A BC - Oberrheinkonferenz
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123456789A2BC E 12345673289A23BC34D3EF 34D3EF32CB434EBE34CB9A34E328 9A34E328434323A2EE B4ED32E2B4CB4 2B4CB434E3C223B4E7322A3B4 7322A3B4E A44E A44E B432E B4 E !"239AC#F28 F28#%4B328BC&CE'3BD3732E E 132AB89A38E AB89A38E$48CBC"CE
!"239AC#F28#%4B328BC&CE'3BD3732E ("C&CE62E)A3B3E"4DE13*B883489AC34E 132AB89A38E$48CBC"CE E E E 123456789A2BC Grenzüberschreitende Kooperationen im öffentlichen Personenverkehr in der Trinationalen Metropolregion Oberrhein. E E E +3C23"32,E2E-2EBE(23.CE E /28C"C9AC32,E2E-2EBE(23.CE 0*3BC"C9AC32,E2E-2E'48E137A2DCE E E E E E 233CE4,E E A44E B432E 1213E4C3883E2E 34552E'3BD3732E A44 B43267D3E
12345672389ABB Ich versichere, dass ich die beiliegende Diplomarbeit ohne Hilfe Dritter und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Quellen und Hilfsmittel angefertigt und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Diese Arbeit hat in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner Prüfungsbehörde vorgelegen. _____________________________________ Heidelberg, im Oktober 2010
1C3DC3EBB Das Gelingen dieser Arbeit ist nicht zuletzt durch die Unterstützung Dritter möglich geworden, denen ich an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank entgegen bringen möchte. Danken will ich zunächst meinem akademischen Betreuer Herrn Prof. Dr. Tim Freytag, der mir mit seiner Fachkompetenz während des gesamten Zeitraums der Arbeit zur Seite stand und wichtige Denkanstöße zur Vorgehensweise gab. Bei den Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Grenzüberschreitender Personenverkehr“ der Trinationalen Oberrheinkonferenz möchte ich mich für den Auftrag bedanken, die bestehenden Tarifkooperationen in der Oberrheinregion darzustellen und gut funktionierende Beispiele der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in diesem Bereich zu analysieren. Weiterhin sei den Experten der Verkehrspolitik und -planung für die informatorische Unterstützung gedankt, die bei Nachfragen stets zeitnah erfolgte. Die zahlreichen Interviews wären ohne Ihre Geduld und Auskunftsfreude nicht möglich gewesen. Ihnen sei an dieser Stelle für Ihre Kooperation gedankt. Für das aufwändige Korrekturlesen danke ich insbesondere meiner Familie sowie meinen Freunden Fabian, David, Anne und Ariane. Weiterhin gebührt Armin, Simon und Niklas ein herzliches Dankeschön. Sie alle waren gleichzeitig mit der Anfertigung Ihrer Diplomarbeit beschäftigt, hatten immer ein offenes Ohr und trugen ebenfalls maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit bei. Heidelberg, im Oktober 2010 Johann Singer
F97E4232567954 I. Einleitung 1 II. Das trinationale Oberrheingebiet 3 1. Eine bewegte Geschichte mit gemeinsamer Kultur 3 2. Geographie des Oberrheins 3 3. Wirtschaftsstruktur 6 III. Die Oberrheinregion - gelebte europäische Integration 8 1. Der Weg zur Europäischen Union 8 2. Drei politische Strukturen 9 3. Grenzüberschreitende Kooperation 11 IV. Europäische Metropolregionen - Zugpferde der europäischen Integration 13 1. Deutschland 13 2. Frankreich 15 3. Schweiz 15 4. Metropolregionen nach BLOTEVOGEL 15 5. Der Weg zur Trinationalen Metropolregion Oberrhein 17 V. Methodische Grundlagen und Ziele 18 1. Qualitative Dokumentenanalyse 18 2. Arten von Befragungen 18 2.1 Das Leitfadeninterview 19 2.2 Das Experteninterview 20 2.3 Gütekriterien 20 VI. Der Oberrhein als Transitregion 22 VII. Europäische Verkehrspolitik 26 VIII. Öffentliche Mobilität in der verkehrswissenschaftlichen Diskussion 28 1. Die politische Rolle des öffentlichen Verkehrs 28 2. Der öffentliche Verkehr im sozioökonomischen Wandel 29 3. Integrierte Verkehrsentwicklung 33 4. Öffentliche Mobilität als staatliche Daseinsvorsorge 34 5. Service Public 35 IX. Organisation des Öffentlichen Personennahverkehrs 37 1. Deutschland 37 1.1 Rechtliche Rahmenbedingungen 37 1.2 Organisation 37 1.3 Finanzierung 39
2. Frankreich 40 2.1 Rechtliche Rahmenbedingungen 40 2.2 Organisation 41 2.3 Finanzierung 43 3. Schweiz 43 3.1 Rechtliche Rahmenbedingungen 43 3.2 Organisation 44 3.3 Finanzierung 44 4. Synthese der Ergebnisse 45 X. Tarifphilosophien im öffentlichen Verkehr 46 1. Deutschland 46 2. Frankreich 47 3. Schweiz 48 XI. Grenzüberschreitende Tarifkooperationen 49 1. Zwischen Südpfalz und der Région Alsace 49 2. Zwischen Strasbourg und Ortenau 53 3. Zwischen Freiburg und Colmar 56 4. Zwischen Freiburg und Mulhouse 57 5. Trinationaler Eurodistrikt Basel 59 XII. Best Practice - Analyse 65 1. Analyse 65 2. Entwicklungspotentiale 67 XIII. Infrastrukturelle Maßnahmen 69 1. Regio S-Bahn Basel 69 2. Grenzüberschreitende Tram Basel 71 3. Grenzüberschreitende Tram Strasbourg 72 4. TGV Rhin-Rhône 73 5. Ausbau der Rheintalstrecke 74 XIV. Fazit 76 XV. Abstrait 78 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 80 Literaturverzeichnis 81 Internetquellen 87 Abkürzungsverzeichnis 90 Leitfaden - Grenzüberschreitende Kooperationen 92
12 345674895ABB Leistungsfähige Verkehrsinfrastrukturen und attraktive Angebote im Personenverkehr sowie bedarfsgerechte begleitende Dienstleistungen sind die Grundlage für eine prosperierende wirtschaftliche Entwicklung einer jeden Region. Sie dienen gleichermaßen der Mobilität aller Teile der Bevölkerung, einschließlich behinderter und alter Menschen, sowie dem Austausch von Gütern und Diensten. Sie verbinden Räume, lenken die Entwicklung der Siedlungsstrukturen und stabilisieren diese. Bei der Gestaltung des Verkehrssystems in der Trinationalen Metropolregion Oberrhein (TMO) gilt es daher, die Mobilität in Abstimmung mit anderen Politikzielen bestmöglich auszubauen und die Voraussetzungen für eine gezielte strukturelle Entwicklung zu schaffen. Das Verkehrssystem muss insbesondere seinen Beitrag zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen leisten, aus denen letztlich die Wirtschaftskraft der Region resultiert. Aus den stetig steigenden Mobilitätsansprüchen der Bevölkerung und Wirtschaft sowie angesichts der Notwendigkeit eines sensiblen Umgangs mit der Umwelt, vor dem Hintergrund fortschreitender Klimaerwärmung und Artensterben, ergeben sich wachsende Anforderungen an die Ausrichtung des gesamten Verkehrssystems. Die Mobilitätsverlagerung auf Verkehrsmittel und Fahrzeuge mit möglichst geringer Umweltbelastung sowie effektive Verkehrsvermeidung bildet damit ein besonders wichtiges Ziel im Rahmen einer übergreifenden Strategie zur Verminderung des Ausstoßes von Treibhausgasen. Es kommt verstärkt darauf an, die negativen