SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
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IMPRESSUM Die Schweizer Ausgabe des PESTIZIDATLAS 2022 ist ein Kooperationsprojekt der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, und Public Eye, Zürich Inhaltliche Leitung: Basisausgabe: Christine Chemnitz, Heinrich-Böll-Stiftung (Projektleitung) Katrin Wenz, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. Susan Haffmans, Pestizid Aktions-Netzwerk e. V. Schweizer Beiträge: Carla Hoinkes und Timo Kollbrunner, Public Eye Projektmanagement, Grafikrecherche: Martin Eimermacher Art-Direktion und Herstellung: Martina Puchalla, STOCKMAR+WALTER Kommunikationsdesign Textchefin: Carina Book Dokumentation und Schlussredaktion: Carina Book, Martin Pfaffenzeller Mit Originalbeiträgen von Ana Aranha, Johanna Bär, Ulrike Bickel, Wolfgang Bödeker, Silke Bollmohr, Helmut Butscher-Schaden, Christine Chemnitz, Henrike von der Decken, Michael Eyer, Dave Goulson, Susan Haffmans, Ralph Halblützel, Johannes Heimrath, Heike Holdinghausen, Carla Hoinkes, Dominic Lemken, Layla Liebetrau, Martha Mertens, Moritz Nabel, Anna Satzger, Achim Spiller, Katrin Wenz, Eva Wyss, Anke Zühlsdorf Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder. Die Flächenfarben der Landkarten zeigen die Erhebungsgebiete der Statistik an und treffen keine Aussage über eine politische Zugehörigkeit. Titel: © Martina Puchalla 1. Auflage, Februar 2022 Schweizer Ausgabe: Public Eye Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz «Namensnennung – 4.0 international» (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis Pestizidatlas, Eimermacher/Puchalla, CC BY 4.0 in der Nähe der Grafik steht (bei Bearbeitungen: Pestizidatlas, Eimermacher/Puchalla (M), CC BY 4.0.) Download: www.publiceye.ch/pestizidatlas ISBN 978-3-907383-01-8
INHALT 02 IMPRESSUM 18 GESUNDHEIT SCHWERE FOLGEN 06 VORWORT 385 Millionen Menschen erkranken jährlich an Pestizidvergiftungen. Ein internationaler 08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation ÜBER PESTIZIDE IN DER soll den weltweiten Umgang mit Pestiziden LANDWIRTSCHAFT verbessern und Vergiftungen vermeiden. Doch weil gesetzliche Regelungen fehlen, 10 PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT passiert wenig. GEFÄHRLICHE SUBSTANZEN Jedes Jahr geht auf der ganzen Welt 20 RÜCKSTÄNDE ein Teil der landwirtschaftlichen DRAUF UND DRAN Produktion durch Schädlingsbefall und Pestizidanwendung führt zu Rückständen Pflanzenkrankheiten verloren. in Lebensmitteln, denen vor allem im Pestizide sollen dagegen helfen. Dabei globalen Süden viele Menschen ausgesetzt verursachen sie neue Probleme. sind. Belastete Ware aus dem aussereuropäischen Ausland, wo weniger reguliert wird, landet 12 KONZERNE als Import auch auf europäischen Tellern. GROSSE GESCHÄFTE Der weltweite Pestizidmarkt wächst – und 22 BIODIVERSITÄT IN DEUTSCHLAND es sind nur eine Handvoll Konzerne, BEDROHTE VIELFALT die ihn untereinander aufteilen. Immer Seit Jahren warnen Fachleute: Auf Acker, stärker investieren sie in den Ländern Feld und Wiese geht in Deutschland die des globalen Südens, wo Pestizide weniger biologische Vielfalt verloren. Eine der streng reguliert werden. Ursachen ist der Einsatz von Pestiziden. 14 PESTIZIDPOLITIK IN DER SCHWEIZ 24 INSEKTENSTERBEN NOCH EIN LANGER WEG EIN ÖKOLOGISCHES ARMAGGEDON Durch Volksinitiativen und neue Gesetze Insekten bestäuben Blüten, bekämpfen ist in letzter Zeit viel Bewegung in die Schädlinge und sorgen für reichhaltige Schweizer Diskussion um Pestizide Ernten. Seit langem schrumpfen ihre gekommen. Doch um die Risiken für Mensch Populationen dramatisch, was Mensch und Natur wirklich spürbar zu reduzieren, und Natur in Bedrängnis bringt. handelt die Politik bisher zu zögerlich. Pestizide haben daran ihren Anteil. 16 ZULASSUNGSVERFAHREN 26 NÜTZLINGE BLINDE FLECKEN NATÜRLICHE HELFER Bevor Pestizide auf Schweizer Feldern Tiere wie Marienkäfer, Schlupfwespen landen, müssen sie durch Behörden oder Ohrenkneifer sind natürliche genehmigt werden. Diese Verfahren Schädlingsbekämpfer und wirkungsvolle blenden jedoch verschiedene Pflanzenschützer. Sie sind gut für die Gefahrenquellen aus. Datenlücken Umwelt und sparen Kosten, doch ihr erschweren zudem eine realistische Lebensraum wird durch den Pestizideinsatz Einschätzung der Langzeitfolgen. bedroht. 4 PESTIZIDATLAS 2022
28 SYNGENTA 38 BEHÖRDEN GLOBALER GIGANT COPY & PASTE In Basel sitzt einer der mächtigsten Bayer und andere Unternehmen kämpfen für die Chemiekonzerne der Welt. Er produziert Wiederzulassung von Glyphosat in der EU. Dazu teilweise hochgefährliche Pestizide, die müssen sie beweisen, dass sein Wirkstoff nicht er – obwohl sie in der EU und in der krebserregend ist. Doch die vorgelegten Studien Schweiz verboten sind – in zahlreichen sind alt – und deuten auf das Gegenteil hin. Ländern des globalen Südens vermarktet. 40 JUGENDUMFRAGE 30 FERNTRANSPORT VERÄNDERUNG GEWOLLT VOM WINDE VERWEHT Junge Menschen sind besorgt über den Einsatz Pestizide bleiben nicht immer dort, wo sie von Pestiziden in der Landwirtschaft und ausgebracht werden. Sie gehen fordern die Politik zum Handeln auf. Sie wollen buchstäblich in die Luft: Wind weht sie auf mehr Ökologie auf dem Acker und benachbarte Grundstücke oder trägt sie plädieren für eine stärkere Unterstützung von teilweise viele hundert Kilometer weit. In landwirtschaftlichen Betrieben. Zulassungsverfahren spielt das kaum eine Rolle. 42 DIGITALISIERUNG 32 GENTECHNIK WEM NÜTZT DAS DIGITAL-UPDATE? VERÄNDERTE PFLANZEN, Roboter, Drohnen und Algorithmen in der MEHR PESTIZIDE Landwirtschaft sind zu einem grossen Geschäft Gentechnische Eingriffe in Saatgut sollten mit grossen Versprechungen geworden. Sie sollen den Einsatz von Chemie in der Landwirtschaft Betrieben dabei helfen, mit weniger Pestiziden reduzieren, die Arbeitsbelastung verringern auszukommen. Ob das funktionieren wird, ist unklar. und höhere Ernteerträge ermöglichen. Realisiert haben sich diese Versprechungen nicht. 44 SYNGENTA IN BRASILIEN UNHEIMLICHE ALLIANZEN 34 KLEINBÄUERLICHE BETRIEBE In Lateinamerika landen immer grössere NEUE MÄRKTE, ALTE PROBLEME Pestizidmengen auf Feldern. Und auf den Auf dem afrikanischen Kontinent werden Konten globaler Konzerne immer grössere deutlich weniger Pestizide eingesetzt Summen. In Brasilien haben Presseagenturen als in anderen Weltregionen. Dennoch enthüllt, wie Politik und Industrie paktieren. geraten die 33 Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern immer stärker in den Fokus 46 PESTIZIDFREIE REGIONEN der Pestizidunternehmen. Ihnen wird ERFREULICHE ANSÄTZE auch verkauft, was in der EU verboten ist. Beispiele aus der ganzen Welt zeigen: Immer mehr Städte, Staaten und Regionen 36 IMPORTE UND EXPORTE versuchen, weniger Pestizide auf ihren Feldern VERBOTEN UND VERKAUFT und Flächen auszubringen – oder gar Viele Pestizidwirkstoffe haben ihre komplett auf chemische Mittel zu verzichten. Genehmigung in Europa verloren. Exportiert werden dürfen sie trotzdem: häufig in Länder 48 AUTORINNEN UND AUTOREN, des globalen Südens, wo viele Menschen QUELLEN VON DATEN, KARTEN ihnen oft schutzlos ausgeliefert sind. UND GRAFIKEN PESTIZIDATLAS 2022 5
