Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck

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Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
Ausgabe Dezember 2021

                                                                   Magazin der
                                        Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Wintergewitter
in Europa
Seite 6

Pflanzliche Wirkstoffforschung     Seite 8   ◼   Corona und Lehre      Seite 10    ◼

Meinungsmacht im Netz   Seite 16    ◼    Weihnachtliche Sinnsuche       Seite 18   ◼

Beilage zur Tiroler Tageszeitung                             www.uibk.ac.at
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
© BfÖ 2021, Foto: © Eva Fessler
 „Ich rate zur Impfung.
 Die in Österreich verfügbaren
 Impfstoffe gegen Covid-19
 sind sicher und wirksam.“

Priv.-Doz. Dr. Birgit Weinberger, Immunologin
Forschungsinstitut für Biomedizinische Alternsforschung der Universität Innsbruck

                                                www.uibk.ac.at
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
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Inhalt                                 Ausgabe Dezember 2021
                                                                                                    Editorial

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                                       4     Wissenschaftsskepsis über Corona hinaus
                                             Eine Eurobarometer-Umfrage bescheinigt Öster-
                                             reich besonders wenig Vertrauen in die Wissen-
                                             schaft.

                                       6     Wenn es im Winter blitzt
                                             Innsbrucker Forscherinnen sind dem außerge-
                                             wöhnlichen Wetterphänomen auf der Spur.

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                                                                                                                                         Foto: Gerhard Berger
                                       8     Gute Fette, schlechte Fette
                                             Abgesehen vom schädlichen Bauchfett haben
                                             Fette wichtige Funktionen in den menschlichen
                                             Zellen.

                                       10    Lehrlingsausbildung und Corona
                                             Auch in vielen Betrieben waren hohe Anstren-
                                             gungen und Flexibilität nötig, um die Lehrlings-       Liebe Leserin, lieber Leser!
                                             ausbildung aufrecht zu erhalten.
                                                                                                    Ein weiteres schwieriges Jahr neigt
                                       12    Das Texterbe des Alltags                               sich dem Ende zu. Auch wenn wir alles
                                             Im Rahmen des Projekts „Zeit.Shift“ widmet             daran gesetzt haben, trotz der Pande-
                                             sich die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol      mie so normal wie möglich zu arbeiten,
                                             der Digitalisierung von historischen Zeitungen         war dies für alle Beteiligten oft schwer.
                                             aus Nord-, Ost- und Südtirol.                          Ich möchte hier besonders unsere Stu-

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                                                                                                    dierenden hervorheben, insbesondere
                                       14    Der unsterbliche Süßwasserpolyp Hydra                  jene in den ersten Semestern, für die es
                                             Eine Studie beschreibt überraschende Eigen-            eine große Herausforderung darstell-
                                             schaften von Stammzellen in wirbellosen Tieren.        te, zu studieren, ohne regelmäßig an
                                                                                                    die Uni kommen zu können. Aber auch
                                       16    Meinungsmacht im Netz                                  für unsere Mitarbeiterinnen und Mit-
                                             Wie sollen Staaten, Gerichte und soziale Netz-         arbeiter war es herausfordernd, jeweils
                                             werke mit gefährlichen Inhalten umgehen?               flexibel zu bleiben, sich auf die jewei-
                                                                                                    ligen Rahmenbedingungen einzustel-
                                       18    Weihnachtliche Sinnsuche                               len und sowohl in der Lehre, als auch
                                             Der Theologe Józef Niewiadomski setzt sich mit         in der Forschung oder in den Service-
                                             den Glaubensgrundlagen nicht nur des Weih-             und Dienstleistungsabteilungen im-
                                             nachtsfests auseinander.                               mer wieder Lösungen zu finden. Und
                                                                                                    dass uns das 2021 ganz gut gelungen
                                       20    Fenster in die Welt                                    ist, zeigen auch die Zahlen der posi-
                                             Internationalität in Forschung und Lehre zählt         tiven Abschlüsse und der erfolgreichen

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                                             zu einer der Stärken der Universität Innsbruck.        Einwerbung von Forschungsmitteln.
                                                                                                    Einen kleinen Einblick in die For-
                                       21    Freude über Zustiftungen                               schungsprojekte      unserer     Wissen-
                                             In diesem Jahr konnte die Stiftung der Universi-       schaftlerinnen und Wissenschaftler
                                             tät Innsbruck zwei neue Zustiftungen gewinnen.         finden Sie auch auf den folgenden Sei-
                                                                                                    ten. Sehr aktuell zeigen sie unter an-
                                                                                                    derem auf, dass Corona durchaus auch
                                                                                                    Chancen bietet, dass die Meinungs-
                                                                                                    freiheit im Internet natürlich recht-
                                                                                                    liche Grenzen hat oder wie es sich mit
IMPRESSUM                                                                                           der Wissenschaftsskepsis in Österreich
                                                                                                    verhält.
wissenswert ­– Magazin der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck – 21. Dezember 2021               Ich wünsche Ihnen angenehme Feier-
Herausgeber und Medieninhaber: Universität Innsbruck; Hersteller: Intergraphik GmbH.
Sonderpublikationen, Leitung: Frank Tschoner;
                                                                                                    tage und uns allen ein neues Jahr, das
Redaktionelle Koordination: Susanne E. Röck, Christa Hofer.                                         uns bald wieder unser gewohntes Le-
Redaktion: Melanie Bartos, Christa Hofer, Stefan Hohenwarter, Lisa Marchl, Fabian Oswald, Susanne   ben ermöglicht.
E. Röck, Miriam Sorko, Uwe Steger.                                                                  Bleiben Sie aber vor allem gesund!
Covergestaltung: Catharina Walli.
Foto Titelseite: Micah Tindell on Unsplash.
Fotos Seite 3: Bionorica SE/Gehard Berger; iStock/VioletaStoimenova, Smileus                                    Univ.-Prof. Dr. Tilmann Märk
Anschrift für alle: 6020 Innsbruck, Brunecker Straße 3, Postfach 578, Tel. 0512 53 54-1000.                  Rektor der Universität Innsbruck
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Wissenschaftsskepsis
weit über Corona hinaus
Eine aktuelle Eurobarometer-Umfrage bescheinigt Österreich besonders wenig
Vertrauen in die Wissenschaft. Weshalb ist das so? Univ.-Prof. Leonhard Dobusch
vom Institut für Organisation und Lernen ist Experte für digitale Öffentlichkeiten
und beobachtet die gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Eine
Spurensuche inklusive (optimistischem) Ausblick.

    wissenswert: Österreich hat eine niedrige         der Österreicher*innen glauben etwa, dass      trieländer, wo der Impfstoff auch verfügbar
    Impfquote, zahlreiche Menschen demons-            Wissenschaftler*innen nicht ehrlich sind,      ist, fallen Österreich, Deutschland und die
    trieren gegen Maßnahmen zur Eindämmung            knapp ein Viertel ist unentschieden. Durch     Schweiz auf. Dafür gibt es sicher viele ak-
    der Pandemie, manche sprechen daher von           die Pandemie wurde besonders deutlich: Viele   tuelle wie historisch gewachsene Ursachen,
    einer „gespaltenen Gesellschaft“. Und das,        Menschen zweifeln an wissenschaftlicher        die es noch genau zu erforschen gilt. In Ös-
    obwohl auf wissenschaftlicher Ebene in Be-        Erkenntnis und an der Glaubwürdigkeit von      terreich wäre es meiner Ansicht nach besser
    zug auf das Virus breiter Konsens zu seiner       Expert*innen. Warum?                           gewesen, die Impfdebatte möglichst frei von
    Gefährlichkeit besteht. In der Eurobarometer-   Leonhard Dobusch: Prinzipiell kämpfen            Parteipolitik zu halten. Was die Eurobaro-
    Umfrage von September sticht Österreich im      alle Länder damit, die Menschen zum Imp-         meter-Daten aber auch zeigen: Die Wissen-
    EU-Vergleich besonders hervor: 29 Prozent       fen zu bewegen. Beim Vergleich der Indus-        schaftsskepsis geht weit über Corona hinaus.

