65 Jahre Matthias-Film - "Filme, die bewegen" Keynote 11. Februar 2015, 19.00h Französische Friedrichsstadtkirche, Berlin
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65 Jahre Matthias-Film „Filme, die bewegen“ Keynote 11. Februar 2015, 19.00h Französische Friedrichsstadtkirche, Berlin -Es gilt das gesprochene Wort- Lieber Bernd Merz, liebe Freunde und Freundinnen von Matthias-Film, in meiner Schulzeit gab es zwei technische Herausforderungen für Lehrerinnen und Lehrer, die sie regelmäßig nicht bestanden. Das erste war die einwandfreie Bedienung des Sprachlabors. Wer nicht mehr weiß, was das ist, es war der Versuch, Schüler beim Lernen heimlich auszuspionieren. Jeder Schüler mit Kopfhörer, eingezwängt in einer Lernbox, versuchte, seinem Sprachnavigator sinnvolle Antworten auf Englisch oder Französisch auf das unsichtbare Tonband zu sprechen. Dafür hatte er eine Tastatur, die er von seinem heimischen Grundig-Kassettenrekorder kannte. Doch im Sprachlabor konnte er dabei unbemerkt von seinem Lehrer abgehört werden. Das fortwährende Scheitern meiner Lehrer, sowohl in der generellen Bedienung wie in unserer Bespitzelung, führte schnell dazu, dass wir in diese Lernkabinen bald nur noch zu Klassenarbeiten geführt wurden. Die Zwischenwände sollten scheinbar ein guter Schutz gegen das Abschreiben sein, was natürlich eine naive Vorstellung war. Die zweite technische Überforderung lag in der Aufführung von Filmen in 16 mm. Einerseits freuten wir uns über die Ablenkungen vom Schulalltag, denn mit einem Film war meistens eine Stunde ohne inhaltliche Arbeit überstanden – wir sahen eben keine Filme von Matthias- Film -, doch oftmals kam es gar nicht dazu. Denn die Filmvorführung endete schon beim Aufstellen und Anschließen des Projektors (es fehlte das Verlängerungskabel), beim Einfädeln des Films (durch welchen Schlitz wie herum einführen?), bei der Ausrichtung oder Schärfe des Bildes (an welchem Drehknopf drehen?), der Synchronisierung des Tons und vieler anderer Dinge. So viel konnte schief gehen und ging schief. Manchmal begann es
schon beim Auspacken des Films aus der Blechkassette mit der Überraschung, dass es der falsche Film in der richtigen Box war. So gab es dann oft einen frustrierten Lehrer ohne Film, der eine Stunde mit frustrierten Schülern zubringen musste. Laienhafte Peinlichkeiten bei Filmvorführungen versuchte Matthias-Film von Anfang an zu vermeiden. Parallel zur notariellen Beglaubigung der Firmengründung am 13. Mai 1950 begann der erste Kurs zur Ausbildung von Filmvorführern für 16-mm-Filme, die dann durch die Gemeinden reisten. Überhaupt war Qualität der Maßstab des neu geschaffenen Verleih- Konzeptes. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat 1949 gut daran getan, ihrem ersten Filmbeauftragen, Werner Hess, eine Reise durch die Landeskirchen zu ermöglichen, um für einen zentralen Filmverleih zu werben. In einem Rundbrief anlässlich dieser Reise wies er darauf hin, dass „die Gefahr besteht, dass sich die kirchliche Filmarbeit in eine Reihe mehr oder weniger unzulänglicher Einzelunternehmungen zersplittert… Es besteht die weitere, sehr ernste Gefahr, dass durch unzulängliche Leistungen besonders auch in künstlerischer Hinsicht das kirchliche Filmwesen schon bei seinem Start diskreditiert wird.