Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern: Gründe und Reformoptionen

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Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern: Gründe und Reformoptionen
Über- und Fehlversorgung in
deutschen Krankenhäusern:
Gründe und Reformoptionen

Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
beim Bundesministerium der Finanzen        01/2018
Über- und Fehlversorgung in
 deutschen Krankenhäusern:
     Gründe und Reformoptionen

          Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
             beim Bundesministerium der Finanzen

                                       April 2018
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 3

Inhalt

				                                                                           Seite
Kurzfassung                                                                        5

1.    Ausgangslage                                                                 9

2.    Über- und Fehlversorgung im deutschen Krankenhauswesen?                     12

3.    Ursachen von Über- und Fehlversorgung                                       17
3.1   Übernachfrage                                                               17
3.2   Angebotsinduzierte Nachfrage                                                19
3.3   Krankenhausplanung in Deutschland                                           23
3.4   Krankenhausfinanzierung in Deutschland                                      25
3.5   Die Zuständigkeit der Länder                                                29

4.    Reformoptionen                                                              31
4.1   Der Stand der Reformen nach dem Krankenhausstrukturgesetz                   31
4.2   Unzulängliche Reformüberlegungen                                            33
4.3   Selektivvertragliches Versorgungsmanagement in der GKV                      36
4.3.1 Versorgungsmanagement als Konzept                                           36
4.3.2 Einkommensunabhängige Boni und Beitragsgerechtigkeit                        39
4.3.3 Selektives Kontrahieren                                                     41
4.3.4 Eine andere Sicht zum Versorgungsmanagement                                 44
4.4   Kapazitätsteuerung                                                          46
4.4.1 Selektivvertragliches Versorgungsmanagement als Regeltarif                  46
4.4.2 Selektivvertragliches Versorgungsmanagement als Wahltarif                   48
4.4.3 Ein Investitionsfonds als Reformoption                                      50

5.    Empfehlungen                                                                53

Verzeichnis der Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats                         57
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Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 5

     Kurzfassung

Die stationäre Versorgung in Deutsch-           Abbau von Überkapazitäten zu verwenden
land steht in der Kritik. Sie hat mit verän-    sind. Der Beirat ist indes zu dem Ergebnis
derten Erfordernissen nicht Schritt gehal-      gelangt, dass die defizitäre Kranken​  haus-
ten. Es gibt stationäre Überkapazitäten und     struktur gesetzgeberische Maßnahmen er-
gleichzeitig apparativ schlecht ausgestat-      fordert, die über die bisher ergriffenen hi-
tete Krankenhäuser. Eine Arbeitsgruppe der      nausgehen. Konkret empfiehlt er eine
Leopoldina, der Nationalen Akademie der         Neuordnung der Finanzierung von Kran-
Wissenschaften, verdeutlicht die Defizite       kenhäusern, und er spricht sich mehrheit-
durch einen Vergleich mit Dänemark. Hätte       lich für die Einführung von Wahltarifen in
Deutschland die Krankenhausstruktur sei-        der Gesetzlichen Krankenversicherung aus,
nes nordischen Nachbarn, kämen in der           die ein Versorgungsmanagement beinhal-
Akutversorgung auf 1.000 Einwohner nicht        ten.
6,1 Betten, sondern lediglich 2,5. Auch gäbe        Ausgangspunkt der Beiratsanalyse sind
es nicht 1.371 Plankrankenhäuser, sondern       Fallzahlsteigerungen im stationären Sektor,
lediglich 330. Diese wären dann aber alle mit   die sich nicht allein medizinisch begründen
einem Computertomographen (CT) und mit          lassen. Nach Beiratsauffassung ist die Fehl-
Intensivbetten ausgestattet. Tatsächlich ver-   steuerung der Ressourcen im stationären
fügen 19 Prozent der deutschen Plankran-        Sektor auf das Fehlen wirksamer Mechanis-
kenhäuser über kein Intensivbett und 34         men zurückzuführen, die eine Anpassung
Prozent über keinen eigenen CT und dies,        der Strukturen und Kapazitäten an verän-
obwohl sie grundsätzlich einen Anspruch         derte Erfordernisse sicherstellen. Der neu
auf steuerfinanzierte Investitionen haben.      geschaffene Strukturfonds erleichtert zwar
    Die Probleme haben den Gesetzgeber          die Umwidmung von Kapazitäten; er ist
veranlasst, im Rahmen des Krankenhaus-          aber kein geeignetes Instrument, um zu er-
strukturgesetzes vom 10. Dezember 2015          reichen, dass an den Stellen der Versorgung,
einen Strukturfonds ins Leben zu rufen,         wo Kapazitäten abgebaut werden müssen,
dessen Mittel für die Verbesserung der Ver-     auch entsprechend entschieden wird. 52
sorgungsstruktur und insbesondere den           Prozent der allgemeinen Krankenhäuser ha-
Seite 6   Kurzfassung

                        ben weniger als 200 Betten. Nach dem Stand      Im Ergebnis werden also nicht nur Betriebs-
                        der Literatur lassen sich Krankenhäuser mit     kosten bundesweit abgewälzt, sondern auch
                        weniger als 200 Betten aber im Regelfall        Investitionskosten. Die Folge dieser Praxis
                        nicht kosteneffizient betreiben.                sind zu viele kleine, schlecht ausgerüstete
                            Nach der geltenden Kompetenzvertei-         Einrichtungen, die freiwillig nicht aufgeben
                        lung wäre es grundsätzlich Aufgabe der Län-     und die auch niemand zur Aufgabe zwingt.
                        der, überzählige Krankenhäuser zu schlie-           Der Beirat macht zwei Vorschläge zur
                        ßen und die verbleibenden bedarfsgerecht        besseren Ressourcensteuerung im Kran-
                        zu stärken. Dazu kommt es aber nicht in         kenhaussektor. Der eine zielt darauf ab,
                        dem wünschenswerten Maße. Das dürfte            den wirtschaftlichen Druck, ohne zwin-
                        daran liegen, dass die politischen Kosten der   gende medizinische Indikation zu operie-
                        Schließung eines Krankenhauses den politi-      ren, zu mindern. Nach dem anderen sollen
                        schen Nutzen in aller Regel übersteigen. Die    die Möglichkeiten der Krankenhäuser, ohne
                        Schließung eines Krankenhauses zu vertre-       zwingende medizinische Indikation zu ope-
                        ten, ist schwieriger, als die Dinge laufen zu   rieren, eingeschränkt werden. Im Ergebnis
                        lassen. Diese Beharrungstendenz wird noch       soll durch eine marktnähere Selbststeue-
                        dadurch verstärkt, dass die Kosten nicht al-    rung die Qualität der Versorgung verbessert
                        lein von jenem Bundesland zu tragen sind,       und eine Anpassung der Kapazitäten durch
                        dessen Bürger von der wohnortnahen Ver-         Umwidmung oder Betriebsaufgabe erzwun-
                        sorgung profitieren. Ein guter Teil der Kos-    gen werden.
                        ten wird über die ganze Republik verteilt,          Um den wirtschaftlichen Druck zu min-
                        und zwar dadurch, dass bundesweit tätige        dern, soll die Finanzierung der medizinisch
                        Krankenversicherungen die Kosten über           notwendigen Investitionen auf eine ver-
                        bundesweit erhobene Mitgliedsbeiträge fi-       lässliche Grundlage gestellt werden. Zwei
                        nanzieren. Insoweit werden die Kosten der       Lösungen werden vom Beirat zur Diskus-
                        wohnortnahen Versorgung in einem Land           sion gestellt. Nach der favorisierten Lösung
                        auch Bürgern anderer Bundesländer ange-         würden die Krankenhäuser künftig monis-
                        lastet.                                         tisch von den Krankenversicherungen fi-
                            Streng genommen gilt das zwar nur für       nanziert. Als Folge würden die Versicherten
                        die laufenden Betriebskosten und nicht für      über ihre Beiträge nicht nur die Betriebskos-
                        die Investitionskosten. Letztere sind nach      ten tragen, sondern zusätzlich auch die In-
                        der geltenden Kompetenzverteilung vom je-       vestitionskosten. Damit würde die Last der
                        weiligen Bundesland aufzubringen. Die Län-      Investitionsfinanzierung letztlich vom Steu-
                        der haben aber längst ihr Handeln an der        erzahler auf den Beitragszahler übergehen.
                        Erfahrung ausgerichtet, dass Krankenhäuser      Besser als heute wäre dadurch gewährleis-
                        auch mit einer unzulänglichen Investitions-     tet, dass notwendige Investitionen nicht an
                        finanzierung zurechtkommen. Die Einrich-        fehlenden Steuereinnahmen scheitern. Al-
                        tungen beschaffen sich die fehlenden Inves-     lerdings würden die Länder ihre Finanzie-
                        titionsmittel, indem sie die Leistungsmenge     rungskompetenz einbüßen.
                        ausdehnen. Die Fallpauschale, die ihnen ein         Eine zweitbeste Lösung verpflichtet die
                        operativer Eingriff einbringt, deckt schließ-   Länder, für jedes Krankenhausbett in ihrer
                        lich nicht nur die variablen Betriebskosten,    Zuständigkeit eine Bettenpauschale in einen
                        sondern lässt sich in Teilen auch verwenden,    neu einzurichtenden gemeinsamen Fonds
                        um notwendige Investitionen zu finanzie-        einzuzahlen. Die Höhe der Bettenpauschale
                        ren. Das entspricht zwar nicht der geltenden    wäre so zu bemessen, dass alle medizinisch
                        Kompetenzverteilung, wird aber toleriert.       notwendigen Investitionen finanziert wer-
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 7