                                                                                                                           Skepsis wird in
                                                                                                                        der digitalen Welt
                                                                                                                    häufig noch verstärkt.
                                                                                                                    Foto: Suwaree Tangbovornpichet
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
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Sie hat hierzulande eine mehr als 100-jäh-
rige „Tradition“, die weit in die Gesellschaft
hineinreicht. In Österreich gibt es beispiels-
weise mehr bei der Wirtschaftskammer ge-
meldete Energetiker*innen als niederge-
lassene Ärzt*innen. Weit verbreitete esote-
rische Strömungen wie die Anthroposophie
sind im deutschsprachigen Raum entstan-
den. Die Homöopathie ist trotz fehlender be-
wiesener Wirksamkeit in Apotheken erhält-
lich oder wird sogar von Ärzt*innen ver-
schrieben. Hier wurde jahrzehntelang nicht
gegengesteuert, sondern Geld mit Aberglau-
ben verdient. Was alle eint, ist die weitge-
hende Ablehnung sogenannter „Schulme-
dizin“ und der Pharmaindustrie. Die jetzt so
stark spürbare Skepsis kam also keineswegs
aus dem Nichts und wird durch das digitale
Umfeld, in dem wir uns alle bewegen, po-
tenziell noch verstärkt.
   Social Media spielen nicht erst seit der Pan-
   demie eine große Rolle in der Verbreitung von
   (Des-)Informationen. Oft sind es falsche In-
                                                                                                                     Vorbild Wikipedia:
   halte, die viele Menschen auf ihren Accounts
                                                                                                           Leonhard Dobusch sieht die
   oder Messenger-Diensten wiederfinden. Tra-
                                                                                                           Online-Enzyklopädie als das
   gen Facebook, Telegram und Co. zur Wissen-
                                                                                                                  Medium unserer Zeit.
   schaftsskepsis bei?                                                                                                      Foto: Uni Innsbruck
Leonhard Dobusch: Ja. Die Verbreitung von
Desinformationen beispielsweise zu Imp-
fungen wurde von großen Plattformen wie
Facebook über Jahre kaum bekämpft – auch
schon vor Corona. Ähnliches beobachten wir         Chancen und neue Probleme mit sich: Das        der Corona-Pandemie oft Preprints entspre-
bei Leugnung des menschengemachten Kli-            war schon bei der Erfindung des Buchdrucks     chend eingeordnet und interpretiert. Na-
mawandels. Hier wurde meiner Ansicht nach          so. In einem ersten Schritt wäre es einmal     türlich hat das auch Schattenseiten, da auf
viel zu spät reagiert. Ich bin überzeugt da-       wichtig, dass mit Desinformation auf diesen    diesen Servern auch unseriöse Studien lan-
von, dass viele Menschen erst dadurch in das       Plattformen nicht auch noch Werbeumsät-        den, die wissenschaftsskeptische Narrative
„Lager“ der Wissenschaftsskeptiker*innen           ze gemacht werden können. Verbreitung von      sogar noch nähren können. Und auch wenn
geraten sind. Das Problem der Desinforma-          Desinformation darf sich nicht auch noch       Studien schnell widerlegt werden, bekommt
tion im Kontext digitaler Plattformen wurde        auszahlen.                                     häufig die Widerlegung weniger Aufmerk-
unterschätzt. Erst mit der Wahl von Donald           Was könnte dazu beitragen, dass das Ver-     samkeit als die „steile These“. Dennoch: Die
Trump gerieten die negativen Dynamiken               trauen wächst?                               Vorteile offener Wissenschaft überwiegen
der sozialen Netzwerke stärker in den Fokus,       Leonhard Dobusch: Eine offenere Wissen-        meiner Ansicht nach dennoch eindeutig, da
da war alles aber bereits sehr fortgeschritten     schaft könnte dazu einen großen Beitrag lei-   durch mehr Offenheit Falschbehauptungen
und schwer umkehrbar.                              sten. Ein offener Zugang zu wissenschaftli-    auch leichter identifiziert werden können.
   Hat sich der Umgang mit Desinformationen        chen Veröffentlichungen und Datensätzen        Nicht zuletzt ist das eine gängige Praxis in
   in diesem Rahmen inzwischen verbessert?         ermöglicht eine kritische Auseinander-         der wissenschaftlichen Community. Durch
Leonhard Dobusch: Das Management di-               setzung über Disziplinen hinweg – nicht        mehr Offenheit wird eine Art öffentlicher
gitaler Öffentlichkeiten ist mit großen He-                                                       Peer-Review ermöglicht, die Wissenschaft
rausforderungen verbunden. Plattformen                                                            und auch wissenschaftliche Abläufe trans-
                                                           »Algorithmen können
wie Facebook unterliegen nicht dem klas-                                                          parenter und greifbarer macht.
sischen Medienrecht, da sie ja nicht selbst               wie Brandbeschleuniger                    Gibt es Beispiele, wo das schon gut funktio-
Inhalte erstellen. Das ist ein Dilemma. Wird                     wirken.«                           niert?
gegen Desinformation vorgegangen, müs-                                                            Leonhard Dobusch: Wenn man mich fra-
                                                               LEONHARD DOBUSCH
sen zunächst legitime Meinungsäußerungen                                                          gen würde, wo es im Moment die solidesten
von solchen getrennt werden, die es nicht                                                         und aktuellsten Informationen zur Corona-
sind – und das ist ein Grenzbereich, der           nur für Expert*innen, sondern auch für         Pandemie gibt, dann würde ich sagen: in der
schwer automatisierbar ist und für den es          Journalist*innen. Gerade in Krisenzeiten ist   Wikipedia. Dort wird Wissen in einem kol-
noch unzureichende Instrumente gibt. Den-          Transparenz und schneller Zugang zu For-       laborativen und transparenten Prozess auf
noch gibt es auch eine Plattform-Verant-           schungsergebnissen wichtig. In den letzten     Basis eines gemeinsamen Wertefundaments
wortlichkeit, besonders wenn es um Inhalte         Monaten haben viele Menschen mit dem           erarbeitet – und durchaus auch erstritten.
geht, die über Automatismen befördert wer-         Begriff „Preprint“ Bekanntschaft gemacht,      Die Wikipedia ist meiner Ansicht nach das
den. Was den Nutzer*innen empfohlen wird           dabei handelt es sich um wissenschaftliche     Wissenstransfer-Medium unserer Zeit. Ich
oder nicht, basiert zum Beispiel auf inhalts-      Publikationen, die über frei zugängliche       denke, eine stärkere Orientierung an dieser
blinden Kennzahlen wie der Wiedergabezeit          Server öffentlich gemacht werden, aber noch    Herangehensweise könnte viel dazu beitra-
von Videos. Und dadurch kann ein Algorith-         nicht den Begutachtungsprozess – das „peer     gen, das Vertrauen in die Wissenschaft wie-
mus zum Brandbeschleuniger werden. Neue            review“ – durchlaufen haben. Alle Interes-     der zu stärken.
technologische Möglichkeiten für Infor-            sierten haben so Zugriff und können sich                Das Interview führte Melanie Bartos.
mationsverarbeitung bringen immer neue             ihre Meinung bilden, Expert*innen haben in                        melanie.bartos@uibk.ac.at ◼
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
6

Wenn es im
Winter blitzt
Schnee, Blitz und Donner: Passt das zusammen? Die
Kombination mag auf den ersten Blick ungewöhnlich
klingen, aber auch im Winter können Gewitter
auftreten. Sie sind selten, ihre Blitze verursachen aber
immer wieder starke Schäden an der Infrastruktur.
Deborah Morgenstern und Isabell Stucke sind dem
außergewöhnlichen Wetterphänomen auf der Spur.

