4/2021 61. Jahrgang - Hessisches Pfarrblatt

 
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61. Jahrgang                                                                   D 1268 F

               Hessisches Pfarrblatt
4/2021

                                       Zweimonatsschrift für Pfarrerinnen und Pfarrer
                                          aus Hessen-Nassau und Kurhessen-Waldeck

                                                                       Aus dem Inhalt:

                                                         Editorial: Neue Redaktion 130

                                                                   Spendenaufruf 131

                                         Perspektive: Leitung in Politik und Kirche 133

                                                        Einblick: Vom Osten lernen 138

                                                                     Einladungen 152

                               zum Inhaltsverzeichnis
Wo kämen wir hin,                              diesem Jahr geworden. Diese Worte sind
EDITORIAL

             wenn alle sagten, wo kämen wir hin,            gleichsam die Leitsätze der neuen Re­
             und keiner ginge, um zu sehen,                 daktion des Hessischen Pfarrblattes. Was
             wohin wir kämen,                               heißt neu: Bis dato gab es eine solche nie,
             wenn wir gingen.                               nur immer einen sogenannten Schrift­
                                                            leiter. Wir gehen einen neuen Weg und
             Hundert Jahre wäre der Schweizer Pfarrer,      haben jetzt einen Redaktionsleiter und
             Schriftstellers und Lyriker Kurt Marti in      eine vierköpfige Redaktion.

             Liebe Leserin, lieber Leser,
             nach 60 Jahren, so alt ist das Hessische       Doppelpunkt jetzt die Regel ist. Sie bezieht
             Pfarrblatt, eine Publikation der beiden        in Personenbezeichnungen auch nicht­
             hessischen Pfarrvereine, ist es an der Zeit,   binäre, diversgeschlechtliche Personen
             sich veränderten Bedürfnissen der Pfar­        ein. Mit der Ausgabe im November er­
             rer:innen und deren Lesegewohnheiten           scheint dann ein evangelisches Magazin
             anzupassen: Inhaltlich, optisch, sprach­       für Pfarrer:innen: attraktiver, bunter und
             lich. Das ist die Überzeugung der Heraus­      inhaltlich hilfreicher für die Mitglieder.
             geber, des Beirates, der Redaktion.            Seien Sie in gespannter Erwartung!
                Die Anforderungen an ein Blatt wie
             dieses haben sich schon seit langem ver­
             ändert. Es soll, so die Wünsche vieler Kol­    Diese Redaktion arbeitet für Sie:
             leg:innen, „moderner, farbiger, bissiger,
             anregender, genderkonformer, diskursi­         Pfarrerin Bettina von Haugwitz,
             ver“ werden. Veröffentlichte Artikel aus       (Hasselroth / EKKW):
             der Theorie sollen durch welche aus der          Auch nach über 20 Jahren immer noch
             Praxis ergänzt werden. „Warum kommen             nicht beim „weniger ist mehr“ ange-
             weniger Themen vor, die Pfarrkolleginnen         kommen, trotzdem zuversichtlich beim
             beschäftigen?“. „Warum finden unser Be­          fröhlichen Miteinander. Den eigenen
             rufsalltag nur wenig Widerhall im Blatt?“        Horizont erweitern und sich auf Neues
             „Welche Zukunft hat die Evangelische             einlassen, so könnte es gehen!
             Kirche angesichts der Ökumene und der
             ständig steigenden Austritte?“ Heraus­         Vikar Leroy Pfannkuchen
             fordernde Fragen und Aufgaben für die          (Langen-Bergheim / EKHN):
             Redaktion!                                       Leroy Pfannkuchen! Gut, jetzt wo ich
                Diese und auch die kommende Aus­              Ihre Aufmerksamkeit habe: Ich vertrete
             gabe des Hessischen Pfarrblattes werden          die (junge) Stimme für die Pfarrgene-
             den vergangenen noch ähneln. Dennoch             ration von Morgen. Vielen Dank. Sie
             haben wir begonnen, das Blatt bereits            dürfen sich jetzt wieder über meinen
             leicht zu verändern: Ihnen wird aufffal­         Nachnamen wundern.
             len, dass die gegenderte Schreibweise mit

            130   HPB 4 | 2021                zum Inhaltsverzeichnis
Pfarrerin i.P. Verena Reeh (Mücke / EKHN):      gen zu Kommunikation und Ästhetik,
  Mit Sommersprossen einen aufmerk-             Information und Esprit, Engagement
  samen Blick für die Schattenseiten des        und Neugier. Und dem Evangelium
  Lebens. Die Sonnenstrahlen auf dem            verpflichtet!
  Rad genießen um Wärme im Herzen zu
  bewahren – auch wenn’s regnet.               Gerne erwartet die Redaktion Ihre Mei­
                                               nung, Anregung, Kritik oder An­erkennung.
Pfarrer i.R. Wolfgang H. Weinrich
(Darmstadt / EKHN):                            Bleiben Sie stark und behütet
  Kurt Martis Worte gelten! Also machen        Ihr
  wir uns auf! Mit dabei stets Überlegun-                           Wolfgang H. Weinrich

                                        U

Flutkatastrophe

                                                                                              SPENDENAUFRUF
Unterstützung nach dem verheerenden Hochwasser
Es ist eine der schwersten Unwetter-Ka­        rungsarbeiten werden Monate und vieler­
tastrophen in der Geschichte der Bundes­       orts Jahre dauern.
republik Deutschland: Nach aktuellen An­          Wichtig ist es jetzt, die lokalen Helfe­
gaben sind knapp 180 Menschen bei den          rinnen und Helfer weiter zu unterstützen,
Überschwemmungen in Rheinland-Pfalz            um den Menschen Trost und Mut zu spen­
und Nordrhein-Westfalen ums Leben ge­          den, die durch die Unwetter-Katastrophe
kommen. Auch Bayern ist vom Unwetter           am schwersten betroffen sind. Mit einer
schwer getroffen. Dank der großen Spen­        Spende wird besonders denjenigen gehol­
denbereitschaft können die evangelische        fen, die jetzt vor dem Nichts stehen.
Kirche und die Diakonie in einem ersten
Schritt nun vier Millionen Euro für die Be­
troffenen bereitstellen. Die evangelischen
Kirche im Rheinland und der Diakonie
Rheinland-Westfalen-Lippe rufen weiter
zu Spenden auf.
   Um die Schäden zu reparieren, die
die Flut angerichtet hat (s.a. S. 4), werden   Evangelische Bank
schätzungsweise bis zu fünf Milliarden         IBAN: DE68520604100000502502
Euro nötig sein. Die Aufräum- und Sanie­       BIC: GENODEF1EK1

                                 zum Inhaltsverzeichnis                  HPB 4 | 2021   131
Juli 2021.
                                                    Hochwasserschäden
                                                     in Bad Münstereifel;
                                                   Nordrhein-Westfalen
                                                              Copyright:
                                                          Diakonie RWL/
                                              Diakonie Katastrophenhilfe

132   HPB 4 | 2021   zum Inhaltsverzeichnis
Leitung in Politik und Kirche.

                                                                                               THEMA
Überlegungen in einem Wahljahr
Dr. Eberhard Pausch, Studienleiter für Religion und Kirche,
Evangelische Akademie Frankfurt