“ Mit nur drei Tonfilmprojektoren beginnen die „Wandervorführungen“ von Filmen in Kirchengemeinden der gesamten Bundesrepublik. Insgesamt besuchen 1950 circa 186.000 Personen die Filmabende in den Gemeinden. Schon der erste Verleihfilm „Es war ein Mensch“ von Curt Oertel thematisierte, was heute immer aktuell ist: Möglichkeiten materieller und sozialer Hilfe für Flüchtlinge. Fernsehen und Kino bestimmten in den folgenden Jahren zunehmend den Markt, Matthias- Film reagierte mit einem veränderten Angebot, das bis heute besticht: Filme zu kulturellen und ethisch-religiösen Themen, zu existentiellen und sozial brennenden Fragestellungen. Fortbildungsmedien sowie Kurz- und Animationsfilme. Sie ermöglichen Bildungs- und Medienarbeit in Schule, Kirche und Gemeinden, wo sie sonst unbezahlbar wären. Unvergessen sind in vielen Gemeinden die gemeinsamen Filmabende mit „Luther“, „Bonhoeffer – die letzte Stufe“ oder „Jesus von Nazareth“. Der Markt von bebilderten Geschichten hat sich in den 65 Jahren des Bestehens von Matthias-Film vollständig gewandelt. Matthias-Film ist eine Einrichtung, die den Wandel der bewegten Bild-Kultur in unserem Land begleitete. Matthias-Film entstand, bevor das Fernsehen in den Haushalten Einzug hielt. Der Ausgangspunkt war der Film, der Kinofilm. Die Zeit der außergewöhnlichen und verführerischen Macht der Bilder lag ja erst wenige Jahre
zurück. Wie begeistern oder täuschen Bilder? Der Film als Medium der Propaganda in den Wochenschauen war noch gegenwärtig - das bewegte Bild als infame Lüge und zur Mobilisierung der Massen missbraucht, darin auch die Stilisierung eines neuen Menschenbildes mit Leni Riefenstahl in dem Film „Olympia“. Oder als zynische Verlogenheit: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ von dem Regisseur Kurt Gerron. Auf diesen Bildmissbrauch musste geantwortet werden. Mit Filmen, die teilweise selbst produziert wurden und in denen oftmals die individuelle Gewissensschärfung, also eine protestantische Grundwahrheit im Mittelpunkt stand. Ich freute mich zu lesen, dass bei dem ersten Projekt, welches der Gründung von Matthias-Film sogar voraus ging, dem Film "Nachtwache", der 1949 in die Kinos kam, auch die Hannoversche Landeskirche mit einer Ausfallbürgschaft die Produktion absicherte. Gedreht wurde übrigens in Göttingen. Doch neben dem Filmverleih in den Anfangsjahren von Matthias-Film entwickelte sich das Fernsehen als Konkurrenz rasant. Eine der attraktivsten Übertragungen im Fernsehen ist von Beginn an die Übertragung von Fußball-WM-Spielen. 1954 zur Fußball-WM in Bern gab es in Deutschland 61.137 Fernsehgeräte, die angemeldet waren. Rechnet man die 40.000 nicht angemeldeten (was sagt die GEZ dazu?) hinzu, dann kann man von einer Verbreitung von rund 100.000 Fernsehgeräten zum Jahresende 1954 ausgehen. Dennoch scheinen Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Zuschauern das Spiel im Fernsehen – vor allem im Public-Viewing in Gaststätten gesehen haben. Doch was ist das gegen die Zahl von mehr als 34 Millionen Zuschauern beim Endspiel in Brasilien im vergangenen Sommer. 1955 allerdings kamen auch noch 1,4 Millionen Menschen in kirchliche Filmvorführungen. Über 100 Vorführer der Filmdienste zeigen in der ganzen Bundesrepublik „Matthias-Filme“. Doch in den folgenden Jahren beginnen die Besucherzahlen bei den Kinoabenden der Filmdienste langsam zurückzugehen – die Konkurrenz des Fernsehens zeigt Wirkung. Und Matthias-Film verlieh nun immer häufiger auch an nicht-kirchliche Einrichtungen in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Aber das Fernsehen selbst ist nun - 50 Jahre später - für eine der Zielgruppen von Matthias- Film, die Schülerinnen und Schüler, nur noch von marginaler Bedeutung. Fernsehen ist zum Bild-Nebenbeiprodukt geworden. Die Bebilderung wird selbst produziert, versendet und gemischt. Sie wird zu Geschichten zusammengestellt, gilt als Lebensdokumentation, als Ich-