D
        er Himmel verfinstert sich, es blitzt   Weise zusammenwirken müssen. „Es ist je-
        und donnert, plötzlich setzt starker    denfalls sehr viel los in der Atmosphäre,
        Niederschlag ein: Wer sich diese Wet-   wenn sich ein Gewitter bildet“, sagt Deborah
terereignisse vor Augen führt, denkt eher       Morgenstern. Das „Rezept“ für Gewitter be-
nicht an die kalte Jahreszeit, sondern an       inhaltet drei Zutaten: Genügend Feuchtig-
heiße Sommertage. „Das ist auch berechtigt,     keit, eine labil geschichtete Atmosphäre und
denn die Mehrheit der Blitze – darüber wer-     die so genannte Hebung. Gerade im alpinen
den Gewitter in den meteorologischen Da-        Bereich werden die Luftmassen oft „geho-
ten hauptsächlich dokumentiert – findet im      ben“, wenn sie auf Berge treffen. Dadurch
Sommer statt. Prinzipiell können Gewitter       kann es zu Gewitterwolken kommen, die          es im Winter selten Gewitter gibt, ergänzt
aber zu jeder Jahreszeit auftreten“, erklä-     sich dann kräftig als Blitz und Donner ent-    auch Stucke, sie seien zudem auch „unauf-
ren Deborah Morgenstern und Isabell Stucke      laden. In den besonders im Sommer entste-      fälliger“: „Sehr wahrscheinlich hat jede und
vom Institut für Statistik. Die beiden Atmo-    henden großen, sich auftürmenden Wolken        jeder von uns auch schon einmal ein Win-
sphärenwissenschaftlerinnen befassen sich       sind die Voraussetzungen für Gewitter daher    tergewitter erlebt, aber eher als Winterein-
bereits seit ihrer Studienzeit mit Gewittern    leichter gegeben. „Im Winter entstehen die-    bruch oder Schneesturm wahrgenommen.
und untersuchen im Rahmen des Projekts          se aufgetürmten Wolken eher nicht und die      Im Sommer ist die Abgrenzung zum schönen
„Wintergewitter in Europa“ Blitze in der        Atmosphäre ist stabiler geschichtet“, be-      Wetter viel deutlicher, daher wird das Ge-
kalten Jahreszeit. Sie sind selten, ihr An-     schreibt Morgenstern die Herausforderung       witter leichter auch als solches erkannt.“ Im
teil beträgt im Winter nur rund drei Prozent    ihrer Arbeit. Es gibt viele Gründe, warum      Winter bauen sich die erforderlichen Wolken
an allen gemessenen Blitzen. Dennoch: Sie
richten teilweise großen Schaden an der In-
frastruktur wie etwa in Windenergieanlagen
an. Welche meteorologischen Mechanismen
in einer für Gewitter eigentlich „ungüns-
tigen“ Zeit zu ihrer Entstehung führen, ist
in Europa bislang nicht gänzlich erforscht.
„Hier setzen wir an: Wir arbeiten datenba-
siert mit statistischen Methoden daran, die
Wetterbedingungen von Wintergewittern
und ihren Blitzen zu untersuchen und somit
die Grundlagen von Blitzschutznormen auch
für den Winter zu optimieren“, erklären die
Doktorandinnen, die auch Teil der Arbeits-
gruppe „Atmospheric Dynamics“ des Insti-           Blitze über
tuts für Atmosphären- und Kryosphären-             Innsbruck:
wissenschaften sind.                               Im Sommer
                                                   häufig zu sehen,
Drei Zutaten                                       im Winter rar.
                                                   Foto: Lukas Lehner
  Die Entstehung eines Gewitters erfordert
zahlreiche Voraussetzungen, die in gewisser
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
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                                                                                                             Blitze können an hoher
                                                                                                       Infrastruktur große Schäden
                                                                                                          auslösen, Windparks sind
                                                                                                            immer wieder betroffen.
                                                                                                              Foto: unsplash.com/cassieboca

nicht wie ein Turm auf, sondern breiten sich    an hohen Objekten wie etwa an der Spitze
eher wie eine große Decke aus. „Zu dieser       von Masten oder Windrädern und bringen
Jahreszeit haben wir es oft mit starken Stür-   ein hohes Schadenspotenzial mit sich. „Auf-      Projekt zu
men und sehr starken horizontalen Bewe-
gungen zu tun. Daher gibt es die Vermutung,
                                                wärtsblitze führen etwa 10 Mal länger Strom
                                                als andere Blitze und können beispielswei-
                                                                                                 Wintergewittern
dass diese Faktoren bei Wintergewittern im      se Windturbinen regelrecht zum Schmelzen
Vordergrund stehen.“                            bringen“, verdeutlicht Isabell Stucke. „Wir         Das Projekt „Wintergewitter in Eu-
                                                sehen einen Zusammenhang zwischen der            ropa“ wird von der Österreichischen
Blitze wie Baumkronen                           Entstehung von Wintergewittern und ho-           Forschungsförderungsgesellschaft
                                                her Infrastruktur: Es gibt Regionen, in de-      FFG finanziert. Projektleiter sind Ge-
   Besonderes Augenmerk legen die For-          nen bisher im Winter kaum Blitze gemes-          org Mayr vom Institut für Atmosphä-
scherinnen auf Blitze – erst ab zumindest       sen wurden. Erst als ein Windpark errichtet      ren- und Kryosphärenwissenschaften
einem Blitz handelt es sich laut Definiti-      wurde, traten gehäuft Wintergewitter auf“,       sowie Thorsten Simon und Achim Zei-
on der Weltorganisation für Meteorologie        so die Forscherinnen. Zusätzlich zu den um-      leis vom Institut für Statistik. Dafür
um ein Gewitter. Prinzipiell sind Blitze gut    fassenden Daten aus den Blitzortungsnetz-        werden Blitzmessungen am Gaisberg
messbar, besser als alle anderen genannten      werken verwendet das Team auch Daten von         (Salzburg), Daten des österreichischen
Eigenschaften. Ihr Auftreten wird europa-       einer speziellen Messstation am Salzburger       Blitzortungssystems ALDIS sowie des
weit in Blitzortungsnetzwerken erfasst. „Es     Gaisberg, sowie europaweite detaillierte at-     europäischen Blitzortungsnetzwerks
gibt Wolke-Wolke-Blitze, die sich innerhalb     mosphärische Daten. Dafür sind leistungs-        EUCLID (bereitgestellt durch Siemens
der Wolke entladen, Wolke-Erde-Blitze, die      starke Rechner erforderlich, die Infrastruk-     BLIDS) verwendet und mit meteorolo-
sich zur Erde hin entladen – Abwärtsblitze      tur dafür steht über den Supercomputer           gischen Daten des europäischen Erd-
– und Erde-Wolke-Blitze, die sich von der       LEO 4 der Universität Innsbruck sowie über       beobachtungsprogramms COPERNI-
Erde zur Wolke entladen - die Aufwärts-         den Vienna Scientific Cluster zur Verfügung.     CUS verbunden.
blitze. Letztere sehen in ihrer Verästelung     „Wir können hier mit modernsten Methoden            Die Auseinandersetzung mit Gewit-
eher aus wie Baumkronen, während Ab-            der Statistik und des Machine Learning hin-      tern hat an der Universität Innsbruck
wärtsblitze an Baumwurzeln erinnern“, er-       ter die Kulissen eines komplexen meteorolo-      bereits eine lange Tradition. In den
klärt Isabell Stucke. Für die Einschätzung      gischen Phänomens blicken und freuen uns         letzten Jahren wurden interdisziplinär
der Gefahren und die entsprechende Aus-         darauf, unsere Ergebnisse für die praktische     viele Fortschritte im Verständnis von
arbeitung von Blitzschutznormen sind Auf-       Umsetzung im Blitzschutz zur Verfügung           komplexen Wetterphänomenen wie
und Abwärtsblitze von Relevanz. Für den         stellen zu können“, betonen Deborah Mor-         Gewittern erzielt.
Winter hat sich gezeigt, dass vor allem Auf-    genstern und Isabell Stucke.
wärtsblitze eine Rolle spielen. Sie entstehen                      melanie.bartos@uibk.ac.at ◼
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
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Gute Fette,
schlechte Fette
„Fett macht krank“, so besagt es eine Volksweisheit. Abgesehen vom schädlichen
Bauchfett haben Fette allerdings wichtige Funktionen in menschlichen Zellen.
Der Innsbrucker Professor für Pflanzliche Wirkstoffforschung, Andreas Koeberle,
arbeitet daran, diese besser zu verstehen.