den können. Nach dieser Lösung würde es             der Therapiewahl eingeschränkt; der Über-
den Ländern erschwert, Betten zu genehmi-           und Fehlversorgung an deutschen Kran-
gen, ohne die Kosten zu tragen. Zu erwarten         kenhäusern könnte auf diesem Wege aber
wäre, dass die Länder stärker als heute auf         spürbar entgegengewirkt werden. Betroffen
den Abbau überzähliger Betten drängen und           wären vor allem planbare Operationen und
dass sie die verbleibenden Einrichtungen            weniger der Bereich der Akut- und Notfall-
bedarfsgerechter als heute ausstatten.              versorgung.
    Allerdings sollte nach den Vorstellungen            Das Angebot von VM-Tarifen setzt vo-
des Beirats nicht nur die Finanzierung von          raus, dass die Gesetzlichen Krankenver-
Krankenhausinvestitionen reformiert wer-            sicherungen über erweiterte, aber nicht
den. Es sollten auch die Möglichkeiten der          regulierungsfreie unternehmerische Gestal-
Krankenhäuser eingeschränkt werden, über            tungsfreiheiten verfügen. Als Korrektiv für
den medizinischen Bedarf hinaus zu operie-          eine gestärkte Gestaltungsverantwortung
ren. Nach der Mehrheit der Wissenschaft-            würde der Wettbewerb um zufriedene Ver-
ler sollte das dadurch geschehen, dass den          sicherte dienen. Zu erwarten ist, dass sich
Gesetzlichen Krankenversicherungen das              Versicherte dem selektivvertraglichen Ver-
Recht eingeräumt wird, ihren Versicherten           sorgungsmanagement in der Erwartung
Tarife mit speziell gestaltetem Versorgungs-        anvertrauen, nicht nur von einer besseren
management anzubieten. Solche Wahltarife            Versorgungsqualität zu profitieren, son-
– Selekt- oder VM-Tarife genannt1 – würden          dern auch von geringeren Versicherungs-
sich dadurch auszeichnen, dass sie die im           kosten. VM-Tarife dürften kostengünstiger
Status Quo gegebenen Freiheiten der Arzt-           sein, weil seltener über das medizinisch in-
und Therapiewahl gezielt einschränken.2             dizierte Maß hinaus operiert würde.
    Im Rahmen dieser Tarife sollte es                   Die vielen Gesetzlichen Krankenversi-
der einzelnen Krankenversicherung erlaubt           cherungen müssten bei der vorgeschlage-
sein, mit ausgewählten Krankenhäusern               nen Konzeption, Kalkulation und Aushand-
Verträge abzuschließen, die für all jene Ver-       lung von VM-Tarifen Leistungen erbringen,
sicherungsnehmer bindend sind, die sich in          für die ihnen (mehr als den privaten Versi-
dem Wahltarif eingeschrieben haben. Ge-             cherungen) die notwendigen Erfahrungen
sundheitsleistungen, die vom Gemeinsamen            bisher weitgehend fehlen. Insofern verlangt
Bundesausschuss (G-BA) zu Pflichtleistun-           das Reformpaket des Beirats eine längere
gen der Gesetzlichen Krankenversicherung            Vorbereitungs- und Umsetzungsphase, die
erklärt wurden, könnten nicht ausgeschlos-          sicherlich eine weitere Anbieterkonzentra-
sen werden. Dagegen wäre es den Versiche-           tion mit sich bringen wird.
rungen gestattet, Behandlungen auf der Ba-              Mit steigendem Wettbewerbsdruck dürf-
sis medizinischer Leitlinien verbindlich zu         ten sich die Gesetzlichen Krankenversiche-
vereinbaren. Damit würde zwar die Freiheit          rungen gedrängt sehen, genau zu prüfen, wel-
                                                    che Krankenhäuser bei welchen Leistungen
                                                    gute Qualität erbringen und welche nicht.
1 Im angelsächsischen Sprachraum spricht man
vom Preferred-provider-Modell.                      Stationäre Einrichtungen, die den Erwartun-
2 Eine Minderheit verweist auf die Bedeutung        gen nicht entsprechen, kämen sicherlich un-
der Eigenverantwortung, die Patienten bei der       ter Druck. Sie müssten entweder umstruk-
Einholung von Informationen über Gesundheits-
leistungen haben. Auch werde die technische Ent-    turieren oder den Betrieb einstellen. Bei den
wicklung bei Expertensystemen die Einholung von     verbleibenden Einrichtungen wären eine
Informationen deutlich erleichtern. Dies lasse es   stärkere Spezialisierung und eine bessere Aus-
geraten erscheinen, persönliche Wahlfreiheiten im
Behandlungsfall zu stärken und einer möglichen      schöpfung von Größenvorteilen zu erwarten.
Übernachfrage durch Selbstbehalte zu begegnen.
Seite 8   Kurzfassung

                        Als Folge würde es notwendig, die Sicher-
                        stellung der stationären Versorgung auf
                        eine neue Grundlage zu stellen. Der Beirat
                        empfiehlt, den G-BA zu beauftragen, nicht
                        nur für operative Leistungen Mindestmen-
                        gen vorzuschreiben, sondern auch für alle
                        stationären Leistungen Mindestkriterien
                        der Erreichbarkeit festzulegen. Nur solche
                        Krankenversicherungen sollten dann eine
                        Zulassung erhalten, die sich auf ein flächen-
                        deckendes und den Erreichbarkeitsvorga-
                        ben genügendes Vertragssystem mit statio-
                        nären Leistungserbringern stützen können.
                        Im Ergebnis würde die stationäre Versor-
                        gung auf vertraglicher Basis sichergestellt.
                            Die Vorschläge des Beirats sehen tiefgrei-
                        fende Änderungen in den sozialrechtlichen
                        Rahmenbedingungen vor. Die Konsequen-
                        zen für die zukünftige stationäre Versor-
                        gung in Deutschland wären weitreichend.
                        Verantwortlichkeiten, die bisher bei den
                        Ländern liegen, würden auf die Gesetzlichen
                        Krankenversicherungen übertragen. Diese
                        sähen sich gezwungen, zu gestalten und
                        nicht nur zu verwalten. Auf lange Sicht führt
                        aber nach der Einschätzung des Beirats kein
                        Weg daran vorbei, zum Wohl der Versicher-
                        ten den Krankenversicherungen eine akti-
                        vere Rolle bei der Steuerung der Ressourcen
                        im Krankenhaussektor zuzuweisen.
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        1. Ausgangslage