VORWORT I m Bier und im Honig, auf Obst und Gemüse, im Gras auf Spielplätzen und sogar im Urin und in der Luft – überall lassen sich mittlerweile Spuren « och nie in der Geschichte N wurden weltweit so viele Pestizide eingesetzt wie heute. von Pestiziden aus der Landwirtschaft nachweisen. Dabei ist die Erkenntnis, dass sich chemisch-synthetische ein Hauptverursacher des Artenrückgangs Wirkstoffe negativ auf die menschliche anerkannt. Insbesondere in Ländern Gesundheit auswirken, keineswegs neu. mit grosser Artenvielfalt hat der Anbau Auch ist seit Jahren bekannt, dass sie von gentechnisch verändertem Soja massiv Insekten und Pflanzen schädigen dazu beigetragen, dass der Pestizideinsatz und Gewässer kontaminieren. dramatisch steigt. K Bereits 1962 veröffentlichte Rachel aum ein Land weltweit hat eine Carson ihr weltweit anerkanntes Buch ambitionierte Pestizid- «Silent Spring» – der stumme Frühling, Reduktionsstrategie oder gar Konzepte in dem die Biologin die schädlichen für eine Landwirtschaft, die wirklich Auswirkungen der Pestizidanwendung unabhängig vom chemischen beschrieb. Es gilt als wegweisend für Pflanzenschutz ist. Und das nicht ohne die Umweltbewegung und als eines der Grund: Der Markt für Pestizide ist lukrativ. einflussreichsten Sachbücher unserer Nur wenige gut vernetzte und einflussreiche Zeit. Seitdem wurden viele Pestizide Agrarchemiekonzerne teilen ihn unter sich vom Markt genommen. Neue kamen auf – zuvorderst die in Basel ansässige mit dem Versprechen hinzu, sie seien Syngenta Group. Das Firmenkonglomerat weniger gefährlich für Gesundheit und ist für einen Viertel aller Pestizidverkäufe Umwelt. Ein Versprechen, das selten weltweit verantwortlich. eingelöst wurde. Die vielversprechenden Wachstums- T rotz vieler Verschärfungen in den märkte der Pestizidunternehmen liegen Zulassungsverfahren und freiwilliger längst nicht mehr in Europa, sondern vor und verbindlicher Vereinbarungen allem in Lateinamerika und Asien. Aber auch zum Umgang mit Pestiziden werden in afrikanische Länder werden zunehmend sechzig Jahre nach Carsons Buch Pestizide exportiert – nicht zuletzt solche, weltweit so grosse Mengen Pestizide die in der EU und der Schweiz aufgrund ihrer ausgebracht wie nie zuvor. Laut einer gesundheits- oder umweltschädigenden aktuellen Studie ist die Zahl der jährlich Wirkung nicht mehr zugelassen oder von Pestizidvergiftungen betroffenen verboten sind. Eine langjährige Forderung Menschen auf 385 Millionen gestiegen, der internationalen Zivilgesellschaft lautet und der Pestizideinsatz ist als deshalb: endlich Gesetze zu schaffen, die 6 PESTIZIDATLAS 2022
konsequenterweise diese giftigen Exporte verbieten. Die Schweiz hat einen ersten Schritt getan und den Export von fünf problematischen Stoffen ab 2021 verboten « Für eine ökologische Trend- wende braucht es Umdenken in der Landwirtschaft – und politischen Willen. und die Ausfuhr von 100 weiteren Pestiziden erschwert. Viel grössere Mengen verbotener Pestizide werden allerdings von Syngenta Verschärfung der Ziele des Bundes bei der und anderen Herstellern wie Bayer oder Risikoreduktion wurden aufgegleist. BASF aus EU-Ländern wie Deutschland, Wie ambitioniert die Umsetzung der Italien oder Belgien exportiert. Die Reformen voranschreitet und wie sie sich EU und auch die neue Bundesregierung in der Praxis auswirkt, bleibt abzuwarten. in Deutschland haben die Absicht geäussert, diese Praxis zu stoppen. D urch die Klimakrise werden U nd um endlich die international Pflanzenkrankheiten, Schädlings- verpflichtenden Biodiversitätsziele befall und Extremwetterlagen zu erreichen, fordert die EU nun in vielen Teilen der Welt zunehmen. von den Mitgliedsländern bis 2030 eine Um den dadurch erhöhten Druck auf Reduktion des Pestizideinsatzes und der nützliche und unverzichtbare Insekten- damit zusammenhängenden Risiken um und Pflanzenpopulationen zu verringern, 50 Prozent. Aus Sicht der 1,2 Millionen müssen sich unsere Agrarsysteme darauf europäischen Bürgerinnen und Bürger, die einstellen, diesen Herausforderungen bis zum September 2021 die Bürgerinitiative möglichst ohne chemisch-synthetische «Save Bees and Farmers» unterschrieben Pestizide zu begegnen. Dafür müssen sie haben, geht diese Forderung jedoch nicht vielfältiger werden und Nützlinge als weit genug. Sie fordern einen kompletten Verbündete schützen und einsetzen. Ausstieg aus der Nutzung chemischer Den Kampf mit der Natur und nicht gegen Pestizide bis 2035. sie zu führen, ist eine enorme Aufgabe. Für ihr Gelingen müssen wir die Weichen I n der Schweiz wollten bereits die jetzt stellen. Deshalb wollen wir mit Volksinitiativen «Für eine Schweiz ohne diesem Atlas Daten und Fakten für eine Pestizide» und die «Trinkwasserinitiative» zielgerichtete politische Debatte liefern. die Pestizidnutzung erschweren oder schrittweise verbieten. Trotz ihrer Ablehnung durch die Stimmbevölkerung im Juni 2021 Christa Luginbühl führten intensive öffentliche Debatten zu Geschäftsleitungsmitglied Public Eye einer Sensibilisierung und erhöhtem Druck auf die Politik. Eine Neuorganisation Barbara Unmüssig des Zulassungsverfahrens und eine Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung PESTIZIDATLAS 2022 7
12 KURZE LEKTIONEN ÜBER PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT 1 Der Einsatz von Pestiziden steigt weltweit, obwohl die gesundheitlichen und ökologischen Folgen lange bekannt sind. Die internationalen Ziele zum SCHUTZ DER BIODIVERSITÄT können nur erreicht werden, wenn die Nutzung von Pestiziden deutlich verringert wird. 2 Herbizide werden gegen ungewollte Pflanzen ausgebracht und sind die MEISTGENUTZTE WIRKSTOFFGRUPPE. Insektizide wirken gegen schädliche Insekten – häufig schon in kleinsten Mengen und auch bei den Insekten, die nicht gemeint sind. 3 Jährlich kommt es weltweit zu rund 385 Millionen PESTIZIDVERGIFTUNGEN. Vor allem Menschen im globalen Süden, die auf dem Land arbeiten, sind betroffen. 4 Pestizide, die in Europa AUS ÖKOLOGISCHEN ODER GESUNDHEITLICHEN GRÜNDEN NICHT ZUGELASSEN sind, werden dennoch hier produziert und in andere Länder exportiert. Führend in diesem Geschäft ist der Schweizer Konzern Syngenta. 5 In der Schweiz und der EU existieren strenge Kriterien für die Zulassung von Pestiziden. Die schädlichen AUSWIRKUNGEN VON PESTIZIDEN AUF GANZE ÖKOSYSTEME werden dabei jedoch nicht berücksichtigt. 6 Pestizidwirkstoffe bleiben meist nicht dort, wo sie ausgebracht werden. Sie können versickern, verwehen oder durch die Luft sehr weit transportiert werden – manche BIS ÜBER 1 000 KILOMETER WEIT. 8 PESTIZIDATLAS 2022