                                                        W
                                                                  enn wir Biowissenschaftler*innen
                                                                  von Lipiden - also Fetten - im
                                                                  Körper sprechen, meinen wir nicht
                                                        allein das Bauchfett. Jede menschliche Zel-
                                                        le enthält zehn- bis hunderttausend unter-
                                                        schiedliche Lipide. Unter ihnen gibt es po-
                                                        tenziell bioaktive Lipide, von denen vermu-
                                                        tet wird oder von denen man bereits weiß,
                                                        dass sie physiologische, teilweise hormo-
                                                        nartige Aufgaben in den Zellen haben“, er-
                                                        klärt Andreas Koeberle. Der Universitätspro-
                                                        fessor für Pflanzliche Wirkstoffforschung
                                                        leitet das Michael-Popp-Forschungsinstitut
                                                        an der Universität Innsbruck. Sogenann-
                                                        te Lipidmediatoren stehen im Fokus sei-
                                                        nes Forschungsinteresses. „Durch die Fort-
                                                        schritte bei Analysemethoden wie der Mas-
                                                        senspektrometrie ist es möglich geworden,
                                                        verschiedene, auch in kleiner Konzentrati-
                                                        on in Zellen vorkommende Lipidmediatoren
                                                        zu identifizieren und auf Lipidomics-Ebene
                                                        zu untersuchen. Das heißt, wir können ein
                                                        vollständiges Profilbild der einzelnen Li-
                                                        pidmediatoren erstellen“, beschreibt Koe-
                                                        berle. Durch diesen Fortschritt wissen die
                                                        Wissenschaftler*innen zum Beispiel in-
                                                        zwischen, dass es neben entzündungsför-
                                                        dernden Lipidmediatoren auch solche gibt,
                                                        die gezielt Entzündungen auflösen. „Mitt-
                                                        lerweile ist bekannt, dass Entzündungen
                                                        nicht nur getriebene Prozesse sind, son-
                                                        dern auch ganz normale, physiologische
                                                        Abläufe an Reaktionen – zum Beispiel auf
                                                        Infektionen –, bei denen das Immunsystem
                                                        hochgefahren werden muss, die Entzün-
                                                        dungsreaktion dann aber auch wieder aktiv
    Ein Wirkstoff des Drachenbaums                      heruntergefahren werden muss“, so der Bi-
    Dracaena cambodiana ist in der                      ochemiker Koeberle. „Neben anderen Medi-
    Lage, entzündungsfördernde                          atoren sind hier entzündungsauflösende Li-
    Lipidmediatoren zu                                  pidmediatoren ganz entscheidend.“ Da Ent-
    hemmen und gleichzeitig                             zündungsreaktionen bei vielen Krankheiten,
    entzündungsauflösende                               von Diabetes über Herz-Kreislauf-Erkran-
    Lipidmediatoren sehr stark                          kungen bis hin zum Krebs eine wichtige Rol-
    hochzuregulieren.                                   le spielen, stellen diese Lipidmediatoren für
    Foto: commons.wikimedia.org/Ji-Elle                 die Innsbrucker Wissenschaftler*innen ein
                                                        wichtiges Angriffsziel für ihre Wirkstofffor-
                                                        schung dar.
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
9

Vietnamesische Heilpflanze
                                                                                                                       Fortschritte bei
   In einem groß angelegten Forschungs-
                                                                                                             Analysemethoden wie der
projekt in Zusammenarbeit mit dem For-
                                                                                                        Massenspektrometrie machen
schungsbereich       der    Pharmakognosie
                                                                                                             die genaue Untersuchung
an der Universität Innsbruck haben die
                                                                                                        verschiedener Lipidmediatoren
Wissenschaftler*innen um Andreas Koe-
                                                                                                          erst möglich. Im Bild werden
berle eine große Anzahl an vietnamesischen
                                                                                                      Proben vorbehandelter Zellen für
Heilpflanzen im Hinblick auf ihr Wirkpro-
                                                                                                        die massenspektrometrischen
fil auf diese Lipidmediatoren untersucht.
                                                                                                                Lipidomics vorbereitet.
„Wir haben über 100 Extrakte aus Vietnam
                                                                                                      Fotos: Bionorica SE/Gehard Berger, Stein/B. Röpe
auf eine begrenzte Anzahl von Lipidmedia-
toren getestet. Die aktivsten Extrakte wur-
den dann in der Pharmakognosie weiter
fraktioniert und so konnten wir Schritt für
Schritt besonders aktive Naturstoffe iso-
lieren“, beschreibt Andreas Koeberle den
Vorgang. Aus 100 Extrakten konnten die
Wissenschaftler*innen schließlich einen
bestimmten Wirkstoff aus einer vietname-
sischen Drachenbaumart (Dracaena cambo-
diana) isolieren, der das gewünschte Profil-
bild zeigt. „Dieser Wirkstoff ist in der Lage,
entzündungsfördernde Lipidmediatoren zu
hemmen und gleichzeitig entzündungsauf-
lösende Lipidmediatoren sehr stark hoch-
zuregulieren“, so Koeberle über einen ersten
Erfolg des Projektes, das nun weiter vertieft
werden soll.                                      abläuft, ist noch nicht ganz verstanden, sie    dern“, verdeutlicht Koeberle. Der Bioche-
                                                  führt jedoch letztendlich zum Zelltod“, er-     miker betont allerdings, dass die Forschung
Zelltod verstehen                                 klärt Koeberle. Ein Mechanismus, den man        hier noch ganz am Anfang steht: „Die Fer-
                                                  sich in der Tumorbehandlung zu Nutze ma-        roptose ist ein Zelltod-Weg, der noch nicht
   Ein anderes Projekt, an dem die                chen will. „Gerade in der Krebsbehandlung       vollständig verstanden ist. Es gibt im Mo-
Wissenschaftler*innen rund um Andre-              will man erreichen, dass Tumorzellen ab-        ment allerdings ein exponentielles Wachs-
as Koeberle derzeit forschen, beschäftigt         sterben. Die Ferroptose stellt somit einen      tum, was das Wissen um diesen Zelltod-Weg
sich mit einem neu entdeckten Zelltod-Weg.        wichtigen Angriffspunkt vor allem bei che-      betrifft. Das bedeutet auch, dass die Ent-
„Zelltod klingt erst einmal schlecht, dabei       moresistenten oder besonders aggressiven,       wicklung von Wirkstoffen, die in die Ferro-
handelt es sich aber um einen natürlichen         metastasierenden Tumoren dar. Deswegen          ptose eingreifen, noch in den Kinderschuhen
Vorgang. Zellen müssen sich vermehren und         sind wir auf der Suche nach neuen Wirk-         steckt. Wir sehen allerdings großes Potenzi-
sie müssen auch gezielt sterben“, verdeut-        stoffen, die die Ferroptose gezielt auslösen    al in diesem Angriffspunkt und wollen un-
licht der Biochemiker. Ein Zelltod-Weg, die       können“, so Koeberle. Neben der Tumorbe-        sere Forschungen in diesem Bereich weiter
Apoptose, wurde bereits über viele Jahre in-      handlung stellt der Zelltod-Weg Ferropto-       vorantreiben.“
tensiv erforscht. Seit einigen Jahren weiß        se auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen                          susanne.e.roeck@uibk.ac.at ◼
man allerdings, dass es neben der Apoptose        oder bei Schlaganfällen einen vielverspre-
eine ganze Reihe weiterer Zelltod-Wege gibt,      chenden Ansatzpunkt in der Therapie dar.

                                                                                                    Phytovalley Tirol
die gezielt in Zellen ablaufen. Einer davon ist   „Neuste Forschungsergebnisse deuten da-
die Ferroptose, bei der auch wieder Lipide        rauf hin, dass bei all diesen Erkrankungen
im Mittelpunkt stehen. „Bei der Ferropto-         die Ferroptose eine wesentliche Rolle spielt.
se spielen Membran-Lipide eine große Rolle.       Könnte man sie gezielt mit einem Wirkstoff           In den vergangenen Jahren wur-
Diese werden oxidativ geschädigt und ver-         hemmen, könnte man derartigen degenera-           den in Tirol zahlreiche Arbeitsplät-
ändern in der Folge die Membran-Architek-         tiven Erkrankungen womöglich vorbeugen            ze im Bereich der Phytowissenschaf-
tur der Zelle. Wie genau diese Veränderung        beziehungsweise die negativen Folgen lin-         ten geschaffen, aktuell arbeiten rund
                                                                                                    140 Forscherinnen und Forscher im
                                                                                                    Phytovalley Tirol. Neben dem Anfang
                                                                                                    2020 eröffneten Michael-Popp-For-
  ZUR PERSON                                                                                        schungsinstitut, das über die Michael
                                                                                                    A. Popp nature science foundation und
                     Andreas Koeberle (geboren 1981 in Sigmaringen/Baden-Württem-                   das Land Tirol finanziert wird, for-
                     berg) studierte Biochemie an der Universität Tübingen, wo er 2009              schen an der Universität Innsbruck
                     in Pharmazeutischer Chemie promovierte. Nach einem Postdoc-                    auch Wissenschaftler*innen der In-
                     Aufenthalt an der Universität Tokio wurde er 2011 Gruppenleiter                stitute für Analytische Chemie & Ra-
                     am Lehrstuhl für Pharmazeutische/Medizinische Chemie an der                    diochemie, Pharmazie und Botanik an
                     Universität Jena, wo er 2012 auch die Leitung der institutionellen             Pflanzenwirkstoffen. Das ADSI, Biono-
                     Lipidomics-Einrichtung übernahm. Der mehrfach ausgezeichnete                   rica Research, Tirol Kliniken, MCI und
                     Forscher habilitierte sich 2016. Seit Oktober 2019 ist er Universi-            weitere Partner ergänzen das erfolg-
  tätsprofessor für Pflanzliche Wirkstoffforschung am Michael-Popp-Forschungs-                      reiche Forschungscluster.
  institut der Universität Innsbruck.
Wintergewitter in Europa - Universität Innsbruck
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Corona: Chance für die
Lehrlingsausbildung?
Nicht nur Schulen und Universitäten standen während der Lockdowns vor
der Herausforderung, Lehre und Bildung auf Distanz zu ermöglichen. Auch
in vielen Betrieben waren hohe Anstrengungen und Flexibilität nötig, um die
Lehrlingsausbildung aufrecht zu erhalten. Wie sich die betriebliche Ausbildung
in dieser Zeit verändert hat, untersucht Bernd Gössling, Professor für
Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Berufsbildungsforschung,
im Projekt „Corona als Chance“.