Auswirkungen des notwendigen Verkehrs vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln. Durch eine integrierte Verkehrsentwicklung soll über eine geschickte, verkehrsträgerübergreifende Bündelung von Maßnahmen eine optimale Wirkung im Sinne eines nachhaltigen Verkehrssystems erreicht werden. In diesem Zusammenhang stellt der öffentliche Verkehr (ÖV) eine erstrebenswerte Alternative zum Motorisierten Individualverkehr (MIV) dar. Die vorliegende verkehrsgeographische Untersuchung verfolgt das Ziel, das grenzüberschreitende Angebot des öffentlichen Verkehrs innerhalb der Oberrheinregion zu analysieren. Neben der qualitativen Dokumenten- und Literaturanalyse wurden hierfür zahlreiche Experteninterviews mit Vertretern aus Verkehrspolitik und -planung durchgeführt, um ein umfassendes Bild der grenzüberschreitenden Kooperationen in der Oberrheinregion generieren zu können. Da ein übersichtliches und attraktives Tarifangebot für potentielle ÖV-Nutzer einen starken Anreiz darstellt, wurden neben den infrastrukturellen Maßnahmen die bestehenden Tarifkooperationen untersucht. Die gewonnenen Informationen wurden nach dem „Best Practice“ - Prinzip analysiert, um anschließend Entwicklungspotentiale für die gesamte Oberrheinregion ableiten zu können. 1
Zu Beginn dieser Arbeit wird das zu untersuchende Oberrheingebiet vorgestellt, wobei auf Kultur, Geographie und Wirtschaftsstruktur dieser dynamischen Region eingegangen wird. Anschließend soll die grenzüberschreitende, politische Kooperation innerhalb der trinationalen Oberrheinregion in das System der gesamteuropäischen Integration eingebettet werden, wodurch die Bedeutung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im gesamteuropäischen Kontext verdeutlich wird. In Kapitel vier wird die humangeographische Diskussion um „Europäische Metropolregionen“ beleuchtet und die Bedeutung dieser Regionen in den einzelnen Nationalstaaten vertiefend diskutiert. Schwerpunktmäßig soll hier der funktionale Ansatz BLOTEVOGELS (2002) betrachtet werden, wonach Metropolregionen anhand bestimmter Metropolfunktionen definiert werden können. Aufbauend auf dieser theoretischen Grundlage gilt es die TMO bezüglich ihrer „Gatewayfunktion“ im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs zu untersuchen. Nach der Erläuterung der methodischen Vorgehensweise wird die TMO in ihrer Bedeutung als europäische Transitregion mit ihren wichtigsten Verkehrsadern beschrieben, bevor die Grundlagen der europäischen Verkehrspolitik thematisiert werden. Im achten Kapitel wird die verkehrswissenschaftliche Diskussion um die Rolle der Öffentlichen Mobilität analysiert, bevor die Organisation des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Deutschland, Frankreich und der Schweiz vergleichend betrachtet wird. Die Bestellung von Verkehrsleistungen im ÖV als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge schafft hierbei die Grundlage für die tägliche Mobilität der Bürger und erleichtert ihnen die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aus der Analyse der Organisationsstrukturen des ÖV in den drei Nationalstaaten lassen sich Gemeinsamkeiten und Hemmnisse der grenzüberschreitenden Kooperationen ableiten. In Kapitel zehn werden die verschiedenen Tarifphilosophien in den drei Anrainerstaaten thematisiert, bevor die regionalen grenzüberschreitenden Tarifkooperationen detailliert erläutert werden. Aus der anschließenden „Best Practice“ - Analyse ergeben sich Entwicklungspotentiale für die gesamte Oberrheinregion. Zum Abschluss dieser Arbeit soll auf zukünftige grenzüberschreitende Verkehrsprojekte eingegangen werden, durch die das öffentliche Verkehrssystem in der Oberrheinregion weiter gestärkt und ausgebaut wird. Als Autor dieser Arbeit möchte ich einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des öffentlichen Verkehrssystems in der Oberrheinregion leisten und wünsche allen Lesern eine informative Lektüre. 2
112 CDEB8F45D845D67B7FF745A7478B 12 345678696AB67C6DEF4EFB674B7A6645D67B7 Das deutsch-französisch-schweizerische Oberrheingebiet stellt für seine Bewohner schon seit Jahrhunderten einen zusammenhängenden Lebensraum mit einer sehr bewegten Geschichte dar. Als erstes historisch erwähntes Volk siedelten sich die Kelten ca. 700 v. Chr. in der Region an (vgl. Internetquelle: Tourisme Alsace). Der zivilisatorische Quantensprung erfolgte jedoch erst mit Ankunft der Römer, die nachdem sie Helvetien erobert hatten über den Rhein nach Germanien drängten. Es gelang ihnen dabei auch jene Gebiete zu unterwerfen, die heute den deutschen Teil der Oberrheinregion bilden. Zeugen des römischen Einfluss sind bekannte Kurorte wie Baden-Baden. Auch das Elsass wurde von den Römern erobert. So war das heutige Strasbourg zu römischer Zeit ein Militärlager namens Argentoratum (vgl. BAK 2005, 7). Nach dem Niedergang des Römischen Reichs besiedelten die Alemannen das Länderdreieck, deren germanischer Einfluss nach der Zugehörigkeit zum Römischen Reich das zweite verbindende Element darstellt. Im Lauf der Geschichte gehörten die Teilregionen am Oberrhein immer wieder verschiedenen Staatengebilden an. Hiervon war insbesondere das Elsass betroffen. Bevor es 1945 von der nationalsozialistischen Herrschaft befreit wurde, war es seit dem 30-jährigen Krieg (1618-1648) ständiger Auslöser für Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich (vgl. Courrier International 2010, 33). Der Kontakt zwischen dem Elsass, Baden und der Südpfalz war nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu abgebrochen und wurde erst in den 1960er Jahren wieder intensiviert (vgl. Internetquelle: Tourisme Alsace). Die trinationale Region ist somit trotz der Trennung durch den Rhein, trotz der verschiedenen Mentalitäten und Sprachen und vor allem trotz der vergangenen Kriege über nationalstaatliche Grenzen hinweg eng miteinander verbunden. Die gemeinsame franco- alemannische Kultur mit ihren typischen Traditionen begründet daher den besonderen Reiz dieser Region, in welcher der europäische Gedanke täglich erlebbar ist. 2 C6AF4676D786F645D7 Der Rhein bildet die natürliche geographische Zäsur und gleichzeitig das gliedernde Element für den gesamten Oberrheinraum, der im Osten durch den Schwarzwald, im Westen durch die Vogesen und im Süden durch Teile des Jura eingerahmt wird, sodass große Teile der Region mit Wald bedeckt sind (Abb. 1). Für die landwirtschaftliche Nutzung stehen 40 % der Fläche zur Verfügung, während lediglich 11 % als Siedlungs- und Verkehrsflächen beansprucht werden (vgl. BAK 2005, 5). Die Region mit ihren knapp 6 Mio. Einwohnern setzt sich aus den vier Teilgebieten Südpfalz, Elsass, Nordwestschweiz und Baden zusammen, wobei das Elsass und Baden zusammen drei Viertel der Gesamtfläche von 21.500 km² einnehmen (vgl. BBR 2009, 15). Bevölkerungsgeographisch bildet Baden mit 2,4 Mio. Einwohnern die größte Teilregion, gefolgt vom Elsass mit 1,8 Mio. 3