PESTIDATLAS 2022 / PUCHALLA 7 Pestizidrückstände in Lebensmitteln können GESUNDHEITSSCHÄDLICH sein. Trotz des Versuchs, sich weltweit zu einigen, weichen die erlaubten Höchstwerte von Land zu Land stark voneinander ab. 8 Auf langjährig ökologisch bewirtschafteten Flächen, auf denen keine chemisch-synthetischen Pestizide eingesetzt werden, wachsen 17-MAL SO VIELE UNTERSCHIEDLICHE PFLANZEN wie auf Flächen, die erst wenige Jahre zuvor auf ökologische Landwirtschaft umgestellt wurden. 9 Nützlinge sind die NATÜRLICHEN FEINDE VON SCHÄDLINGEN. Sie zu fördern, kann dabei helfen, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren. 10 Der Verkauf von Pestiziden ist ein MILLIARDENGESCHÄFT in den Händen von immer weniger, immer grösseren Konzernen. VIER AGRARCHEMIEFIRMEN TEILEN SICH HEUTE MEHR ALS ZWEI DRITTEL DES WELTMARKTS. Das grösste Wachstum versprechen Zukunftsmärkte in Lateinamerika, Asien und zunehmend Afrika. 11 Der SCHUTZ VON SAUBEREM WASSER und der biologischen Vielfalt sind jungen Menschen besonders wichtig. Sie wollen nicht, dass diese durch Pestizide belastet oder gefährdet werden. 12 In einigen Regionen der Welt werden bereits weniger Pestizide eingesetzt und besonders gefährliche Pestizide verboten. Doch einen verbindlichen internationalen VERTRAG ZUR REDUKTION VON PESTIZIDEN gibt es bislang nicht. PESTIZIDATLAS 2022 9
PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT GEFÄHRLICHE SUBSTANZEN Jedes Jahr geht auf der ganzen Welt gleicher Kulturpflanzen etablieren. Das Ergebnis: Ohne ein Teil der landwirtschaftlichen Pestizide ist die heutige industrielle Landwirtschaft grossen- Produktion durch Schädlingsbefall teils nicht mehr vorstellbar. Durch kapitalintensive Inputs stiegen in vielen Industrieländern seit den 1950er-Jahren und Pflanzenkrankheiten verloren. die Erträge und damit das Angebot an landwirtschaftlichen Pestizide sollen dagegen helfen. Produkten deutlich schneller als die Nachfrage – was im Re- Dabei verursachen sie neue Probleme. sultat zu immer billigeren landwirtschaftlichen Produkten und schlechterem Einkommen für die Landwirtinnen und G ravierende Hungersnöte und ökonomische Umbrü- Landwirte führt. Parallel zum Pestizideinsatz intensivierte che nach Ernteausfällen gab es in der Geschichte sich die wissenschaftliche Forschung. Immer mehr Erkennt- schon immer. Stets haben Menschen dagegen ge- nisse haben Fachleute darüber gewinnen können, wie sich kämpft – zum Beispiel durch bestimmte Anbaumethoden Pestizide auf die menschliche Gesundheit auswirken und und Fruchtfolgen, die Unkräuter und Schädlinge vermeiden die Umwelt belasten können. sollten. Im Rahmen der industriellen Revolution entstanden Heute liegt die jährlich ausgebrachte Pestizidmenge schliesslich die ersten chemisch-synthetischen Pestizide: bei circa 4 Millionen Tonnen weltweit. Fast die Hälfte da- Sie versprachen den Schutz der Ernte bei gleichzeitiger von sind Herbizide, die gegen Unkräuter verwendet wer- Arbeitserleichterung. Ab den 1940er-Jahren begannen den; knapp 30 Prozent sind Insektizide, die gegen schäd- Chemieunternehmen damit, Pestizidprodukte mit einem liche Insekten wirken und etwa 17 Prozent sind Fungizide breiten Wirkungsspektrum zu vermarkten. Sie waren für gegen Pilzbefall. Marktanalysen bezifferten den globalen ganze Gruppen von Organismen giftig und erwiesen sich Pestizid-Marktwert im Jahr 2019 auf fast 84,5 Milliarden US- im Vergleich zu den zuvor verfügbaren Mitteln als beson- Dollar. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate lag ders effektiv. seit 2015 bei mehr als 4 Prozent – für die kommenden Jahre Die eingesetzte Pestizidmenge steigt seit Jahrzehnten könnte sie steigen. Bis 2023 wird eine Wachstumsrate von an: Zwischen 1990 und 2017 um etwa 80 Prozent. Das Zu- 11,5 Prozent und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden sammenspiel von Pestiziden, Dünger und technischem US-Dollar Marktwert prognostiziert. Zusammen hängt die- Fortschritt trug dazu bei, dass sich die landwirtschaftliche ser deutliche Anstieg auch mit der Klimakrise: Ein US-For- Produktion grundlegend verändert hat. Da Bäuerinnen schungsteam der Universität von Seattle hat kalkuliert, dass und Bauern Krankheiten und Schädlinge nun durch Pesti- pro Grad Erderwärmung die Ernteerträge von Reis, Mais zide statt durch Fruchtfolgen und Fruchtkombinationen und Weizen um 10 bis 25 Prozent sinken könnten. Die Grün- in Schach hielten, konnten sich enge Fruchtfolgen immer de dafür sind vielfältig. So verändert der Klimawandel zum Beispiel Schädlingspopulationen und das Verhältnis von Schädlingen und Nützlingen. Hinzu kommt, dass die Wi- derstandskraft der Pflanzen gegen Schädlinge infolge von WER HAT, DER NIMMT klimabedingtem Stress sinkt. Umsätze der Pestizidsparten der vier grössten Konzerne in 2020 und gemeinsamer Weltmarktanteil, in Prozent Historisch betrachtet geht die Nutzung von Pestiziden in unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlicher Intensi- tät und zeitlichem Ablauf einher. Die 1960er-Jahre gelten als Zeitalter der «Grünen Revolution», in der die Landwirt- schaft in den Ländern des globalen Südens den Entwicklun- gen im globalen Norden durch Technologietransfer folgen sollte. Das erklärte Ziel war, durch den Einsatz von Pestizi- Syngenta Bayer Corteva BASF den, Düngern, Hochertragssorten und Bewässerung den Er- 9,9 Mrd. 9,8 Mrd. 5,7 Mrd. 5,5 Mrd. trag deutlich zu steigern. Zivilgesellschaftliche Organisatio- Euro Euro Euro Euro nen und Wissenschaftler sehen in der «Grünen Revolution» den Beginn einer gescheiterten landwirtschaftlichen Ent- wicklung, durch den viele Bäuerinnen und Bauern seitdem in verzweifelte Lebenssituationen gerieten. Zum Beispiel haben sich im globalen Süden viele Menschen verschuldet, PESTIZIDATLAS 2022 / ARCHIV, CLAPP 29 um teure Produktionsmittel zu kaufen. Die Selbsttötungen 53 70 von Bäuerinnen und Bauern mit Hilfe von Pestiziden sind 1994 2009 2018 Wenige Konzerne aus dem Norden teilen sich den milliardenschweren Pestizidmarkt auf. 10 PESTIZIDATLAS 2022
KEIN RÜCKGANG IN SICHT Pestizideinsatz in Tonnen nach Kontinenten im Jahr 2019 und Veränderung seit 1999 Kilogramm Pestizide pro Hektar über 5 bis 4 bis 3 Europa bis 2 Nordamerika bis 1 + 28,9 % Asien 478 389 + 3,6 % 495 475 + 3,0 % 2 171 017 Afrika 91 600 Zentralamerika + 38,4 % 107 864 Südamerika 767 443 Ozeanien +71,1 % 69 719 PESTIZIDATLAS 2022/ FAOSTAT + 143,5 % + 86,5 % Jährlich erleiden bis zu 385 Millionen Menschen eine von der Weltgesundheitsorganisation WHO als globales Pestizidvergiftung. Die Folgen reichen von Kopfschmerzen bis Problem anerkannt – selbst vorsichtigen Schätzungen zufol- zu schweren Organschäden mit teils tödlichem Ausgang. ge liegt die Zahl der jährlichen Opfer über 100 000. Einige Staaten haben darauf bereits mit dem Verbot von besonders giftigen Stoffen reagiert. Wegen hoher Gewinnspannen und zum Teil ungenü- NICHT NUR SCHÄDLINGE UNTER DEN OPFERN gender staatlicher Regulierungen nimmt seit einiger Zeit Rückgang der Population von insektenfressenden Vögeln der Handel mit billigen Nachahmer-Produkten zu. Und in den USA zwischen 2008 und 2014 im Zusammenhang auch der Verkauf von gefälschten Pestiziden hat sich zu mit Insektizideinsatz einem profitablen Geschäft entwickelt. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 wurden in der EU und sechs weiteren Nicht-EU-Staaten wie Kolumbien, Schweiz und USA illegale Pestizide im Wert von bis zu 94 Millionen Euro beschlagnahmt. Die Anwendung solcher Pestizide gefähr- det Bäuerinnen und Bauern besonders, da die Inhaltsstoffe und ihre Konzentrationen falsch oder fehlerhaft angegeben sein können – was ihre Wirkung und Giftigkeit unvorher- sehbar werden lässt. Ein Element einer veränderten Politik muss also sein, Bäuerinnen und Bauern weltweit über die Gefahren von Pestiziden zu informieren, Massnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen und praktikable Alternativen für den Pflanzen- schutz anzubieten. Ideen dazu gibt es viele, auch wenn die Forschung für ökologischen Pflanzenschutz nach wie vor Rückgang unterfinanziert ist. mehr als 50 Prozent PESTIZIDATLAS 2022 / LI ET AL. 10 bis 50 Prozent 5 bis 10 Prozent bis 5 Prozent Neonikotinoide werden in geringerer Dosis als herkömmliche kein Rückgang Pestizide auf den Acker ausgebracht, aber sind dafür umso keine Daten giftiger. Bei insektenfressenden Vögeln in den USA sorgen sie für eine jährliche Rückgangsrate von 3 Prozent. PESTIZIDATLAS 2022 11
KONZERNE GROSSE GESCHÄFTE Der weltweite Pestizidmarkt wächst – und bieter 29 Prozent. Im Saatgutsektor – der heute von genau es sind nur eine Handvoll Konzerne, die denselben Konzernen angeführt wird – stieg der Anteil der ihn untereinander aufteilen. Immer stärker grössten Vier im selben Zeitraum von 21 auf 57 Prozent. Die Macht dieser Akteure und die Verschmelzung der investieren sie in den Ländern des beiden Geschäftsfelder wirken sich auf das Produkteange- globalen Südens, wo Pestizide weniger bot und auf die Landwirtschaft weltweit aus. So haben Saat- streng reguliert werden. gutproduzenten, die gleichzeitig Pestizide verkaufen, ein Interesse, dass beim Anbau der Saat auch ihre Agrarchemi- D ie meisten Agrochemiekonzerne wie Bayer oder kalien verwendet werden. Im Fokus stehen die züchterische Syngenta entstanden aus Chemie- oder Pharmafir- Weiterentwicklung und gentechnische Veränderung weni- men, deren Gründungen teils bis ins 19. Jahrhun- ger Kulturpflanzen, für die es grosse Absatzmärkte gibt, al- dert zurückgehen. Zu ihrer heutigen Form haben sie sich len voran Soja und Mais, die zusammen knapp zwei Drittel entwickelt, als sie mit dem Aufkommen der Gentechnik in des Saatgutmarkts ausmachen. Bayer erzielt mit Mais und der Landwirtschaft ab Mitte der 1990er-Jahre ein neues Ge- Soja etwa 75 Prozent seiner Saatgut-Umsätze, Syngenta 55 schäftsmodell in der Kombination von Pestizid- mit Saatgut- Prozent und Corteva gar 85 Prozent. verkäufen entdeckten. In grosser Zahl kauften sie kleinere Die Konzerne haben in den letzten Jahren viel Geld für Saatguthersteller auf und spalteten rund um die Jahrtau- Forschung ausgegeben, um Saatgut weiterzuentwickeln. sendwende die Agrarsparte vom restlichen Geschäft ab, um Gleichzeitig stagnieren diese Ausgaben im Bereich der Ag- neue spezialisierte Konzerne zu bilden. In den letzten Jah- rarchemie. Im Jahr 2000 waren noch 70 Prozent der ver- ren haben sich die Anteile dieser Konzerne am Weltmarkt markteten Pestizidsubstanzen mit einem Patent geschützt. nochmals stark vergrössert. 2017 übernahm das chinesische Viele davon sind mittlerweile ausgelaufen: Auf nur noch 15 Staatsunternehmen ChemChina den Schweizer Agrarkon- Prozent der Pestizide wird ein Patent gehalten; neue werden zern Syngenta, zusätzlich fusionierten die beiden US-Unter- kaum noch angemeldet. Eine Ursache dafür sind strengere nehmen Dow Chemical und Dupont, um ihre Pestizid- und Zulassungsanforderungen vor allem in der EU, derentwe- Saatgutgeschäfte 2019 in Corteva Agriscience zusammen- gen sich die Kosten für die Markteinführung eines neuen zulegen. 2018 übernahm der deutsche Chemiekonzern Bay- Pestizidwirkstoffs deutlich erhöhen. Weniger neue Wirk- er die US-amerikanische Firma Monsanto und verkaufte Tei- stoffe bedeutet aber nicht, dass insgesamt weniger Pestizide le seines Geschäfts an die deutsche Chemiefirma BASF, die vermarktet werden. Vielmehr greifen die grossen Firmen damit ins Saatgutgeschäft einstieg. 2020 schliesslich wur- auf teilweise Jahrzehnte alte Pestizide zurück – die sie in den Syngenta, der Pestizidhersteller Adama aus Israel und Sinochem aus China in der neuen Syngenta Group vereint. Die Vorläuferunternehmen der vier Konzerne – die Syn- Das internationale Pesticide Action Network listet in seiner genta Group, Bayer, Corteva und BASF – teilten sich 2018 HHP-Liste aktuell 338 hochgefährliche Pestizide auf, etwa 70 Prozent des Weltmarktes für Pestizide. Zum Ver- die zum Beispiel als krebserregend, erbgutverändernd, gleich: 1994 betrug der Marktanteil der vier grössten An- fortpflanzungsschädigend oder hoch bienengefährlich gelten. TOXISCHE TOPSELLER Die umsatzstärksten Substanzen unter den hochgefährlichen Pestiziden (HHPs, Highly Hazardous Pesticides) im Jahr 2018, pro Konzern in Millionen US-Dollar Bayer Glyphosat: Von der Krebsforschungsagentur der WHO als «vermutlich krebserregend» eingestuft 841 Mio. US-Dollar Syngenta Thiamethoxam: Wegen Bienenschädlichkeit auf EU-Äckern verboten 242 Mio. US-Dollar BASF Glufosinat: Laut der Europäischen Chemikalienagentur «fortpflanzungsgefährdend» 227 Mio. US-Dollar PESTIZIDATLAS 2022 / PUBLIC EYE FMC Chlorantraniliprol: Hochgefährlich für Wasserorganismen 255 Mio. US-Dollar Corteva Cyproconazol: Laut EU «fortpflanzungsgefährdend» 144 Mio. US-Dollar 12 PESTIZIDATLAS 2022
HOCHGEFÄHRLICH UND HOCHPROFITABEL Anteil hochgefährlicher Substanzen am Umsatz der fünf grössten Pestizidunternehmen in Prozent und Umsatz mit hochgefährlichen Substanzen auf ihren fünf wichtigsten Märkten im Jahr 2018, in Millionen US-Dollar Deutschland: 649 Kanada: 625 12 % USA: 2 890 23 % Bayer Crop 36 % Science FMC 36,7 % 51,5 % Corteva Frankreich: 784 32 % 11 % BASF Syngenta 24,9 % 39,2 % Umsätze mit hochgefährlichen Pestiziden nach Verkaufsländern Anteil der im Land verkauften Brasilien: 3 300 PESTIZIDATLAS 2022 / PUBLIC EYE hochgefährlichen Pestizide Anteil hochgefährlicher Pestizide am Umsatz 49 % Schätzungen auf Basis der besten verfügbaren Marktdaten; reale Umsatzzahlen deutlich grösser Drei Viertel der Pestizide ohne EU-Zulassung, immer neuen Produktmischungen und Kombinationen ver- deren Export im Jahre 2018 bewilligt wurde, treiben. Zu den meistverkauften Pestizidprodukten gehö- landen auf Feldern im globalen Süden. ren das unter Krebsverdacht stehende Herbizid Glyphosat (patentiert im Jahr 1971, auf dem Markt seit 1974), das für Menschen hochgiftige Paraquat (Wirkung als Herbizid ent- Noch werden in Afrika mit durchschnittlich unter deckt 1955, auf dem Markt seit 1962), das im Wasser lang- 0,4 Kilogramm pro Hektar Anbauland bislang am wenigs- lebige und hormonaktive Atrazin (auf dem Markt seit 1958) ten Pestizide verwendet – weltweit liegt die Zahl bei etwa oder die für Bienen hochgiftigen Insektizide der Klasse der 2,6 Kilogramm