Profil. Ganz nebenbei wird das informationelle Recht auf Selbstbestimmung verkauft. Mit einem Selfie zeige ich meine Präsenz und mit snapchat fotografiere ich das Mittagessen im Restaurant oder den Blick aus dem Busfenster oder beim Shoppen das Kleiderregal und versende es zeitgleich an hunderte von Freunden, die es wenige Sekunden betrachten, bevor das Bild sich löscht. Die aktive und interaktive Arbeit an der Bildproduktion dominiert und provoziert medienethische Überlegungen. Doch das sind die Herausforderungen, in denen Matthias-Film heute auf der Didacta präsent ist, die aktuellsten Netzwerke innerhalb der Medienlandschaft abfragt und sich selbst positioniert. Wie prägen Bilder, bewegte Bilder heute noch? Ich gehöre zu einer alten Bildgeneration, zur „Generation-Sprachlabor“, und frage mich: Wie werden Bilder heute zu Kaugummi für das Gehirn - so wie es der Internet-Auftritt von Matthias-Film verspricht: „Filme sind Kaugummi für das Gehirn“? Wir alle kennen das Problem von Kaugummis. Die schlechten verlieren nach wenigen Minuten den Geschmack. Das Film-Kaugummi von Matthias-Film behält den Geschmack lange, sehr lange. Nur mit Filmen, die in hoher Qualität Sinnfragen des Lebens, den Umgang mit Tod oder Trauer, die Lösung von Konflikten, ethische Grundprobleme skizzieren, können die bewegten Bilder nachhaltig Geist und Seele bewegen. Ich will nun nicht über die sehr guten Filme sprechen, die sich beispielhaften Persönlichkeiten auseinandersetzen. Mit Menschen, die aus einem tiefen Humanismus, einem geprägten christlichen Glauben, einer offensiven Haltung gegen Ungerechtigkeit Zeichen gesetzt haben. Davon gab und gibt es einige Filme, ich erinnere nur an Albert Schweitzer, Martin Niemöller, Sophie Scholl, Johann Sebastian Bach, die von Matthias-Film verliehen wurden. Ich will diese Kaugummi-Prägekraft von Filmen an einem Beispiel zeigen, dass mein Leben verändert hat. Es war NICHT der Film, bei dem ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst habe, das war nämlich der Film „Flammendes Inferno“ mit Steve McQueen und Paul Newman, sondern ein Film, der wie nur wenige danach die Kultur unseres Landes mit geprägt hat: "Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss". Das ist eine vierteilige US-amerikanische TV-Mini-Serie aus dem Jahr 1978 von Marvin J. Chomsky, in der die fiktive Geschichte der jüdischen Arztfamilie Weiss, die in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus lebt, erzählt wird. Diese Serie führte zu vielen Diskussionen über die nationalsozialistische Vergangenheit. Der Politologe Peter
Reichel bezeichnete die Ausstrahlung der Fernsehserie als einen Meilenstein in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik;; sie markiere „den Beginn der Bereitschaft nun auch eines Massenpublikums, sich mit der NS-Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen". Und erst mit der Ausstrahlung von „Holocaust“ etablierte sich in Deutschland die Nutzung des von vielen als unpassend erachteten Begriffs Holocaust für die von den Nazis als Endlösung bezeichnete Vernichtung der Juden. Dieser Film hat mich als Oberstufen-Schüler in meiner Verantwortung als deutscher Staatsbürger so geprägt, dass ich mich intensiver mit der Schuld unseres Landes und mit der jüdischen Religion auseinandergesetzt habe. Mein Studienjahr in Jerusalem ist wohl auch eine der Konsequenzen daraus. "Kirche nimmt mit Matthias-Film ihre kulturelle Rolle und ihre kulturellen Fähigkeiten wahr“, so hat Hans Werner Dannowski zum 50-Jährigen treffend geschrieben. 15 Jahre später ist diese Herausforderung noch schärfer zu formulieren: Wenn die evangelische Kirche mit Matthias- Film ihre Prägekraft in der Kultur unseres Landes nicht offensiv und anspruchsvoll einbringt, wird sie sich kritisch nach ihrem Auftrag befragen lassen müssen! Nur wenn wir immer wieder neu mit den Schätzen unseres Glaubens auf die Marktplätze gehen, also in die öffentlichen Räume, in Schulen, Gemeinden, Messen, Kinosäle, werden wir dem Anspruch gerecht, zu „lehren, was er uns befohlen hat“ (Mt 28,20).
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