Für das Bundesland Hessen ist das Jahr          danach, welche Personen staatliche oder
2021 ein Jahr der Wahlen: Im März waren         kirchliche Führungsämter wahrnehmen
Kommunalwahlen, am 26. September                sollen. Grundsätzlich sind Wahlverfahren
2021 wird ein neuer Bundestag gewählt           rein autoritären oder rein kontingenten
werden. Bereits jetzt steht fest, dass Bun­     Entscheidungen vorzuziehen. Die Ge­
deskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach           schichte von Staat und Kirchen hat aller­
16 Jahren ihr Amt abgeben wird – an eine        dings auch gezeigt, dass nicht jede Wahl
Nachfolgerin oder einen Nachfolger.             – sie mag noch so gewissenhaft demo­
In der Evangelischen Kirche in Hessen           kratisch durchgeführt worden sein – zu
und Nassau (EKHN) werden in diesem              einem guten Ergebnis geführt hat. Des­
Jahr zunächst die Kirchenvorstände ge­          halb ist es zum Beispiel wichtig, dass Lei­
wählt, danach die Dekanatssynoden und           tungsämter grundsätzlich auf Zeit ver­
schließlich die Kirchensynode als höchs­        geben werden – und nicht auf Lebenszeit.
tes, maßgebendes Organ dieser Kirche.           So kann ein System, in dem eine Wahl zu
Leitung muss neu konstituiert werden, in        einem für das System oder seine Umwelt
der großen Politik und in der hessen-nas­       problematischen Ergebnis geführt hat,
sauischen Kirche.                               prinzipiell dieses Ergebnis korrigieren.
   Wenn Leitungspersonen weder durch            Demokratien und Laokratien, in denen
Erbfolge noch durch autoritäre Festlegun­       Selbstkorrekturen möglich sind, können
gen noch durch Zufallsverfahren (etwa           daher zu Recht als „fehlerfreundliche Sys­
das Losverfahren, immerhin gut biblisch         teme“ bezeichnet werden. Man denke hier
bezeugt (vgl. Apg 1, 23 — 26) bestimmt          nur aktuell an das Beispiel Donald Trump
werden sollen, dann müssen sie gewählt          – auch wenn dessen im Jahr 2020 erfolgte
werden. Für die evangelischen Christ:in­        Abwahl die Gefahr für die amerikanische
nen in der EKHN und für die Bürger:innen        Demokratie noch nicht beseitigt hat. Denn
unseres Staates heißt das: Sie dürfen und       Trump erweist sich gleichsam als ein
sollten wählen gehen.                           „Black Hole“, das den US-amerikanischen
                                                Konservativismus in sich aufsaugt und so
                                                zerstört.
Wählen gehen!                                      Dass eine (Aus-) Wahl zwischen meh­
                                                reren Kandidat:innen getroffen werden
Wahlen erfolgen (im Falle des Bundesta­         kann, sollte Standard in Demokratien sein.
ges) auf demokratischem Wege durch die          Aber kein noch so fair und gerecht durch­
„Basis“ einer Gesellschaft oder (im Falle       geführtes Wahlverfahren garantiert, dass
der EKHN) als laokratische Wahlen durch         der oder die bestgeeignete Kandidat:in
die Kirchenmitglieder. Parlamente oder          am Ende die Mehrheit der Stimmen erhält
Synoden (oder die von diesen eingesetz­         und tatsächlich gewählt wird. Dafür gibt
ten Gremien und Ausschüsse) bestimmen           es in Politik und Kirche (leider) ausrei­

                                 zum Inhaltsverzeichnis                   HPB 4 | 2021   133
chend bis reichlich Belege. Die schreck­      Ein Blick in die Geschichte
 lichsten und beschämendsten Beispiele
 bieten die (noch unter relativ demokrati­     Helmut Schmidt , der schon zu Schulzei­
 schen Rahmenbedingungen) stattgefun­          ten durch seine hohe Begabung auffiel,
 denen Wahlen des Jahres 1933, die Adolf       hat als Bundeskanzler auf der Grundlage
 Hitler als Reichskanzler bestätigten und      seiner sittlichen Prinzipien pragmatisch
 den Protagonisten der Bewegung „Deut­         zum Wohle der Bundesrepublik gehan­
 sche Christen“, Ludwig Müller (1883–1945),    delt, innenpolitisch den Terrorismus der
 in das Amt des „Reichsbischofs“ („Reibi“)     RAF besiegt und außenpolitisch durch
 beförderten.                                  die Implementierung des „NATO-Dop­
    Im Blick auf Eignung, Kompetenz und        pelbeschlusses“ von 1979 zur Wahrung
 Qualifikation hat auch die Geschichte der     des Weltfriedens beigetragen. Auch seine
 Bundesrepublik seit den späten 1940er         zahlreichen brillanten Analysen zu Poli­
 Jahren eine Reihe von nicht sehr rühm­        tik, Ökonomie und Geschichte und seine
 lichen Beispielen aufzuweisen: Es ist si­     philosophischen Reflexionen verdienen
 cherlich nicht hilfreich, wenn eine Person    höchste Beachtung. Dazu kam eine Be­
 das Verteidigungsministerium führt, die       scheidenheit, die ihn im hohen Alter von
 zuvor niemals mit Fragen von Frieden          sich sagen ließ, er sei ja allenfalls ein „Ek­
 und Sicherheit zu tun hatte, oder wenn        lektiker“ gewesen. Aber im Gegensatz zu
 eine Person Gesundheitsminister:in wird,      vielen anderen Spitzenpolitikern hatte er
 die keinerlei Kenntnisse und Erfahrung        Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“, Kants
 in medizinischen Zusammenhängen be­           Schrift „Vom ewigen Frieden“ und Poppers
 sitzt, oder aber wenn jemand als Außen­       Werk „Die offene Gesellschaft und ihre
 minister wirken soll, der keine Fremd­        Feinde“ gelesen, offensichtlich verstanden
 sprache spricht. Kaum nachvollziehbar         und in seinem politischen Wirken erkenn­
 ist es überdies, wenn ein amtierender         bar umgesetzt.
 Wirtschaftsminister nach fünfmaliger             Angela Merkel war „Klassenbeste im
 Nachfrage durch einen Reporter die Frage      Sozialismus“ (Gerd Langguth), absolvierte
 nicht beantworten kann, wie viele Nullen      ihr Physikstudium mit „sehr gut“ und
 eine Milliarde aufweist! Dies alles ist in    schloss auch ihre Dissertation 1986 sehr
 der jüngeren Geschichte vorgekommen           erfolgreich ab. Man könnte meinen, diese
 – übrigens in vergleichbarer Weise auch       Qualifikationsbausteine seien nicht von
 in der Geschichte der (evangelischen)         Bedeutung für das Amt einer Bundes­
 Kirche!                                       kanzlerin. Für Angela Merkel waren sie
    Gott sei Dank gibt es auch positive        das zweifellos. Ihre naturwissenschaft­
 Beispiele. Vergleicht man etwa die Bun­       lichen Kenntnisse und ihre Erfahrun­
 deskanzler:innen der Bundesrepublik           gen als Umweltministerin im Kabinett
 Deutschland unter dem Gesichtspunkt           Helmut Kohl in den 1990er Jahren be­
 ihrer Intelligenz und Qualifikation, so mag   reiteten mit großer Wahrscheinlichkeit
 man aus heutiger Perspektive vielleicht       ihre Entscheidung zum endgültigen Aus­
 urteilen: Es gab/gibt mindestens zwei he­     stieg aus der Kernenergie im Jahr 2011
 rausragende Personen im Kanzleramt,           nach der Katastrophe von Fukushima vor.
 nämlich Helmut Schmidt (1918–2015) und        Und ihre mathematische Kompetenz er­
 Angela Merkel (geb. 1954).                    möglichte ihr bereits in einem frühen

