Seel Gedruckt auf Umweltpapier Circleoffset Premium White, FSC®-zertifiziert, Blauer Umweltengel und EU Ecolabel 2 Reha-Info der BAR | 2-2021
Tipps & Tools Foto: sdecoret, adobe stock Online-Seminar Reha-Prozess ● Fristen und Zuständigkeiten klären, Bedarfe feststellen, Teilhabe planen In diesem Online-Seminar (29. bis 30. Juni) lernen die Teilnehmenden einzelne Phasen des Reha-Prozesses kennen und in diesem Zusammenhang auch gesetz- liche Regelungen, die für die Praxis wichtig sind. Erörtert und vorgestellt werden trä- Online-Seminar ICF gerübergreifende Vereinbarungen zur Umsetzung sowie konkrete Praxis-Werkzeuge und Hilfestellungen, die die Umsetzung der Anforderungen des SGB IX erleichtern. ● Einführung in die ICF Die erworbenen Kenntnisse werden anhand von Fallbeispielen im Seminar angewen- Die Internationale Klassifikation der det und so für den Arbeitsalltag nutzbar gemacht. Außerdem gibt es in diesem Semi- Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge- nar auch genügend Raum zum trägerübergreifenden Praxisaustausch. sundheit (ICF) stellt eine akteursüber- greifende „Sprache“ zur Beschreibung von www.bar-frankfurt.de > Service > Fort-und-Weiterbildung > Gesundheitszuständen zur Verfügung. BAR-Seminare Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat die ICF eine weitere rechtliche Stär- kung erfahren und ist dadurch im Be- reich der Bedarfsermittlung und für die sozialmedizinische Begutachtung wich- tig. Für die tägliche Arbeit in den Be Reha und Teilhabe reichen Rehabilitation und Teilhabe ist die ICF damit unerlässlich. In diesem ● Verzeichnis der Ansprechstellen Online-Seminar (8. Juli) werden Grund- Die Ansprechstellen für Rehabilitation und Teilhabe bleiben auch während der lagen vermittelt, um die Klassifikation zu Corona-Pandemie durch eine telefonische oder auch digitale Informationsvermitt- verstehen und auf die eigene Berufspra- lung weiterhin erreichbar. Damit diese von Ratsuchenden gefunden und kontaktiert xis beziehen zu können. werden können, unterstützt das Ansprechstellenverzeichnis für Reha und Teilha- be mit einer unkomplizierten und regionalen Suchfunktion und ermöglicht so eine www.bar-frankfurt.de > schnelle Kontaktaufnahme. Service > Fort-und-Weiterbil- dung > BAR-Seminare Das Ansprechstellenverzeichnis finden Sie auf www.ansprechstellen.de Geschäftsbericht 2020 ● Viel geleistet trotz Pandemie gen Aufgaben der BAR notwendig sind. Das Jahr 2020 war geprägt von den Vom neuen e-Learning Angebot über Auswirkungen der Corona-Pandemie. neue Praxistools wie den Zuständig- Geschäftsbericht Manche Projekte und Vorhaben konnte keitsnavigator bis hin zu praxisnahen Ar- 2020 die BAR deshalb nicht in der geplanten beitshilfen: Der Geschäftsbericht 2020 Art und Weise angehen. Umso erfreuli- zeigt das breite Spektrum der Arbeit der cher ist es, dass trotz Einschränkungen BAR. viele Themen und Aufgaben bearbeitet BAR-Frankfurt.de | 2021 werden konnten. Insbesondere über hybride Formate und Videokonferenzen konnten viele Beratungen durchgeführt www.bar-frankfurt.de > BAR e. V. > Geschäftsbericht werden, die zur Umsetzung der vielfälti- Reha-Info der BAR | 2-2021 3
20 Jahre SGB IX Vom Objekt der Fürsorge zum selbstbestimmten Individuum Gesellschaftlicher Wandel im Spiegel der Sprache W er in den 1970er-Jahren in Viele Jahre blieb das medizinische die Argumentationskette „behindert – die Schule gegangen ist, erin- „Defizitmodell“ Normalisierungsziel und arm – hilfsbedürftig“ bedienen mussten, nert sich vielleicht noch: Die Rehabilitationsparadigma. Behinderung um ihre Ansprüche geltend zu machen. Verwendung von diskriminierenden Aus- wurde als funktionale Einschränkung Von Integration, Gleichstellung oder gar drücken wie „Hey, Du Spasti“ war gerade angesehen und mit „Leid“ gleichgesetzt Inklusion war noch lange keine Rede. auf dem Schulhof leider gang und gäbe. – dem „hilfsbedürftigen“ Menschen Auch außerhalb des rüpeligen Schulhofs mussten seitens der Gesellschaft Hilfe- Erst mit den seit Ende der 1970er- blieb der Umgang mit körperlich oder stellungen geboten werden, die ihn we- Jahre entstandenen Emanzipationsbe- geistig eingeschränkten Menschen in nigstens einigermaßen am produktiven wegungen eingeschränkter Menschen, der Regel distanziert und von Überheb- Leben teilnehmen ließen. Im Sprachge- organisiert oft in den provokant genann- lichkeit geprägt. Das lässt sich auch am brauch der Zeit hieß das dann „beschüt- ten „Krüppelgruppen“, begann sich das öffentlichen Sprachgebrauch jener Zeit zende Werkstätten“ oder „Behinderten- Bild vom Objekt sehr langsam in das festmachen, wie das Beispiel der 1964 werkstätten“. Erst 2001 mit dem SGB IX des Individuums zu wandeln. Ziele wa- gegründeten „Aktion Sorgenkind“ zeigt. hat die Bezeichnung „Werkstatt für be- ren der Abbau von Alltagsbarrieren und Ein positiver Ansatz sicherlich, der ver- hinderte Menschen“ Eingang in das So- gesellschaftliche Integration. 