pro Hektar. Doch längst hat die Industrie den Neonikotinoide (entwickelt 1985, auf dem Markt seit 1991). afrikanischen Kontinent als grössten Wachstumsmarkt aus- In den Industriestaaten verkaufen die fünf grössten gemacht. Mit der zunehmenden Präsenz der Agrarindustrie Produzenten insgesamt weniger hochgefährliche Pestizi- verbreitet sich auch die Verwendung von hochgefährlichen de als in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas: Pestiziden. Während sie in Deutschland 12 und in Frankreich 11 Pro- zent am gesamten Pestizidumsatz der fünf grössten Firmen ausmachen, sind es in Brasilien 49 Prozent und in Indien VERKAUFT, VERSCHIFFT, VERGIFTET 59 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass die EU und die Staaten EU-Exportvolumen von Pestiziden der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mehrere hochgefährliche Pestizide verboten haben. Anderswo aller- Anteil hochgefährlicher Stoffe an weltweit verwendeten Pestiziden dings sind sie aufgrund lückenhafter Gesetzgebungen und Mio. US-Dollar industrienaher Regulierungsbehörden weiter zugelassen – 20 000 15,7 Milliarden insbesondere in Südamerika, Asien und zunehmend Afrika, US-Dollar wo die Pestizidverkäufe steigen. Das kontinuierliche Wachs- tum des globalen Pestizidmarkts um durchschnittlich 15 000 30 % PESTIZIDATLAS 2022 / FAOSTAT, PAN GERMANY 4,1 Prozent pro Jahr geht vor allem auf die Verkäufe in die- sen Weltregionen zurück. 10 000 In den letzten 30 Jahren hat sich das finanzielle 5 000 4,0 Milliarden Exportvolumen aus der EU mehr als verdreifacht. US-Dollar Exportiert werden auch hochgefährliche Substanzen. 0 Sie machen rund ein Drittel der über 1000 Wirkstoffe 1989 1994 1999 2004 2009 2014 2019 aus, die weltweit verwendet werden. PESTIZIDATLAS 2022 13
PESTIZIDPOLITIK IN DER SCHWEIZ NOCH EIN LANGER WEG Durch Volksinitiativen und neue Gesetze ist Zudem wurden Vorgaben für die Herkunft der Futtermittel, in letzter Zeit viel Bewegung in die Schweizer den Antibiotikaeinsatz sowie Biodiversitätsleistungen an- Diskussion um Pestizide gekommen. Doch visiert. Parallel zur Trinkwasserinitiative sammelte ein wei- teres Bürgerkomitee Unterschriften für die Initiative «Für um die Risiken für Mensch und Natur wirklich eine Schweiz ohne synthetische Pestizide», die ein Verbot spürbar zu reduzieren, handelt die Politik des Einsatzes von chemisch-synthetischen Pestiziden in der bisher zu zögerlich. Schweiz forderte, sowohl bei der inländischen Produktion als auch für importierte Lebensmittel. Ü ber fünf Tonnen Fungizide, Insektizide und Herbizide Der Bundesrat und später das Parlament empfahlen bei- versprühen Schweizer Landwirtschaftsbetriebe – pro de Initiativen zur Ablehnung. Ihre Begründung war, dass Tag. Zwar ist die Menge an verkauften synthetischen die kurz bevorstehende Weiterentwicklung der Schweizer Pestiziden in den letzten Jahren rückläufig, doch die Menge Agrarpolitik mit dem Namen AP22+ auch ein Massnahmen- an Stoffen mit besonderem Risikopotenzial für Mensch und paket zur Reduktion der Pestizidrisiken umfasse. Der Vor- Umwelt bleibt konstant. Die Pestizide reichern sich in Böden schlag des Bundesrates zu AP22+ wurde ab 2020 im Parla- und Gewässern an und gefährden Insekten, Vögel und an- ment behandelt. Grosse Hoffnungen gingen damit einher, dere Tiere. Ausserdem ziehen sie die Trinkwasserqualität schliesslich erfüllt die Schweizer Landwirtschaft bis heute und menschliche Gesundheit in Mitleidenschaft. kein einziges der 13 vom Bund gesetzlich festgelegten Um- Der Schweizer Bundesrat verabschiedete 2017 nach weltziele, etwa zum Schutz der Biodiversität, der Gewässer, langjährigen, intensiven Diskussionen den Aktionsplan des Klimas oder zur Menge an Nährstoffen und Pestiziden, Pflanzenschutzmittel, um Risiken durch Pestizide zu redu- die in die Umwelt gelangen. Doch Anfang 2021 wurde die zieren. 51 Massnahmen sind im Aktionsplan festgehalten, Behandlung der AP22+ durch das Parlament sistiert und von denen bis heute 29 eingeführt wurden, zum Beispiel sämtliche Reformen erst einmal auf Eis gelegt. Hintergrund finanzielle Anreize für Landwirtschaftsbetriebe, die auf war ein Deal zwischen dem Wirtschaftsverband Economie- Pestizide verzichten. Insgesamt verläuft die Umsetzung der suisse und dem Schweizer Bauernverband (SBV). Wenn sich Massnahmen schleppend und ist gegenüber dem Termin- Economiesuisse für die Sistierung der Agrarpolitik einsetzt, plan im Verzug. so das Versprechen des SBV, würde man als Verband im Weil der Aktionsplan vielen zivilgesellschaftlichen Or- Gegenzug gegen die Konzernverantwortungsinitiative an- ganisationen nicht weit genug ging, starteten Schweizer treten. Eine Initiative, mit der Unternehmen mit Sitz in der Bürgerinnen und Bürger zwei Volksinitiativen, um weiter- Schweiz auch ausserhalb des Landes auf die Einhaltung von gehende Schritte zu fordern. Die Trinkwasserinitiative ver- Menschenrechten und Umweltstandards verpflichtet wer- langte, dass Betriebe nur noch dann Subventionen erhalten, den sollten. wenn sie auf chemisch-synthetische Pestizide verzichten. Der Wahlkampf zu beiden Agrarinitativen wurde im Sommer 2021 äusserst emotional geführt. Die Stimmbeteili- gung war insbesondere auf dem Land überdurchschnittlich hoch. Obwohl beide Initiativen abgelehnt wurden, haben MITTEL AUF LEBENSMITTELN sie die Gefahren durch Pestizide im öffentlichen Bewusst- Durchschnittliche Wirkstoffmenge auf Schweizer Kulturen im Jahr 2019, in Kilogramm pro Hektar sein verankert – was die Politik nachhaltig unter Druck setz- te. Im Frühjahr 2021, kurz vor dem Abstimmungstermin, Herbizide Fungizide Insektizide wurde im Parlament der «Absenkpfad Pestizide» beschlos- sen. Laut diesem neuen Gesetz sollen die Risiken durch den Hülsenfrüchte 1,1 0,1 0,0 Pestizideinsatz bis 2027 um 50 Prozent reduziert werden. Kartoffeln 2,1 5,6 3,7 Zudem muss künftig die Zulassung überprüft werden, wenn Kernobst 1,2 17,2 5,8 ein Wirkstoff und dessen Abbauprodukte wiederholt öko- toxikologische Grenzwerte im Trinkwasser überschreiten. Mais 1,0 0,0 0,0 Werden diese Grenzwerte auch mit strengeren Auflagen Raps 1,2 0,3 0,2 überschritten, wird der Wirkstoff verboten. Solche Vorgaben sind zielführend – vorausgesetzt, die Reben 0,6 15,0 0,0 Risikoreduktion wird mit einer sinnvollen Methode be- Steinobst 1,2 8,1 2,0 rechnet. Ob das der Fall sein wird, ist bislang noch höchst ungewiss. Das Bundesamt für Landwirtschaft beabsichtigt PESTIZIDATLAS 2022 / BLW Wintergerste 1,1 1,0 0,0 Winterweizen 0,4 0,6 0,1 Zuckerrüben 4,1 1,1 0,2 Alle vier Jahre veröffentlicht das Bundesamt für Landwirtschaft, wie oft und intensiv Obst, Gemüse, Getreide mit Pestiziden behandelt wird. 14 PESTIZIDATLAS 2022
