SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye

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SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft          2022

                                               SCHWEIZER AUSGABE
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
IMPRESSUM
Die Schweizer Ausgabe des PESTIZIDATLAS 2022 ist ein Kooperationsprojekt
der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, und Public Eye, Zürich

Inhaltliche Leitung:
Basisausgabe: Christine Chemnitz, Heinrich-Böll-Stiftung (Projektleitung)
Katrin Wenz, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V.
Susan Haffmans, Pestizid Aktions-Netzwerk e. V.
Schweizer Beiträge: Carla Hoinkes und Timo Kollbrunner, Public Eye

Projektmanagement, Grafikrecherche: Martin Eimermacher
Art-Direktion und Herstellung: Martina Puchalla, STOCKMAR+WALTER Kommunikationsdesign

Textchefin: Carina Book
Dokumentation und Schlussredaktion: Carina Book, Martin Pfaffenzeller

Mit Originalbeiträgen von Ana Aranha, Johanna Bär, Ulrike Bickel, Wolfgang Bödeker, Silke Bollmohr,
Helmut Butscher-Schaden, Christine Chemnitz, Henrike von der Decken, Michael Eyer, Dave Goulson, Susan Haffmans,
Ralph Halblützel, Johannes Heimrath, Heike Holdinghausen, Carla Hoinkes, Dominic Lemken, Layla Liebetrau,
Martha Mertens, Moritz Nabel, Anna Satzger, Achim Spiller, Katrin Wenz, Eva Wyss, Anke Zühlsdorf

Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder.
Die Flächenfarben der Landkarten zeigen die Erhebungsgebiete der Statistik an und treffen keine
Aussage über eine politische Zugehörigkeit.

Titel: © Martina Puchalla

1. Auflage, Februar 2022

Schweizer Ausgabe:
Public Eye

Druck: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen

Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz «Namensnennung –
4.0 international» (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode
abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn
der Urhebernachweis Pestizidatlas, Eimermacher/Puchalla, CC BY 4.0 in der Nähe der Grafik steht
(bei Bearbeitungen: Pestizidatlas, Eimermacher/Puchalla (M), CC BY 4.0.)

Download: www.publiceye.ch/pestizidatlas

ISBN 978-3-907383-01-8
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
PESTIZIDATLAS
  Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft

                       2022
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
INHALT

    02 IMPRESSUM                                     18 GESUNDHEIT
                                                        SCHWERE FOLGEN
    06 VORWORT                                         385 Millionen Menschen erkranken jährlich
                                                       an Pestizidvergiftungen. Ein internationaler
    08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN                           Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation
       ÜBER PESTIZIDE IN DER                           soll den weltweiten Umgang mit Pestiziden
       LANDWIRTSCHAFT                                  verbessern und Vergiftungen vermeiden.
                                                       Doch weil gesetzliche Regelungen fehlen,
    10 PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT                 passiert wenig.
       GEFÄHRLICHE SUBSTANZEN
         Jedes Jahr geht auf der ganzen Welt         20 RÜCKSTÄNDE
         ein Teil der landwirtschaftlichen              DRAUF UND DRAN
         Produktion durch Schädlingsbefall und         Pestizidanwendung führt zu Rückständen
         Pflanzenkrankheiten verloren.                 in Lebensmitteln, denen vor allem im
         Pestizide sollen dagegen helfen. Dabei        globalen Süden viele Menschen ausgesetzt
         verursachen sie neue Probleme.                sind. Belastete Ware aus dem aussereuropäischen
                                                       Ausland, wo weniger reguliert wird, landet
    12 KONZERNE                                        als Import auch auf europäischen Tellern.
       GROSSE GESCHÄFTE
         Der weltweite Pestizidmarkt wächst – und    22 BIODIVERSITÄT IN DEUTSCHLAND
         es sind nur eine Handvoll Konzerne,            BEDROHTE VIELFALT
         die ihn untereinander aufteilen. Immer        Seit Jahren warnen Fachleute: Auf Acker,
         stärker investieren sie in den Ländern        Feld und Wiese geht in Deutschland die
         des globalen Südens, wo Pestizide weniger     biologische Vielfalt verloren. Eine der
         streng reguliert werden.                      Ursachen ist der Einsatz von Pestiziden.