Deutschland gab 2015 nach OECD-Angaben                               die Schweiz kamen auf die gleiche Quote
11,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts                               und Dänemark auf 2,8 Prozent. Interessan-
(BIP) für Gesundheit aus.1 Im internatio-                            terweise lag die von der OECD ermittelte
nalen Vergleich ist diese Quote hoch, aber                           Quote für die USA bei ähnlich hohen 3,0
keineswegs auffällig. Ein ähnliches Niveau                           Prozent. Höhere Quoten als in Deutschland
erreichen Frankreich (11,0 Prozent), Schwe-                          werden lediglich für Griechenland (3,3 Pro-
den (11,1 Prozent) und Japan (11,2 Prozent),                         zent), Frankreich (3,3 Prozent) und Öster-
aber auch die Nachbarländer Dänemark                                 reich (3,4 Prozent) ausgewiesen.
(10,6 Prozent), Niederlande (10,8 Prozent)                               Obwohl das deutsche Gesundheitswe-
und Schweiz (11,5 Prozent), die deswegen                             sen im Ländervergleich also keine Auffällig-
Erwähnung verdienen, weil in der Diskus-                             keiten aufweist, warnt die OECD, dass sich
sion um die Weiterentwicklung des deut-                              in Deutschland Fehlanreize für eine Über-
schen Gesundheitswesens auf sie immer                                versorgung und ein Überangebot an Kran-
wieder Bezug genommen wird. Einen auf-                               kenhausleistungen verfestigen könnten.3
fälligen Ausreißer im OECD-Vergleich stel-                           Eine Arbeitsgruppe der Leopoldina, der Na-
len nur die USA mit einer Ausgabenquote                              tionalen Akademie der Wissenschaften, hat
von 16,9 Prozent dar.                                                sich in einem Thesenpapier vom Oktober
    3,1 Prozentpunkte gingen bei den deut-                           2016 den Warnungen angeschlossen.4 So wie
schen Gesundheitsausgaben zu Lasten des                              die OECD sehen die Autoren im stationären
Krankenhaussektors.2 Die Niederlande und                             Sektor „deutliche Hinweise auf Fallzahlstei-

1 h t t p : // s t a t s . o e c d . o r g / i n d e x . a s p x ?   Krankenhaussektor erfassen stationäre Behandlung
DataSetCode=HEALTH_STAT. Die Zahlen der                              und Pflege („inpatient curative and rehabilitative
OECD weichen von denen des Statistischen Bun-                        care“) und beziehen sich auf das Jahr 2014.
desamtes leicht ab. Das Amt beziffert die Gesund-                    3    OECD, 2013, Managing hospital volumes –
heitsausgaben 2015 auf 344,2 Mrd. €, was einer                       Germany and experiences from OECD countries,
Quote von 11,3 Prozent vom BIP entspricht. Vgl.                      Paris, Executive Summary.
https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Gesell-                      4 Leopoldina, 2016, Zum Verhältnis von Medizin
schaftStaat/Gesundheit/Gesundheitsausgaben/                          und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem
Gesundheitsausgaben.html                                             – 8 Thesen zur Weiterentwicklung zum Wohle der
2 Ebenda. Die wiedergegebenen Quoten zum                             Patienten und der Gesellschaft, Halle/Saale
Seite 10   Ausgangslage

                          gerungen …, die nicht allein medizinisch be-          bleibenden behoben werden. Wie dieses Ziel
                          gründet sind“ (S. 7). Als Ursache identifizie-        zu erreichen ist, lässt die Arbeitsgruppe in-
                          ren sie ökonomische Fehlanreize. Man habe             dessen offen. Vor diesem Hintergrund wid-
                          versäumt, die Einführung von Fallpauscha-             met sich dieses Gutachten der Ressourcen-
                          len im Krankenhauswesen mit Strukturver-              steuerung im Krankenhaussektor.
                          änderungen zu verbinden. Das System der                   Zunächst werden im zweiten Kapitel
                          diagnosebezogenen Fallgruppen (Diagnosis              Hinweise auf Über- und Fehlversorgung re-
                          Related Groups, kurz: DRGs) gebe den Klini-           feriert. Das dritte Kapitel diskutiert mög-
                          ken Anreize zu Mengensteigerungen insbe-              liche Gründe, mit denen sich Fehlsteue-
                          sondere bei Indikationsstellungen, bei deren          rungen in der Krankenhausversorgung
                          Vergütung rechnerisch ein hoher Anteil auf            ursächlich erklären lassen. Von hoher Plau-
                          Fixkosten entfalle. Die DRGs könnten indes-           sibilität erweist sich eine Kombination von
                          sen nicht allein für mögliche Fehlentwick-            Gründen, und zwar eine mangelhafte In-
                          lungen verantwortlich gemacht werden. Es              vestitionsfinanzierung seitens der Länder
                          gebe in Deutschland zu viele Krankenhäu-              in Verbindung mit einer überwiegend an-
                          ser und zu viele Krankenhausbetten, die um            gebotsorientierten Krankenhausbedarfspla-
                          Patienten und finanzielle Mittel konkurrier-          nung. Letztere hat Überkapazitäten in der
                          ten.                                                  stationären Versorgung entstehen lassen
                              Die Leopoldina und die OECD werden                und dem medizinisch-technischen Fort-
                          hier stellvertretend für die verbreitete Ex-          schritt zu wenig Rechnung getragen. Der
                          pertenmeinung angeführt, nach der im                  Druck, die vorhandenen Kapazitäten aus-
                          deutschen Krankenhauswesen politischer                zulasten, verleitet die Einrichtungen häu-
                          Handlungsbedarf besteht. Leider gibt es hin-          fig dazu, wirtschaftlichen Erwägungen
                          sichtlich konkreter Handlungsempfehlun-               eine medizinisch unangemessene Bedeu-
                          gen weitaus geringeren Konsens. Die OECD              tung beizumessen und die Generierung der
                          moniert lediglich, dass die Krankenhaus-              fehlenden Investitionsmittel und die De-
                          budgets einer schwächeren Kontrolle unter-            ckung sonstiger Kosten durch eine Aus-
                          lägen als in vielen anderen OECD-Ländern.             weitung von Leistungsmengen zu suchen.
                          Insbesondere würden die DRGs nur zur Ver-             Zwar sind diese Zusammenhänge schon öf-
                          gütung erbrachter Krankenhausleistungen               ter benannt und beklagt worden; dies ge-
                          genutzt und nicht wie etwa in Australien              schah allerdings überwiegend mit der Er-
                          oder im Vereinigten Königreich zur Kran-              wartung an die Politik, sie möge handeln,
                          kenhausbudgetierung.5 Die Arbeitsgruppe               einen Rückbau der nicht benötigten Versor-
                          der Leopoldina bringt demgegenüber zum                gungskapazitäten veranlassen und die ver-
                          Ausdruck, dass eine Weiterentwicklung des             bleibenden besser ausfinanzieren. Eine sol-
                          DRG-Systems allein nicht ausreiche, um die            che Erwartung greift nach Auffassung des
                          ökonomischen Fehlentwicklungen zu behe-               Beirats indes zu kurz. Sie ignoriert die An-
                          ben. Die Zahl der Krankenhäuser müsse re-             reize und Zwänge, unter denen Politik han-
                          duziert und die Unterfinanzierung der ver-            delt. Man darf von ihr nicht erwarten, dass
                                                                                sie unmittelbar wirkende Entscheidun-
                          5 In Australien werden für jedes Krankenhaus          gen über den Fortbestand von Krankenhäu-
                          Fallzahlen im Vorhinein geschätzt und mit Hilfe       sern trifft, deren Bedarf sie selbst in ande-
                          der DRGs in ein Budget umgerechnet, über das
                          das Krankenhaus frei verfügen kann (OECD, 2013,       ren Zeiten festgestellt hat. Eine Inkongruenz
                          Managing hospital volumes – Germany and experi-       von Nutzen- und Kosteninzidenz bewirkt,
                          ences from OECD countries, a.a.O., S. 13). Die DRGs   dass die Interessen unmittelbar Betroffe-
                          werden also zur Budgetierung genutzt und nicht
                          wie in Deutschland nur zur Vergütung erbrachter       ner und deren Widerstand gegen Verän-
                          Leistungen.
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 11