PESTIZIDATLAS 2022 / FAOSTAT EINSATZBEREITSCHAFT Ausgebrachte Insektizide, Herbizide und Fungizide Finnland 1 351 in der EU und in der Schweiz im Jahr 2019, in Tonnen Schweden 1 478 Estland 636 Grossbritannien 19 373 Dänemark 2 629 Lettland 1 568 Gesamtmenge Irland 2 652 Insektizide 10 222 18 598 Litauen 2 318 Herbizide Niederlande 9 309 Fungizide * Deutschland 45 238 Polen 24 281 13 972 Belgien 6 130 Frankreich 85 072 Tschechien 3 908 Luxemburg 148 1 619 Slowakei 1 859 2 071 978 321 4 963 1 151 Ungarn 7 826 Schweiz 1 808 509 Österreich Rumänien 5 346 Slowenien 972 Kroatien 1 558 Portugal 8 172 Bulgarien 6 663 Spanien 61 343 Italien 48 567 * und Bakterizide Griechenland 13 096 Angegeben sind Wirkstoffmengen (nicht Produktmengen). Die Menge der Insektizide beinhaltet inerte Gase, die im Vorratsschutz verwendet werden. Malta 89 Zypern 1 234 Pestizide werden in Privatgärten, Parks etwa, einen Teil der Risikoreduktion durch Auflagen bei und an Gleisanlagen eingesetzt, der Anwendung von Pestiziden zu erreichen. Doch ob sol- vor allem jedoch in der Landwirtschaft. che sogenannt «risikominierenden Massnahmen» korrekt umgesetzt werden, ist in der Praxis schwierig zu kontrol- lieren, zumal die zuständigen Kantone nur mit knappen flächengewässer, Grundwasser und naturnahe Lebensräu- Ressourcen ausgestattet sind. Ausserdem beziehen sich die me. Überhaupt nicht berücksichtigt werden hingegen die Vorgaben zur Risikoreduktion nur auf die Bereiche Ober- Boden- und Luftqualität oder der Schutz der Anwender und Anwenderinnen sowie der Konsumierenden. 2025 will der Bundesrat beurteilen, ob die gesetzten Ziele erreicht wor- Konstanz bei der durchschnittlich verkauften den sind. Wenn nicht, soll die Zulassung für besonders risi- Menge bedeutet nicht konstantes Risiko. Auch von koreiche Wirkstoffe widerrufen werden. So ist es zumindest niedriger Dosierung geht mitunter hohe Gefahr aus. offiziell vorgesehen. ABSATZBEWEGUNGEN Verkaufte Pestizidwirkstoffe in der Schweiz, in Tonnen Pestizidverkäufe Wirkstoffe mit besonderem Risikopotenzial 255 286 287 264 281 222 228 243 216 209 225 212 213 2 237 2 224 2 282 2 231 2 290 2 245 2 220 2 148 2 158 2 052 2 027 1 952 1 928 PESTIZIDATLAS 2022 / BLW 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 PESTIZIDATLAS 2022 15
ZULASSUNGSVERFAHREN BLINDE FLECKEN Bevor Pestizide auf Schweizer Feldern landen, schen Vielfalt und Informationen über Häufigkeit und Ver- müssen sie durch Behörden genehmigt breitung von Krankheiten – was ermöglichen würde, Gefah- werden. Diese Verfahren blenden jedoch ren für Natur und Gesundheit besser zu erkennen. Auch über die Auswirkungen von Pestiziden auf Men- verschiedene Gefahrenquellen aus. schen, die in unmittelbarer Nähe zu landwirtschaftlichen Datenlücken erschweren zudem eine Gebieten wohnen, ist wenig bekannt, da dazu schweizweit realistische Einschätzung der Langzeitfolgen. bisher keine Daten von Vergiftungs- und Krankheitssymp- tomen erhoben werden. Ausserdem werden in der Schweiz D ie in der Landwirtschaft in grossem Umfang einge- – anders als etwa in Frankreich – Parkinson und Krebsar- setzten Pestizide bleiben oft nicht dort, wo sie aus- ten wie chronische lymphatische Leukämie und multiples gebracht werden. Durch Abdrift, Wind, Regen und Myelom nicht als Berufskrankheiten von Beschäftigten der Auswaschung werden sie in benachbarte Böden, Ackerbe- Landwirtschaft und des Gartenbaus gezählt. Dabei konnte gleitstreifen, Bäche und andere Gewässer transportiert. Bis die Wissenschaft in den letzten Jahren zahlreiche Hinweise in entlegene Gebiete werden die chemischen Stoffe ver- für entsprechende Zusammenhänge sammeln. frachtet. Weil die Behörden keine genauen Daten über den Die negativen Auswirkungen der intensiven Landwirt- Pestizideinsatz in der Landwirtschaft erheben, bleibt unklar, schaft und des hohen Pestizideinsatzes auf die biologische welche Stoffe überhaupt in welchen Mengen in die Umwelt Vielfalt sind gross. In der Schweiz sind mehr Arten gefähr- gelangen. Wie gefährlich diese Rückstände für die Umwelt det als in anderen OECD-Ländern. Nicht nur die Insekten- und die menschliche Gesundheit sind, lässt sich deshalb nur biomasse ist stark rückläufig, auch die Populationen von schwer nachweisen. Vogel- und Fischarten in landwirtschaftlichen Gebieten Jedes Jahr werden laut Angaben des Bundesamts für Sta- haben in der Schweiz in den letzten zwanzig bis dreissig tistik rund 2000 Tonnen Pestizidwirkstoffe für die Landwirt- Jahren dramatisch abgenommen. Da durch den Verlust von schaft verkauft. Nicht von allen Substanzen geht jedoch das Biodiversität wichtige Ökosystemleistungen wie fruchtbare gleiche Risiko aus. Insektizide aus der Klasse der Neonikoti- Böden oder Bestäubung beeinträchtigt werden, führt unter noide beispielsweise sind bereits in geringsten Konzentra- tionen giftig für Honigbienen und Wasserinsekten. Die Schweiz erfasst keine detaillierten Zahlen über den Die Erkenntnisse aus Zulassungstests mit nur wenigen Pestizideinsatz pro Parzelle. Lägen solche Zahlen vor, liessen Arten sind mit Unsicherheiten behaftet. Eingerechnete sie sich kombinieren mit Daten zum Zustand der biologi- Sicherheitsfaktoren sollen diese Unsicherheiten kompensieren. PESTIZIDATLAS 2022 / BLV NATUR LÄSST SICH SCHWER NACHBAUEN Standard-Zulassungsprüfungen betrachten nur einen Ausschnitt möglicher Pestizideffekte auf die Umwelt. 4 wird geprüft x wird nicht geprüft Vereinfachte Test-Umwelt 4 Wirkung einzelner Pestizide 4 Auswirkungen auf wenige Arten x Sicherheitsfaktor Komplexe echte Umwelt x Wirkungen von Pestizid-Gemischen x Wirkungen auf Nahrungsnetze & Ökosysteme 16 PESTIZIDATLAS 2022
ALS RISIKO ERKANNT – UND DOCH NICHT GEBANNT Anzahl der in EU-Ländern und in der Schweiz weiterhin verwendeten Pestizide im Jahr 2021, die laut Regularien ersetzt werden sollten (Substitutionskandidaten); Anzahl biologischer Schädlingsbekämpfungsmittel (Biopestizide) im Jahr 2020 auf dem Weg zur Marktreife bis 19 Dänemark Schweden Irland Estland 20 bis 29 21 30 bis 39 14 19 40 bis 49 34 über 50 Niederlande Pestizidwirkstoffe, die für die 34 Polen Gesundheit oder Umwelt besonders gefährlich sind, werden Deutschland als Substitutionskandidaten 45 definiert. Im Zulassungsverfahren müssen diese Wirkstoffe daraufhin 39 überprüft werden, ob sie durch Frankreich ungefährlichere Alternativen Schweiz ersetzt werden können. Trotz der Ungarn offiziellen Gefahrenprognose dürfen 44 34 Substitutionskandidaten, wenn auch verkürzt auf sieben Jahre, wiederholt genehmigt werden. Italien Slowenien 51 Spanien 48 32 42 PESTIZIDATLAS 2022 / FEDLEX, IBMA, PA Biopestizide bestehen aus natürlichen Wirksubstanzen, die Biopestizide in der EU 104 aus Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen oder bestimmten Viren entwickelt werden. Sie gelten in der Regel als weniger bereits im Zulassungsverfahren problematisch. Die Nachfrage nach Biopestiziden wächst, aber 102 noch nicht im Zulassungsverfahren ihr Anteil am Weltmarkt für Pestizide ist immer noch gering. Obwohl besonders gefährliche Wirkstoffe möglichst anderem das Insektensterben zu wirtschaftlichen Folge- schnell ersetzt werden sollten, werden sie noch in vielen schäden, die sich wegen fehlender Daten nur schwer bezif- Ländern eingesetzt. Biopestizide könnten eine Alternative sein. fern lassen. Dafür braucht es aber mehr Forschung und Investitionen. Damit Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt wer- den dürfen, ist ein aufwendiger Prozess nötig, bei dem die Herstellerunternehmen bei den zuständigen Behörden Da- spiel Mäuse, Wasserflöhe, Wasserkrebse, Honigbienen, Re- ten zu Wirkungen und Nebenwirkungen einreichen müs- genwürmer oder Algen). Andere Arten von Tieren wie etwa sen. Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG stellte Amphibien und Pflanzen wie etwa Futterpflanzen von Insek- 2019 einen Mangel an Transparenz und Unabhängigkeit ten werden gar nicht berücksichtigt. Obwohl auch sie sehr beim Schweizer Zulassungsverfahren fest, was zu dessen empfindlich auf Pestizidexpositionen reagieren können. Neuorganisation führte. Seit 2022 liegt die Hauptverant- Ein weiterer Mangel der derzeitigen Risikoprüfung be- wortung beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und steht darin, dass nur ein Wirkstoff für sich allein auf seine Veterinärwesen, und die Prüfung der Umweltrisiken beim Umweltauswirkungen getestet wird. Realistische Feldbe- Bundesamt für Umwelt. Ab 2023 bieten weitere geplante dingungen, bei denen die Organismen sehr oft einem Pes- Änderungen zumindest eine Chance, mehr Transparenz tizidcocktail ausgesetzt sind, werden vernachlässigt. Auch zu schaffen. In der Schweiz gilt beim Zulassungsverfahren Beistoffe von Pestizidprodukten werden bei der Zulassung laut Umweltschutzgesetz das Vorsorgeprinzip – demnach bislang nicht geprüft. Wissenschaftliche Studien zeigten je- müssten schädliche Auswirkungen auf die Umwelt und die doch, dass sie beispielsweise für Insekten giftig sein können. menschliche Gesundheit frühzeitig vermieden werden. Die Für eine zukunftstaugliche Landwirtschaft müsste daher Tatsache, dass zwischen 2005 und 2020 175 Wirkstoffe wie- auch flächendeckend evaluiert werden, wie Ökosystemleis- der vom Markt genommen werden mussten, zeigt jedoch, tungen durch Pestizide gestört und Lebewesen durch Bei- dass das heutige Verfahren diesem Vorsorgeprinzip kaum stoffe und Pestizidmischungen gefährdet werden. Um das Rechnung trägt. Bei vielen Stoffen zeigt sich erst im Laufe Ziel zu erreichen, die hohe Pestizidbelastung deutlich zu re- der Zeit, wie gefährlich sie sind. duzieren, braucht es in der Schweiz neben in diesem Sinne Die derzeitige Bewertung des Toxizitätsrisikos stützt sich verbesserten Zulassungsverfahren auch die Etablierung al- hauptsächlich auf Daten einiger Modellarten, die leicht un- ternativer Produktionsformen und eine stärkere Förderung ter künstlichen Laborbedingungen zu halten sind (zum Bei- der ökologischen Landwirtschaft. PESTIZIDATLAS 2022 17
GESUNDHEIT SCHWERE FOLGEN 385 Millionen Menschen erkranken jährlich geschlagen fühlen und wie bei einer Grippe an Kopf- und an Pestizidvergiftungen. Ein Gliederschmerzen leiden. Darüber hinaus wird häufig der internationaler Verhaltenskodex der Magen-Darm-Trakt angegriffen – die Folgen sind Übel- keit, Erbrechen oder Durchfall. Folgen zeigen sich auch im Weltgesundheitsorganisation soll den menschlichen Nervensystem. Bei schweren Verläufen ver- weltweiten Umgang mit Pestiziden sagen schliesslich die Organe: Herz, Lunge oder die Nieren verbessern und Vergiftungen vermeiden. setzen bei einer solchen Pestizidvergiftung aus. Etwa 11 000 Doch weil gesetzliche Regelungen fehlen, Menschen sterben unbeabsichtigt daran, Jahr um Jahr. passiert wenig. Weil Pestizide nur schwer zu kontrollieren sind und sie leicht Gegenstände und Lebensmittel kontaminieren, sind auch Menschen ausserhalb des Agrarsektors gefährdet. We- M enschen kommen in unterschiedlichen Situatio- gen unzureichender oder nicht eingehaltener Sicherheits- nen mit Pestiziden in Berührung: auf dem Feld vorkehrungen können schnell auch Unfälle passieren. Zwei und im Forst, durch Lebensmittel oder Trink- Beispiele: Weil ihr Mittagessen mit einem Speiseöl zuberei- wasser. Treten Krankheitssymptome kurz nach Kontakt tet wurde, das durch das Pestizid Monocrotophos verunrei- auf, spricht man medizinisch von einer akuten Pestizidver- nigt war, starben 2013 im indischen Bihar 23 Schulkinder. giftung. Deren Opfer können sich schlapp, müde und ab- Im gleichen Jahr erlitten im brasilianischen Rio Verde über 90 Kinder und Erwachsene eine Vergiftung, weil der Pilot eines Agrarflugzeugs versehentlich den falschen Knopf drückte – und über einer Schule, die in der Nähe von Mais- SCHADET DER GESUNDHEIT UND DEM GELDBEUTEL und Sojafeldern liegt, ein Insektizid versprühte. Folgekosten in Milliarden Euro im Gesundheitssystem in der EU durch hormonschädliche Chemikalien, Studie aus 2015 Viele der Betroffenen leiden an langanhaltenden Fol- gen. Pestizide verursachen nämlich nicht nur akute Ver- giftungen, sondern können auch chronische Krankheiten Krankheiten auslösen. Wissenschaftliche Studien belegen einen Zusam- Neurologische Folgen menhang zwischen Pestiziden und Parkinson sowie Leukä- Adipositas und Diabetes mie im Kinderalter. Ausserdem werden Pestizide mit einem Fortpflanzungsstörungen erhöhten Risiko für Leber- und Brustkrebs, für Typ-II-Dia- betes und Asthma, für Allergien, Adipositas und Störungen der Hormondrüsen in Verbindung gebracht. Auch Fehlbil- dungen, Frühgeburten und Wachstumsstörungen lassen 4 15 132 sich auf Kontakt mit Pestiziden zurückführen. In den letzten Jahren wurde die wohl bekannteste Pestiziddebatte um den Wirkstoff Glyphosat geführt. Zahlreiche Menschen, die mit dem Herbizid in Kontakt gekommen und an Krebs erkrankt sind, haben den Pestizidhersteller Bayer auf Schadensersatz Hormonschädliche Chemikalien und ihr Anteil an den Kosten verklagt: Rund 30 000 dieser Klagen sind noch offen, wäh- Pestizide rend der Konzern in den letzten Jahren bereits Vergleiche Plastik und Weichmacher mit rund 96 000 Klägerinnen und Klägern erreichte – und Flammschutzmittel 1,2 % verschiedene Gerichtsprozesse verlor. Die Kosten für die Ver- Chemiemischungen 5,7 % gleiche werden bislang auf 11,6 Milliarden Euro geschätzt. Im März 2015 stufte die Internationale Agentur für Krebs- forschung (IARC) – eine Unterorganisation der Weltgesund- 16,5 % heitsorganisation (WHO) – Glyphosat als «wahrscheinlich krebserregend» ein. Eine wissenschaftliche Metastudie der Universität Washington aus dem Jahr 2019 ermittelte für Menschen, die dem Pestizid ausgesetzt sind, einen mit PESTIZIDATLAS 2022 / TRASANDE ET AL. 41 Prozent deutlichen Anstieg des relativen Risikos, am Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken. 76,4 % Bereits bei geringer Konzentration gefährden Konservative Schätzungen; tatsächliche Kosten dürften deutlich höher liegen. Diverse mit hormonschädlichen Chemikalien zusammenhängende Krankheiten hormonschädliche Chemikalien, sogenannte Endocrine wie Parkinson sind aufgrund der Datenlage nicht berücksichtigt. Disrupting Chemicals (EDC), die Gesundheit. Enthalten sind sie zum Beispiel in Kosmetik oder Pestiziden. 18 PESTIZIDATLAS 2022