Personen und der Nordwestschweiz mit 1,3 Mio. Bürgern. Den kleinsten Bevölkerungsanteil stellt mit 300.000 Einwohnern die Südpfalz (vgl. BAK 2005, 16). Das Oberrheingebiet ist durch eine ursprüngliche Städtestruktur geprägt, wobei drei dominierende Großstädte von einem Netz kleinerer Städte umgeben sind (Abb. 2). Die drei Zentren liegen jeweils in einem der drei Anrainerstaaten. Das in der Nordwestschweiz gelegene Basel mit seinen 170.000 Einwohnern bildet das Eingangstor zur Schweiz und damit den Hauptanziehungspunkt im Süden des Oberrheingebiets. Der Einfluss Basels als weltweit anerkanntes Zentrum der Chemie- und Pharmaindustrie erstreckt sich weit über die Stadtgrenzen hinaus nach Frankreich in den Raum Saint-Louis sowie auf deutscher Seite in den Raum Lörrach und Weil am Rhein. Damit umfasst der Trinationale Eurodistrikt Basel (TEB) insgesamt 226 Kommunen mit 830.000 Einwohnern (vgl. Internetquelle: TEB). Abb. 1: Der Naturraum Oberrhein Quelle: GISOR 2007 4
Im französischen Elsass dominiert Strasbourg mit 270.000 Einwohnern als Hauptstadt der Region und Sitz zahlreicher europäischer Einrichtungen wie dem Europarat, dem Europaparlament und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Strasbourgs Agglomeration beherbergt 640.000 Einwohner, ist Standort führender Industrien und eines hochentwickelten Dienstleistungssektors (vgl. Courrier International 2010, 34). Das rheinabwärtsgelegene Karlsruhe (290.000 Einwohner) ist seit Anfang der 1950er Jahre Sitz des Bundesgerichtshofs als auch des Bundesverfassungsgerichts. Außerdem bildet Karlsruhe mit seiner Universität, vielen anderen Hochschulen sowie dem Karlsruher Institut für Technologie ein Zentrum im Bildungs- und Forschungsbereich auf internationaler Ebene (vgl. Internetquelle: Karlsruhe Stadt). Um die Attraktivität einer Region als dauerhaften Wohnort zu erfassen, ist die reine Bevölkerungszahl jedoch unzureichend. Hierfür sollte vor dem Hintergrund einer zunehmend alternden Gesellschaft mit einer mittelfristig abnehmenden Zahl an Erwerbspersonen die dynamische Bevölkerungsentwicklung der Region als Indikator herangezogen werden. Mit einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 0,6 % ist die Oberrheinregion im europäischen Wettbewerb der Wohnstandorte konkurrenzfähig (BAK 2005, 25). Abb. 2: Bevölkerungsverteilung im Oberrheingebiet Internetquelle: GISOR 2009 5
2 4BDEFBDDBB7 Um die wirtschaftliche Struktur und Ausrichtung einer Region innerhalb moderner Volkwirtschaften analysieren zu können, sollen in Anlehnung an das klassische Dreisektorenmodell von FOURASTIÉ (1949) und dessen Erweiterung um die quartären Informationsdienste nach GOTTMANN (1961) folgende fünf Wachstumssektoren unterschieden werden. Tab. 1: Die fünf Wachstumssektoren moderner Volkswirtschaften Traditioneller Der Traditionelle Sektor umfasst die in der Vergangenheit sehr bedeutsamen Branchen Sektor wie Textil- und Papierherstellung, Tabakwaren sowie die Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie. Eine Vielzahl dieser Branchen verlor jedoch in den letzten Jahren in Westeuropa zunehmend ihre Stellung als wirtschaftlicher Wachstumstreiber und sah sich einer verstärkten Auslagerung in Schwellen- und Entwicklungsländern ausgesetzt. Old Economy Die Old Economy beinhaltet die Bereiche der traditionellen Industrie, welche sich zumeist durch eine sehr wertschöpfungsintensive Produktion auszeichnen, sodass es gelingt an traditionellen Industriestandorten im weltweiten Innovationswettbewerb zu bestehen. Beispielhaft sind das Transportwesen, der Fahrzeugbau, die Medizintechnik und die chemisch-pharmazeutische Industrie. New Economy Die New Economy ist gekennzeichnet durch die Mitte der 90er Jahre aufstrebenden Informations- und Kommunikationstechniken, die für einen weltweiten Wirtschaftsaufschwung sorgten. Neben Telekommunikation und Computerherstellung umfasst die Branche auch begleitende IT Services und zeichnete sich in den letzten Jahren durch überdurchschnittliche Wachstumsraten aus. Urbaner Zum Urbanen Sektor gehören Bereiche wie finanz- und unternehmensbezogene Sektor Dienstleistungen, die meist mit einem räumlich sehr engen Kundenkontakt verbunden sind, sodass für diese Branche eine verstärkte Konzentration in Metropolen ausgemacht werden kann. Weiterhin umfasst der Urbane Sektor Dienstleitungen des alltäglichen Bedarfs wie Handel, Gastgewerbe, Immobilienwesen, Vermietung, Verkehr sowie andere persönliche Dienstleistungen. Für die genannten Dienstleistungsbereiche kann ebenfalls eine zunehmende Konzentration in größeren Städten ausgemacht werden, wobei dieser Trend durch demographische Faktoren verstärkt wird. Ein Großteil der urbanen Dienstleistungsbereiche verspricht weiterhin hohe Wachstumspotentiale, da auf sie ein zunehmend steigender Anteil an real verfügbaren Einkommen entfällt. Politischer Der Politische Sektor beinhaltet neben der öffentlichen Verwaltung auch Branchen wie Sektor Gesundheits- und Unterrichtswesen, Energie- und Wasserversorgung sowie die Landwirtschaft. All diese Branchen stehen nach wie vor unter starkem Einfluss der öffentlichen Hand, sodass bei einer verstärkt wettbewerbsorientierten Umgestaltung der Rahmenbedingungen zukünftige Impulse aus diesen Bereichen zu erwarten sind. verändert nach Internetquelle: BAK Basel Economics 6