1981 rief suchte, das Thema „Behinderung“ in den zialgesetzbuch gefunden. Lange Zeit wur- die UNO das „Internationale Jahr der Be- öffentlich-rechtlichen Medien in den Fo- de nicht hinterfragt, dass Menschen mit hinderten“ aus, wobei aber aus heutiger kus zu stellen. Die Namenswahl spiegel- Behinderungen wie selbstverständlich Sicht die Betroffenen wiederum zu pas- te dabei aber eben auch den Umgang mit den betroffenen Menschen wider – näm- lich als bekümmerungswürdiges Objekt, nicht als eigenständiges Subjekt – und prägte damit nachhaltig die Sicht der Gesellschaft. Um bei dem Schulbeispiel zu bleiben: Was heute als „Förderschule“ bezeichnet wird, hieß früher noch Son- Foto: denys_kuvaiev, adobe stock der- oder Hilfsschule. Reha-Angleichungsgesetz (RehaAnglG) Das RehaAnglG strebt eine verbes- serte Zusammenarbeit der Reha Träger sowie ein zügiges und naht- los ablaufendes Reha-Verfahren an. Das Ziel: eine bessere Orientie- rung für Menschen mit Behinde- rungen im gegliederten System. 1974 1995 2000 2001 Schwerbehindertengesetz Soziale GKV-Gesundheits- Neuntes Buch Sozial- (SchwbG) Pflegeversicherung reformgesetz gesetzbuch (SGB IX) Das Schwerbeschädigtengesetz aus Mit dem SGB XI wird die Durch das GKV-Gesundheitsre Mit dem SGB IX, das v.a. das vor- dem Jahr 1953 wird durch das Gesetz Pflegeversicherung als neuer formgesetz werden Gesund- malige SchwbG und das RehaAnglG zur Weiterentwicklung des Schwerbe eigenständiger Zweig der Sozial- heitsförderung, Prävention ablöst, wird erstmals ein Gesetz ge- schädigtenrechts vom 24. April 1974 in versicherung eingeführt. Zugleich und Rehabilitation gestärkt, schaffen, das für alle RehaTräger ein- Schwerbehindertengesetz umbenannt wird der Grundsatz „Reha vor insbesondere die Förderung heitlich geltende Rechtsvorschriften und mit Änderungen übertragen. Pflege“ etabliert. von Selbsthilfegruppen und zur Rehabilitation und Teilhabe behin- Patientenberatungsstellen sowie derter Menschen enthält. Die Sozial Leistungsverbesserungen in der und Jugendhilfeträger werden in den Rehabilitation der GKV. Kreis der RehaTräger aufgenommen. 4 Reha-Info der BAR | 2-2021
20 Jahre SGB IX siven und dankbaren Hilfsempfängern 2003 wurde das „Europäische Jahr Normaler Umgang findet sich in den eines fürsorglichen Sozialwesens abge- der Menschen mit Behinderungen“ aus- Medien noch wenig wieder und auch in wertet wurden. gerufen. Auch hier zeigt sich der sprach- der Sprache hapert es. Ob ein Mensch liche Paradigmenwechsel im Vergleich an seiner Behinderung leidet, können Diversität im Vordergrund zu dem von der UNO 1981 ausgerufenen wir nicht beurteilen. Das ist anmaßend In den kommenden zehn Jahren aller- „Jahr der Behinderten“ sehr deutlich. Der und suggeriert die Vorstellung von Leid, dings begann sich das Bild in Politik, veränderte Umgang, das sich ändernde das der betroffene Mensch vielleicht Medien und Gesellschaft stärker zu Bild vom fürsorgebedürftigen, bemitlei- gar nicht empfindet. Und ein Rollstuhl wandeln. Seit den 1990er-Jahren löste denswerten Objekt zum eigenständi- ist kein Gefängnis, sondern in erster Inklusion die Integration ab. An Stel- gen, befähigten Subjekt hat sich Linie ein Fortbewegungsmittel, le der Integration, mit der etwas nicht 1999 mit der Umbenennung das für den Menschen auch Gleiches gleich gemacht wurde, der von „Aktion Sorgenkind“ in SGB IX Freiheit und Unabhängig- Zielpunkt also eine einheitliche Defini- „Aktion Mensch“ sprach- fördert keit bedeuten kann. tion von „Normalität“ ist, steht bei der lich prägend im kollektiven Politik- und Der Weg ist also Inklusion die Diversität im Vordergrund. Gedächtnis der bundes- Denkwandel noch weit, aber die ers- Statt Menschen auf Biegen und Brechen deutschen Gesellschaft ver- ten Schritte sind getan. In in eine Normgesellschaft zu integrieren ankert. Politik und Gesellschaft und wird nun eine von Geburt an bestehende hoffentlich auch auf dem Schul- Zugehörigkeit aufrechterhalten. Doch trotz des weiten, zuweilen hof. Die Fähigkeiten von Menschen mit Mit diesem Wechsel von einer Defizit- sicherlich schwierigen Paradigmen- Behinderungen sind nicht „besonders“, orientierung im Hinblick auf eine ver- wechsels ist das Ende des Prozesses sondern genauso vielfältig wie die von meintliche Normalität hin zur Förderung noch lange nicht erreicht. In den Medien nicht behinderten Menschen. Man kann individueller Fähigkeiten war dann auch werden eingeschränkte Menschen noch nur hoffen, dass sich der Politik- und der Paradigmenwechsel vom Objekt zum immer oft vornehmlich als hilfebedürftig Denkwandel, der vor mehr als 40 Jah- Subjekt verbunden. Dies schlug sich auch dargestellt. Oder sie werden als Ausnah- ren eingesetzt hat und vor 20 Jahren politisch nieder: 1994 wurde im Grundge- metalente aufgrund ihrer Behinderung mit dem SGB IX einen wichtigen Schub setz verankert, dass niemand aufgrund gefeiert. Als „Superkrüppel“ ironisiert der bekam, auch an der Basis niederschlägt einer Behinderung benachteiligt werden Aktivist für Inklusion und Barrierefrei- und sich als gemeinsamer Dialog in der darf, 2002 folgte das