derungen übermäßiges Gewicht erhalten. Diskussion legt eine Reihe von Empfehlun-
Der Beirat prüft daher in diesem Gutach- gen für die Gesundheitspolitik nahe, die im
ten die Frage, wie das Krankenhauswesen in fünften Kapitel formuliert werden.
Deutschland so geordnet werden kann, dass
sich wettbewerbliche Prozesse stärker ein-
setzen lassen, um die Ressourcen im statio-
nären Sektor zum Wohle von Patienten und
der Gesellschaft besser zu nutzen.6 Das ge-
schieht im vierten Kapitel. Im dritten Kapi-
tel wird zunächst der Stand der Reformen
nach dem Krankenhausstrukturgesetz refe-
riert und erläutert, warum von diesem und
anderen Reformansätzen keine nachhaltige
Besserung der beklagten Versorgungsmän-
gel zu erwarten ist. Die Ansätze leiden un-
ter ihrer einseitigen Angebotsorientierung.
Sie legen übermäßiges Gewicht auf eine bü-
rokratische Steuerung der Ressourcen. Im
Weiteren wird dann geprüft, wie sich wett-
bewerbliche Mechanismen stärker nutzen
lassen. Voraussetzung dafür ist, dass es ge-
lingt, die Zahlungsbereitschaft der Bevölke-
rung für eine qualitativ hochwertige Versor-
gung zur Geltung zu bringen. Eine Lösung
sieht der Beirat in einer veränderten Inves-
titionsfinanzierung sowie in der Förderung
von selektivvertraglichem Versorgungsma-
nagement. Letzteres ist in Deutschland un-
terentwickelt, was auf die gesetzlichen Rah-
menbedingungen zurückzuführen ist. Die

6 Mit seiner Forderung an die Politik, wettbe-
werbsorientierten Lösungsvorschlägen im Gesund-
heitswesen stärkere Beachtung zu schenken, folgt
der Beirat verschiedenen Gutachten und Stellung-
nahmen. Vgl. stellvertretend Monopolkommission,
2008, Weniger Staat, mehr Wettbewerb – Gesund-
heitsmärkte und staatliche Beihilfen in der Wettbe-
werbsordnung, 17. Hauptgutachten, Bundestags-
Drucksache 16/10140, Kap. V; dieselbe, 2017, Stand
und Perspektiven des Wettbewerbs im deutschen
Krankenversicherungssystem, Sondergutachten 75;
Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-
samtwirtschaftlichen Entwicklung, Die Finanzkrise
meistern – Wachstumskräfte stärken, Jahresgut-
achten 2008/2009; derselbe, Stabile Architektur für
Europa – Handlungsbedarf im Inland, Jahresgut-
achten 2012/2013, Tz 638; Sachverständigenrat zur
Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswe-
sen, Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen am-
bulanter und stationärer Gesundheitsversorgung,
Sondergutachten 2012.
Seite 12   Über- und Fehlversorgung im deutschen Krankenhauswesen?

                              2. Über- und Fehlversorgung im deutschen
                                 Krankenhauswesen?

                        In ihrem Länderbericht 2015 spricht die                in der Qualität der medizinischen Primär-
                        OECD mit Bezugnahme auf das deutsche                   versorgung schließt.
                        Krankenhauswesen von einem „gemisch-                       Ein detaillierteres Bild der deutschen
                        ten Bild bei der Versorgungsqualität“.7 Sie            Krankenhausleistungen wird in dem etwas
                        führt folgende Hinweise an. Einerseits sei             älteren OECD-Bericht aus 2013 gezeichnet.8
                        die Überlebensrate bei Akutbehandlung                  Hier finden sich international vergleichende
                        im Krankenhaus nach einem Schlaganfall                 Angaben zu stationär erbrachten operati-
                        besser als in den meisten anderen Ländern.             ven Eingriffen. Demnach ist Deutschland in
                        Andererseits sei die Überlebensrate von                vier von insgesamt fünfzehn erfassten Akti-
                        Patienten, die mit Herzinfarkt in ein Kran-            vitätsbereichen Spitzenreiter in der OECD,
                        kenhaus eingeliefert werden, unterdurch-               und zwar bei perkutanen Koronarinter-
                        schnittlich. Deutschland erreicht in dieser            ventionen (624 in Deutschland vs. 177 im
                        Leistungskategorie sogar nur Platz 25 von              OECD-Schnitt, jeweils bezogen auf 100.000
                        32 verglichenen Ländern. Des Weiteren mo-              Personen), Leistenbrüchen (223/110), künst-
                        niert die OECD hohe Einweisungsraten bei               lichen Hüften (295/154) und brusterhal-
                        chronischen Krankheiten wie Diabetes und               tenden Operationen (232/108). In drei wei-
                        Herzinsuffizienz. Sie seien „weit höher als            teren Bereichen erreicht Deutschland das
                        im OECD-Schnitt“. Die OECD geht hierbei                zweithöchste Aktivitätsniveau, und zwar bei
                        von potenziell vermeidbaren Krankenhaus-               Herzkranz-Bypässen (116/47), Gallenbla-
                        aufenthalten aus, woraus sie auf Schwächen             senentfernungen (236/154) und Knieersatz
                                                                               (213/122).9
                        7 OECD, 2015, Gesundheit auf einen Blick –
                        Wo steht Deutschland? https://www.oecd.org/
                        germany/Health-at-a-Glance-2015-Country-Note-          8 OECD, 2013, Managing hospital volumes – Ger-
                        GERMANY-In-Deutsch.pdf; Health at a Glance             many and experiences from OECD countries, a.a.O.
                        2015, OECD Indicators, Mortality following acute       9 Ebenda. Die wiedergegebenen Zahlen spiegeln
                        myocardial infarction (AMI). 2013 verstarben in        überwiegend die Verhältnisse von 2010 wider. Die
                        Deutschland 8,7 Prozent der Patienten über 45          Rangpositionen ergeben sich aus Bevölkerungs-
                        Jahre, die mit einem akuten Herzinfarkt in Kran-       durchschnitten. Eine derartige Rangbildung ist in
                        kenhäuser eingewiesen wurden, während ihres            der Literatur kritisiert worden, und zwar mit dem
                        stationären Aufenthaltes. In Australien lag die ent-   Hinweis, dass die deutsche Bevölkerung älter sei
                        sprechende Quote bei 4,1 Prozent und in Schweden       als die der meisten Vergleichsländer und dass sich
                        bei 4,5 Prozent. Vgl. auch Leopoldina, a.a.O., S. 6.   diese Tatsache in der Zahl der stationär erbrachten
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 13