Der oberrheinische Wirtschaftsraum ist gekennzeichnet durch seine zentrale Lage innerhalb des europäischen Verdichtungsraums, der „Blauen Banane“. Die strukturelle Stärke der Oberrheinregion liegt in der Old Ecomomy, wobei insbesondere die hoch produktive chemisch- pharmazeutische Industrie stark vertreten ist und ein beachtliches Wertschöpfungswachstum aufweist (vgl. SCHRÖDER 2007, 61). So trugen die altansässigen und wertschöpfungsintensiven Industriebranchen 2006 in der Oberrheinregion rund 10 % zum regionalen Bruttoinlandsprodukt bei (vgl. ORK 2008, 5). Überdurchschnittlich ist auch der Traditionelle Sektor vertreten, wenngleich dessen Bedeutung während der vergangenen Jahre stetig abnahm (vgl. LAVIELLE 2009, 153). Eine merkliche Schwäche der Oberrheinregion liegt in der unterdurchschnittlichen Repräsentation des Urbanen Dienstleistungssektors, der normalerweise in Metropolregionen mit zentraler Lage überdurchschnittlich etabliert ist. In diesem Sektor besteht somit noch deutliches Wachstumspotenzial für die Region (vgl. BBR 2009, 15). Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Oberrheinregion ist mit strukturell ähnlichen Europäischen Metropolregionen vergleichbar und „bildet mit einem realen Bruttoinlandsprodukt von 165 Milliarden Euro ein Schwergewicht im europäischen Vergleich“ (ORK 2008, 5). Die einzigartige Forschungs- und Bildungslandschaft in der Oberrheinregion wird durch die sieben Universitäten und vielen Hochschulen charakterisiert, deren Zusammenarbeit sich in der Europäischen Konföderation Oberrheinischer Universitäten (EUCOR) manifestiert. In zahlreichen Forschungsnetzwerken werden dabei kontinuierlich neue bi- und trinationale Studiengänge lanciert, was in Bezug auf die Forschungsqualität am Oberrhein zu sehr guten Ergebnissen im internationalen Vergleich führt (vgl. Internetquelle: EUCOR). 7
1112 C47B7FF745F7A45BBA76787B79F4E7B1587AFD845B 12 676A7 73!4DEF657"5457 Um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Oberrheinregion zu verstehen, bedarf es zunächst der Betrachtung des gesamteuropäischen Kontexts. Frankreich und Deutschland verbindet die Geschichte der Europäischen Union (EU), deren Grundstein im Jahre 1951 gelegt wurde, als die sechs Nationalstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) errichteten (vgl. NEWRLY 2003, 5). Ziel war es, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die gleichberechtigte Zusammenarbeit den Frieden zwischen Siegern und Besiegten in Europa dauerhaft zu sichern. Die sechs Mitgliedsstaaten beschlossen 1957 mit Unterzeichnung der Römischen Verträge, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf der Basis eines gemeinsamen Markts für eine Vielzahl von Waren und Dienstleistungen zu begründen. Zeitgleich mit der EWG wurde auch die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) ins Leben gerufen, deren Zweck in der gemeinsamen Entwicklung und friedlichen Nutzung der Atomenergie bestand (vgl. FONTAINE 2007, 59). Die drei Institutionen EGKS, EWG und Euratom verfügten zunächst jeweils über eine eigene Kommission mit Rat, bevor sie 1967 durch den Fusionsvertrag als Organe der Europäischen Gemeinschaft (EG) vereinigt wurden (vgl. ebd.). Im Jahre 1993 wurde mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet und die Vorschriften für eine gemeinsame Währung, für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie für eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres verabschiedet (vgl. BIEBER et al. 2006, 35). Die Europäische Union basiert seither auf den drei Pfeilern, der Europäischen Gemeinschaft, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Mit dem Vertrag von Maastricht wurden weiterhin die Unionsbürgerschaft begründet, die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt und eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt. Zu den sechs Gründungsländern sind seit 1951 ständig neue Mitglieder hinzugekommen, sodass die EU heute aus 27 Staaten besteht. Die Schweiz ist kein EU Mitglied und bildet somit eine Außengrenze zu seinen EU-Nachbarstaaten (vgl. FONTAINE 2007, 13). Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum trat 1994 in Kraft, sodass der Binnenmarkt der EG um die Mitgliedsstaaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA) erweitert wurde. Die Schweiz gehört ebenfalls zu dieser Freihandelszone, doch trat sie als einziger EFTA- Staat dem Europäischen Wirtschaftsraum nicht bei (vgl. NEWRLY 2003, 7). 8
Frankreich und Deutschland kooperieren mit der Schweiz zum einen auf unmittelbar zwischenstaatlicher Ebene, zum anderen auf der Grundlage bestehender Abkommen mit der EU. Im Jahre 1972 wurde das Freihandelsabkommen zwischen der EG und der Schweiz unterzeichnet, wodurch tarifäre Handelshemmnisse, wie Zölle und Kontingente für Industrieprodukte, zwischen den Vertragspartnern abgebaut wurden (vgl. Internetquelle: SECO). Nach der Ablehnung des Vertrags über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in der Schweizer Volksabstimmung von 1992 beschritt die Regierung in Bern den Weg der Annährung an die EU über Bilaterale Abkommen (vgl. Internetquelle: EDA, 1). In Ergänzung zum Freihandelsabkommen regeln die sieben Bilateralen Abkommen I aus dem Jahre 2002 eine zusätzliche gegenseitige Marktöffnung in bestimmten Bereichen. Das für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsraum und Arbeitsmarkt bedeutendste Dossier ist das Personenfreizügigkeitsabkommen, welches die schrittweise Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes für EU-Bürger beinhaltet (vgl. Internetquelle: EDA, 2). Mit der Unterzeichnung der Bilateralen Verträge II im Jahre 2004 wurde die wirtschaftliche Zusammenarbeit weiter verstärkt und auf zentrale politische Bereiche ausgeweitet, wobei unter anderem der Schweizer Beitritt zum Schengen-Raum angestrebt wurde (vgl. ebd.). Seit 2005 sind viele der Bilateralen Abkommen II bereits in Kraft getreten, doch erfordert vor allem die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit weitere Verhandlungen. Trotz der Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU bleiben diverse Zollschranken im freien Wirtschafts- und Warenverkehr weiterhin bestehen. Es liegt im gegenseitigen Interesse von Schweiz und EU, diese zukünftig abzubauen. 2 6474B4DEF67#BB657 Die Bundesrepublik Deutschland ist föderalistisch aufgebaut, wodurch den Bundesländern wichtige Entscheidungskompetenzen, wie beispielsweise im Bildungs- und Polizeiwesen zukommen. Zahlreiche Gesetze benötigen erst die Zustimmung des als Länderkammer fungierenden Bundesrats, bevor sie vom Bund verabschiedet werden können. Grundlegende politische Weichenstellungen für Baden und die Südpfalz werden somit durch die entsprechenden Landesregierungen mit Sitz in Stuttgart bzw. Mainz getroffen. Jedoch haben auch die Stadt- und Landkreise sowie die kommunalen Zusammenschlüsse gewisse Entscheidungskompetenzen, sodass bei den Gemeinden im verfassungsrechtlichen Rahmen eine grundsätzliche Allgemeinzuständigkeit für alle öffentlichen Aufgaben in ihrem Gebiet verbleibt (vgl. Internetquelle: BPB, 1). 9