Gesetz zur Gleich- heit, Raul Krauthausen, die Darstellung Gesellschaft verankert. stellung von Menschen mit Behinderun- eines Menschen, der nicht mit, sondern gen des Bundes. Erst 2006 trat das Allge- trotz seiner Behinderung etwas Beson- meine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft. deres geschafft hat. Dieser Text basiert auf dem Beitrag von Jürgen Hohnl, Allgemeines Gleichbehandlungs- Geschäftsführer Gemeinsame gesetz (AGG) Vertretung der Innungskassen Das AGG wird umgangssprachlich auch „Antidiskriminierungsgesetz“ genannt. Das IKK e. V. in: BAR (Hrsg.): Teilhabe AGG ist das einheitliche zentrale Regelungs braucht Rehabilitation, Blicke werk in Deutschland zur Umsetzung von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien, zurück in die Zukunft, Berlin 2019 die seit dem Jahr 2000 erlassen wurden. 2002 2006 2016 Behindertengleich- Verabschiedung UN-Behinderten- Verabschiedung Bundesteilhabe- stellungsgesetz (BGG) rechtskonvention (UN-BRK) gesetz (BTHG) Das BGG regelt die Gleich- Zur vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe von Mit dem BTHG wird das SGB IX neu gestaltet, u. a. stellung von Menschen mit Menschen mit Behinderungen („Inklusion als Menschenrecht“) wird im neuen Teil 2 das Recht der Eingliederungshilfe Behinderungen im Bereich sieht die UNBRK insbesondere angemessene Vorkehrungen als aufgenommen. Weitere Neuerungen sind die Stärkung des öffentlichen Rechts spezifische auf den Einzelfall bezogene Maßnahmen vor, z. B. der Kooperation der Leistungsträger und der Koordi- (soweit der Bund zuständig die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und nierung der Leistungen zur Rehabilitation und Teilhabe. ist) und ist ein wichtiger Teil barrieren. Als Völkerrecht im Rang einfachen Bundesrechts hat Zudem soll das Verfahren der Bedarfsermittlung, der der Umsetzung des Benach- die UNBRK unmittelbare Rechtswirkungen auch in Deutschland. Zuständigkeitsklärung und der Teilhabeplanung ver teiligungsverbotes aus Art. 3 Umsetzungen erfolgen im Rahmen des Nationalen Aktions- einheitlicht werden, sodass Leistungen „wie aus einer Abs. 3 S. 2 Grundgesetz. planes (NAP) der Bundesregierung und von Aktionsplänen der Hand“ erfolgen können. Die Änderungen sollen stufen Landesregierungen sowie der Reha-Träger (z. B. DRV, DGUV). weise bis zum 1. Januar 2023 in Kraft treten. Reha-Info der BAR | 2-2021 5
20 Jahre SGB IX Vom Programmsatz zum Leistungsgesetz? Das Sozialgesetzbuch (SGB) IX im Wandel der Zeit Die ersten Jahre des SGB IX Assistenzhund verweigert werden darf. – Ein zahnloser Tiger? Der Schutz vor Gewalt, der Frauen und Vor 20 Jahren herrschte Aufbruchsstim- Kinder in Einrichtungen noch viel zu oft mung, vor allem bei den Menschen mit ausgesetzt sind, wird normiert. Die Be- Behinderungen und ihren Verbänden. treuung und die Wiedereingliederung Am 1. Juli 2001 trat das SGB IX zur „Re- von Leistungsberechtigten im Bereich habilitation und Teilhabe von Menschen des SGB II und die Teilhabechancen auf mit Behinderungen“ in Kraft. In der Be- dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt von hindertenpolitik vollzog sich damit eine Beschäftigten in den Werkstätten sollen Kehrtwende: Selbstbestimmung und wirksam verbessert werden. Teilhabe anstatt Fürsorge und Bevor- mundung. Ein einheitlicher Verfahrens- Das SGB IX auf dem Weg rahmen für alle Reha-Träger, mit moder- Dr. Annette Tabbara, LL.M ist Leiterin der zum Leistungsgesetz? nen und bürgerorientierten Aspekten, Abteilung V für Teilhabe, Belange von Kann der erste Teil des SGB IX werden, wie die Beratung durch Servicestellen, Menschen mit Behinderungen, Soziale was der zweite Teil des SGB IX bereits Entschädigung, Sozialhilfe im Bundes- die Einführung des Wunsch- und Wahl- ist? Ein Leistungsgesetz? Der Ansatz, ministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). rechts oder individuelle Formen der Grundsätze, Leistungen und Regeln Leistungserbringung, wie das persön- im Bereich von Reha und Teilhabe für liche Budget. Ähnlich hoch wie die an- Kooperation der Träger oder zur Koor- alle Menschen und Träger unter einem fänglichen Erwartungen waren in den dination von Leistungen wurden klarer Dach zu vereinen, ist und bleibt richtig. kommenden Jahren auch die Enttäu- und vor allem verbindlicher ausgestal- Teilhabe braucht Weiterentwicklung. schungen bei der tatsächlichen – als zu tet. Neben der Stärkung der Partizipa- Nur durch die Reduzierung von Spezial- langsam empfundenen – Umsetzung. tion der Leistungsberechtigten stellte die regelungen außerhalb des SGB IX, den Beobachtung des Verwaltungshandelns Abbau hemmender Divergenzen und die Mehr als ein Programm – einen weiteren Kern der Reform dar. Stärkung einheitlicher Leistungen und das Bundesteilhabegesetz Seitdem macht der Teilhabeverfahrens- Verfahren können die über 3,2 Millionen als neue Chance bericht Reha-Prozesse transparent. An- Antragsteller vom umfangreichen Teil- Seitdem hat sich viel verändert. Das hand von Zahlen, fehlenden Zahlen und