     Auch das Ausbildungspersonal in der
     Berufsbildung steht während der
     Pandemie vor der Herausforderung,
     Bildung auf Distanz zu ermöglichen.
     Fotos: iStock/damircudic; Gössling
11

H
        omeoffice, Homeschooling und Dis-        Berufsbildung?“, die auch zu einer weite-        tisches Konzept nicht ‚automatisch‘ zu einer
        tance Learning – Begriffe und Um-        ren Professionalisierung der Lehrlingsaus-       lernförderlichen    Ausbildungsdokumenta-
        stände, an die viele sich in den ver-    bildung beitragen soll. Dazu befragt Göss-       tion. Das Potenzial der Digitalisierung von
gangenen zwei Jahren gewöhnt haben, ja           ling Ausbildungspersonal in der Berufsbil-       Lernprozessen lässt sich nur ausschöpfen,
gewöhnen mussten. Die Digitalisierung            dung über alle Branchen hinweg mit einem         wenn der didaktische Ansatz auch auf In-
macht es möglich. Wie digitale Mittel im         Online-Fragebogen. Erste Zwischenergeb-          dividualität, Selbstständigkeit und koope-
Schulunterricht oder in der Lehre an Hoch-       nisse zeigen, dass digitale Tools vor der Kri-   ratives Lernen setzt. Wo die Ausbildung da-
schulen während der Lockdowns eingesetzt         se nur in wenigen Lehrbetrieben aktiv von        rauf beruht, dass überwacht und vorgegeben
werden, dazu gibt es bereits einige Studien.     den Ausbildner*innen eingesetzt wurden.          wird, kann die Digitalisierung zwar einen
Demnach sind es beispielsweise Lernplatt-                                                         Lockdown abfedern, die Leistungen der be-
formen, Konferenztools oder Chatsysteme,                                                          trieblichen Ausbildung werden so jedoch
die das Lernen auf Distanz ermöglichen. Al-         »Es liegt am Bildungspersonal,                nicht wesentlich verbessert“, sagt Gössling.
les Technik, die es bereits lange vor Covid-19        die digitale Technik sinnvoll               Einen Mehrwert sieht der Wirtschaftspä-
gegeben hat, die ihren flächendeckenden                                                           dagoge trotzdem in den Erfahrungen der
Einzug in den Schul- und Universitätsalltag
                                                      einzusetzen, um Unterricht                  vergangenen zwei Jahre: „Die digitale Aus-
jedoch erst mit der Krise geschafft hat. Die           und Lehre auch während                     bildungskompetenz der Teilnehmer*innen
Behauptung, dass Corona ein Digitalisie-             eines Lockdowns am Laufen                    der Studie ist gestiegen. Die Lockdowns
rungstreiber ist, sieht Bernd Gössling, Pro-         zu halten. Tatsächlich ist das               haben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass
fessor für Wirtschaftspädagogik mit dem                                                           Ausbilder*innen sich mit dem lernförder-
Schwerpunkt Berufsbildungsforschung am              Lehr- und Ausbildungspersonal                 lichen Einsatz digitaler Tools beschäftigen.
Institut für Organisation und Lernen, den-          der Digitalisierungstreiber und               Die dazu erforderlichen Veränderungen der
noch kritisch: „Für den Bildungsbereich              nicht die Covid-19-Pandemie                  Ausbildungskonzepte gelingen dort beson-
kann ich das nicht bestätigen. Denn es liegt                                                      ders gut, wo Lehrlingsausbilder*innen zu-
                                                                an sich.«
am Bildungspersonal, die digitale Technik                                                         sammenarbeiten. Die Befragung zeigt, dass
sinnvoll einzusetzen, um Unterricht und                        BERND GÖSSLING                     diese professionelle Kollaboration inzwi-
Lehre auch während eines Lockdowns am                                                             schen viel häufiger auch digital stattfindet
Laufen zu halten. Tatsächlich ist das Lehr-                                                       und zwar auch nach Ende der Lockdowns.
und Ausbildungspersonal der Digitalisie-         Das hat sich während der Lockdowns jedoch        Insofern zeigen sich hier deutlich positive
rungstreiber und nicht die Covid-19-Pande-       geändert: Auch Lehrlingsausbilder*innen          Effekte der Krise“, meint Gössling.
mie an sich.“                                    haben Messengerdienste, Videokonferenzen,
                                                 Tools zum kooperativen Lernen oder zur di-       Studie läuft noch bis
Digitalisierung in der                           gitalen Prüfungsvorbereitung eingesetzt.
                                                                                                  zum Frühjahr 2022
Lehrlingsausbildung
                                                 Digitale Ausbildungskompetenz                       Aktuell versuchen Gössling und seine
   Doch wie sieht es eigentlich in der Lehr-                                                      Kolleg*innen, auch Ausbilder*innen system-
                                                 ist gestiegen
lingsausbildung aus? Das untersucht Bernd                                                         relevanter Berufsgruppen direkt vor Ort zu
Gössling aktuell in einer laufenden Studie          Vorläufige Befragungsergebnisse zeigen,       erreichen, die überwiegend analog arbeiten.
– einer der ersten in Österreich überhaupt,      dass die Verwendung dieser digitalen Werk-       Die Studie, die aus der Stiftungsprofessur für
die sich mit dem Thema Digitalisierung           zeuge nach Ende der Lockdowns jedoch wie-        Berufsbildungsforschung und vom Bundes-
in der betrieblichen Ausbildung während          der stark zurückgegangen ist. Die Annahme        ministerium für Digitalisierung und Wirt-
der Covid-19-Pandemie beschäftigt. „Die          einer dauerhaften Umstellung auf digitale        schaftsstandort finanziert wird, läuft noch
schulische und die universitäre Ausbildung       Lernprozesse kann vorläufig also nicht be-       bis März 2022. Lehrlingsausbilder*innen ha-
während der Lockdowns wurde bereits un-          stätigt werden. Erste Erklärungen dafür          ben also nach wie vor die Möglichkeit, daran
tersucht. Wir wollen nun erheben, wie die        liefern Forschungsarbeiten aus der Zeit vor      teilzunehmen. ◼
betriebliche Berufsausbildung in diesen          Corona: „Eine Ausbildungssituation wird für
Phasen weitergelaufen ist und inwiefern          den Lehrling nicht allein dadurch besser,        Weitere Infos:
hier digitale Tools eingesetzt wurden. Bis-      dass sie digital organisiert wird. Und auch      https://bit.ly/berufsbildung-
her ist das ein weißer Fleck in der Landkar-     der Ersatz eines bisher weitestgehend un-        nach-corona
te“, beschreibt Gössling den Ausgangspunkt       genutzten physischen Berichtshefts durch
seiner Studie „Corona als Chance für die         ein Online-Tool führt ohne ein neues didak-      lisa.marchl@uibk.ac.at ◼