Die Französische Republik ist im Gegensatz zum föderalen Deutschland ein zentralistisch organisierter Staat. Die französische Verfassung aus dem Jahre 1958 regelt bereits, dass sich die Gebietskörperschaften durch gewählte Räte nach Maßgabe der zentral verabschiedeten Gesetze selbst verwalten (vgl. GROSSER 2005, 73). Das Elsass ist eine von insgesamt 26 französischen „Régions“. Das Exekutivorgan der Region wird durch den für sechs Jahre gewählten Regionalrat (Conseil Régional) verkörpert, dem ein Wirtschafts- und Sozialrat zur Seite steht. Diesem gehören Vertreter verschiedener Organisationen und Institutionen wie z.B. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften an (vgl. Internetquelle: BPB, 2). Seit 1983 erhielten die Regionen größere Eigenverantwortung, die jeweils 1993 und 2004 um Bildungs- und Wirtschaftskompetenzen erweitert wurde (vgl. ebd.). Dies umschließt allerdings nicht das Recht, eigene Gesetze zu verabschieden oder sich eine eigene Verfassung zu geben. Die „Région Alsace“ ist in die Départements „Haut-Rhin“ und „Bas-Rhin“ unterteilt (Abb. 3), wobei auch diesen Gebietskörperschaften eigene Kompetenzen im Bildungs- und Sozialwesen sowie der Wirtschaftsförderung zukommen (vgl. NEWRLY 2003, 9). Die Schweizerische Eidgenossenschaft setzt sich aus 26 souveränen Kantonen und Halbkantonen zusammen, denen im Rahmen der vorhandenen föderalen Strukturen ein beträchtliches Maß an politischer Entscheidungsfreiheit und Verwaltungsautonomie gewährt wird. Jeder Kanton verfügt nach Maßgabe des von der Bundesverfassung gewährten Spielraums über eine eigene Verfassung und damit eigene Gesetze (vgl. Internetquelle: SwissInfo). Innerhalb der Kantone fungieren die Gemeinden als öffentlich rechtliche Körperschaften, die einen Teil der Staatsaufgaben eigenständig erfüllen. Auf bundesstaatlicher Ebene liegt die gesetzgebende Gewalt bei der Bundesversammlung, die sich aus den zwei Kammern Nationalrat und Ständerat zusammensetzt. Der Nationalrat vertritt das Volk direkt, während die Kantone im Ständerat vertreten sind. Die zugeteilten Kompetenzen ermöglichen es den Nordschweizer Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau, Solothurn und Jura (Abb. 3), individuell oder auch koordiniert mit den Nachbarn jenseits der Schweizer Staatsgrenzen zusammenzuarbeiten (vgl. ebd.). 10
2 C65 $86DEF64B65676B4577 Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Oberrheinregion hat bereits eine langjährige Tradition. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand zunächst eine informelle und sektorale grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die in den folgenden Jahrzehnten stetig ausgebaut und erweitert wurde (vgl. NEWRLY 2003, 45 f.). Mit der Unterzeichnung des Bonner Abkommens am 22. Oktober 1975 wurde erstmalig das Verwaltungsgebiet des Oberrheins definiert (Abb. 3) und eine Regierungskommission zur Prüfung und Lösung von nachbarschaftlich grenzüberschreitenden Fragen in der Oberrheinregion ins Leben gerufen, wodurch den zuvor informellen Abstimmungen ein institutioneller Rahmen gegeben wurde (vgl. WASSENBERG 2007, 89 ff.). Abb. 3: Die Verwaltungseinheiten der Oberrheinregion Quelle: BAK Economics 2005 11
Um die Regierungskommission bei ihrer Arbeit zu unterstützen wurden zwei Regionalausschüsse für das nördliche und südliche Mandatsgebiet eingesetzt. Zum ersten Mal verliehen damit die deutsche, französische und schweizerische Regierung ihrem gemeinsamen Wunsch Ausdruck, die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit in regelmäßigen Treffen zu organisieren, Kontakte zu pflegen und sich gemeinschaftlich mit grenzüberschreitenden Fragestellungen zu befassen (vgl. NEWRLY 2003, 62). Anlässlich der dritten gemeinsamen Sitzung der beiden Ausschüsse am 21. November 1991 erfolgte die Zusammenführung der Regionalausschüsse zur trinationalen Oberrheinkonferenz (ORK). Die Konferenz wurde somit zum zentralen Informations- und Koordinationsorgan der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Oberrheinregion (vgl. Internetquelle: ORK, 1). Die ORK bildet heute eine Plattform für rund 600 Fachleute aus den jeweiligen Regionalverwaltungen und richtet zu verschiedenen Themengebieten trinational besetzte Arbeitsgruppen ein (vgl. Région Alsace 2008, 11). Dabei stellen die deutschen, französischen und schweizerischen Partnerbehörden ihre Fachleute zur Verfügung, um im Rahmen der Arbeitsgruppen Projekte der ORK zu planen und die Beschlüsse der Konferenz umzusetzen. Derzeit sind folgende Arbeitsgruppen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Rahmen der Oberrheinkonferenz tätig: Erziehung und Bildung, Gesundheit, Jugend, Katastrophenhilfe, Kultur, Raumordnung, Umwelt, Verkehr und Wirtschaft. Im Januar 2007 wurde darüber hinaus die neue fachübergreifende Kommission für Klimaschutz eingerichtet (vgl. Internetquelle: ORK, 2). Im Dezember 1997 wurde der Oberrheinrat gegründet, der als grenzüberschreitende Politikinstanz das „Parlament“ der Oberrheinregion darstellt, dessen Beschlüsse von den vier Kommissionen Wirtschaft-Arbeitsmarkt, Verkehr-Raumordnung, Landwirtschaft-Umwelt und Kultur-Jugend- Ausbildung vorbereitet werden (vgl. WASSENBERG 2007, 406 ff.). Das Hauptziel des Oberrheinrats besteht in der politisch unterstützenden Arbeit für die ORK. Darüber hinaus soll er den grenzüberschreitenden politischen Austausch entwickeln und vertiefen sowie sämtliche Initiativen bezüglich regionaler und kommunaler Projekte unterstützen (vgl. NEWRLY 2003, 70). Beide Institutionen leisten damit einen beachtlichen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des gesamten Oberrheinraums. Für die Weiterentwicklung des Oberrheingebiets zu einer Europäischen Metropolregion ist die Zusammenarbeit über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg unverzichtbar. 12