habegedanken des SGB IX profitieren. Übereinkommen der Vereinten Natio- Unterschieden zeigt der zweite Bericht Wenn es um die umfassende und zügi- nen über die Rechte von Menschen mit bereits erste Optimierungsansätze auf. ge Leistungsbewilligung für Menschen Behinderungen (VN-BRK) trat 2009 in mit Behinderungen geht, dann braucht Deutschland in Kraft. Leitbild der UN- Aktuelle Entwicklungen – es ein SGB IX als gemeinsames Ver- BRK ist der Gedanke der Inklusion: Die das Teilhabestärkungsgesetz fahrens- und Leistungsgesetz – und Gesellschaft muss sich öffnen, damit Und es bleibt noch Einiges zu tun, um hoffentlich in absehbarer Zeit mit einem Vielfalt gelebt werden kann. Behindert ist Selbstbestimmung und Teilhabe im All- einheitlichen Grundantrag. man nicht, behindert wird man. Dadurch tag und am Arbeitsplatz zu verbessern. Foto: Halfpoint, adobe stock wandelte sich vor allem die Perspektive Am 3. Februar 2021 wurde das Teilha- auf die Menschen mit Behinderungen bestärkungsgesetz vom Bundeskabi- und ihre Rechte. Dies bildete das Fun- nett beschlossen, mit einer Vielzahl von dament für das Bundesteilhabegesetz, inklusionspolitischen Maßnahmen. Neu das seit 2017 stufenweise eingeführt sind Regelungen zur Begleitung von wird. Einen ersten wichtigen Meilenstein Menschen mit Behinderungen durch der Reform stellte die Neufassung des einen Assistenzhund. Diese stellen si- trägerübergreifenden Verfahrensrechts cher, dass der Zutritt zu öffentlichen im ersten Teil des SGB IX dar. Wichtige Gebäuden, Anlagen und Einrichtungen Vorschriften zur Bedarfsermittlung, zur nicht wegen der Begleitung durch den 6 Reha-Info der BAR | 2-2021
20 Jahre SGB IX Das SGB IX Ein Meilenstein auf dem Weg zur Inklusion Das „Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ (SGB IX) hat runden Geburtstag. Es wird am 1. Juli diesen Jahres 20 Jahre alt. Vorangegangen war die Ratifizie- rung der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Men- schen mit Behinderung (UN-BRK), die seit dem 26. März 2009 in Deutsch- land geltendes Recht ist. M it dem SGB IX begann im Jahr Menschen mit Behinderungen zu die- 2001 der Prozess der Umset nen. Die in § 1 SGB IX niedergelegte Ziel- zung der UN-BRK. Es ging setzung machte das Neunte Sozialge- nicht mehr um Fürsorge und Versor- setzbuch seinerzeit zu einem besonders gung für und von Menschen mit Beein- bedeutungsvollen unter den Sozialge- trächtigungen, sondern um deren volle setzbüchern. Diese Bedeutung kommt Monika Paulat, Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens dem SGB IX im Verbund mit nachfolgen- Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages e. V. und um volle Teilhabe an allen Aspekten der Gesetzgebung weiterhin zu. des Lebens, wie Artikel 26 der UN-BRK fordert. Das SGB IX setzte sich als Leis- Kritische Begleitung von tungsgesetz in § 1 die Förderung der Umsetzung und Inklusion Praxisprobleme interdisziplinär. Vertre Selbstbestimmung und der vollen, wirk- Die Geschäftsführerin der Bundesarbeits- ten sind Sozialgerichtsbarkeit, Ärzte- samen und gleichberechtigten Teilhabe gemeinschaft für Rehabilitation (BAR), schaft, Versorgungsverwaltung, Minis- am Leben in der Gesellschaft ebenso Dr. Helga Seel, hat auf dem 6. Deutschen terialverwaltungen des Bundes und der zum Ziel wie die Vermeidung und die Ab- Sozialgerichtstag am 17. November Länder, Sozialverbände. Die Mitglieder wendung von Benachteiligungen. 2016 in Potsdam die Teilhabe als einen der Kommission widmen sich auf regel- fortlaufenden Prozess auf verschiede- mäßigen internen Sitzungen mit Leiden- Ein besonders bedeutungs- nen Ebenen beschrieben; sie sei nichts schaft, Kenntnisreichtum und großem volles Gesetzbuch Abgeschlossenes mit einem Anfang A Erfahrungsschatz einem Gebiet, das zu Den Paradigmenwechsel der UN-BRK und einem Ende B. Teilhabe sei als sys- allen Sozialgesetzbüchern Bezüge hat. zeichnete das SGB IX nach, indem es tematischer Prozess zu verstehen, so Bei Workshops und den Bundestagun- sich vom rein funktionalen Begriff der sagte sie, in dem es um unmittelbar gen des DSGT tritt die Kommission mit Behinderung des seit 1974 geltenden aufeinander abgestimmte Maßnahmen der Diskussion aktueller behinderten- Gesetzes zur Sicherung der Eingliede- und Gestaltungsmöglichkeiten gehe. rechtlicher Themen in Erscheinung. rung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf Das ist wahr. Essenziell aber bleibt die So hat sich die Kommission auf dem und Gesellschaft (SchwbG) abwandte normative Verankerung, der politische 7. DSGT am 27. September 2018 im und eine körperliche, seelische, geistige und der gesetzgeberische Wille zur Re- Rahmen einer Podiumsdiskussion mit oder Sinnesbeeinträchtigung in Bezie- gelung. Der Wille zur Inklusion von Men- der Realisierbarkeit individueller Ansprü- hung setzte zum Maß der Beeinträchti- schen mit Behinderungen im Sinne der che im SGB IX auseinandergesetzt. gung gleichberechtigter Teilhabe an der UN-BRK hat in § 1 SGB IX seinen Nieder- Gesellschaft. Das SchwbG wollte