134   HPB 4 | 2021               zum Inhaltsverzeichnis
Stadium der Corona-Krise, im Frühjahr        men gelten. Es mag sein, dass derart be­
2020, die große Gefahr zu erkennen, die      gründete Verdachtslagen – abgesehen
von einem exponentiellen Wachstum im         von offensichtlichen politischen Affären
Blick auf die Ausbreitung dieser Krank­      (SPIEGEL-Affäre, Starfighter-Affäre) – den
heit ausging. Vermutlich hat diese Kom­      unzweifelhaft intelligenteren Politiker
petenz vielen Menschen in unserem Land       Franz-Josef Strauß (1915–1988) im Duell
das Leben gerettet. Dagegen ist es pro­      der Spitzenpolitiker der CDU/CSU um die
blematisch, dass eine Reihe von Minis­       Kanzlerschaft mit seinem langjährigen Ri­
terpräsident:innen die Problematik des       valen Helmut Kohl (1930–2017) seinerzeit
exponentiellen Wachstums nicht ver­          erheblich benachteiligten. Andererseits
standen und zu bestimmten Zeitpunk­          gab es in der CDU in der Ära Kohl eine
ten notwendige Regierungsmaßnahmen           ganze Reihe von Personen, die zweifellos
blockierten oder in ihrer Wirksamkeit        einen integeren Charakter sowie höhere
einschränkten.                               Intelligenz und höhere Kompetenzen auf­
   Auf die Kanzler:in kommt es also an –     zuweisen hatten als der langjährige Bun­
und im Blick auf das Kanzleramt also sehr    deskanzler – und die dennoch nicht zum
wohl auf Eignung, Kompetenz und Quali­       Zuge kamen (exemplarisch: Heiner Geiß­
fikation. Im Vorfeld der Bundestagswah­      ler, Gerhard Stoltenberg, Rita Süßmuth).
len 2021 stehen vor allem drei Personen      Es sind nicht immer die Besten, die an der
als Kanzlerkandidat:innen im Mittelpunkt     Spitze stehen!
des öffentlichen Interesses: Armin La­          Ein hoher Intelligenzquotient (IQ) als
schet (geb. 1961) von der CDU, Annalena      solcher ist in aller Regel keine hinrei­
Baerbock (geb. 1980) von Bündnis 90/Die      chende Bedingung dafür, in ein bestimm­
Grünen und Olaf Scholz (geb. 1958) von       tes Amt gewählt zu werden – manchmal
der SPD. Wer am Ende siegen wird hängt       auch keine notwendige Bedingung. Denn
sicherlich von einer Reihe von Fakto­        ginge es nach dem IQ, müsste heute nicht
ren ab: von der „politischen Großwetter­     Wladimir Putin (geb. 1952) russischer Prä­
lage“, von den Grundwerten der zur Wahl      sident sein, sondern vielleicht Garri Kas­
stehenden Parteien, von den konkreten        parow (geb. 1963). Der ehemalige Schach­
Wahlprogrammen, von taktischen Erwä­         weltmeister (1985–2000), IQ: 180, hatte
gungen von Wähler:innen und von einer        sich in den 2000er Jahren in Russland um
Reihe weiterer Faktoren. In Teilen aber      das Präsidentenamt beworben. Er wurde
wohl auch von der persönlichen Integri­      auf Geheiß der Regierung in ein Gefäng­
tät und Leistungsfähigkeit des/der Kandi­    nis verbracht, seine Kandidatur dadurch
dat:in – besser gesagt davon, wie die Wäh­   verunmöglicht. Das russische Volk nahm
ler:innen diese einschätzen.                 dies leider hin, statt die Chance zu er­
   Denn eines sollte feststehen: Ein ver­    greifen, einen genialen, weiträumig den­
brecherischer oder korrupter Charakter       kenden und nahezu universal gebilde­
ist ein absolutes Ausschlusskriterium.       ten Menschen zum Regierungschef zu
Nicht immer kann einem Menschen zwei­        bekommen.
felsfrei ein gesetzeswidriges Verhalten         Verlassen wir die Geschichte und
nachgewiesen werden. Wenn jedoch ein         fragen wir grundsätzlich: Welche Qualitä­
begründeter Verdacht besteht, sollten        ten sollten Personen besitzen, die in hohe
zumindest erhöhte Vorsichtsmaßnah­           Leitungsämter gelangen möchten?

                               zum Inhaltsverzeichnis                 HPB 4 | 2021   135
Philosoph:innen sollten „herrschen“            gewesen. Befürwortet wurde es von
                                                Plotin, Leibniz, Hans Jonas. In der Gegen­
 Eignung, Kompetenz und Qualifikation           wart sind Verfechter des Theorems Vit­
 können mit Fachlichkeit verbunden sein.        torio Hösle (geb. 1960), Jason Brennan
 Aber wichtiger noch ist: Leitungsperso­        (geb. 1979) und der bereits zitierte Alain
 nen müssen die Expertise von Fachleu­          Badiou.
 ten erkennen und annehmen können.                 Der Systematische Theologe Wilfried
 Ihre Kompetenz und Qualität muss also          Härle hat in seiner 2011 erstmals erschie­
 darin bestehen, ihre eigenen Grenzen zu        nenen „Ethik“ Platons Theorem einer
 kennen und die Kompetenzen und Qua­            gründlichen Prüfung unterzogen und
 litäten anderer wahrnehmen und in ihr          kommt zu einem kritischen Urteil: Das
 eigenes politisches Handeln integrieren        Theorem trage totalitäre Züge und sei
 zu können. Genau dies würde ihre Eig­          überdies durch Platons eigenes, im Spät­
 nung für ein Leitungsamt ausmachen.            werk der „Nomoi“ überliefertes Konzept
    Diese generelle Eignung oder Kompe-         überholt worden. Die Gefahr des Totalita­
 tenzen-Kompetenz kann man die philo­           rismus wird man in der Tat nicht unter­
 sophische nennen. Leitungspersonen             schätzen dürfen. Aber ist sie nicht – in
 müssen – so die These Platons – Phi­           allen Systemen – gegeben, wenn inkom­
 losoph sein. Der französische Philo­           petente und/oder bösartige Personen
 soph Alain Badiou (geb. 1937) hat Platons      die Leitungsfunktionen ausüben? Pla­
 Schlüsselthese aus der „Politeia“ wie folgt    tons große Enttäuschung war, dass die zu
 übersetzt: „In allen Ländern müssen es         seiner Zeit existierende athenische De­
 Philosophen sein, die die Leitungsfunk­        mokratie einen Menschen wie Sokrates
 tionen innehaben. Oder umgekehrt, dass         zum Tode verurteilte – nicht nur aus Pla­
 die, die berufen sind, die Leitungsfunk­       tons Sicht ein absolutes Fehlurteil.
 tionen auszuüben […].“ Worin des Nähe­            Sein Theorem lässt sich daher auch als
 ren die Eignung zur Philosoph:in besteht,      ein Vorschlag lesen, wie Demokratie wei-
 erläutert Platon anhand von vier Eigen­        terentwickelt werden kann: indem genau
 schaften und der Bezogenheit auf vier Tu­      solche Personen Leitungsverantwortung
 genden: Philosoph ist man, „… wenn man         übertragen bekommen, die „gedächt­
 von Natur gedächtnisstark, belehrbar,          nisstark, belehrbar, hochsinnig, gesittet“
 hochsinnig, gesittet, wenn man der Wahr­       und „der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der
 heit, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der   Tapferkeit, der Besonnenheit verwandt
 Besonnenheit verwandt und innerlich            und innerlich verknüpft“ sind. Dass dies
 verknüpft ist“.                                auch in Demokratien nicht automatisch
    Sollten also Philosoph:innen herr­          geschieht, hat die Geschichte bewiesen.
 schen? Diese Diskussion wird seit Platon       Daraus folgt mindestens zweierlei: (1) Alle
 bis in die Gegenwart geführt, und in           wahlberechtigten Personen tragen eine
 diesem Sinne kann alle Philosophie nach        hohe Verantwortung, wenn sie ihre Wahl­
 Platon tatsächlich als „footnotes to Plato“    entscheidung treffen müssen. (2) Demo­
 (Whitehead) verstanden werden. Gegner          kratien müssen „fehlerfreundlich“ einge­
 dieses „Philosoph:innenherrschafts-Theo-       richtet werden. Sollten Philosoph:innen
 rems“ (wie ich es nenne) sind so große         aber nicht nur in Staaten, sondern auch in
 Geister wie Aristoteles, Kant und Popper       den christlichen Kirchen herrschen? Ant­