12B 39F4E7178F6F7A45751219A7F71F139FDE1F8EF4881 Mit der im März 2000 von der EU verabschiedeten Lissabon-Strategie will die europäische Staatengemeinschaft „im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein“ und zum weltweit „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum“ aufsteigen (Europäische Kommission 2010, 2). In der Diskussion um die erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie verdichteten sich in den vergangenen Jahren die Debatten um die Rolle großstädtischer Ballungsgebiete, welche vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) wie folgt beschrieben werden: „Ein großstädtisches Ballungsgebiet besteht aus einem Zentrum, einer einzelnen Stadt oder einem städtischen Ballungsgebiet sowie einem Umland, den benachbarten Gemeinden, aus dem viele Pendler täglich zu ihrer Arbeit ins Zentrum anreisen.“ (EWSA 2007, 10) Der EWSA erklärt weiterhin, dass man sich bei der erfolgreichen Umsetzung der Lissabon- Strategie auf die großstädtischen Ballungsgebiete zu konzentrieren habe, da diese im Zentrum rascher wirtschaftlicher, technologischer und sozialer Entwicklungen stünden und somit einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung der europäischen Wachstumsstrategie leisteten. Außerdem könnten zahlreiche kleinere Exzellenzzentren in der EU von der positiven Entwicklung in den großstädtischen Ballungsräumen profitieren (vgl. EWSA 2007, 12). Die EU sieht somit einen direkten Zusammenhang zwischen der erfolgreichen Umsetzung der Lissabon-Strategie und der Entwicklung großstädtischer Ballungsräume. Es besteht Einigkeit darüber, dass ein Zentrum über eine Mindestzahl an Einwohnern und Arbeitsplätzen verfügen muss. Auch sollte es einen Anziehungspunkt für Berufspendler zwischen den Wohnorten im Umland und den Arbeitsplätzen im Zentrum darstellen (vgl. ARNING 2009, 10 ff.). Uneinigkeit besteht jedoch bezüglich der Festlegung konkreter Grenzwerte für solche Mindestgrößen auf europäischer Ebene. Bei aller Einigkeit, Metropolregionen als Motoren der ökonomischen Entwicklung weiter zu stärken, fehlt somit die eindeutige Definition des Begriffs „Metropolregion“ (vgl. ADAM et al. 2005, 430). Daher soll im Folgenden näher auf das jeweilige Begriffsverständnis in Deutschland, Frankreich und der Schweiz eingegangen werden. 12 6BDEF57 Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) definiert Metropolregionen als „Agglomerationsräume mit hohem Bevölkerungs- und Wirtschaftspotential, die sich besonders dynamisch entwickeln und sich in ihrer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungsfähigkeit dem internationalen Wettbewerb stellen.“ (BBR 2005, 366) 13
Im Jahre 1997 wurden in Deutschland durch den Entschluss der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) die sieben Städte bzw. Stadtregionen Berlin/Brandenburg, Hamburg, München, Rhein-Main, Rhein-Ruhr, Stuttgart und das Sachsendreieck als „Europäische Metropolregionen“ ausgewiesen (vgl. BBR 2009, 2). Der „Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland“ (IKM), welcher sich als Interessenvertretung der europäischen Metropolregionen in Deutschland versteht, beschreibt diese als „Ballungsräume, die sich durch ihre herausragende Bedeutung im internationalen Netz der Großstadtregionen auszeichnen“ (IKM 2009, 11). Im Besonderen sind sie durch ihre wirtschaftliche Stärke, ein leistungsfähiges Verkehrssystem, politische und wirtschaftliche Entscheidungsebenen, ein verflochtenes Netz an unternehmensorientierten Dienstleistungsgesellschaften und ein großes Bevölkerungspotential gekennzeichnet (vgl. BLOTEVOGEL 2001, 157 ff.). Die zunächst sieben „Europäischen Metropolregionen in Deutschland“ wurden nunmehr als „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung mit guter Erreichbarkeit auf europäischer und internationaler Ebene und weiter Ausstrahlung auf das Umland“ anerkannt (ADAM 2005, 417). Mit der Annahme des Raumordnungsberichts durch die Bundesregierung im Jahre 2005 und der Neuformulierung der Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in Deutschland durch die MKRO im Juni 2006 wurde den Metropolregionen weitere Aufmerksamkeit durch Bund und Länder zuteil (vgl. KNIELING 2009, 1). Im Ergebnis sind heute anhand verschiedener Kriterien die in Abb. 4 dargestellten elf Europäischen Metropolregionen innerhalb Deutschlands anerkannt. Abb. 4: Die Europäischen Metropolregionen in Deutschland Quelle: www.e-politik.de 14
2 %564EF7 Als Pendant zu den deutschen Metropolregionen können in Frankreich die Regionen betrachtet werden, die von der Délégation interministérielle à l'aménagement du territoire et à l'attractivité régionale (DATAR) als Gebiete der metropolitanen Kooperation (coopération métropolitaine) ausgezeichnet werden. Basis für die Auswahl bildet der Entscheid des Comité interministériel d`aménagement du territoire (CIADT) aus dem Jahr 2003, eine nationale Strategie zur Stärkung der europäischen Ausstrahlung französischer Metropolen zu entwickeln (vgl. CIADT 2003, 6 f.). Alleinige Bedingung für die Anerkennung als Metropolraum ist eine Mindesteinwohnerzahl von 500.000 Personen. Die Bevölkerung sollte sich hierbei entweder innerhalb eines einzigen Ballungsraums oder innerhalb eines abgegrenzten Gebiets konzentrieren, das sich aus mehreren mittelgroßen Städten zusammensetzt. Eine dieser Städte sollte dabei jedoch mindestens 200.000 Einwohner aufweisen (vgl. CIADT 2003, 10). Im Sommer 2005 wurde eine Liste mit 15 französischen Metropolregionen veröffentlicht, deren Namensgebung von „metropolitanem Raum“ (aire métropolitaine) über „metropolitanes Netzwerk“ (réseau metropolitain) oder „Städte- und Agglomerationskonferenz“ (conférence des villes et agglomerations) bis zur schlichten Bezeichnung „Metropole“ (métropole) reicht (vgl. WIECHMANN 2009, 22). Die unterschiedlichen Bezeichnungen der französischen Regionen lassen dabei im Gegensatz zur deutschen Einheitsbezeichnung Raum zur Differenzierung und Hervorhebung spezifischer Besonderheiten. Hierbei bleibt allerdings zu beachten, dass das Gebietskonzept der metropolitanen Kooperation nicht gleichzusetzen ist mit dem deutschen Konzept der Europäischen Metropolregion. So ist der Eurodistrikt Strasbourg/Ortenau nach französischer Klassifikation auf der Ebene der metropolitanen Kooperation einzuordnen, während ein Eurodistrikt aus deutscher Sicht hierarchisch unterhalb einer Metropolregion anzusiedeln ist (vgl. ebd.). 2 #EF964 7 In der Schweiz werden anstelle der Bezeichnung Metropolregion die Begriffe Metropolitanregion bzw. Metropolitanraum verwendet, welche allerdings im Schweizer Sprachgebrauch weit weniger bekannt sind als die in Deutschland gängige Bezeichnung „Metropolregion“ (vgl. WIECHMANN 2009, 25). Das Schweizer Bundesamt für Statistik weist auf Grundlage der Volkszählung aus dem Jahre 2000 die fünf Metropolitanräume Zürich, Genf-Lausanne, Basel, Bern sowie die Tessiner Agglomeration um Lugano aus, wobei diese als funktional verbundene Agglomerationen bezeichnet und rein statistisch definiert werden (vgl. SCHWEIZERISCHE EIDGENOSSCHENSCHAFT 2006, 6). Eine Agglomeration gehört demnach dann zu einem Metropolitanraum, wenn der Anteil von Wegpendlern aus dieser Agglomeration in die Kernagglomeration mindestens 8,3 % entspricht (vgl. ebd.). 15