zwar schlag gefunden. Das SGB IX, seine Weiterentwick- auch schon die Gleichstellung von Men- lung, die Reform der Eingliederungshilfe schen mit Behinderung und normierte Eine der Kommissionen des Deut- und natürlich das Bundesteilhabegesetz ein eigenständiges Hilfesystem. Das schen Sozialgerichtstages e.V. (DSGT) bieten in reichem Maße Stoff für die kri- SGB IX wollte die Inklusion. beschäftigt sich seit 2006 neben dem tische Begleitung der Umsetzung der Sozialen Entschädigungsrecht intensiv Gesetzgebung und vor allem der Umset- Damit hat das SGB IX im Jahr 2001 mit dem Recht der Menschen mit Behin- zung der Inklusion, die vor 20 Jahren mit einen Meilenstein gesetzt. Leistungen derungen. Die Kommissionsmitglieder der Schaffung des SGB IX in die deut- zur Teilhabe haben der Integration von erörtern rechtliche Fragestellungen und sche Gesetzgebung Eingang fand. Reha-Info der BAR | 2-2021 7
20 Jahre SGB IX 20 Jahre SGB IX – wie geht es weiter Was wird im Hochschulbereich getan? Zur Welt der Rehabilitation und Teil- habe gehören auch die Systeme der Aus- und Weiterbildung. Sie führen den Nachwuchs an das Arbeitsfeld heran und ermöglichen das berufs- begleitende Lernen der Beschäftig- ten sowohl in den Verwaltungen und Diensten der Rehabilitationsträger als auch bei den Leistungserbrin- gern. Am Beispiel der Hochschul- ausbildung der Bundesagentur für Arbeit und der Gesetzlichen Unfall- versicherung wird auf das Verhält- Prof. Dr. Silvia Keller, Prof. Dr. Edwin Toepler, nis von SGB IX und Hochschullehre Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Hochschule Bonn-Rhein-Sieg eingegangen. Mit dem „Arbeitskreis Hochschulen – Inklusion und Teil- Gesetzlichen Unfallversicherung in Bad An der Hochschule der Bundesagen- habe“ wird eine Plattform für den Hersfeld und an der kooperierenden tur für Arbeit (HdBA) zeigt sich folgendes träger- und hochschulübergreifen- Hochschule Bonn-Rhein-Sieg am Stand- Bild: Während der Bereich der Teilhabe den Austausch vorgestellt. ort Hennef angeboten wird, ist das per- von Menschen mit Behinderungen zu- sonen- und inklusionsorientierte Ma- nächst in verschiedenen Modulen der Das reformierte SGB IX aus nagement der Rehabilitation und Prä- Curricula verankert war, wurde im Zuge Sicht der Hochschulen vention an eine zentrale Stelle des Stu- der letzten Akkreditierung ein Studien- Mit der Forderung, Leistungen wie aus diums gerückt. Im Bereich Forschung schwerpunkt „Teilhabe am Arbeitsleben“ einer Hand zu erbringen, wachsen die und Transfer unterstützen die genannten für Studierende des Studiengangs „Beruf- Anforderungen an die Kompetenzen der Hochschulen die Reha-Träger bei der liche Beratung und Beschäftigung (BBB)“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Re- operativen Umsetzung von Gesetzesän- am Standort Mannheim entwickelt. Die habilitationsträger. Dies betrifft nicht derungen und der Implementation neuer Kernmodule setzen sich seitdem aus ei- nur die Fach- und Methodenkompetenz Verfahren, wie dem Fallmanagement. nem allgemeinen Grund- und einem Auf- im Hinblick auf das Leistungsportfolio, die Spezifika und die relevanten Verfah- rensabläufe der einzelnen Trägerberei- Curriculum an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg che. Es betrifft auch die Vermittlung der und der Hochschule der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung Systemkompetenz, den eigenen Zweig der sozialen Sicherung als Teil eines Ge- ➜ Systeme der sozialen Sicherung/Beziehungen der Leistungsträger Finanzierung und Leistungsgewährung andere SL-Träger, Erstattung, samtsystems zu verstehen. Die Aufgabe, Regressmöglichkeiten, ZV Dritter, Widerspruch, Klage die Versicherten auch bei trägerübergrei- ➜ Methoden (wissenschaftliches Arbeiten, IT, Management), fenden Fragen zu beraten und auf dem Heilbehandlung, Medizin Weg der Rehabilitation zu begleiten, führt ➜ Management der Rehabilitation und Prävention zu einer Weiterentwicklung des profes- Inklusion, Teilhabe, Arbeitsschutz, Prävention, Salutogenese, BGM, sionellen Selbstverständnisses der zu- Case-/Fall-/Netzwerkmanagement, ICD/Assessment-/Teilhabeplanungs-/ künftigen und gegenwärtigen Fach- und Evaluationsverfahren Führungskräfte. ➜ Psychologie, Kommunikation, Compliance Dies spiegelt sich auch in den Curricu Klinische und Organisationspsychologie, Resilienz, Krankheitsbewältigung, la wider. Im Studiengang Sozialversiche- Gesprächsführung, Compliance, Teamarbeit, Moderation rung, Schwerpunkt Unfallversicherung, ➜ Ökonomie, Unternehmensbetreuung der an der Hochschule der Deutschen 8 Reha-Info der BAR | 2-2021