136   HPB 4 | 2021                zum Inhaltsverzeichnis
wort: Was kann es den Kirchen schaden,          deren, sondern die Ausübung des der
wenn sie von Personen geleitet werden,          ganzen Gemeinde anvertrauten und
die „gedächtnisstark, belehrbar, hochsin­       befohlenen Dienstes.“
nig, gesittet“ und „der Wahrheit, der Ge­     – Gläubige Philosoph:innen werden sich
rechtigkeit, der Tapferkeit, der Besonnen­      somit als Personen verstehen, die zu
heit verwandt und innerlich verknüpft“          einem Dienst an Menschen und der
sind?                                           Welt im Auftrag Gottes berufen sind.
                                                Ihre spezifische Dienstleistung besteht
                                                darin, dass sie teilhaben an dem Pro­
Gläubige Philosoph:innen                        zess der Auslegung der christlichen
                                                Lehre. In Wilfried Härles Worten: „Lei­
Allerdings muss im Blick auf „Leitung in        tung und Führung in der evangelischen
der Kirche“ eine Bedingung erfüllt sein,        Kirche erfolgen durch Auslegung der
die nicht schon im Begriff und Gedan­           Lehre, in der die Kirche das Evangelium
ken der Philosophie selbst enthalten ist:       von Jesus Christus so, wie es sich ihr als
Leitung in der Kirche muss durch gläu-          wahr erschlossen hat, unter wechseln­
bige Philosoph:innen geschehen, also            den geschichtlichen und sozialen Be­
durch Philosoph:innen, die dem christli­        dingungen als mit sich identisches, ver­
chen Glauben verbunden, ja, von ihm er­         lässliches Wort Gottes bezeugt.“
füllt und bestimmt sind. Glaube lässt sich    – Gläubige Philosoph:innen sind somit
leider nicht von außen wahrnehmen oder          mit der Auslegung der christlichen
prüfen, wie Befähigungen in der Mathe­          Lehre befasst und dienen dadurch
matik oder in Fremdsprachen. Aber fol­          Gott und den Menschen. Wer mit Aus­
gende Gesichtspunkte könnten hilfreich          legungsprozessen zu tun hat, weiß
sein, um Philosoph:innen als Glaubende          darum, dass er/sie sich im Vollzug von
auszuweisen:                                    Auslegung irren kann. Denn alle Men­
                                                schen sind irrtumsfähig. Nun mag es
– Leitungspersonen in der Kirche sind           zwar zutreffen, dass Philosoph:innen,
  gerade nicht als „Herrschende“ zu ver­        also ausgesprochen gedächtnisstarke,
  stehen, sondern als Menschen, die an­         belehrbare und der Wahrheit verpflich­
  deren Menschen und der Kirche ins­            tete Menschen, sich etwas weniger irren
  gesamt dienen wollen: „Da rief Jesus sie      als andere. Aber sie sind und bleiben
  zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst,       bei aller Offenheit für die Wahrheits­
  die als Herrscher gelten, halten ihre         erkenntnis zugleich auch irrtumsfähig.
  Völker nieder, und ihre Mächtigen tun         Das hat für sie selbst die doppelte Folge,
  ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter         dass sie offen und demütig sein sollten
  euch nicht; sondern wer groß sein will        und so hoffentlich vor der Hybris be­
  unter euch, der soll euer Diener sein …“      wahrt werden, sie seien jederzeit schon
  (Markus 10, 42f). Von diesem Gedanken         im Besitz der Wahrheit.
  ist auch die 4. These der Barmer Theo­      – Es hat für die evangelische Kirche als
  logischen Erklärung aus dem Jahr 1934         soziales System die Folge, dass sie sich
  bestimmt. In ihr heißt es: „Die verschie­     im Geist der Fehlerfreundlichkeit or­
  denen Ämter in der Kirche begründen           ganisieren sollte. Das heißt, sie sollte
  keine Herrschaft der einen über die an­       damit rechnen, dass sie selbst und alle

                                zum Inhaltsverzeichnis                  HPB 4 | 2021    137
ihre Mitglieder einschließlich der Per­    Demokratie und Laokratie durch Philo­
                 sonen, die in ihr Leitungsfunktionen       soph:innen geschehen, also durch Men­
                 ausüben, sich irren können. Die evan­      schen, die „gedächtnisstark, belehrbar,
                 gelische Kirche wird daher keine „un­      hochsinnig, gesittet“ und „der Wahrheit,
                 fehlbaren“ Dogmen aufstellen oder          der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Be­
                 akzeptieren, und sie tut gut daran, in     sonnenheit verwandt und innerlich ver­
                 der Auslegung der ihr vorgegebenen         knüpft“ sind. Innerhalb des Systems
                 Lehre zu jeweils offenen, überprüfba­      Kirche sollten dies gläubige Philosoph:in­
                 ren und auch revidierbaren Urteilen zu     nen sein. Mögen die anstehenden Wahlen
                 gelangen.                                  in Kirche und Gesellschaft viele solcher
               Summa: Leitung in Politik und Kirche         Menschen in verantwortliche Positionen
               sollte in fehlerfreundlichen Systemen wie    bringen.

                                                     U

               Vom Osten lernen
AUSSENBLICK

               Pfarrer Frank Wendel, Doberlug-Kirchhain
               (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz)

               Fünf Jahre bin ich als Pfarrer der Evan­     zu feiern, Besuche zu machen und neben­
               gelischen Kirche in Hessen und Nassau        her Tiere zu halten. Es war allerdings ganz
               beurlaubt zum Pfarrdienst in der Evan­       anders, als ein Wechsel innerhalb der
               gelischen Kirche Berlin-Brandenburg-         eigenen Landeskirche. Ich empfand alles
               schlesische Oberlausitz. Nun sind schon      als fremd (so sehr, dass ich im ersten Jahr
               drei Jahre vergangen und ich möchte bi­      öfter an meinem Beschluss herzukom­
               lanzieren, was ich eventuell nach dieser     men, zweifelte). Auf zwei Aspekte möchte
               Zeit in Hessen verwenden könnte. Ich         ich besonders eingehen:
               glaube, dass manche Entwicklungen, die        1) Eine weitgehend säkularisierte Um­
               hier schon länger im Gang sind, zeitverzö­       welt. Das wusste ich theoretisch schon
               gert im Westen ankommen werden. Daher            vorher. Aber wirklich zu erleben, was
               sind meine Skizzen vielleicht auch für           es bedeutet, wenn nur ca. 20% der
               manche Kolleg:innen interessant.                 Bevölkerung einer Kirche oder einer
                                                                anderen religiösen Gemeinschaft an­
                                                                gehören, ist eine nachhaltig verstö­
               Alles ist anders                                 rende Erfahrung. Denn diese Art von
                                                                Diaspora ist anders als ich sie kannte.
               Im Sommer 2018 kam ich in die Nieder­            Selbst    die    Minderheitensituation
               lausitz, mit dem Gedanken, mich auf einer        unserer oberhessischen Partnerkirche
               beschaulichen Landpfarrstelle neu zu             in Indien ist im Blick auf die Sprach­
               orientieren, Gottesdienste und Kasualien         fähigkeit der nichtchristlichen Umge­