&2 '6B6A456575EF7()*3+C3)7 Nach den differenzierten nationalstaatlichen Betrachtungen soll an dieser Stelle näher auf den funktionalen Ansatz BLOTEVOGELS eingegangen werden, dessen Modell eine zentrale Grundlage für die Diskussion um neue Leitbilder der Raumentwicklung von Metropolregionen in den letzten Jahren darstellt. BLOTEVOGEL definiert Metropolregionen nach folgenden Metropolfunktionen: Metropolfunktionen Merkmale Entscheidungs- und Kontrollfunktion, Privatwirtschaftlich: welche sich nach der Zahl und Bedeutung - Headquarter großer nationaler und internationaler Unternehmen von Entscheidungszentren der öffentlichen - Niederlassungen hochspezialisierter, unternehmensnaher Dienstleister Hand, der Wirtschaft und der Finanzwelt - Marktkapitalisierung der am Börsenstandort gehandelten Aktien richtet. - Internationale Bedeutung als Finanzplatz Politisch: - Regierungsstellen, Parteien, Verbände und Kammern - juristische Stellen, ausländische Botschaften und Konsulate - internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen Innovations- und Wettbewerbsfunktion, Erzeugung und Verbreitung von Wissen: die sich durch die Generierung und - höhere Bildungseinrichtungen mit Verknüpfungsgrad zur Wirtschaft Verbreitung von Wissen, Einstellungen, - Anzahl inländischer und ausländischer Studierender Werten und Produkten auszeichnet. Wirtschaftlich-technische Innovation: - F&E Einrichtungen, wissensintensive Dienstleister - Gründungsdynamik von Start-Ups - Anzahl herausgegebener wissenschaftlicher Zeitschriften - Spezialisierung des Arbeitsmarkts Soziale und kulturelle Innovation: - bedeutende Museen und Kulturdenkmäler - Festspiele und andere internationale Großereignisse - Touristisches Potential und Internationalität der Bevölkerung Gatewayfunktion, Zugang zu Menschen: welche auf die Einbindung der - Anzahl europäischer Hochgeschwindigkeitsverbindungen Metropolregion in nationale und - Verkehrsaufkommen wichtiger Autobahnen internationale Waren-, Personen-, und - Anzahl internationaler Flugziele mit Passagier-, und Frachtaufkommen Informationsströme zielt. - Erreichbarkeit einzelner Teilgebiete (Anbindung an Regionalverkehr) Zugang zu Wissen: - Bedeutung des Standorts als Medienzentrum - Bibliotheken und Kongresse Zugang zu Märkten und Gütern: - bedeutende Messen und Ausstellungen - Güterumschlag wichtiger Güterverkehrszentren - Anzahl und Bedeutung internationaler Logistikfirmen verändert nach BLOTEVOGEL 2002, 346 In der vorliegenden verkehrsgeographischen Untersuchung wird die „Gatewayfunktion“ der trinationalen Oberrheinregion untersucht, wobei der Schwerpunkt auf dem System des öffentlichen Personenverkehrs liegt. Neben der Verknüpfung zwischen Fern- und Regionalverkehr steht die analysierende Darstellung der verschiedenen grenzüberschreitenden Kooperationsformen auf regionaler Ebene im Mittelpunkt. 16
,2 676A7 7*45B45657'6B6A45786F6457 Anlässlich des 11. Dreiländerkongresses unterschrieben im Januar 2008 die wichtigsten oberrheinischen Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine gemeinsame Erklärung mit dem Ziel, die bestehenden Synergien und Partnerschaften in der Region weiter zu stärken. Am 30. März 2009 wurde die Trinationale Metropolregion Oberrhein (TMO) erstmals in Brüssel präsentiert und ist damit als einheitlicher Lebens-, Wirtschafts-, und Kulturraum auf europäischer Ebene angekommen. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen ist es, den Oberrhein mit seinem hohen Potenzial im Wettbewerb der europäischen Regionen zu positionieren und vorhandene Kooperationsstrukturen im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft weiter zu entwickeln (vgl. Internetquelle: ORK, 4). Das ORK-Präsidium hat darauf hin beschlossen, diese Entwicklung mit einer Arbeitsgruppe „Trinationale Metropolregion Oberrhein“ zu begleiten. Somit soll unter Einbezug der Gremien innerhalb sowie Initiativen außerhalb der ORK eine zielführende Arbeit gewährleistet werden (Abb. 5). Die Metropolregion bietet den Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Partnern sowie den Bürgern der Oberrheinregion und bezweckt die Verwirklichung innovativer Projekte mit hohem Mehrwert auf den Gebieten Forschung und Entwicklung, Industrie, Umwelt sowie Kultur und Touristik. Dies soll der Oberrheinregion eine starke Identität, Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit auf europäischer und internationaler Ebene verleihen und Synergien effektiv nutzen. Weiterhin soll der wirtschaftliche, gesellschaftliche und territoriale Zusammenhalt am Oberrhein gestärkt werden, um das Gebiet zu einem Modellraum für ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu gestalten (vgl. ebd.). Abb. 5: Die Organisationstruktur der Trinationalen Metropolregion Oberrhein B verändert nach Internetquelle: ORK, 4 17
2 784E7BF956DA75B95B4767B Dieser Arbeit liegen verschiedene Methoden der Informationsgewinnung zugrunde. Neben der qualitativen Dokumentenanalyse, die der systematischen Bearbeitung von Textinhalten dient, wurden leitfadengestützte Experteninterviews mit Vertretern verschiedener Institutionen aus den Bereichen Verkehrspolitik und Verkehrsplanung durchgeführt, um ein möglichst umfassendes Bild der grenzüberschreitenden Kooperationen im öffentlichen Verkehr innerhalb der trinationalen Oberrheinregion darstellen zu können. 12 -4BB4.6765B655/D67 In den letzten Jahren hat sich in fast allen Humanwissenschaften der „Trend zur qualitativen Forschung als Ergänzung bzw. Alternative zu einseitig quantitativ-naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen verstärkt“ (MAYRING 2006, 54). Bezüglich der qualitativen Inhaltsanalyse besteht die Grundidee darin, Texten inhaltliche Informationen zu entnehmen, selbige in eine auswertbare Form zu übertragen und anschließend gelöst vom Ursprungstext zu analysieren. Grundsätzlich erfordert dieses Vorgehen vor der eigentlichen Analyse den Aufbau eines geschlossenen Kategoriensystems (vgl. GLÄSER/LAUDEL 2009, 191). Der Text wird in Untereinheiten zerlegt, welche anschließend auf relevante Inhalte überprüft und schließlich in die gebildeten Kategorien eingeordnet werden (vgl. ebd.). Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse können somit auch größere Textumfänge empirisch und methodisch kontrolliert ausgewertet werden. Entscheidend hierfür ist jedoch, dass das Textmaterial in ein Kommunikationsmodell eingebettet wird, in welchem die Analyseziele festgesetzt werden. Diese können sich auf den Textproduzenten, die Entstehungssituation des Textes, den soziokulturellen Kontext oder die mediale Textwirkung beziehen. Außerdem zeichnet sich die qualitative Inhaltsanalyse durch ein regelgeleitetes Vorgehen nach einem inhaltsanalytischen Ablaufmodell aus, wodurch das Material in Untersuchungseinheiten zerlegt und systematisch untersucht werden kann (vgl. ATTESLANDER 2006, 181 ff.). 2 0B657.57(6A5A657 Die Befragung ist die am häufigsten verwendete Methode der Informationsbeschaffung, wobei die Variationen der einzelnen Befragungsformen sehr vielfältig und differenziert sind. Grundsätzlich wird zwischen quantitativen und qualitativen Interviews unterschieden, die grundlegende Unterschiede aufweisen (vgl. BROSIUS 2009, 19 f.). Bei einer Differenzierung der Interviewarten sollte bedacht werden, dass die verschiedenen Fragetechniken durchaus auch kombiniert auftreten können und daher die tatsächliche Komplexität nur vereinfacht dargestellt wird (vgl. LAMNEK 2005, 332). 18