20 Jahre SGB IX Foto: kasto, adobe stock baumodul (TA I und TA II) sowie einem siert, mit dem Ziel, sich in diesem Fachfo- Beispiele für die konkrete spezifischen Rechtsmodul zusammen rum regelmäßig in Lehre und Forschung Zusammenarbeit: (siehe Infokasten). Sukzessive erfolgte auszutauschen. Weitere wichtige Ziele in den letzten zwei Jahren eine curricu- sind die Förderung des inklusiven Den- regelmäßigen Fachaustausch lare Anpassung durch die Aufnahme der kens in der Gesellschaft und die Ausrich- pflegen Themenfelder Inklusion, Empowerment tung an den Bedarfen der Menschen. Forschungsprojekte entwickeln und Diversity – auf nationaler als auch Dadurch gewinnt diese hochschul- gegenseitige Gastvorträge auf europäischer Ebene. übergreifende Zusammenarbeit ins- durchführen besondere für die Studierenden eine gemeinsame Ringvorlesung und Der Arbeitskreis Hochschu- Bedeutung, indem sie sich mit anderen Fachtagung planen und umsetzen len „Inklusion und Teilhabe“ Trägerbereichen beschäftigen und Stu- Entwicklung eines gemeinsamen Im Juni 2019 hat sich der Arbeitskreis dierende anderer Trägerbereiche ken- Online-Seminars Hochschulen mit dem Titel „Inklusion nenlernen. Der Arbeitskreis steht allen Entwicklung eines BAR-Seminars und Teilhabe“ – unter der Federführung Hochschulen im Bereich der sozialen Si- für Studierende (ein Tag) der BAR und dem Forum Sozialversiche- cherung offen. Derzeit arbeiten deutsch- rungswissenschaft e. V – institutionali- landweit rund 12 Hochschulen mit. Curriculum an der HdBA, Standort Mannheim Im Studienschwerpunkt Teilhabe am Arbeitsleben im 4. und. 5. Präsenztrimester ➜ Rechtliche Aspekte bei ➜ Teilhabe am ➜ Teilhabe am Teilhabe am Arbeitsleben Arbeitsleben I (TA I) Arbeitsleben II (TA II) Rechtlicher Rahmen und recht- Beratungskonzept für Menschen Beratung und Inklusions- liche Grundlagen im SGB IX mit Behinderungen, Reha-Fall- angebote für ausgewählte Leistungen zur Teilhabe am Arbeits- management Personengruppen leben im Leistungssystem SGB III und Maßnahmenträger und Aktuelle Forschungsergebnisse SGB II einschließlich Schnittstellen rehaspezifische Maßnahmen, zum inklusiven Arbeitsmarkt wie auch Abgrenzungsfragen zu Inklusion: UN-BRK, Nationaler Interne und externe anderen Leistungsbereichen Aktionsplan Netzwerkarbeit Verfahren der Teilhabe und Zusam- Einführung in die medizinische Sucht und Krankheitsbilder menarbeit der Rehabilitationsträger, Rehabilitation und sozial- Empowerment und Diversity insbesondere Koordinierung der Leis- medizinische Gutachten Technische Hilfsmittel, tungen einschließlich Teilhabeplan Grundlagen des Betrieblichen Maßnahmenorganisation Rechtsschutz, Erstattungs- Gesundheitsmanagements und ansprüche der Träger Eingliederungsmanagements Reha-Info der BAR | 2-2021 9
Reha-Entwicklung AOK Baden-Württemberg Beratung im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes Das Ziel des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist es, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung durch mehr Teilhabe an der Gesellschaft, mehr Selbstbestimmung und mehr Möglichkeiten zur individuellen Lebens- führung zu verbessern. Durch den Abbau von bürokratischen Hürden soll die leistungsberechtigte Person einfacher und schneller ihren Bedarf an Teilhabe decken können. Ein Antrag soll ausreichen, um Rehabilitations- leistungen von verschiedenen Trägern zu erhalten, ganz im Sinne von „Leistungen aus einer Hand“. Bei der AOK Baden-Württemberg findet die Teilhabeberatung und -planung bei schwerwiegenden Erkrankungen durch staatlich anerkannte Sozialpä- dagog*innen des Sozialen Dienstes statt. Wie diese Teilhabeberatung aussehen kann, möchten wir am Beispiel von Barbara Glaser, Sozialpädagogin Herrn K. aufzeigen: bei der AOK Baden-Württemberg Herr K. wurde im Rahmen der An- alten Umfeld. Um nicht erneut rückfällig zesses kontaktiert und über den Sach- tragstellung für eine Langzeitsuchtreha- zu werden, wünscht sich Herr K., nach stand informiert. Die Suchtrehabilitation bilitation vom Sozialen Dienst der AOK der stationären Suchtrehabilitation in ein wurde bewilligt und Herr K. befindet sich Baden-Württemberg begleitet. Die Auf- betreutes Wohnen zu ziehen. Die Sucht- aktuell in der Rehabilitationsklinik. Derzeit gabe des Sozialen Dienstes ist es, durch beratungsstelle unterstützt dieses Vor- wird das betreute Wohnen geprüft sowie eine individuelle Beratung und Unterstüt- haben und teilt die Einschätzung, dass nach einem Wohnplatz gesucht, sodass zung, eine stabile Versorgungssituation ein neues Wohnumfeld für eine bleiben- Herr K. direkt nach der Maßnahme in herzustellen. Hierzu ist neben der Hilfe- de Abstinenz dringend erforderlich ist. einem geschützten Umfeld weiter an sei- stellung bezüglich bestehender Leistun- ner Krankheitsbewältigung arbeiten kann. gen und Angebote auch die Einbindung In der Beratung durch den Sozialen weiterer Leistungsträger und -erbringer Dienst der AOK Baden-Württemberg Wir als AOK Baden-Württemberg im Rahmen des Case Managements als wurde mit Herrn K. das weitere Vorge- möchten unsere Versicherten in ihrer Methode Sozialer Arbeit erforderlich. hen eingehend besprochen und seine schwierigen Lebenssituation beiseite- Motivation für eine erneute Rehabilita- stehen und bedarfsgerechte Lösungen Herr K. wurde über das freiwillige tion festgestellt. Herr K. konnte seinen finden. Dafür ist die enge und transpa- Angebot der Beratung durch den So- Leidensdruck