              138   HPB 4 | 2021              zum Inhaltsverzeichnis
bung viel komfortabler, weil die Men­        und am Ende an einer Segnungsfeier in
   schen dort eben fast alle religiös sind      unserer Kirche teilnimmt. Auch in dieser
   und ein gemeinsames Grundverständ­           Gruppe kommt immer noch eine „Hand­
   nis von Spiritualität, Gottesglaube, reli­   voll“ Jugendlicher zusammen, die sich
   giösen Ritualen und Feiertagen haben.        dann doch für Taufe und Konfirmation
2) Ein klareres Profil der wenigen              im Rahmen dieser schulischen Feier ent­
   Christ:innen (auch in ökumenischer           scheiden. Diese schulische Verortung
   Hinsicht) und damit verbunden auch           analog zur Jugendweihepraxis in früheren
   ein engerer Zusammenhalt, als ich es         Zeiten, ist ein bewährtes Konzept in eini­
   gewohnt war.                                 gen Gemeinden in den neuen Bundeslän­
                                                dern. Aber zumindest in unserer Region
                                                hat auch dieser niedrigschwellige Konfir­
Die Umwelt                                      mandenunterricht keine echte Trendum­
                                                kehr in der Gesellschaft ausgelöst.
Hier feiern Jugendliche bekanntlich
immer noch „Jugendweihe“, nicht Konfir­
mation. Tatsächlich nehmen hier in der          Pfarrer:innen werden als öffentliche
Kleinstadt, in der ich lebe und arbeite,        Personen nicht wahrgenommen
mehr als 80% eines Jahrgangs an einer
zentralen Jugendweihefeier teil. Zuletzt        Der Pfarrer, die Pfarrerin ist hier nicht
2019, vor der Pandemie feierte der Ju­          wichtig. Das war eine Grunderfahrung,
gendweiheverein (allerdings für alle um­        die schmerzt. Man ist in der Öffentlichkeit
liegenden Dörfer) mit 174 (!) Jugendlichen,     nicht interessant, nicht mal „exotisch“ und
und ich hatte 3 Konfirmand:innen. Die           nicht begehrt als Gesprächspartner:in. Ich
Jugendweihe ist im Frühjahr allgegen­           musste mich erst daran gewöhnen, in den
wärtiges Gesprächsthema, Zeitungen und          umliegenden Dörfern zwar zu Feuerwehr-
Schaufenster sind voll davon, und nicht         und Schützenfesten eingeladen zu werden,
in jedem Zeitschriftenladen findet man          aber nicht als Festredner, auch nicht als
auch Glückwunschkarten zur Konfirma­            der letzte einer langen Liste. Eine altein­
tion. Auch in unserem ortsansässigen            gesessene Kollegin hatte mir ebenfalls von
evangelischen Gymnasium liegen Flyer            einer demütigenden Erfahrung berichtet:
zur „Jugendweihemesse“ aus. Das ist ein         In einer Traueranzeige wurden ausdrück­
Event, wo u.a. jugendliche Models Kleider       lich und namentlich dem Blumenhändler,
und Frisuren präsentieren. Kein lokaler         dem Organisten und dem Trompeter für
Wirtschaftsbetrieb kann es sich leisten,        die Gestaltung der Trauerfeier gedankt. Ihr
dort nicht auszustellen. Zu diesem ge­          Name fehlte und das war kein Zeichen der
sellschaftlichen Ereignis geht „man“ hin.       Kritik an ihrer Praxis (ich habe da nach­
Das evangelische Gymnasium steuert              gefragt). Es war sicher eine Ausnahme,
übrigens mit dem Modell „Segnung“ da­           aber ich glaube auch ein Symptom für die
gegen. In der 8. Klasse kann man eine           Geringschätzung unserer Profession in
Wahlpflicht-AG „Segnungsunterricht“ be­         der breiteren Öffentlichkeit, weil wir nicht
legen. Hier findet sich auch immer eine         (mehr) präsent sind. In diesem Fall war die
Gruppe in Klassenstärke zusammen, die           Kollegin wohl als eine Art Angestellte des
eine „Einführung ins Christentum“ erhält        Bestattungsinstitutes eingeordnet worden.

                                 zum Inhaltsverzeichnis                   HPB 4 | 2021    139
Doberlug-Kirchhain (Niederlausitz): Klosterkirche St. Marien
 © A.Savin, WikiCommons

140     HPB 4 | 2021                      zum Inhaltsverzeichnis
Schule, Medien, Seelsorge                     im Gemeindehaus (jetzt in der Coronazeit
                                              im Freien) stattfindet. Ähnlich wie in den
Wir erscheinen kaum in den Schulen,           wenigen muslimischen Gemeinden in
denn die Kinder nehmen hier weit über­        unserer Region wird die religiöse Bildung
wiegend am Ethik- oder LER-Unterricht         in den nichtöffentlichen Bereich verlagert.
teil. Wir erscheinen sehr wenig in der        Das stärkt natürlich den Gruppenzusam­
Öffentlichkeit, in den Medien wird ver­       menhalt, andererseits ist aber die Zu­
gleichsweise wenig über kirchliche Inhalte    gangsschwelle für nichtchristliche Kinder
berichtet. In unserer örtlichen Tageszei­     und Jugendliche viel höher, als sie es in
tung wurde erst 2019 das wöchentliche         der Schule wäre.
„Wort zum Sonntag“ eingestellt, wegen            In meiner kleinen Stadt gibt es zwar
nachgewiesenem, mangelndem Interesse          ein evangelisches Gymnasium, aber nur
der breiten Leser:innenschaft. Und in den     städtische Kitas und eine große allge­
örtlichen sozialen Medien sind wir trotz      meine Grundschule. Und hier sei die At­
Aufholens in der Zeit der Pandemie noch       mosphäre nach wie vor beinahe kirchen-
immer zu wenig präsent. Hier in meiner        feindlich, berichten Religionslehrerinnen.
Region liegt das eindeutig am höheren         Eine Begebenheit: In einer Klasseneltern­
Alter des kirchlichen Personals. Wir sind     versammlung fand sich (ausnahmsweise)
zwar auf Facebook, aber nicht auf Insta­      eine deutliche Mehrheit (19 von 25) für
gram oder TicToc aktiv.                       den evangelischen Religionsunterricht.
   Und schließlich Seelsorge: Das ist hier    Die Klassenlehrerin übte aber Druck auf
zwar ein bekannter Begriff, aber auch Seel­   die Eltern aus, ihr Votum zurückzuziehen,
sorge wird nicht unbedingt mit Pfarrer:in­    mit dem Argument, dass die Klassenge­
nen in Verbindung gebracht. Es gibt sogar     meinschaft unter diesem Angebot leide,
hier in meiner kleinen Stadt kommerzielle     weil es die Kinder separiere. Das Ergeb­
Anbieter:innen von „Seelsorge“, ebenso        nis war, dass nur noch sechs Kinder zum
wie Trauer- oder Hochzeitsredner:innen.       Religionsunterricht angemeldet wurden,
                                              der dann mit den Kindern aus den Pa­
                                              rallelklassen stattfand. Die anderen 19
Öffentliche Religion – Fehlanzeige            erhielten stattdessen Ethik – durch die
                                              Klassenlehrerin.
Die Kenntnis religiöser Themen ist in der
breiteren Öffentlichkeit gering. Nicht nur
unter den Älteren mit DDR-Erfahrung,          Gegen den Wind segeln mit klarem Profil
sondern auch unter den Jüngeren, von
denen die weitaus meisten in Kinder­          Trotz dieses Gegenwindes behauptet sich
gärten und Schulen keine religiöse Bil­       eine kleine christliche Gemeinde. Mir
dung erfahren haben. Traditionell werden      hatte sie schon bei der Stellenauswahl im­
Kinder hier früher und länger in Krippen,     poniert, weil sie trotz Vakanz ein Kirchen­
Kindergärten und Horte gegeben. Auch          asyl für eine fünfköpfige Familie stemmte
deshalb wird hier nach wie vor „Christen­     und eine Begegnungsstätte für Einheimi­
lehre“ angeboten. Das ist ein kirchliches     sche und Geflüchtete unterhielt. In einer
Unterrichts- und Freizeitangebot, das         Region, in der die AFD beide Direktwahl­
nach der Schule oder am Wochenende            kreise zum Landtag gewonnen hat, ist das