  ZUR PERSON

                     Bernd Gössling ist geboren im Rheinland und aufgewachsen in Westfalen. Er studierte Wirtschaftswissenschaf-
                     ten, unter anderem an der Universität Paderborn. Nach Abschlüssen als Diplom-Kaufmann und Diplom-Handels-
                     lehrer folgten Tätigkeiten im Personalwesen und in der Geschäftsentwicklung. 2013 promovierte er im Fach
                     Wirtschaftspädagogik. Der Forschungsschwerpunkt von Bernd Gössling liegt auf der Berufsbildung und ihrer
                     Verflechtung mit Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung. Vor dem Hintergrund eines didaktischen Erkenntnis-
                     interesses betrachtet er Lehr- und Lernprozesse, insbesondere in der Lehrlingsausbildung und der betrieblichen
                     Weiterbildung. Dabei spielen auch die organisationalen und personalen Bedingungen sowie die erweiterten sozi-
                     alen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. Als Leiter und Mitwirkender war
  er an zahlreichen nationalen und internationalen Forschungsprojekten zu verschiedenen Facetten der Berufsbildungsforschung
  aktiv und betreibt seine Arbeiten eingebunden in internationale Forschungsnetzwerke. Seit August 2019 ist Bernd Gössling Profes-
  sor für Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Berufsbildungsforschung am Institut für Organisation und Lernen der Leopold-
  Franzens-Universität Innsbruck.
12

Das Texterbe
des Alltags
Im Rahmen des Projekts „Zeit.Shift“ widmet sich                                                   Johanna Walcher. Das Projekt ist in drei Be-
                                                                                                  standteile gegliedert: Bewahren, erschlie-
die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol der                                                  ßen und vermitteln. Zu Ersterem gehört die
                                                                                                  Digitalisierung der historischen Zeitungen
Digitalisierung von historischen Zeitungen aus                                                    an sich. Bei der Erschließung kommen com-
                                                                                                  puterlinguistische Methoden zum Einsatz.
Nord-, Ost- und Südtirol.                                                                         Für diese ist vor allem EURAC Research zu-
                                                                                                  ständig. In maschinellen und automatisier-
                                                                                                  ten Verfahren sollen wichtige Begriffe wie

W
           issen Sie, wo es einen Lüfteneg-       des 20. Jahrhunderts und stehen in den digi-    Personen, Namen und Orte erkannt und auf
           ger Stock zu kaufen gibt? Oder in      talen Bibliotheken der ULB und der Landes-      digitalen Karten geographisch lokalisiert
           welcher Situation Sie vielleicht ei-   bibliothek Dr. Friedrich Teßmann der Allge-     werden. Diese Informationen werden aber
nen Diabolo-Separator benötigen könnten?          meinheit zur Verfügung. Eine gemeinsame         auch händisch erschlossen. Dafür werden
Falls diese Begriffe Ihnen nichts sagen,          Online-Plattform befindet sich in Arbeit.       Bibliotheken, Archive und Museen in meh-
müssten Sie bei Gelegenheit einen Blick in                                                        reren Workshops geschult. „Da kommt dann
den Tiroler Grenzboten werfen. Oder in die        Bewahren, erschließen, vermitteln               auch der große Aspekt der Vermittlung ins
Tiroler-Vorarlberger Bienen-Zeitung. Die-                                                         Spiel“, erklärt Horwath.
se Zeitungen werden nicht mehr gedruckt,             An der Universitäts- und Landesbiblio-
auch wenn der Tiroler Grenzbote noch bis          thek Tirol wird abteilungsübergreifend an       Neue Inhalte entdecken
in die 2000er-Jahre hinein erschien. Dass         vielfältigen Aufgaben zusammengearbei-
sie trotzdem nicht aus dem kollektiven Ge-        tet. Intensiv in das Projekt eingebunden           Die Frage, die bei der Vermittlung des
dächtnis verschwinden, ist Ziel des interre-      sind dabei vor allem Silvia Gstrein als Pro-    Projekts im Vordergrund steht, lautet: Was
gionalen Projektes „Zeit.Shift.“ Die Univer-      jektleiterin von Zeit.Shift an der ULB Tirol    ist mit diesen Quellen anzufangen, wenn sie
sitäts- und Landesbibliothek Tirol (ULB) an       sowie Barbara Laner, Johanna Walcher und        einmal digitalisiert sind? Das Projekt will
der Universität Innsbruck, die Dr. Friedrich      Maritta Horwath aus der Abteilung für Di-       ein Bewusstsein dafür schaffen, was in hi-
Teßmann - Landesbibliothek in Südtirol und        gitale Services. „Historische Zeitungen als     storischen Zeitungen alles entdeckt wer-
das private Forschungszentrum EURAC Re-           zeitgenössische Quellen sind in der öffentli-   den kann - nicht nur für die Forschung,
search in Bozen arbeiten gemeinsam an der         chen Wahrnehmung nicht sehr präsent und         sondern auch für die breite Öffentlichkeit.
Digitalisierung von historischen Zeitungs-        akut vom Zerfall bedroht. Auch sind die Zei-    Deswegen arbeitet das Zeit.Shift-Team ne-
beständen aus Nord-, Ost- und Südtirol. Die       tungsbestände regional stark verteilt, was      ben der Organisation von Workshops vor
digitalisierten Zeitungsartikel stammen           die länderübergreifende Kooperation in die-     allem an einer Citizen-Science-Initiative,
hauptsächlich aus den ersten Jahrzehnten          sem Projekt umso wichtiger macht“, erklärt      die einen wesentlichen Bestandteil des Pro-

     Eine Illustration aus der
     Bienenzeitung.
     Foto: Uni Innsbruck
13

jektes darstellt und eine aktive Teilnah-
me der Öffentlichkeit ermöglicht. „Mit der
Citizen-Science-Initiative wollen wir mit
unseren Inhalten rausgehen und die Leu-
te dazu einladen, mit uns neue Inhalte zu
entdecken und an ihnen zu arbeiten“, sagt
Walcher. Dafür werden Werbeanzeigen aus
den digitalisierten Zeitungsbeständen auf
die Plattform „Historypin“ geladen. Jede*r
mit einem Internetzugang kann auf diese
zugreifen und sie auf eigene Faust durchsu-
chen. Nutzer*innen können durch zwei ein-
fache Aufgaben dabei helfen, das kulturelle
Erbe Tirols zu bewahren und aufzuarbeiten:
lokalisieren und taggen. Dazu muss nur ei-
ne Zeitungskollektion ausgewählt werden,
wie zum Beispiel die Tiroler-Vorarlberger
Bienen-Zeitung oder der Tiroler Grenzbote.
Wenn die Werbeanzeige auf einen bestimm-
ten Ort verweist, kann dieser auf einer Kar-
te lokalisiert und markiert werden. Weiters
können Tags hinzugefügt werden, also kur-
ze Beschreibungen, die dabei helfen, Anzei-
gen in bestimmte Kategorien einzuordnen
– dazu gehören Eigennamen, bestimmte
Produkte oder eine Veranstaltung, um die
es in der Anzeige geht. Wer an einer Anzei-
ge besonders interessiert ist, kann auch on-
line weiter dazu recherchieren und weitere
Entdeckungen als Link hinzufügen - zum
Beispiel über den „Lüftenegger Stock“, zur
Zeit der Bienen-Zeitung ein sehr beliebtes                                                          Eine Anzeige für Feigenkaffee.
Bienenstock-Modell. Oder über den Diabolo-                                                                            Foto: Uni Innsbruck
Separator, einer Milchzentrifuge zur Verar-
beitung von Frischmilch, die im Grenzboten
über zahlreiche und geografisch weit ver-
breitete Anzeigen beworben wurde.