Bei einem so hohen Aktivitätsniveau würde                spruchnahme von Behandlungen erklären.
es nicht überraschen, wenn die Lebenser-                 Der Verdacht auf Überversorgung in weiten
wartung in Deutschland besonders hoch                    Bereichen verbunden mit Fehlversorgung
wäre. Das ist aber nicht der Fall. Mit 83,6              in einzelnen Bereichen wird auch durch
Jahren erreichten deutsche Frauen bei Ge-                die Äußerungen von Leistungserbringern
burt 2014 gerade mal den Durchschnitts-                  gestützt. 2015 befragten Reifferscheid et
wert der EU28-Staaten, und der entspre-                  al. knapp 5000 Chefärzte, Geschäftsführer
chende Wert bei Männern überstieg mit                    und Pflegedirektoren zu Rationierung und
78,7 den EU28-Schnitt von 78,1 nur leicht.10             Überversorgung im Krankenhausbereich.11
Das hohe Niveau an Krankenhausleistungen                 43 Prozent der Befragten antworteten. Von
korrespondiert also nicht mit einer entspre-             den antwortenden Chefärzten gaben 46
chend hohen Lebenserwartung. Das könnte                  Prozent an, aus ökonomischen Gründen
man als Hinweis für eine ineffiziente Res-               schon mal nützliche Maßnahmen vorent-
sourcennutzung deuten. Das scheint auch                  halten oder durch weniger effektive, aber
die OECD so zu sehen. Jedenfalls warnt sie               kostengünstigere Alternativen ersetzt zu
vor der Gefahr, dass sich in Deutschland                 haben. Das deuten die Autoren als Anzei-
Fehlanreize für eine Überversorgung und                  chen einer Unterversorgung. Sie betreffe
ein Überangebot an Krankenhausleistun-                   alle Fachbereiche, die Intensität sei indessen
gen verfestigen könnten. Das traditionell                gering ausgeprägt. 39 Prozent der Chefärzte
hohe deutsche Niveau an Krankenhausleis-                 glaubten dagegen, dass in ihrem Fachge-
tungen lasse sich nicht allein durch Unter-              biet wirtschaftliche Rahmenbedingungen
schiede in der Demografie, der Morbidität                zu überhöhten Fallzahlen führen. Das gilt
und der sozialen Präferenzen für die Inan-               insbesondere für die Kardiologie und die
                                                         Orthopädie. Chefärzte aus diesen Bereichen
Eingriffe niederschlage. So argumentieren Verena         nehmen mit 60,7 bzw. 48 Prozent die Prob-
Finkenstädt und Frank Niehaus (2015, Die Aussa-          lematik insgesamt signifikant stärker wahr,
gekraft von Länderrankings im Gesundheitsbereich
– Eine Analyse des Einflusses der Altersstruktur         wie nachstehende Abbildung zeigt. 12
auf die OECD-Daten, Wissenschaftliches Institut
der PKV), dass das Medianalter Deutschlands 2010
nach Japan das zweithöchste in der OECD gewesen
sei und dass, wenn man eine Altersstandardisierung
durchführe, Deutschland in vielen Rangpositionen
mehrere Plätze zurückfalle. Diesem Einwand muss
man entgegenhalten, dass Deutschland in einigen
Kategorien auch nach vorne rückt. Ein auffallen-
des Beispiel liefern Blinddarmentfernungen. In
der zitierten Studie von Finkenstädt et al. rückt
Deutschland durch die Altersstandardisierung bei
32 Ländern von dem sechsten auf den dritten Platz        11 Reifferscheid, Antonius, Natalie Pomorin und
vor. Insbesondere bei jungen Frauen zwischen 15          Jürgen Wasem, 2015, Ausmaß von Rationierung
und 19 Jahren werden in Deutschland auffallend           und Überversorgung in der stationären Versor-
viele Operationen durchgeführt, und zwar 4,7 mal         gung, Deutsche medizinische Wochenschrift 2015,
öfters als in den USA. Dadurch erreicht das Risiko       140(13): e129-e135.
von Frauen, am Blinddarm operiert zu werden, in          12 Ob es angebracht ist, von einer Überversorgung
einer über das Alter kumulierenden vergleichenden        oder vielleicht besser von einer Fehlversorgung zu
Betrachtung von 17 OECD-Ländern den Spitzen-             sprechen, mag dahingestellt bleiben. Neubauer et
wert und behält diesen bis zum hohen Alter von           al. definieren Fehlversorgung als eine Versorgung,
85 und mehr (McPherson, Klim, Giorgia Gon und            “die so nicht erbracht werden sollte, weil eine an-
Maggie Scott, 2013, International Variations in a        dere Versorgungsform medizinisch zweckmäßiger
Selected Number of Surgical Procedures, OECD             und wirtschaftlicher ist“. Neubauer, Günter und An-
Health Working Paper No. 61, S. 40 ff.).                 dreas Gmeiner, Krankenhausplanung am Scheide-
10 OECD, Health at a Glance: Europe 2016. Tabelle        weg, in: Krankenhaus-Report 2015, Jürgen Klauber,
3.2. Life expectancy (LE) and healthy life years (HLY)   Max Geraedts, Jörg Friedrich und Jürgen Wasem,
at birth, by gender, 2014                                Hrsg., Schattauer, Stuttgart, S. 177.
Seite 14   Über- und Fehlversorgung im deutschen Krankenhauswesen?

              Abbildung 1:        Antworten von Chefärzten auf die Frage: „Glauben Sie, dass die wirtschaftlichen
              		                  Rahmenbedingungen in Ihrem Fachgebiet zu überhöhten Eingriffszahlen führen?“13

                             Anhaltspunkte für eine Überversorgung                  Sie soll hier am Beispiel von Eingriffen an
                             liefert die Entwicklung der Leistungsmen-              der Wirbelsäule mit Zahlen illustriert wer-
                             gen, die seit der Jahrtausendwende an deut-            den. In den Jahren 2004 bis 2009 erhöhte
                             schen Krankenhäusern zu beobachten ist.                sich die Zahl der Bandscheibenoperatio-
                             Die Entwicklung ist Gegenstand verschie-               nen von 112.317 um 43 Prozent auf 160.407.
                             dener Dokumentationen und Gutachten.14                 Die Zahl der Interventionen am Rücken-
                                                                                    mark erhöhte sich im gleichen Zeitraum
                             13 Reifferscheid et al., a.a.O. Die Frage zur ökono-   von 244.493 um 46 Prozent auf 355.794, und
                             misch-motivierten Überversorgung galt nur allge-
                             mein für das jeweilige Fachgebiet und nicht speziell
                                                                                    die Zahl der diagnostizierten Versteifungen
                             für die eigene Abteilung.                              der Wirbel erhöhte sich im gleichen Zeit-
                             14 Felder, Stefan, Boris Augurzky, Rosemarie           raum von 45.718 gar um 220 Prozent auf
                             Gülker, Roman Mennicken, Stefan Meyer, Jürgen
                                                                                    146.410.15
                             Wasem, Hartmut Gülker, Nikolaus Siemssen, 2012,
                             Mengenentwicklung und Mengensteuerung stati-
                             onärer Leistungen, Forschungsprojekt im Auftrag
                             des GKV-Spitzenverbandes, RWI; Schreyögg, Jonas,       deutschen Krankenhäusern, Monitor Versorgungs-
                             Reinhard Busse et al., 2014, Forschungsauftrag         forschung 04, S. 43-51.
                             nach § 17b Abs. 9 KHG. Endbericht, Hamburg/            15 https://de.statista.com/statistik/daten/stu-
                             Berlin. Für Hinweise zu weiteren Studien vgl. Heinz    die/201989/umfrage/anzahl-der-eingriffe-an-der-
                             Naegler und Karl Heinz Wehkamp, 2014, Die Öko-         wirbelsaeule-in-deutschen%20-krankenhaeusern/
                             nomisierung patientenbezogener Entscheidungen          Abfrage am 25. Februar 2017. Die starke Zunahme
                             im Krankenhaus – Zur Mengenentwicklung in              stationärer Behandlungsfälle wegen Rückenleiden
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 15