                                zum Inhaltsverzeichnis                  HPB 4 | 2021   141
ein klares Profil. Andererseits sind alle      aufrufe der Lebensschützer, neben Flyern
 traditionellen demokratischen Parteien         von Pro Asyl oder Braunkohlegegner:in­
 (CDU, Grüne, SPD und FDP) hier eng mit         nen. Und natürlich lege ich die Verlaut­
 der Kirche verbunden. So hatte sich zum        barungen der Landeskirche aus. Noch nie
 Beispiel die SPD in der Zeit der friedlichen   wurden hier meines Wissens von einer
 Revolution im Gemeindehaus wieder­             Seite die Schriften Anderer entfernt. Vor
 gegründet. Nicht wenige Pfarrer:innen          der Pandemie war es auch möglich, Got­
 sind inzwischen Politiker:innen gewor­         tesdienste mit verschiedenen Gruppen
 den; Kommunalpolitiker:innen sitzen im         gemeinsam zu feiern. Erste Gräben reißen
 Kirchenvorstand; „man kennt sich“, aber        aber gerade zwischen Impfgegner:innen,
 man repräsentiert auch gemeinsam keine         Maskenverweigerer:innen und Befür­
 deutliche Mehrheit.                            worter:innen auf. Die vermeintlich heile
    Neben dem klaren Profil arbeitet die        Gemeinschaft der christlichen Minder­
 Kirche auch an der Außendarstellung.           heit gerät in der aktuellen Situation in die
 Bestes Beispiel ist die „offene Kirche“.       Gefahr der Spaltung.
 Nun gibt es auch in vielen hessischen
 Kleinstädten geöffnete Stadtkirchen.
 Das Besondere ist hier aber die Orga­          Fazit: den Einzelnen nachgehen
 nisation mit sehr geringem Budget. Die
 Kirche ist täglich von 9 bis 18 Uhr (im        Natürlich verändert Corona die Situation
 Sommer länger, im Winter kürzer) ge­           noch einmal deutlich. Wie in den meisten
 öffnet. Das funktioniert mit einer Alarm­      Gemeinden haben auch wir viele Distanz­
 anlage, sowie mit vielen Ehrenamtlichen,       angebote geschaffen, die zum Teil wohl
 die nicht nur auf- und zuschließen, Orgel      auch weiter bestehen bleiben werden.
 üben oder unterrichten, sondern die je­        Trotzdem hielten wir an regelmäßigen
 weils ihren Bereich, z.B. die Kinderecke       präsentischen Gottesdiensten bis heute
 oder einen Gebetsbereich oder die Zeit­        fest, seit sie im Mai 2020 wieder erlaubt
 schriftenauslagen gestalten. Hier hat ge­      waren. Verkürzte Formen, kein Gemein­
 fühlt jedes Kirchenmitglied den Code der       degesang, Maskenpflicht und Abstand,
 Alarmanlage im Kopf und einen Kirchen­         zeitweise Voranmeldepflicht und natür­
 schlüssel in der Tasche. Die offene Kirche     lich die korrekte Dokumentation der An­
 und die „verlässliche Gottesdienstzeit“        wesenden haben das, auch dank eines
 (immer sonntags, immer um 9.30 Uhr)            sehr großen Kirchengebäudes, möglich
 sind Markenzeichen, neben der Arbeit           gemacht. Der Gottesdienst ist einigen
 mit Geflüchteten.                              Menschen in dieser Zeit, in der es kaum
                                                andere Begegnungsmöglichkeiten gab,
                                                wichtiger geworden. Auch einige Geflüch­
 Starke Binnendifferenzierung                   tete aus der örtlichen Erstaufnahmeein­
                                                richtung suchten und suchen das regel­
 Nach innen ist die Gemeinde sehr hete­         mäßige, gottesdienstliche Angebot (zur
 rogen: Es gibt hier keine Strömung, die es     selben Zeit am selben Ort). Andererseits
 nicht gibt. Das kann man schön ablesen an      sind viele Ältere aus berechtigter Anste­
 den in der Kirche ausliegenden Flyern. Da      ckungssorge ferngeblieben, auch manche
 liegen evangelikale Traktate und Demo­         jüngere (Maskenverweiger:innen) haben

142   HPB 4 | 2021                zum Inhaltsverzeichnis
sich abgewendet. Ich habe in dieser Zeit      Desiderata
verstärkt erlebt, wie wichtig es für Ein­
zelne ist, diesen Termin sonntags um 9.30     Was wir bräuchten für einen leichteren
Uhr im Hinterkopf zu haben. Überhaupt         Gemeindeaufbau, finde ich, sind die hes­
sind hier in der Diaspora „Einzelne“ das      sischen Selbstverständlichkeiten: We­
Thema. In Hessen hätte ich noch gesagt:       nigstens eine kirchliche Kita in jedem Ort
„Konfirmandenunterricht mit drei Kin­         und Religionsunterricht an den öffentli­
dern? Das lohnt sich doch gar nicht.“ Hier    chen Schulen. Dazu mehr öffentliche Prä­
ist das selbstverständlich. Und wenn ich      senz, damit wir überhaupt Beziehungen
diesen nicht nachgehe und zumindest           zu religiös entfremdeten Menschen auf­
bei ihren Terminwünschen auch entspre­        bauen können.
che, habe ich schnell eine oder einen we­        Solange das kaum möglich ist, erlebt
niger… Vor Corona hatten wir natürlich        die Gemeinde hier zwar auch ein kleines
auch viele Gruppen mit Nachbarpfarreien       Wachstum, allerdings ausschließlich dank
zusammengefasst, jetzt aber, in der Pan­      Geflüchteter, die die Gottesdienste be­
demie, sind wir dankbar, dass es in einer     suchen oder an Taufkursen teilnehmen.
Stadt, in einem Dorf eben auch nur mit        Von einheimischen Nichtchrist:innen, die
zwei oder drei Kindern eine funktionie­       wir dazu ebenso einladen, hat bisher noch
rende Gruppe gibt. Grundsätzlich geht         keiner zu uns gefunden.
man hier jedem Einzelnen nach. Kon­              In absoluten Zahlen gibt es hier aber
firmandenunterricht am Freitagabend?          nach wie vor einen starken Rückgang der
Sicher, wenn sonst kein gemeinsamer           Kirchenmitglieder. Die Überalterung in
Termin möglich ist. Eine Trauung am           den Kirchengemeinden ist noch höher,
Samstag, dem 3. Oktober? Natürlich, wenn      als ohnehin schon in der Region. Wegzüge
sich überhaupt schon mal jemand trauen        überwiegen in Südbrandenburg, fern der
möchte! Denn die Konkurrenz schläft           Metropole, immer noch bei weitem die
nicht, und die freie Rednerin ist wirklich    Zuzüge. Einziger Lichtblick in der Statistik
auch gut und gar nicht teuer. Eine Taufe      sind die Austrittszahlen. Die sind viel ge­
nicht am Taufsonntag, sondern womög­          ringer, als ich es aus Hessen gewohnt war.
lich am Samstagnachmittag am Bade­            Vielleicht hängt das mit der stärkeren Ver­
see? Wenn es unbedingt sein muss, macht       bundenheit, vielleicht aber auch mit der
das hier jede:r Pfarrer:in möglich, denn      großen Entfernung zum nächsten Amts­
Taufen sind hier nicht üblich. Keine Sorge,   gericht in der Kreisstadt zusammen.
freie Tage und eine 40 Stunden Woche             Übrigens, damit keine Missverständ­
können wir uns trotzdem organisieren,         nisse aufkommen: Gerade weil die Her­
allerdings muss man manchmal die Ter­         ausforderungen so groß sind, macht die
mine sehr schieben.                           Arbeit hier Freude, aber die Fleischtöpfe
                                              Ägyptens locken doch sehr.

                                       U

                                zum Inhaltsverzeichnis                  HPB 4 | 2021    143
Blickwechsel: Die neue Niemöller-Debatte
DISKUSSION

                   Dr. habil. Michael Heymel, Limburg

                   Die Tatsache, dass Niemöller wie kaum          den protestantisch-religiösen Menschen,
                   ein anderer „das politische Profil nicht nur   den ökumenisch gesinnten Christen, der
                   der Evangelischen Kirche von Hessen und        vor allem ein konsequenter Jünger Jesu
                   Nassau, sondern der evangelischen Kir­         sein wollte.
                   chen in Deutschland überhaupt prägte“,            Wenn es gelänge, Niemöller aus dieser
                   hat über Jahrzehnte die Forschung und          Perspektive zu betrachten, könnten seine
                   das allgemeine Interesse an seiner Ge­         Stärken und Grenzen neu in den Blick
                   stalt derart präokkupiert, dass man sich       kommen. Interdisziplinäre Forschung
                   für sein pastorales Selbstverständnis und      wird zeigen, wo er Vorstellungen und
                   seine Wirksamkeit in der Kirche kaum           Denkweisen verhaftet ist, die wir nicht
                   interessierte. Man stellte den streitbaren     mehr teilen, und wo er uns als „Christ
                   Repräsentanten einer politischen Kirche        einer Kirche der Zukunft“ (H. Gollwitzer)
                   heraus und vernachlässigte darüber den         immer noch weit voraus ist.
                   Pastor, der als Prediger des Evangeliums          (Ergänzung zum im Hessischen Pfarr­
                   Kirche von unten her, d.h. in den Ortsge­      blatt 3/2021 erschienen Artikel; dort fehlte
                   meinden prägen wollte. Das Etikett der         dieser Absatz. Wir bitten um Entschuldi­
                   „Niemöllerkirche“ verhindert bis heute ein     gung, die Red.)
                   genaueres Hinsehen auf die andere Seite:

                                                           U

                   Helmut Fischer: Kein Gott – was nun?              Bei einer Eurobarometer-Umfrage
FÜR SIE GELESEN