GELITTEN UND GESTORBEN WIRD VOR ALLEM IM GLOBALEN SÜDEN Pestizidvergiftungen pro Jahr, Studie aus 2020 nicht-tödliche Vergiftungen tödliche Vergiftungen 180 303 510 211 580 Südasien 9 401 Nordeuropa 1 1 377 139 357 Osteuropa 75 Nordamerika 6 3 663 972 Westeuropa 7 1 268 217 Westasien 39 16 696 758 576 445 Südeuropa 14 Zentralasien 4 Karibik 8 9 647 501 Ostasien 338 3 835 727 Zentralamerika 296 Nordafrika 154 55 243 562 50 936 173 Südostasien 159 33 833 710 Ostafrika 81 7 934 306 PESTIZIDATLAS 2022 / BOEDEKER ET AL Westafrika Südamerika 229 1 251 21 213 838 Ozeanien 3 Mittel- und südliches Afrika 67 Konservative Berechnung. Tatsächliche Todeszahlen vermutlich deutlich höher. Laut Schätzungen sind rechnerisch jedes Jahr bis zu Studien zeigen, dass berufliche Pestizidvergiftungen 44 Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft weltweit seit Jahren stark ansteigen. So schätzte man 1990 etwa eine von einer Vergiftung durch Pestizide betroffen. Million Pestizidvergiftungen mit schwerwiegenden Fol- gen pro Jahr, darunter 20 000 Todesfälle. Rechnet man hier noch die Fälle mit milderem Verlauf hinzu, kommt man gen der klimatischen Bedingungen nicht getragen wird. auf eine Zahl von 25 Millionen Vergiftungen im Beruf. Ein Zweitens werden diejenigen, die die Pestizide anwenden, Grund für den Anstieg auf mittlerweile 385 Millionen dürf- oft nicht ausreichend über die Gefahren von Pestiziden in- te sein, dass auf der ganzen Welt immer mehr Pestizide zum formiert und zu selten in der Handhabung von Chemikalien Einsatz kommen. 2017 wurden etwa 80 Prozent mehr Pesti- und Sprühgeräten geschult. Drittens fehlt häufig die Mög- zide angewendet als noch 1990. In manchen Weltregionen lichkeit, benutzte Geräte und Arbeitskleidung getrennt von fällt der Anstieg sogar noch deutlicher aus. In Südamerika den Wohnbereichen aufzubewahren. zum Beispiel beträgt er im gleichen Zeitraum fast 500 Pro- Um die hohe Zahl an Pestizidvergiftungen zu senken, zent, während in Europa ein Rückgang von 3 Prozent zu ver- hat die WHO zusammen mit der Welternährungsorgani- zeichnen ist. sation (FAO) einen Verhaltenskodex für den Umgang mit Gehäuft lassen sich Pestizidvergiftungen vor allem in Pestiziden verabschiedet. Er besagt unter anderem, dass auf den Ländern des globalen Südens beobachten: in Südasi- Pestizide verzichtet werden sollte, deren Anwendung per- en, gefolgt von Südostasien und Ostafrika. Es gibt mehrere sönliche Schutzausrüstung erfordert, die unbequem oder Gründe, warum hier die Menschen besonders betroffen teuer ist. Zudem empfiehlt die WHO den Einsatz von agrar- sind. So ist in den Regionen der Anteil hochgefährlicher ökologischen Alternativen und ein Verbot von besonders Pestizide oft besonders gross. Zudem sind die Menschen giftigen Pestiziden. Diese Empfehlungen wurden jedoch schlechter geschützt. Erstens weil Schutzkleidung oft nicht bislang kaum umgesetzt und nicht auf eine verbindliche vorhanden oder vor Ort unbezahlbar ist oder weil sie we- Rechtsgrundlage gestellt. PESTIZIDATLAS 2022 19
RÜCKSTÄNDE DRAUF UND DRAN Pestizidanwendung führt zu Rückständen mittel aus der EU die erlaubten maximalen Rückstands- in Lebensmitteln, denen vor allem höchstgehalte. Insgesamt war die Hälfte der Lebensmittel im globalen Süden viele Menschen auf dem EU-Markt frei von Pestizidbelastungen, 27 Prozent der untersuchten Nahrungsmittel enthielten Mehrfach- ausgesetzt sind. Belastete Ware aus dem rückstände. Besonders häufig wurden Mehrfachrückstände aussereuropäischen Ausland, in frischen Produkten wie Johannisbeeren, Süsskirschen, wo weniger reguliert wird, landet als Grapefruits, Rucola und Tafeltrauben festgestellt. Trauriger Import auch auf europäischen Tellern. Spitzenreiter war eine Probe Rosinen mit Rückständen von 28 verschiedenen Pestiziden. Gesundheitsfachleute kritisie- ren, dass es keinen Summen-Rückstandshöchstgehalt für D ie tägliche Aufnahme pestizidbelasteter Nahrungs- Mehrfachbelastungen von Pestiziden in Lebensmittel gibt. mittel birgt Gesundheitsrisiken für alle Menschen, Ein weiterer Punkt: Verlieren Wirkstoffe beispielsweise we- besonders gefährdet sind empfindliche Personen- gen einer Einstufung als krebserregend ihre EU-Genehmi- gruppen wie Schwangere und Kinder. Daher sind fast über- gung, wird der maximale Rückstandshöchstgehalt automa- all auf der Welt Rückstandshöchstmengen für Pestizide in tisch heruntergesetzt auf in der Regel 0,01 Miligramm pro Lebensmitteln festgelegt. Die Vereinten Nationen geben Kilogramm, um die Gesundheit der Menschen zu schützen. seit 1963 den Codex Alimentarius heraus, eine Sammlung Diesen Wert müssen dann auch Importwaren einhalten. von Normen für Lebensmittelsicherheit und Produktquali- Pestizidherstellern bringt es einen Vorteil, wenn sie einer zu tät – die darin enthaltenen Rückstandshöchstmengen für erwartenden Einstufung ihres Wirkstoffs als gesundheits- Pestizide gelten international als eine wichtige Referenz. gefährlich entgehen, indem sie die Genehmigung in der Allerdings gibt es je nach Land und Region grosse Unter- EU einfach auslaufen lassen. So können sie «Importtoleran- schiede, welche Belastungsmengen den Menschen zuge- zen» beantragen: eine Hochsetzung der Rückstandshöchst- mutet werden. mengen. Pestiziden, die ihre Genehmigung explizit aus Ge- Für jeden in der EU genehmigten Pestizid-Wirkstoff wird sundheitsgründen verloren haben, wird das nach EU-Recht festgelegt, wie hoch sein möglicher Rückstand in den ver- grundsätzlich nicht gewährt. schiedenen Lebensmitteln maximal sein darf. Überschrei- In der EU gelten oft strengere Vorgaben als in Nicht-EU- ten Waren diesen Wert, dürfen sie nicht gehandelt werden. Ländern. In Japan dürfen Mandeln beispielsweise mit einem Für die Festsetzung dieser Rückstandshöchstmengengehal- Milligramm pro Kilogramm und somit um das Zehnfache te (RHMG) werden neben der Anbaupraxis die Giftigkeit der stärker mit Glyphosat belastet sein als in der EU. Bei Toma- Wirkstoffe und die Verzehrmengen für die unterschiedli- ten erlaubt Japan mit 2 Mikrogramm Imidacloprid pro chen Lebensmittel berücksichtigt. Nahrung für Babys muss Kilogramm das Vierfache des derzeit in der EU erlaubten wegen deren besonderer Empfindlichkeit strengere Vor- gaben erfüllen. Die EU kontrolliert Lebensmittel jährlich anhand von Stichproben und veröffentlicht die Ergebnisse Über 10 Prozent aller kontrollierten Lebensmittel, in Berichten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsi- die im Jahr 2017 in die Schweiz importiert wurden, cherheit (EFSA). 2019 überschritten 3,9 Prozent der Lebens- enthielten Rückstände von verbotenen Pestiziden. UNERWÜNSCHTE ZUTATEN Rückstände von verbotenen Pestiziden auf importierten Obst und Gemüse in der EU ohne nachweisbare Lebensmitteln in der Schweiz im Jahr 2017 Pestizid-Rückstände % 16 % Peperoniarten: Auf 12 % 60 16 von 135 Proben 55 16 % PESTIZIDATLAS 2022 / BLV, EFSA Gemüse: Auf 35 50 von 218 Proben 45 Exotische Früchte: Auf 35 von 221 Proben 40 1997 2000 2003 2006 2009 2012 2015 2018 20 PESTIZIDATLAS 2022
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