Die Fallmengenentwicklung im stationären               Begründungen wird im Weiteren von Ver-
Bereich hat den Gesetzgeber veranlasst, ak-            sorgungsmängeln in deutschen Kranken-
tiv zu werden. So hat er beginnend mit dem             häusern ausgegangen und der Fokus auf die
Jahr 2009 den Vertragsparteien mit zuneh-              Frage gerichtet, wie sich die Ressourcen-
mender Verbindlichkeit aufgetragen, bei der            steuerung im Krankenhaussektor diesbe-
Vergütung von Leistungen, die über das für             züglich wirksam und dauerhaft verbessern
das Vorjahr krankenhausindividuell fest-               lässt.
gelegte Niveau hinausgehen, so genannte                    Nun stellen Über- und Fehlversorgung
Mehrleistungsabschläge zu vereinbaren.16               mutmaßlich nicht das einzige Problem im
Die Erhebung von Mehrleistungsabschlä-                 stationären Bereich dar. Ein großes Problem,
gen ist sinnvoll, wenn der Anreiz zur Er-              auf das in diesem Gutachten aber nicht wei-
bringung von Mehrleistungen gedämpft                   ter eingegangen wird, ist etwa der unbefrie-
werden soll. Der Gesetzgeber muss also eine            digende Stand der sektorenübergreifenden
Überversorgung vermutet haben und als                  Versorgung. Deutschland dürfte eines der
Problem begreifen. Bei der Einführung von              wenigen Länder sein, das sich mit der sta-
Mehrleistungszuschlägen ist es nicht geblie-           tionären Versorgung und dem System nie-
ben. Im Rahmen des Krankenhausstruktur-                dergelassener Fachärzte zwei Strukturen mit
gesetzes (KHSG) wurde 2016 ein Struktur-               überlappenden Aufgaben leistet, ohne dass
fonds ins Leben gerufen, den die Bundesre-             die jeweiligen Zuständigkeiten klar geregelt
gierung explizit mit dem Zweck begründet,              wären. Darunter leidet nicht nur die Quali-
„zur Verbesserung der Versorgungsstruktur              tät der Versorgung; Ressourcen werden auch
insbesondere den Abbau von Überkapazitä-               ineffizient genutzt. Ein Beispiel, das in jün-
ten … zu fördern“.17                                   gerer Zeit für Schlagzeilen sorgte, liefert die
    Angesichts der Einschätzungen von                  Notfallversorgung.
OECD und Leopoldina, der Befragungs-                       Experten beklagen, dass Patienten bei
ergebnisse unter Chefärzten sowie der                  einem Notfall, der ambulant behandelbar
Maßnahmen des Gesetzgebers und deren                   wäre, oftmals teure Krankenhausambulan-
                                                       zen aufsuchen.18 Eine effiziente Navigation
ist Gegenstand verschiedener Berichte. Vgl. etwa       des Patientenstroms finde nicht statt. Sach-
die Gesundheitsberichterstattung des Bundes:           gerechte Lösungen scheiterten in der Ver-
Heiner Raspe, 2012, Rückenschmerzen, Robert
Koch-Institut, Hrsg., insbesondere Abb. 3. Vgl. auch   gangenheit an gegensätzlichen wirtschaft-
den Krankenhaus-Report 2013 des AOK-Bundes-            lichen Interessen von Krankenhäusern und
verbands und des Wissenschaftlichen Instituts der
AOK (WIdO). Darin wird festgestellt, dass sich die
                                                       niedergelassenen Ärzten. Der Hauptge-
Zahl der Wirbelsäulenoperationen bei AOK-Versi-        schäftsführer der Deutschen Krankenhaus-
cherten zwischen 2005 und 2010 mehr als verdop-        gesellschaft, Georg Baum, hat den Kassen-
pelt hat. Auch die regionale Verteilung bestimmter
Arten von Operationen wirft Fragen auf. Darauf hat     ärzten schon öffentlich vorgeworfen, ihren
zuletzt die Bertelsmann-Stiftung hingewiesen, und      Versorgungsauftrag unzureichend wahr-
zwar unter dem Titel „Rückenschmerzen: In man-
chen Regionen wird bis zu 13-mal häufiger operiert
                                                       zunehmen und Kosten der Notfallversor-
als andernorts“. https://www.bertelsmann-stiftung.     gung auf die Krankenhausambulanzen ab-
de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/juni/             wälzen zu wollen. Das Hauptmotiv sei die
rueckenschmerzen-in-manchen-regionen-wird-
bis-zu-13-mal-haeufiger-operiert-als-andernorts/       Schonung der Budgets der Kassenärztlichen
Abfrage vom 21. Juni 2017.
16 Nach dem Krankenhausfinanzierungsreform-
gesetz (KHRG) vom 17. März 2009 „sollen“ die Ver-
tragsparteien Mehrleistungsabschläge vereinbaren.      18 Augurzky, Boris, Krankenhausversorgung nach
Nach dem GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG)            dem KHSG – noch weitere Herausforderungen? in:
vom 22. Dez. 2010 „haben“ sie es zu tun.               Krankenhaus-Report 2017, in: Jürgen Klauber, Max
17 Gesetzentwurf der Bundesregierung zum KHSG          Geraedts, Jörg Friedrich und Jürgen Wasem, Hrsg.,
vom 26. Aug. 2015, BT-Drs. 18/5867, S. 4.              Schattauer, Stuttgart, S. 3-12, hier S. 5.
Seite 16   Über- und Fehlversorgung im deutschen Krankenhauswesen?

                         Vereinigungen.19 Der Gesetzgeber hat die
                         Kritik zum Anlass genommen, im Rahmen
                         des Krankenhausstrukturgesetzes den Kas-
                         senärztlichen Vereinigungen aufzutragen, in
                         bzw. an Krankenhäusern Notdienstpraxen
                         („Portalpraxen“) einzurichten oder aber die
                         Notfallambulanzen stärker in den vertrags-
                         ärztlichen Notdienst einzubinden.20
                             Die vielfältigen sektoralen Schnittstel-
                         lenprobleme sind kein Gegenstand dieses
                         Gutachtens. Dieses fokussiert auf den sta-
                         tionären Bereich und befasst sich dort al-
                         lein mit dem Vorwurf der bestehenden
                         Über- und Fehlversorgung. Allerdings ist
                         zu erwarten, dass die Empfehlung des Bei-
                         rats, bestehende rechtliche Hindernisse bei
                         der Durchsetzung von Versorgungsmanage-
                         ment zu beseitigen, auch einen Beitrag zur
                         Lösung der Schnittstellenprobleme liefert.

                         19 Nichtnamentlich gezeichneter Bericht der FAZ
                         unter dem Titel „Streit über steigende Zahl von
                         Notfallpatienten“ vom 10. Mai 2017.
                         20 §75 Abs. 1b SGB V
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 17

     3. Mögliche Ursachen von Über- und
        Fehlversorgung

Leistungsmengen resultieren unter Markt-          in der Regel von Versicherungen übernom-
bedingungen aus dem Zusammenwirken                men. Sieht man von Zuzahlungen ab, belas-
von Angebot und Nachfrage. Entsprechend           ten sie den Patienten im Behandlungsfall
kann eine Über-und Fehlversorgung wirt-           nicht spürbar. Im Weiteren seien stets di-
schaftlich gesehen ihre Ursache im Angebot,       rekte Kosten gemeint, wenn von Behand-
in der Nachfrage oder gar im Zusammen-            lungskosten die Rede ist.
wirken beider Seiten haben. Für das Men-              Im Regelfall resultiert die Nachfrage
genergebnis mag die Verursachung wenig            nach medizinischen Leistungen aus ei-
relevant sein, für ordnungspolitische Kon-        ner Erkrankung und damit aus Umstän-
sequenzen ist sie dagegen zentral. Nur bei        den, auf die der Empfänger der Leistun-
ihrer zweifelsfreien Klärung lässt sich das       gen keinen nennenswerten Einfluss hat. Die
Problem von Über- und Fehlversorgung              Determinanten der Nachfrage sind „exo-
sachgerecht therapieren. In diesem Sinne          gen“. Von einer Übernachfrage kann man
seien nachfolgend denkbare Ursachen ge-           selbst dann nicht sprechen, wenn ein Ver-
nauer geprüft.                                    sicherter häufig erkrankt und in der Scha-
                                                  densrechnung der Versicherung somit ein
3.1 Übernachfrage                                 schlechtes Risiko darstellt. Ein hohes Scha-
                                                  densrisiko rechtfertigt allenfalls eine hohe
Die medizinische Leistungserbringung ver-         Versicherungsprämie. Von einer Übernach-
ursacht direkte und indirekte Kosten. Zu          frage kann man allerdings dann sprechen,
den indirekten Kosten zählen solche, die wie      wenn der Versicherte im Schutze der Versi-
etwa Unannehmlichkeiten und Zeitverlust           cherung die Leistungsnachfrage ausweitet
als unmittelbare Begleiterscheinung einer         und wenn eine derartige Verhaltensände-
Behandlung von dem betroffenen Patienten          rung vom Versicherungsgeber nicht festge-
selbst zu tragen sind.21 Dagegen werden die       stellt werden kann oder darf, so dass eine ri-
direkten Kosten bei ärztlicher Verordnung         sikogerechte Tarifierung nicht möglich ist.
                                                  In der Fachliteratur spricht man von mo-
21 Man könnte auch von intangiblen Kosten spre-   ralischem Risiko. Der Begriff erschließt sich
chen.
Seite 18   Mögliche Ursachen von Über- und Fehlversorgung