                   Glauben in posttheistischer Zeit               im Dezember 2018 ordneten sich in
                                                                  Deutschland noch rund 65 Prozent der
                   Traugott      Bautz                            Befragten einer christlichen Kirche bzw.
                   Verlag, Nordhau­                               Religionsgemeinschaft zu. Die Mitglie­
                   sen 2020; gebun­                               derzahlen sind seither weiter gesun­
                   den, 440 Seiten,                               ken. „Wer aus der Kirche austritt, weiß
                   ISBN 978-3-95948-                              oft schon längst nicht mehr, warum er
                   452-7, 55 Euro, auch                           überhaupt noch drin war“, schreibt dazu
                   als E-Book erhält­                             die junge Philosophin Birthe Mühlhoff in
                   lich (978-3-95948-                             ihrem beachtlichen Beitrag „Ich bleibe.
                   739-9_ebook),     47                           Sieben Gründe, warum ich die katho­
                   Euro                                           lische Kirche auch jetzt nicht verlasse“

                  144   HPB 4 | 2021                zum Inhaltsverzeichnis
(Süddeutschen Zeitung. Osterausgabe              Jesus verkündete, sehr wohl in säkularer
2021)                                            Sprache ausdrücken lässt: „In das Reich
   Für Helmut Fischer, einst Direktor des        Gottes einzutreten, das bedeutet schlicht,
ehemaligen Theologischen Seminars                wie Jesus aus den Impulsen und der Kraft
der Evangelischen Kirche in Hessen und           jener Liebe zu leben, zu der unter allen
Nassau in Friedberg, ist diese Entwick­          Lebewesen allein der Mensch frei und
lung Ausdruck eines geistigen Umbruchs,          fähig geworden ist. Mit seinem Leben und
der erstmals in der Folge des Erdbebens          seiner Botschaft hat Jesus eine Dimension
von Lissabon 1755 sichtbar und bewusst           von Menschsein in den Blick gebracht, die
wurde, der sich unter Intellektuellen            bis dahin weder voll erschlossen noch in
jedoch bereits ein Jahrhundert zuvor an­         dieser Klarheit bewusst war.“ (S. 429)
deutete. Fischer nennt diesen geistigen             Die Konsequenzen, die Fischer daraus
Umbruch den Wechsel vom subjektivi­              für kirchliches Reden und Handeln ge­
schen zum funktionalen Paradigma. Es             winnt, durchziehen die einzelnen Ka­
wird nicht länger gefragt, „wer etwas ver­       pitel wie ein roter Faden. Ein Vorzug ist,
ursacht hat“, sondern „wie und nach wel­         dass das umfangreiche Buch nicht als
chen Gesetzmäßigkeiten etwas zustande            Lehr- sondern als Lesebuch aufgebaut ist,
gekommen ist und funktioniert.“ Diese            dessen thematische Artikel jeweils in sich
Sichtweise richtet sich zwar „weder gegen        verständlich sind. Das ermöglicht einen
Gott noch gegen Religion.“ Allerdings „hat       unmittelbaren Blick in Fischers Ausfüh­
keinen Grund mehr, nach dem Verursa­             rungen zu praxisrelevanten Themen wie
cher zu fragen“, „wer die Ursache für ein        „Glaubensbekenntnis im Gottesdienst“ (S.
Geschehen kennt.“ Dieser Umbruch im              127–130), „Gebet“ und „Gebet Jesu“ (S. 312–
Weltverstehen hat sich in der Mitte des 20.      341) sowie „Taufe“ und „Abendmahl“
Jahrhunderts im deutschen Sprachraum             (S. 418–428).
rasch durchgesetzt, so dass Gott als Verur­         Birthe Mühlhoff würde durch die Lek­
sacher allen Geschehens aus dem Denk­            türe dieses Buches, auch durch die kriti­
horizont vieler Zeitgenossen geradezu            sche, zugleich respektvolle Darstellung
unbemerkt verschwunden ist und kaum              der theologie- und kirchengeschichtli­
vermisst wird. (S. 51)                           chen Entwicklungen, vermutlich die „pro­
   Subjektivisches und funktionales Welt­        duktive Verunsicherung“ gewinnen, die
verständnis bilden für Fischer die Perspek­      sie sich wünscht. Das erhofft sich jeden­
tiven, aus denen er die Themenfelder „Re­        falls Helmut Fischer für seine Leser:in­
ligion“, biblische „Quellen“, „Gott“, „Jesus“,   nen, die er dazu ermutigen will, „von der
„Mensch“ und „Kirche“ gedanklich präzise         Basis der Botschaft Jesu aus eigenständig
beleuchtet. Dabei ist seine Leitfrage, ob die    weiterzudenken.“
Botschaft Jesu, in der sich alle christlichen                               Manfred Holtze,
Kirchen gegründet wissen, zwingend an                     Schulamtsdirektor und Pfarrer i. R.,
das monotheistische Paradigma und seine                                            Offenbach
historischen Ausformungen gebunden ist
oder auch in einem funktionalen Weltver­
ständnis zum Ausdruck gebracht werden                             U
kann. Fischers Ergebnis ist, dass sich der
Gehalt der Botschaft vom Reich Gottes, die

                                  zum Inhaltsverzeichnis                    HPB 4 | 2021    145
Alain Badiou: Lob der Mathematik             hinter der Trinitätslehre keine absurde
                                              Mathematik steht, die behaupten würde,
 Passagen Verlag                              dass 1 gleich 3 sei, und dass die Christolo­
 Wien, 2018 (103                              gie in der sog. „Zwei-Naturen-Lehre“ nicht
 Seiten / ISBN                                sagen will, 1 sei gleich 2. Beide Lehren ar­
 978 -3 -70 9 2 -                             gumentieren vielmehr auf der Grundlage
 0284-5),   13,90                             einer Aspektverschiedenheit: Unter dem
 Euro                                         Gesichtspunkt der „Substanz“ ist die Gott­
    Alain Badiou                              heit als einfach, unter dem Gesichtspunkt
 (geb.      1937)                             der Personen aber als dreifach zu denken.
 ist einer der                                In der Christologie wiederum ist Jesus der
 großen     fran­                             Christus unter dem Aspekt der Person als
 zösischen    In­                             einfach, unter dem Aspekt der „Naturen“
 tellektuellen,                               aber als zweifach zu denken. Den Kirchen­
 und in gewis­                                vätern und -müttern lag also sehr wohl
 ser Weise ist er                             daran, ihre Lehren mathematisch wider­
 ein komischer                                spruchsfrei zu formulieren. Ob ihnen das
 Kauz: ein unbelehrbarer maoistischer         gelungen ist, und ob ihre Begrifflichkeit
 Kommunist, ein Liebhaber der antiken         aus heutiger Sicht taugt, darüber kann
 griechischen (Platon) und der klassischen    man streiten. Nicht aber darüber, dass sie
 deutschen Philosophie (Kant, Hegel,          an mathematischer Konsistenz Interesse
 sogar Heidegger), ein atheistischer Fan      hatten.
 des Apostels Paulus, dessen Denken              Badious „Lob der Mathematik“ könnte
 und Wirken er sich bereits in den 1990er     daher auch für Theologie und Kirche von
 Jahren intensiv widmete. Und er ist ein so   Bedeutung sein. Aber worin bestehen
 großer Fan der Mathematik, dass er ihr       seine wesentlichen Aussagen? Vielleicht
 ein Loblied geschrieben hat und meint,       kann man den Ertrag seines Buches in
 sie mache Menschen glücklich. Für die        fünf Thesen zusammenfassen.
 Schulmathematik wird das nur in sehr            Erstens: Mathematik ist eine Universal­
 begrenztem Maße gelten. Aber die Not­        sprache, die jeder Mensch auf diesem Pla­
 wendigkeit und Nützlichkeit der Mathe­       neten beherrschen kann (vielleicht sogar
 matik für den Alltag und für viele Wissen­   Aliens). Sie ist daher sogar universaler als
 schaften kann kaum bestritten werden         Englisch.
 – wobei wahrscheinlich Prozent- und             Zweitens: Deshalb ist Mathematik de­
 Bruchrechnung für den Alltag wichtiger       mokratisch. Sie verbindet alle Menschen
 sein dürften als die Lösung des Problems     miteinander unter dem Gesichtspunkt der
 der „Möndchen des Hippokrates“.              potenziellen Gleichheit des Verstehenszu­
    Auch für Theologie und Kirche bedarf      gangs. Jeder Mensch kann verstehen, dass
 es in manchen Hinsichten der Mathema­        3x3=9 ist und dass in einem euklidischen
 tik. Wer die Mathematik der Haushalts­       Denksystem ein Dreieck genau 180 Grad
 pläne nicht begreift, der wird zur Lei­      haben muss.
 tung der Kirche nur begrenzt beitragen          Drittens: Deshalb ist Mathematik auch
 können. Für die christliche Theologie ist    politisch. Sie hat eine Affinität zur Demo­
 es zumindest wichtig, zu begreifen, dass     kratie. Und Spitzenpolitiker:innen sollten