Einblick in den Alltag
   „Über eine Auswertung dieser Werbean-
zeigen gewinnt man einen sehr guten Ein-
blick in das Alltagsleben bestimmter Regi-
onen, weil es eine schriftliche Quelle ist, die
direkt aus der Bevölkerung kommt“, erklärt
Horwath. Bei den Anzeigen handelt es sich
schließlich nicht nur um Werbung für Pro-
dukte. Neben Inseraten für Haarfärbemittel                                                                  Artikel aus historischen
und weiße Zähne finden sich medizinische                                                                         Zeitungsbeständen
Empfehlungen,        Stellenausschreibungen,                                                               Nord-, Ost- und Südtirols.
Traueranzeigen und Veranstaltungen. „Es                                                                                 Foto: Uni Innsbruck
tauchen auch immer wieder außergewöhn-
liche Fundstücke auf“, fügt Walcher hinzu.
„Erst vor kurzem bin ich auf eine Klarstel-
lung zu Feigenkaffee gestoßen. Das war da-        angelegter Onlinekurs. Die Schüler*innen
mals ein beliebtes Getränk, das auch Kaffee
beigemischt wurde – nur haben die Leute
                                                  sollen darin lernen, die Zeitungsartikel für
                                                  eigene wissenschaftliche Hausarbeiten aus-
                                                                                                  Link-Tipp
ihn wohl oft viel zu hoch dosiert, sodass die     zuwerten. „Der große Grundgedanke dieses           Wer selbst in den Zeitungsartikeln
Hersteller die richtige Verwendung in einem       MOOCs ist, mithilfe von historischen Zei-       stöbern und bei der Lokalisierung hel-
Kommentar klarstellen mussten.“                   tungen zu einem bestimmten Thema zu re-         fen möchte, kann
                                                  cherchieren – also wie die Portale genutzt      über diesen QR-Code
Eine Wissensquelle für alle                       werden oder was bei der Erarbeitung einer       die Plattform Histo-
                                                  Forschungsfrage beachtet werden muss“,          rypin aufrufen, oder
   Ein weiterer Ansatz, mit dem das Pro-          sagt Walcher. Wie auch bei der Citizen-Sci-     dem Link https://
jekt unter dem Aspekt „Vermittlung“ ex-           ence-Initiative dreht sich hier alles darum,    www.historypin.org/
perimentiert, ist die Nutzung der digitalen       ein vollständigeres Bild des Tiroler Alltags-   en/zeit-shift/ folgen.
Zeitungsarchive durch Schüler*innen. Dazu         lebens vor 100 Jahren zu erarbeiten.
wird gerade ein MOOC erarbeitet, ein groß                           fabian.oswald@uibk.ac.at ◼
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     Der Süßwasserpolyp Hydra,
     an dem die Arbeitsgruppe
     von Bert Hobmayer forscht.
     Foto: Wolfgang Dibiasi

Stammzellen auf der
unmöglichen Treppe
Eine neue Studie beschreibt überraschende Eigenschaften von
Stammzellen in wirbellosen Tieren. Der unsterbliche Süßwasserpolyp Hydra
spielt dabei eine wichtige Rolle.

E
      ine Kugel rollt einen Hügel hinab.        desto eingeschränkter ist die Bandbreite an    großen internationalen Kooperation haben
      Auf ihrem Weg trifft sie auf Erhö-        Zelltypen, zu denen sie sich noch ausdiffe-    Wissenschaftler*innen bisher wenig beach-
      hungen oder Mulden und muss ihre          renzieren kann - so wie die Kugel auch nicht   tete Eigenschaften von adulten Stammzel-
Bahn anpassen, rollt mal nach rechts, mal       mehr bergauf rollen kann. Die Fähigkeit zur    len an wirbellosen Tieren erforscht und das
nach links. Am Ende ihres Weges erreicht        Differenzierung in verschiedene Zelltypen      Bild des „Waddington Landscape“ um meh-
sie ebenen Boden. Das Bild des „Wadding-        nennt sich Plastizität.                        rere Dimensionen erweitert. Die Arbeit wur-
ton Landscape“ wurde im Jahr 1957 entwi-           Diese Vorstellung von Stammzellen be-       de im wissenschaftlichen Journal „Biologi-
ckelt und ist ein klassisches Modell, das den   ruht allerdings hauptsächlich auf dem, was     cal Reviews“ veröffentlicht. Bert Hobmayer
Differenzierungsweg von Stammzellen be-         von Wirbeltieren bekannt ist. Diese wer-       vom Institut für Zoologie der Universität
schreibt: Stammzellen teilen sich. Daraus       den in der Stammzellforschung bereits          Innsbruck war maßgeblich an der Studie be-
entstehen zunehmend spezialisierte Zell-        seit Jahrzehnten untersucht, allen voran       teiligt und erklärt, welche Rolle der Süßwas-
typen, bis sie eine bestimmte Körperzel-        der Mensch, da medizinische Anwendbar-         serpolyp Hydra gespielt hat, an dem seine
le gebildet haben. Je spezifischer die Zelle,   keit stark im Vordergrund steht. In einer      Arbeitsgruppe forscht.
15

   Bei Wirbeltieren entscheiden sich Stamm-     und letztendlich zum Tod führen, sind hier      zellen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunk-
zellen bereits sehr früh, im Embryonal-         außer Kraft gesetzt. „Im Waddington Lands-      ten ihres Lebens gewählt werden, um einen
stadium, zwischen einem von zwei Wegen:         cape wird nicht die Plastizität beschrieben,    bestimmten Entwicklungsweg einzuschla-
entweder sie schlagen die Keimbahn ein,         die wir in einigen von diesen basalen Tie-      gen, je nachdem, was der Organismus des
entwickeln sich zu Spermien- oder Eizellen      ren finden“, sagt Hobmayer. „Wir haben hier     Tieres gerade benötigt. In manchen wirbel-
und geben damit die Erbinformation weiter       Stammzellen, die über sehr lange Lebens-        losen Tieren können Körperzellen sich auch
– oder sie entwickeln sich zu somatischen       spannen in diesem Stammzellzustand ge-          wieder zurück differenzieren und wieder zu
Stammzellen, die sich zu allen anderen          halten werden und verschiedene Entwick-         einer Stammzelle werden, dargestellt durch
Körperzellen ausdifferenzieren. Diese Ent-      lungswege einschlagen können.“ Das Ziel         die Leitern im Schema. Damit steht ihnen
scheidung ist endgültig – keine Keimzelle       der kooperierenden Forscher*innen war es        die Möglichkeit offen, sich auch später wie-
kann sich später noch zu einer somatischen      deswegen, die Biologie adulter Stammzel-        der zu Keimzellen zu entwickeln.
Zelle entwickeln, oder umgekehrt. Stamm-        len viel breiter zu beobachten und zu cha-         Das neue Modell verspricht, ein guter
zellen, die sich nach der Embryonalentwick-     rakterisieren, um ihre Eigenschaften besser     Grundstein für zukünftige Forschung zu
lung im Gewebe und den Organen von Tie-         fassen zu können. Dafür entwickelten sie ei-    sein. Hobmayers Forschungsgruppe ver-
ren finden, nennen sich adulte Stammzellen.     ne graphische Darstellung - den „Wobbling       sucht aktuell, die Entscheidungsfindung von
„Prinzipiell ist es so, dass adulte Stammzel-   Penrose Landscape“ (siehe unten).               interstitiellen Stammzellen der Hydra ein-
len in allen Tieren vorkommen. Sie sind da-                                                     gehender zu studieren und die Plastizität
für verantwortlich, das Gewebe jung zu hal-     Die Kugel rollt auch bergauf                    dieser Stammzellen auf einer molekularen,
ten, absterbende Zellen zu erneuern und Re-                                                     genetischen Ebene besser zu verstehen. Da-
generationsprozesse umzusetzen,“ erklärt           Im Gegensatz zum „Waddington Land-           zu sind auch interdisziplinäre Projekte in
Hobmayer. „Unsere Organsysteme greifen          scape“ – auf dem Bild oben rechts in Schwarz-   einem von der Europäischen Union geför-
zurück auf einen Pool von adulten Stamm-        Weiß zu sehen- bewegen sich die Stammzel-       derten Doktoratsprogramm an der Univer-
zellen, damit unsere Gewebe und Organe          len im „Wobbling Penrose Landscape“ nicht       sität Innsbruck (EU-CoFUND „DP ARDRE“)
über unsere Lebenszeit hinweg leistungs-        in eine einzige Richtung. Vielmehr befinden     geplant, vor allem Kooperationsprojekte mit
fähig bleiben können.“ Adulte Stammzel-         sie sich in einem stetigen Auf und Ab. Die-     dem Institut für Alternsforschung und dem
len in Wirbeltieren haben eine begrenzte        se Stammzellen können fortwährend und           Institut für Molekularbiologie der Universi-
Teilungsfähigkeit, danach sterben sie. Bei      über sehr lange Lebensspannen eine hohe         tät Innsbruck. Die adulten Stammzellen der
wirbellosen Tieren hingegen sieht die Sache     Plastizität aufweisen und in einem andau-       Hydra und ihre unbegrenzte Regenerations-
ganz anders aus, wie sich am Beispiel der       ernden dynamischen Zustand gehalten wer-        fähigkeit haben noch viel über Fragen der
Hydra zeigt.                                    den, dargestellt durch die Penrose-Treppe,      Regeneration, des Alterns und der Arznei-
                                                auch bekannt als unmögliche Treppe. Die         mittelforschung zu verraten.
Dem Tod entgehen                                zahlreichen Ausgänge können von Stamm-             fabian.oswald@uibk.ac.at ◼