                        aus der Perspektive des Versicherungsgebers.           sen frei. Zu beachten sind indessen die Gren-
                        Er zielt weniger auf die moralische Fragwür-           zen, die der Gesetzgeber in § 53 Abs. 1 und
                        digkeit entsprechenden Verhaltens, als viel-           8 SGB V bei einem Wahltarif mit Selbstbe-
                        mehr auf die Erfassung eines Risikos, das ne-          halt für die Prämienzahlung vorsieht. So darf
                        ben dem exogenen Schadensrisiko besteht                diese maximal zwanzig Prozent des Jahres-
                        und von der Versicherung einzukalkulie-                beitrags ausmachen und nicht mehr als 600
                        ren ist. Es liegt in der Natur eigennützig han-        Euro betragen.
                        delnder Menschen, dass moralische Risiken                  Eine Deckelung der Prämie passt zum
                        nicht völlig eliminiert werden können. Sie             Wesen einer Sozialversicherung. Die Förde-
                        können aber eingedämmt werden. Probate                 rung von Kostenbewusstsein bei den Ver-
                        Mittel sind Zuzahlungen oder ein pauschaler            sicherten soll nicht mit einer Entsolidari-
                        Selbstbehalt. Solche Anreizinstrumente sor-            sierung von guten und schlechten Risiken
                        gen dafür, dass der Versicherte die finanziel-         erkauft werden. Adverser Selektion soll vor-
                        len Folgen seiner risikoerhöhenden Verhal-             gebeugt werden. Die Bezugnahme auf den
                        tensänderungen mitträgt. Das fördert sein              persönlich getragenen Beitrag ist hingegen
                        Kostenbewusstsein und eine zurückhaltende              nicht sachgerecht.24 Sie schwächt den Anreiz
                        Inanspruchnahme von Leistungen.22                      für Geringverdiener, sich für einen Wahlta-
                            Die GKV kennt Zuzahlungen in bestimm-              rif mit Selbstbehalt zu entscheiden. Das wird
                        ten Fällen. Die wichtigsten gibt es bei der            besonders deutlich bei den Empfängern von
                        Verschreibung von Arzneimitteln und ei-                ALG I, ALG II und Sozialhilfe, also einem Per-
                        ner vollstationären Krankenhausbehand-                 sonenkreis, für den das Jobcenter bzw. der
                        lung. Selbstbehalte sind dagegen nicht                 zuständige Kostenträger die Beitragszahlung
                        vorgeschrieben. Die gesetzlichen Kranken-              zur GKV übernimmt. Weil dieser Personen-
                        versicherungen sind aber befugt, Wahltarife            kreis keine eigenen Beiträge entrichtet, kann
                        mit Selbstbehalt anzubieten. In einem sol-             ihm nach Gesetz auch keine Prämie geboten
                        chen Tarif verpflichten sich die Versicherten,         werden. Damit kann ihm aber auch kein An-
                        einen Teil der anfallenden Kosten für medi-            reiz gesetzt werden, sich kostenbewusst zu
                        zinische Leistungen selbst zu tragen. Im Ge-           verhalten. Sachgerechter wäre es, für die Prä-
                        genzug darf ihnen die Krankenkasse eine                mienzahlung eine Deckelung zu wählen, die
                        Prämie zahlen.23 Die Gestaltung des Wahlta-            sich an den geschätzten Kosten bemisst, die
                        rifs mit Selbstbehalt steht den Krankenkas-            die Krankenversicherung bei Wahl des Tarifs
                                                                               mit Selbstbehalt pro Versichertem einsparen
                        22 Damit Zuzahlungen und Selbstbehalte ihre            kann.25
                        verhaltenssteuernde Wirkung entfalten können,              Insofern ist nicht auszuschließen, dass
                        dürfen sie von den Versicherten nicht unterlaufen
                        werden. Diese Einsicht hat wettbewerbspolitische       die von Experten in Deutschland monierte
                        Konsequenzen. Weder darf es eine Versicherung          Überversorgung in Teilbereichen der GKV
                        geben, die Zuzahlungen im Schadensfall erstattet,
                        noch die Möglichkeit, Krankheitskosten doppelt
                                                                               auf eine Übernachfrage zurückzuführen ist
                        zu versichern. Um letztere Möglichkeit ausschlie-      und damit auf Mängel bei der Eindämmung
                        ßen zu können, muss es konkurrierenden Versi-          moralischer Risiken. Im nichtstationären Be-
                        cherungsanbietern gestattet sein, Informationen
                        über die kontrahierte Deckung der Versicherten         reich mag diese These sogar eine gewisse,​
                        auszutauschen. Dieser Austausch ist zwar mit ei-
                        nem strengen Verständnis von Wettbewerb nicht
                        vereinbar, es gilt aber zu verhindern, dass gewitzte   24 Wohl in Anlehnung an den Begriff des Kosten-
                        Versicherungsnehmer das gleiche Schadensrisiko         trägers spricht das Gesetz von getragenen Beiträ-
                        bei mehreren Versicherungsgebern absichern und         gen. In der Terminologie der Finanzwissenschaft
                        im Schadensfall keinen Selbstbehalt tragen.            handelt es sich um gezahlte Beiträge.
                        23 Man könnte auch von einem Bonus sprechen.           25 Ersatzweise wäre eine Deckelung vertretbar, die
                        Das Gesetz verwendet jedoch den Begriff der Prä-       auf den durchschnittlich getragenen Beitrag aller
                        mienzahlung.                                           Versicherten Bezug nimmt.
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 19

anek​dotisch gestützte Plausibilität haben. Im   den.26 36,2 Prozent aller deutschen Kranken-
stationären Bereich ist die These einer Über-    häuser befand sich 2016 in privater Träger-
versorgung als Folge von Übernachfrage da-       schaft.27 Diesen Einrichtungen darf durchaus
gegen weit weniger plausibel. Nicht nur sind     Gewinnorientierung unterstellt werden. Die
die von den Patienten zu tragenden indirek-      verbleibenden knapp zwei Drittel sind zwar
ten Kosten einer Krankenhausbehandlung in        als öffentliche oder freigemeinnützige Ein-
aller Regel hoch. Es gibt auch Zuzahlungen       richtungen lediglich zur Kostendeckung ver-
bei vollstationärer Unterbringung, die – so-     pflichtet, bei fehlendem Kostendruck könn-
weit sie nicht als Ausgleich für die gesparten   ten sich aber auch bei ihnen patientenfremde
Kosten von Verpflegung und Unterbringung         wirtschaftliche Interessen breitmachen.
wahrgenommen werden – einer Übernach-                Der Kostendruck in der stationären Ver-
frage entgegenwirken.                            sorgung ist indessen infolge hoher Über-
                                                 kapazitäten erheblich. Deswegen darf man
3.2 Angebotsinduzierte 		                        auch unterstellen, dass weniger die Finan-
                                                 zierung von Annehmlichkeiten für das Kran-
    Nachfrage                                    kenhauspersonal das Handeln in den Ein-
                                                 richtungen leitet als vielmehr die reine
Versicherte suchen einen Arzt bei Sympto-        Deckung der Kosten. Wie nachfolgend einge-
men einer möglichen Erkrankung auf. Sie          hend begründet werden soll, lässt sich ange-
erwarten Heilung oder Linderung, wobei sie       botsinduzierte Nachfrage auch mit dem Stre-
diagnostische und therapeutische Entschei-       ben nach Kostendeckung begründen. Man
dungen mehr oder weniger an den behan-           muss den Leistungserbringern keine eigen-
delnden Arzt delegieren. Letzterer ist der me-   nützigen Motive unterstellen, um Über- und
dizinische Experte, der in aller Regel besser    Fehlversorgung zu erklären. Eigennützige
als der betroffene Patient weiß, was zu tun      Motive können sich auf die Versorgungs-
ist. Von daher wird die Nachfrage nach medi-     mängel allenfalls verschärfend auswirken.
zinischen Leistungen vor allem von den dia-      Die Probleme in der stationären Versor-
gnostischen und therapeutischen Entschei-        gung wurzeln dagegen in Überkapazitäten
dungen des Leistungserbringers geprägt.          bei gleichzeitig unzureichend ausfinanzier-
Solange letzterer im alleinigen Interesse des    ten Investitionen. Die Überkapazitäten sor-
Patienten handelt, spricht man von delegier-     gen in vielen Krankenhäusern für einen Kos-
ter Nachfrage. Angebotsinduzierte Nachfrage      tendruck, der die Leistungserbringer dazu
liegt vor, wenn ein Anbieter medizinischer       bringt, medizinische Entscheidungen wirt-
Leistungen patientenfremde, insbesondere         schaftlichen Erwägungen unterzuordnen
wirtschaftliche Eigeninteressen berücksich-      und die Deckung der Kosten in der Auswei-
tigt. Er ist dann nicht länger der perfekte      tung von Leistungsmengen zu suchen. Sol-
Sachwalter des Patienteninteresses.
     Für die Berücksichtigung patientenfrem-     26 Ein prominentes Beispiel aus der ambulanten
der wirtschaftlicher Interessen kommen           Versorgung liefern die sogenannten individuellen
                                                 Gesundheitsleistungen (IGEL), die niedergelassene
verschiedene Motive infrage. Gewinnori-          Ärzte in erheblichen Umfang erbringen und mit
entierung mag eines sein, die Finanzierung       dessen Zustimmung direkt beim Patienten abrech-
                                                 nen dürfen. Es handelt sich hierbei um Leistungen,
von arbeitsplatzbezogenen Annehmlichkei-         bei deren Erbringung dem behandelnden Arzt ein
ten für das Krankenhauspersonal ein ande-        wirtschaftliches Eigeninteresse unterstellt werden
res. An der empirischen Relevanz solcher         darf. Sie sind nicht durch den gesetzlichen Leis-
                                                 tungskatalog gedeckt.
Motive kann sicherlich nicht gezweifelt wer-     27 Statistisches Bundesamt, 2017, Gesundheit –
                                                 Grunddaten der Krankenhäuser, Fachserie 12 Reihe
                                                 6.1.1.
Seite 20   Mögliche Ursachen von Über- und Fehlversorgung