146   HPB 4 | 2021              zum Inhaltsverzeichnis
möglichst besonders gute Mathemati­          schen gleich und alle miteinander verbun­
ker:innen sein. (Hier klingt Platons These   den. Die Mathematik und die christliche
von der Philosoph:innenherrschaft an.)       Religion stellen somit mächtige Alternati­
   Viertens: Mathematik sollte nicht for­    ven zu den sich derzeit immer weiter aus­
malistisch, sondern platonisch und onto­     breitenden Identitätsideologien dar.
logisch interpretiert werden. Sie handelt                           Dr. Eberhard Pausch,
vom Sein, ist selbst Ontologie, weil sie            Studienleiter für Religion und Kirche,
uns den Zugang zu unserer Wirklichkeit                 Evangelische Akademie Frankfurt
eröffnet.
   Fünftens: Mathematik beruht letztlich
auf der Mengenlehre und beschreibt die                        U
Wirklichkeit somit als eine Kohärenz der
Vielheiten. Daraus folgt im Grunde eine
Theorie der Pluralität und des Pluralismus   Klaus Pfitzner: Der Himmel lacht mich
– eine Schlussfolgerung, die in gewisser     an. Stille Wanderungen durch das hohe
Spannung zu Badious kommunistischer          Alter
Präferenz steht, die er aber in seinem
Buch nicht thematisiert.                     Radius, Stuttgart
   Eine kritische Anfrage kann man aller­    2021, 144 Seiten,
dings auch hinsichtlich seiner Betonung      15 Euro, ISBN
der basalen Bedeutung der Mengenlehre        978-3-87173-
für die Mathematik stellen. Bereits seit     603-2.
Bertrand Russell werden mitunter auch           Der      Autor,
bestimmte Varianten der Typentheorie         Jahrgang 1937,
(alternativ zu Mengenlehre) als grund­       Klinikpfarrer in
legend für die Mathematik betrachtet.        Mainz und bis
Und angesichts der Relevanz, die etwa        zum Ruhestand
von David Corfield der modalen Homo­         1997 Pfarrer in
topietypentheorie zugeordnet wird, ist       Limburg,      legt
die Diskussion über die Grundlagen von       nach „Freispiel“
Logik und Mathematik noch lange nicht        (2018),    „…und
abgeschlossen.                               Goliath lächelte“
   Für die christliche Theologie dürfte      (2019) hier das 3. Bändchen seiner Selbst­
speziell bedeutsam sein, dass Badious        erkundungen und Erfahrungsberichte im
große Liebe zur Mathematik und den mit       Alter vor. Das „hohe Alter“ scheint für ihn
ihr gegebenen Universalismus mit seiner      mit 80 zu beginnen. Altersweise-knor­
Bewunderung für den Apostel Paulus           rig, aphoristisch-bildreich und zitaten­
konvergiert, der ihm zufolge ein religiö­    gesättigt gelingt ihm ein tagebuchartiges
ser Stifter universaler Ideen war. Paulus    Corpus mixtum. Zugegeben: Ich liebe sich
öffnete das Christentum nachhaltig für       systematisch entwickelnde Bücher mehr.
die Menschen aller Völker, Kulturen und      Aber wie Pfitzner alltägliche Beobachtun­
Religionen. Jeder Mensch kann Christ:in      gen unter der Hand zu kleinen medita­
werden, so wie jeder Mensch Mathemati­       tiven oder philosophisch-theologischen
ker:in werden kann. Darin sind alle Men­     Miniaturen werden, ist schon eine Kunst!

                               zum Inhaltsverzeichnis                   HPB 4 | 2021    147
Das Themenfeld, das er durchschreitet, ist       es hin mit mir?“ (S. 139) Ein da capo als
 so breit und bunt wie sein Leben: die all­       Summe des Lebens sich zu wünschen (wie
 tägliche Routine, die langen Spaziergänge,       Nietzsche im Zarathustra), weist Pfitzner
 Leere und Unsicherheit, die sich wandeln­        von sich. Einmal „Lebenskarussell“ langt
 den und verschwimmenden Erinnerun­               ihm. Er hält es lieber mit Angelus Silesius:
 gen, sein eigener Berufsweg (Berufung?           „O Gott, wie wohl ist mir! Mein Leiden ist
 S.63), Kunst und Politik. Ein grandioser         verschwunden [usw.] … Der Himmel lacht
 Einfall: Die Reaktionen auf die Pande­           mich an.“ (S. 141)
 mie mit Paul Webers Zeichnung „Das Ge­              Mir fehlt ein Quentchen mehr Humor
 rücht“ zu vergleichen. Natürlich wird auch       als Alterselixier. Und manchmal macht
 Demenz, Behindertsein und Krankheit              sich unversehens eine kleine „Altersge­
 meditiert, über Sterben und Tod empa­            schwätzigkeit“ breit. Aber: Die Lebendig­
 thisch nachgedacht. Zu den Höhepunkten           keit und Präzision seines Stils und seiner
 des Bändchens gehört, was Pfitzner zum           Beobachtungsgabe sind genauso benei­
 Umgang mit Krankheit (S. 94) sagt, oder          denswert wie Pfitzners unaufdringlich-
 wie er die Kunst des Abschiednehmens             sanfte, tastende, ja gelegentlich fragile
 (S. 99–102) beschreibt. Immer wieder sind        Theologie, die als obligates Continuo alles
 Lesefrüchte und Bibelverse eingestreut,          unterlegt. Es war mir ein Lesevergnügen,
 werden Träume und Gespräche auf der              wie einer sein Alter mit allen Schwächen
 Ruhebank oder im Garten des Altershei­           annimmt, es trotzdem mit allen Sinnen
 mes lebendig erzählt.                            genießt, ohne sich der Illusion hinzuge­
    Bemerkenswert sind Pfitzners „Lern­           ben, dass das „alles“ sei und ewig weile.
 ergebnisse des Alterungsprozesses“, mit          Auch das beste Dessert am Ende eines
 denen es ihm offenbar gelungen ist – trotz       opulenten Lebensmenüs ist doch nur
 aller Anfechtungen – glücklich und dank­         Vorgeschmack auf das, was noch aus­
 bar älter zu werden. Ohne diese den Le­          steht: Der gedeckte Tisch im Hause des
 ser:innen plakativ zu empfehlen, dürfen          Herrn! Das Büchlein ist als Geschenk für
 sie uns doch als gute Ratschläge dienen:         alte Menschen sehr empfehlenswert, aber
 Das „Jetzt und Hier“ des Augenblicks ist         auch Jüngere können es gewinnbringend
 wichtig (S. 55); darum: „carpe diem“ – aber      goutieren.
 ohne „Du mußt …“ (S. 106); wir leben hier                                Dr. Ernst Fellechner,
 auf der Erde grundsätzlich im Exil, siehe                                   Pfarrer i.R., Mainz
 Hebr. 13, 14 (S. 61); „jeder lebt sein eigenes
 Alter“ (S. 123); verdränge nicht die Realität
 des Wenigerwerdens (S. 82); gib dich nie­
 mals auf (S. 112); lasse Zweifel zu (öfters),
 aber beachte Mk. 9, 24 (S. 120); tauche in
 das Evangelium ein (S. 127); Heilung und                          U
 Erlösung sind möglich (S. 76). Am Ende des
 Büchleins, dann wenn „die Kreise enger
 werden“, empfiehlt der Autor zu bilan­
 zieren: „Wo stehe ich? Was ist jetzt wich­
 tig? Was muss, was kann ich lassen? Was
 hält und trägt und bewegt mich? Wo geht

148   HPB 4 | 2021                 zum Inhaltsverzeichnis
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