glaubhaft schildern. Herr rente Zusammenarbeit zwischen den zialen Dienst informiert und hat dieses K. wurde im Zusammenhang mit der Leistungsträgern und -erbringern beson auch in Anspruch genommen. In einem Teilhabeberatung umfassend über die ders wichtig. Diese könnte noch bes- ausführlichen Gespräch wurde die Ge- Leistungen nach dem Bundesteilhabe- ser gelingen! Durch die transparente, samtsituation unter Berücksichtigung gesetz informiert. Die individuelle Unter- flächendeckende Benennung von An- der ICF-Dimensionen beleuchtet und stützung und die frühzeitige Einbindung sprechpartner*innen könnte bei allen gemeinsam mit ihm wurden seine Ver- des erforderlichen Leistungserbringers beteiligten Leistungsträgern schneller änderungswünsche wie ein suchtmittel- (in diesem Fall die Eingliederungshilfe) und unbürokratischer auf die Beteiligten freies Leben und weitere Ziele zu seiner standen hierbei im Vordergrund. Die Be- im Rahmen des gesetzlichen Auftrages Lebenssituation besprochen. Herr K. hat- teiligung der Eingliederungshilfe wurde zugegangen werden, damit auch die vor- te bereits eine Suchtrehabilitation absol mit Herrn K. besprochen, der dafür erfor- gegebenen Fristen eingehalten werden viert und wurde aus der Klinik in sein derliche Teilhabeplan für die Beteiligung können. Die AOK Baden-Württemberg altes soziales Umfeld entlassen. Nach gemeinsam ausgefüllt und an die Ein- wünscht sich eine Intensivierung der pro kurzer Zeit erfolgte ein Rückfall. Herr K. gliederungshilfe weitergeleitet. fessionellen, strukturierten Zusammen war zu diesem Zeitpunkt wohnungslos Im Sinne des Case Managements arbeit sowohl mit Leistungsträgern als und hatte weiterhin Kontakt zu seinem wurden regelmäßig alle Akteure des Pro- auch mit Leistungserbringern. 10 Reha-Info der BAR | 2-2021
Reha-Entwicklung Software Easy Reading Digitale Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten Immer mehr Lebensbereiche, wie Bildung, Arbeit und Freizeit, finden zunehmend online statt. Wir infor- mieren uns und kommunizieren auf vielen verschiedenen Kanälen. Durch die Corona-Pandemie wird die fortschreitende Digitalisierung weiter beschleunigt Aber auch im digitalen Raum gibt es Barrieren, die verschiedene Nutzergruppen von der digitalen Teilhabe aus- schließen. Dr. Susanne Dirks, Rehabilitations- Prof. Dr. Christian Bühler, Rehabilitations- technologie TU Dortmund technologie TU Dortmund V or allem Menschen mit Lern- dabei, Informationen besser zu lesen, zu Expertinnen und Experten in eigener Sa- schwierigkeiten werden im verstehen und zu nutzen. Jede Person che haben Menschen mit Lernschwierig- Internet mit vielen Barrieren kann selbst und zu jedem Zeitpunkt neu keiten in allen Phasen der Softwareent- konfrontiert und haben große Schwierig- entscheiden, welche Hilfen sie wann wie wicklung mitgearbeitet, da sie selbst am keiten, Informationen und Dienstleistun- verwenden will. Die Hilfen können aber besten wissen, welche Probleme auftre- gen zu nutzen. Texte sind oft nicht oder auch in einem persönlichen Profil gespei- ten und welche Unterstützung hilfreich nur teilweise verständlich und das Lay- chert werden und müssen dann nicht ist. Das Fachgebiet Rehabilitationstech- out kann verwirrend und unübersicht- neu eingestellt werden. Aktuell sind 16 nologie der TU Dortmund und die Uni- lich sein. Die Einblendung von Werbung verschiedene Hilfen verfügbar, die in drei versität Linz planen weitere Projekte, um oder sich plötzlich öffnende Fenster Gruppen eingeteilt werden können: das Programm weiterzuentwickeln und bilden weitere Barrieren. Für viele dieser für möglichst viele Menschen zugäng- Probleme gibt es derzeit keine Lösung, lich zu machen. Denn Easy Reading ist 1. Lese-Hilfen, beispielsweise das was zum Teil an fehlenden finanziellen auch für andere Zielgruppen, wie ältere Vorlesen, die Anzeige von vorhan- Ressourcen, aber auch an mangelndem Menschen, funktionale Analphabetinnen denen Übersetzungen in Leichte Bewusstsein und an fehlenden Kennt- und Analphabeten sowie Menschen mit Sprache oder das Leselineal nissen zur Erstellung barrierefreier und Migrationshintergrund eine Unterstüt- 2. Layout-Hilfen, um das Aussehen kognitiv zugänglicher Internetseiten zung für die digitale Teilhabe. der Seite zu ändern, beispielsweise liegt. Zum Beispiel wird häufig nur eine Farben, Schriftgrößen und Zeilen- Übersichtsseite in leichter Sprache er- Das Forschungsprojekt Easy Rea- abstände, das Entfernen von stellt. Diese ermöglicht jedoch nur den ding wurde von der Europäischen Union Nebeninhalten Zugriff auf bestimmte und vorausge- im Rahmen des Forschungs- und Inno- 3. Erklär-Hilfen, beispielsweise Wort- wählte Informationen und ermöglicht vationsprogramms Horizont 2020 geför- erklärungen in Form von Text oder auf diese Weise keine gleichberechtigte dert (Fördernummer 780529). Bildern, Nutzung von Symbolen zur digitale Teilhabe. Erklärung 4. Weitere Hilfen, beispielsweise Über- Hier setzt Easy Reading an: die Easy- Weitere Informationen zur setzungshilfen für Fremdsprachen Reading-Software ermöglicht eine indivi- Installation von Easy Reading dualisierte und bedarfsgerechte Verein- und über das Programm selbst fachung jeder beliebigen Internetseite. Easy Reading ist eine Software, die gibt es auf der Internetseite Die kostenlosen Hilfen der Easy-Reading- zusammen mit Menschen mit Lern- www.easyreading.eu Software unterstützen Internetnutzende schwierigkeiten entwickelt wurde. Als Reha-Info der BAR | 2-2021 11