                         ches Verhalten mag dann zwar dem Erhalt          Preise und fallende Durchschnittskosten bei
                         des eigenen Arbeitsplatzes dienen. Als eigen-    überdimensionierten Kapazitäten zusam-
                         nützig kann man es deswegen aber nicht be-       mentreffen. In Deutschland ist genau diese
                         zeichnen. Mit dem Streben nach Kostende-         Konstellation zu beklagen.
                         ckung erfüllen die Einrichtungen lediglich           Anhaltspunkte für überdimensionierte
                         eine regulatorische Vorgabe. Wenn daraus         Krankenhauskapazitäten werden im nach-
                         Über- und Fehlversorgung resultieren, ist das    folgenden Unterabschnitt noch zur Sprache
                         der Politik anzulasten und nicht den Leis-       kommen. Sie sind einer wenig sachgerechten
                         tungserbringern.                                 Krankenhausbedarfsplanung der Länder an-
                             Dass es selbst beim Fehlen eigennützi-       zulasten. Die Politik hat aber nicht nur über-
                         ger Motive zu angebotsinduzierte Nachfrage       dimensionierte Krankenhauskapazitäten zu
                         kommen kann, erschließt sich nicht auf den       verantworten, sondern auch eine wirtschaft-
                         ersten Blick. Grundsätzlich wäre es vorstell-    lich und medizinisch ungesunde Betriebs-
                         bar, dass die Preise für medizinische Leis-      größenstruktur. Es gibt in Deutschland zu
                         tungen auf einem Niveau administriert wer-       viele kleine und schlecht ausgerüstete Ein-
                         den, bei dem die ex ante geplante Nachfrage      richtungen.28 1.064 bzw. 66,2 Prozent der
                         dem langfristigen Angebot entspricht. Wenn       1.607 allgemeinen deutschen Krankenhäuser
                         der behandelnde Arzt sein Angebot dann an        besitzen weniger als 300 Betten. 52,1 Prozent
                         solchen Preisen ausrichtet und wenn er alle      besitzen sogar weniger als 200.29 Internati-
                         Kosten einbezieht, resultiert eine effiziente    onale Studien sehen die optimale Betriebs-
                         Versorgung. Von einer Fehlsteuerung der          größe von Krankenhäusern dagegen bei min-
                         Ressourcen könnte man in einer derart idea-      destens 230, wenn nicht gar bei 300 Betten.30
                         len Welt nicht sprechen.                         Nach internationalen Maßstäben ist also die
                             Die Orientierung an einer derart idealen     überwiegende Zahl der deutschen Kranken-
                         Welt hilft jedoch, mögliche Effizienzstörun-     häuser zu klein. Sie sind nicht kosteneffizi-
                         gen zu erkennen. Eine erste wurzelt in falsch    ent zu betreiben. Produktionstechnisch zeigt
                         administrierten Preisen. Der Krankenhaus-        sich das darin, dass diese Einrichtungen in ei-
                         bereich liefert das passende Beispiel. So sol-   nem Bereich fallender Durchschnittskosten
                         len die Versorgungspauschalen, die von den       wirtschaften. Die Konsequenzen werden in
                         Krankenversicherungen für stationär er-          der folgenden Abbildung 2 schematisch ver-
                         brachte Leistungen erstattet werden, ledig-      deutlicht.
                         lich die durchschnittlichen Betriebskosten
                         decken. Die fixen Investitionskosten werden
                                                                          28 Leopoldina, a.a.O.
                         bislang nicht in die DRGs eingerechnet. Un-
                                                                          29 Statistisches Bundesamt, 2017, a.a.O.
                         ter solchen Umständen kann man nicht er-         30 In einer Studie für Dänemark wird die optimale
                         warten, dass eine ressourceneffiziente Ver-      Zahl an Betten auf 275 pro Krankenhaus geschätzt.
                         sorgung resultiert.                              Unterhalb von 230 Betten sei es aus Kostengrün-
                                                                          den angezeigt, Kapazitäten zu konsolidieren. Vgl.
                             Allerdings kann man mit einer unvoll-        Kristensen, Troels, Kim Rose Olsen, Jannie Kils-
                         ständigen Kostenkalkulation allein keine         mark und Kjeld Möller Pedersen, 2008, Economies
                                                                          of scale and optimal size of hospitals: Empirical
                         angebotsinduzierte Übernachfrage erklä-          results for Danish public hospitals, University of
                         ren. Man würde vielmehr eine Unterversor-        Southern Denmark. Eine andere Studie hat die Lite-
                         gung erwarten, wenn die Behandlungserlöse        ratur der Jahre 1969 bis 2014 systematisch mit dem
                                                                          Ziel ausgewertet, die optimale Betriebsgröße von
                         die verursachten Kosten nicht zu decken er-      Krankenhäusern zu ermitteln. Die Studie kommt
                         lauben. Wie nachfolgend verdeutlicht wer-        zu dem Ergebnis, dass die Größenersparnisse bis
                                                                          in den Bereich von 200 bis 300 Betten reichen. S.
                         den soll, ist mit einer Überversorgung aber      Giancotti, Monica, Annamaria Guglielmo und Ma-
                         dann zu rechnen, wenn falsch administrierte      rianna Mauro, 2017, PLoS One 12(3), https://www.
                                                                          ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5371367/
Über- und Fehlversorgung in deutschen Krankenhäusern   Seite 21

Abbildung 2:     Überversorgung bei fallenden Durchschnittskosten als Folge
		               nicht ausfinanzierter Investitionen

Abbildung 2 veranschaulicht die wirtschaft-      sorgungsmenge deckt (Punkt B), werden
liche Lage derjenigen Krankenhäuser, die         die Einrichtungen gedrängt, die Leistungs-
im Bereich fallender Durchschnittskosten         mengen bis Punkt C auszuweiten und De-
und nicht ausgeschöpfter Skalenersparnisse       ckungsbeiträge zu erwirtschaften (Strecke
operieren. Die Abbildung ist so zu lesen, dass   DC). Die Flucht in die Menge ist also die
ein nach Kostendeckung strebendes Kran-          wirtschaftlich rationale Reaktion eines um
kenhaus genau die medizinisch indizierte         seine Existenz kämpfenden Krankenhauses.
Leistungsmenge erbrächte, wenn die resul-        Falls Kostendeckung das Ziel ist, werden die
tierenden Betriebs- und Investitionskosten       Leistungsmengen bis zu jenem Punkt aus-
durch die Versorgungspauschalen gedeckt          gedehnt, bei dem die Fallpauschalen (DRGs)
würden (Punkt A). Da die erforderlichen          nicht nur die durchschnittlichen Betriebs-
Investitionen von den Ländern aber nicht         kosten decken, sondern die höheren, durch-
ausfinanziert werden und die Fallpauschale       schnittlichen Gesamtkosten (also einschließ-
lediglich die durchschnittlichen Betriebs-       lich jener Kosten, die aus Ersatz- und Erneu-
kosten für die medizinisch indizierte Ver-       erungsinvestitionen resultieren). Bei eigen-
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