   „Um das in einen Bezug zu setzen: die
Wirbeltiere sind einer von 35 Tierstämmen.
Die restlichen 34 Tierstämme gehören zu
den Wirbellosen. Wir haben da eine gigan-
tische Vielfalt von Formen und Entwick-
lungsstrategien“, sagt Hobmayer. Unter den
Wirbellosen sind sehr ursprüngliche, ein-
fach gebaute Tiere vertreten, die aber sehr
leistungsfähige Stammzellen besitzen und
die über ausgeprägte Reparationsleistungen
verfügen. Manche dieser Tiere können gan-
ze Körperteile komplett ersetzten, oder aus
Einzelzellen einen ganzen Organismus neu
bilden - so auch die Hydra, weshalb sie auch
diesen Namen trägt. „Diese Tiere scheinen in
ihrem Lebenszyklus nahezu unbegrenzt zu
wachsen. Sie vermehren sich asexuell, das
heißt, sie bilden neue Klone aus ihren Kör-
pern und erneuern permanent ihr Gewebe“,
so Hobmayer. „Damit bleiben sie jung und
irgendwie – auf zellulärer Ebene verste-
hen wir das noch nicht – entgehen sie dem
Tod. Wir arbeiten mit Laborstämmen, die in
den 60er-Jahren etabliert wurden und seit-
her über klonales Wachstum vermehrt wer-
den. Sie haben also schon tausende Zelltei-
lungen hinter sich gebracht und es gibt kein
Signal, dass die in irgendeiner Form gealtert
wären.“
   Süßwasserpolypen bestehen zu einem                                                             Der „Wobbling Penrose Landscape“
sehr hohen Anteil aus adulten Stammzellen                                                         ist eine neue bildliche Darstellung
- etwa ein Drittel der Gesamtzellen, die ei-                                                          der Dynamik von Stammzellen.
ne Hydra ausmachen - die sich auch ständig                                                                            Foto: Oshrat Ben-Hamo
teilen. Die Alterungsprozesse, die normaler-
weise mit häufiger Zellteilung einhergehen
16

Meinungsmacht
im Netz
Im digitalen Raum treffen unterschiedliche Ansichten
aufeinander. Das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört
zum Fundament einer funktionierenden Demokratie. Doch
wie sollen Staaten, Gerichte und soziale Netzwerke mit
gefährlichen Inhalten umgehen?

I
    mmer mehr Menschen nutzen das Inter-        Netz. Daraus konnte der Jurist interessante      sehr schlecht darin sind, Informationen
    net. Voraussetzung für die Ausübung der     Rückschlüsse ziehen. „Hinsichtlich be-           objektiv zu bewerten und Gefahren zu er-
    Menschenrechte im digitalen Raum ist        stimmter Meinungen und Themen sieht man          kennen. „In vielen Fällen vertrauen wir In-
die Teilhabe. Rund 44 % der Weltbevölke-        Tendenzen zu extremistischeren und poin-         formationen, die wir von einer Person er-
rung haben noch keinen Zugang, auch wenn        tierteren Ausdrucksweisen. Dies hat sich sehr    halten, zu der wir eine emotionale Bindung
die UNO Zugang für alle bis 2030 anstrebt.      stark im Bereich der Desinformation in Zu-       haben.“
Für die restlichen 4,4 Milliarden spielt das    sammenhang mit der Coronakrise gezeigt.“
Internet schon jetzt als Kommunikations-        Kettemann stellt sich dabei die Frage, wie       Verhalten analysieren
raum eine wichtige Rolle. Trotzdem wis-         Informationen im Netz aufgenommen wer-
sen wir noch wenig darüber, wie Internet-       den. „Nicht jede Altersgruppe hat das natür-        In den sozialen Netzwerken sind Hass-
plattformen im Detail funktionieren. An der     liche Gefühl, dass Onlineinformationen po-       kommentare und Falschmeldungen weit
Universität Innsbruck wirkt seit September      tenziell gefährlich sein können. Dazu zählen     verbreitet. Daher werden vermehrt For-
Matthias C. Kettemann, der als Erster im        beispielsweise Personen im Alter zwischen        derungen nach engmaschigeren Gesetzen
deutschen Sprachraum eine Lehrbefugnis          40 und 70 Jahren, die in der Gesellschaft        vorgebracht. „Wenn wir immer nach neuen
für Internetrecht erhielt. Der Netzexperte      einflussreiche Positionen innehaben.“ Wäh-       Regulierungen rufen, vergessen wir innezu-
untersucht, wie man mehr Menschen ans           rend die traditionellen Medien sich in der       halten, um nachzuschauen, ob das bestehen-
Netz holt, Hassreden bekämpft und Cyber-        Hand von professionellen Redakteur*innen         de Recht ausreicht. Die Online-Kommunika-
kriege verhindert. Darüber hinaus befasst er    befinden, werden die Inhalte im Netz von         tion hat das Rechtssystem nicht verändert.
sich mit den Auswirkungen von Falschin-         einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. „In     Die Meinungsäußerungsfreiheit ist rechtlich
formationen. Aus seiner Sicht wird das In-      der Onlinewelt fehlt diese Filterfunktion,       betrachtet bereits sehr gut geschützt.“ Aus
ternet als Informationsquelle sowohl unter-     die Algorithmen bestimmen, welche Beiträ-        Sicht des Internetexperten haben Staaten
schätzt als auch überschätzt. „Empirische       ge wir zu sehen bekommen. Es bleibt somit        nur wenige Möglichkeiten, gegen Falsch-
Studien haben gezeigt, dass sich Menschen       in der Hand der User, Inhalte kritisch zu be-    meldungen vorzugehen. „Wenn man Staa-
auf vielfältige Weise informieren. Die so-      leuchten.“ Das Problem hierbei ist, dass viele   ten auffordern würde, Desinformationen zu
zialen Medien sind dabei nicht in der Lage,     Internetnutzer*innen dies nicht tun. Da-         verbieten, hätte dies negative Auswirkungen
Ansichten komplett zu ändern“, betont Ket-      durch kommt es zur raschen Verbreitung von       auf unsere Freiheit. Vielmehr sollten die
temann. Angesichts der wichtigen Rolle, die     Falschmeldungen. Der Rechtswissenschaft-         Plattformen aufhören, ihre ökonomischen
das Internet einnimmt, stellt sich die Frage,   ler konnte dabei feststellen, dass Menschen      Beweggründe in den Vordergrund zu stel-
wie die Meinungsbildung beeinflusst wird.
„Die sozialen Medien sind stärker als tradi-
tionelle Medien in der Lage, Meinungen zu         ZUR PERSON
verstärken und Aufmerksamkeit durch Al-
gorithmen zu lenken. Dieser Umstand kann                             Matthias C. Kettemann (*1983) ist Universitätsprofessor für Inno-
gegeben sein, wenn Menschen ihre eigenen                             vation, Theorie und Philosophie des Rechts am Institut für Theorie
Befürchtungen auf Plattformen bestätigt se-                          und Zukunft des Rechts. Daneben leitet er Forschungsgruppen am
hen. Problematisch wird es vor allem dann,                           Leibniz-Institut für Medienforschung und dem Humboldt-Institut
wenn bestimmte Ansichten gesellschaftlich                            für Internet und Gesellschaft. Der Internetexperte studierte in
zu negativen Folgen führen.“                                         Graz und Genf und promovierte an der Harvard School. Seine For-
                                                                     schungsschwerpunkte liegen auf dem Internetrecht, künstlicher
Emotionale Bindung                                                   Intelligenz und der staatlichen Regulierung privater Räume. Er hat
                                                  in der Zentrale von Facebook untersucht, wie das Unternehmen Regeln für bald drei
   In der gegenwärtigen Situation erleben         Milliarden Nutzer*innen setzt. Darüber hinaus berät Kettemann die EU im Kampf ge-
viele Menschen eine Phase voller Verunsi-         gen Desinformation.
cherung und verbringen sehr viel Zeit im
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