Recht Durch die Stellung eines einzigen Antrags sollen ein bürger- naher Zugang zu den erforderlichen Sozialleistungen geschaf- fen und eine eigene gesetzliche Verpflichtung des erst- oder zweitangegangenen Trägers begründet werden. Zuständigkeitsklärung nach § 14 SGB IX: Mehrere Anträge bei verschiedenen Reha-Trägern reits einen gleichlautenden Antrag der Dabei hebt es u. a. hervor, dass im Orientierungssatz* Klägerin erhalten und am selben Tag an Verhältnis zum Menschen mit Behinde- Der zuständige Reha-Träger das Jugendamt weitergeleitet. Der Klä- rung allein durch die Stellung eines ein- nach § 14 SGB IX bestimmt sich gerin gegenüber lehnte sie die Kosten- zigen Antrags ein bürgernaher Zugang bei mehreren gleichartigen übernahme für die Autismus-Therapie zu den erforderlichen Sozialleistungen Anträgen bei verschiedenen ab, weil diese nicht als Leistung zur Teil- geschaffen und eine eigene gesetzliche Reha-Trägern nach dem zeitlich habe am Arbeitsleben erforderlich sei. Verpflichtung des erst- oder zweitange- zuerst gestellten Antrag. Im darauffolgenden Rechtstreit berief gangenen Trägers begründet werden sol- LSG Niedersachsen-Bremen, sie sich u. a. auch darauf, dass sie mit len. Diese Zuständigkeitsfestlegung wür Urteil v. 17.03.2020, Az.: L 7 AL 81/19 Blick auf die verschiedenen Anträge und de ohne ersichtlichen Grund geschwächt, * Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts Weiterleitungen im Ergebnis nicht nach wenn deren Wirksamkeit durch evtl. spä- bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell abgewandelt und gekürzt § 14 SGB IX als zweitangegangener Trä- ter gestellte Neuanträge über denselben ger zuständig geworden sei. Dieser ver- Rehabilitationsbedarf tangiert würde. fahrensrechtlichen Frage folgte das LSG Sachverhalt und im Berufungsurteil nicht. Weiterhin stellt das LSG unter Auf- Entscheidungsgründe griff der Vorgaben des BSG klar, dass für Das LSG stellt fest, dass die Agentur die Zuordnung einer Leistung zu einer B ei der 1995 geborenen Kläge- für Arbeit durch die fristgerechte Wei- Leistungsgruppe (vgl. § 5 SGB IX) vor rin besteht seit früher Kindheit terleitung des Sozialamts gemäß § 14 allem der angestrebte Leistungszweck ein Asperger-Syndrom. Bis zum Abs. 1 Satz 2 SGB IX (a. F.) als zweitan- entscheidend ist. Darauf aufbauend ord- 08.06.2017 absolvierte sie erfolgreich gegangener Reha-Träger zuständig ge- net es die Autismus-Therapie hier als Leis- eine von der Beklagten Agentur für Arbeit worden ist. Sie hatte somit unter allen tung zur Teilhabe am Leben der Gemein- geförderte Berufsausbildung und nahm rechtlichen Gesichtspunkten und nicht schaft (seit 2018: insb. Leistungsgruppe anschließend eine Teilzeittätigkeit als beschränkt auf das eigene Leistungsge- soziale Teilhabe) ein – und nicht als Leis- Küchenhilfe in einem Integrationsbetrieb setz über den Antrag zu entscheiden (st. tung zur Teilhabe am Arbeitsleben. auf. Der Jugendhilfeträger (Beigeladene) Rspr. vgl. z. B. BSG, Urt. v. 16.5.2014 014, gewährte der Klägerin ab 2010 bis 2016 Az.: B 11 AL 6/13 R). Sofern gleichartige Das rechtskräftige LSG-Urteil bietet zudem die Kosten für Therapiesitzungen Anträge bei verschiedenen Trägern zeit- eine Lösung für die praxisrelevante Kon- in einem Autismus-Therapie-Zentrum nah eingehen, kommt es im Rahmen stellation, dass mehrere gleichlautende als Eingliederungshilfe; zunächst nach des § 14 SGB IX laut LSG darauf an, Anträge bei verschiedenen Reha-Trägern § 35a SGB VIII und anschließend als welcher Antrag zuerst gestellt (hier: der gestellt werden. Die dabei vom LSG als Hilfe für junge Volljährige gemäß §§ 41, am 06.05.2016 beim Sozialamt gestellte maßgeblich herangezogenen Ziele der 35a, 39 SGB VIII. Antrag), und nicht, welcher Antrag zuerst Regelung des § 14 SGB IX haben sich Am 06.05.2016 stellte die Klägerin weitergeleitet wurde. Das LSG begründet auch nach dem 1.1.2018 nicht geändert, beim Sozialamt (Beigeladene) einen An- seine Ansicht vor allem mit der Entste- sie sind vielmehr durch das BTHG noch- trag auf Übernahme der Kosten für die hungsgeschichte sowie Sinn und Zweck mals unterstrichen worden.. Autismus-Therapie (ab Vollendung des des § 14 SGB IX (a. F.). 21. Lebensjahres). Das Sozialamt ordne- te den Antrag der Teilhabe am Arbeits- leben zu und leitete ihn am 12.05.16 an die Agentur für Arbeit (Beklagte) weiter. Lesen Sie in der nächsten Ausgabe: Die Beklagte hatte am 11.05.2016 be- Corona und Reha Erscheinungstermin: 15.6.2021
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