Vergleicht man die einzelnen Interviewformen, so lassen sich die jeweiligen Unterschiede besser feststellen und dementsprechend leichter fällt es, die passende Interviewform für die eigene Erhebung zu identifizieren. Der größte Unterschied zwischen standardisierten und nicht- standardisierten Interviews besteht beispielsweise in ihrer Erhebungsdauer. Während die offene Befragung meist längere Zeit in Anspruch nimmt, kann durch standardisierte Fragen oder einen hinterlegten Leitfaden eine deutliche Zeitersparnis für die Durchführung der Interviews erreicht werden (vgl. BROSIUS 2009, 112 ff.). Für das standardisierte Interview spricht die hohe Zuverlässigkeit sowie einfache Durchführung und Auswertung der gewonnenen Informationen. Allerdings ist die Breite bzw. Tiefe der Antworten sehr beschränkt, da der Befragte mehr oder weniger zu standardisierten Antworten gedrängt wird (vgl. SCHOLL 2003, 75). Die offene Befragung kann hingegen flexibler durchgeführt und an den Gesprächsstil angepasst werden. Zudem wird das nicht- standardisierte Interview nicht vorab durch den Forscher determiniert, sodass es durch die fehlende Vorgabe fester Antwortkategorien eher zu lebensnahen und detaillierten Antworten kommen kann (vgl. ATTESLANDER 2006, 134). Ein erheblicher Unterschied in der Befragungsform besteht auch darin, ob man sich in der Kommunikationsform auf ein mündliches oder schriftliches Interview festlegt. Für ein mündliches Interview spricht die allgemein hohe Antwortquote, sofern die zu befragende Person erreicht werden kann (vgl. MAYER 2008, 100 f.). Außerdem kann die Art und Weise der Beantwortung vom Interviewer zusätzlich beobachtet und interpretiert werden, was die Antworten gegebenenfalls relativieren kann. Schließlich können je nach Verlauf des Interviews zusätzliche Fragen gestellt werden, die sich aus dem Gespräch ergeben (vgl. ebd.). Ein Nachteil des mündlichen Interviews liegt darin, dass es keine anonyme Befragung darstellt und damit zu erwarten ist, dass der Befragte oftmals Antworten gibt, die nicht seiner wahren Meinung entsprechen. In gewisser Weise kann der Interviewer das Ergebnis des Gesprächs mit seiner Fragestellung und weiteren Gesprächsführung beeinflussen, was sich in wissenschaftlicher Hinsicht jedoch als ebenso nachteilig erweisen kann (vgl. ATTESLANDER 2006, 131 f.). Darüber hinaus sind bei telefonischen Befragungen die passenden Interviewpartner mitunter nur schwer bzw. über Umwege zu erreichen und auch die Zeittoleranz bezüglich der Interviewlänge ist hierbei wesentlich geringer als in einem persönlichen Gespräch (vgl. BROSIUS 2009, 119). 21 D7)64B6545B6.4697 Sobald konkrete Aussagen über einen Sachverhalt das Ziel der Datenerhebung darstellen, ist das Leitfadeninterview anderen Interviewformen vorzuziehen. Hierbei basiert das Interview auf offen formulierten Fragen, auf welche der Befragte frei antworten kann (vgl. SCHOLL 2003, 66 f.). 19
Durch den konsequenten Einsatz des Leitfadens wird die Vergleichbarkeit der Daten durch eine stringente Struktur erhöht. Der Leitfaden dient dabei als Stütze und soll sicherstellen, dass keine wesentlichen Aspekte der Forschungsfrage im Interview übergangen werden (vgl. MAYER 2008, 37 ff.). Das Interview muss jedoch nicht zwingend nach der zuvor festgelegten Reihenfolge des Leitfadens verlaufen. Vielmehr obliegt es dem Interviewer eigenständig zu entscheiden, ob bzw. wann er detailliert nachfragt und vertiefende Ausführungen des Befragten unterstützt oder diese unterbindet (vgl. ebd.). Das Interview sollte dabei die Forderung nach Offenheit qualitativer Forschung erfüllen, weshalb der Befrager angehalten ist, den Leitfaden nicht zu starr zu verfolgen und im falschen Moment entscheidende Ausführungen zu unterbrechen. Allzu weite und themenferne Exkurse sollten jedoch verhindert werden, da sonst die Interviewzeit zu sehr ausgeweitet wird und das zusätzlich gewonnene Material meist nur von geringem Nutzen für die Beantwortung der eigentlichen Forschungsfrage ist (vgl. SCHOLL 2003, 69). 2 D7316B6545B6.4697 Das Experteninterview bildet eine besondere Form des Leitfadeninterviews, wobei der Befragte weniger als Privatperson als vielmehr in seiner Funktion als Experte für die klar definierte Forschungsfrage zu betrachten ist (vgl. ATTESLANDER 2006, 132). Das Interview bezieht sich somit auf einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt, wobei der Befragte als Repräsentant einer Gruppe bzw. Institution in die wissenschaftliche Untersuchung einbezogen wird (vgl. SCHOLL 2003, 67). Dem Leitfaden kommt hierbei eine starke Steuerungsfunktion zu, um unergiebige Themenbereiche auszuschließen und das Experteninterview auf die Forschungsfrage zu begrenzen (vgl. ebd.). Experten können weiterhin Hinweise auf nützliche Fachliteratur geben, wobei es unabdingbar ist, bereits über einen gewissen Literaturgrundstock zu verfügen, um die Relevanz der empfohlenen Literatur richtig einschätzen zu können (vgl. BAADE et al. 2005, 76). 2! C$B64B6465B In der Literatur zur qualitativen Sozialforschung finden sich zahlreiche Expertenmeinungen, zu Aufbau und Gestaltung einer Befragung, die sowohl eine repräsentative Aussage als auch zufriedenstellende Auswertung gewährleisten sollen. Durch die Entlarvung typischer Schwachstellen von Befragungen werden sogenannte Gütekriterien vorgegeben, welche die Gültigkeit (Validität) und Zuverlässigkeit (Reliabilität) der Untersuchung garantieren sollen (vgl. MAYER 2008, 55 ff.). Ein Hauptkriterium bildet die Objektivität des Forschers, der so wenig wie möglich durch seine persönliche Meinung und Vorstellung die Durchführung und anschließende Auswertung der Erhebung sowie die Interpretation der Ergebnisse beeinflussen sollte (vgl. ebd.). 20
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