    14 PESTIZIDPOLITIK IN DER SCHWEIZ                24 INSEKTENSTERBEN
       NOCH EIN LANGER WEG                              EIN ÖKOLOGISCHES ARMAGGEDON
         Durch Volksinitiativen und neue Gesetze       Insekten bestäuben Blüten, bekämpfen
         ist in letzter Zeit viel Bewegung in die      Schädlinge und sorgen für reichhaltige
         Schweizer Diskussion um Pestizide             Ernten. Seit langem schrumpfen ihre
         gekommen. Doch um die Risiken für Mensch      Populationen dramatisch, was Mensch
         und Natur wirklich spürbar zu reduzieren,     und Natur in Bedrängnis bringt.
         handelt die Politik bisher zu zögerlich.      Pestizide haben daran ihren Anteil.

    16 ZULASSUNGSVERFAHREN                           26 NÜTZLINGE
       BLINDE FLECKEN                                   NATÜRLICHE HELFER
         Bevor Pestizide auf Schweizer Feldern         Tiere wie Marienkäfer, Schlupfwespen
         landen, müssen sie durch Behörden             oder Ohrenkneifer sind natürliche
         genehmigt werden. Diese Verfahren             Schädlingsbekämpfer und wirkungsvolle
         blenden jedoch verschiedene                   Pflanzenschützer. Sie sind gut für die
         Gefahrenquellen aus. Datenlücken              Umwelt und sparen Kosten, doch ihr
         erschweren zudem eine realistische            Lebensraum wird durch den Pestizideinsatz
         Einschätzung der Langzeitfolgen.              bedroht.

4   PESTIZIDATLAS 2022
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
28 SYNGENTA                                         38 BEHÖRDEN
   GLOBALER GIGANT                                     COPY & PASTE
  In Basel sitzt einer der mächtigsten                Bayer und andere Unternehmen kämpfen für die
  Chemiekonzerne der Welt. Er produziert              Wiederzulassung von Glyphosat in der EU. Dazu
  teilweise hochgefährliche Pestizide, die            müssen sie beweisen, dass sein Wirkstoff nicht
  er – obwohl sie in der EU und in der                krebserregend ist. Doch die vorgelegten Studien
  Schweiz verboten sind – in zahlreichen              sind alt – und deuten auf das Gegenteil hin.
  Ländern des globalen Südens vermarktet.
                                                    40 JUGENDUMFRAGE
30 FERNTRANSPORT                                       VERÄNDERUNG GEWOLLT
   VOM WINDE VERWEHT                                  Junge Menschen sind besorgt über den Einsatz
  Pestizide bleiben nicht immer dort, wo sie          von Pestiziden in der Landwirtschaft und
  ausgebracht werden. Sie gehen                       fordern die Politik zum Handeln auf. Sie wollen
  buchstäblich in die Luft: Wind weht sie auf         mehr Ökologie auf dem Acker und
  benachbarte Grundstücke oder trägt sie              plädieren für eine stärkere Unterstützung von
  teilweise viele hundert Kilometer weit. In          landwirtschaftlichen Betrieben.
  Zulassungsverfahren spielt das kaum eine Rolle.
                                                    42 DIGITALISIERUNG
32 GENTECHNIK                                          WEM NÜTZT DAS DIGITAL-UPDATE?
   VERÄNDERTE PFLANZEN,                               Roboter, Drohnen und Algorithmen in der
   MEHR PESTIZIDE                                     Landwirtschaft sind zu einem grossen Geschäft
  Gentechnische Eingriffe in Saatgut sollten          mit grossen Versprechungen geworden. Sie sollen
  den Einsatz von Chemie in der Landwirtschaft        Betrieben dabei helfen, mit weniger Pestiziden
  reduzieren, die Arbeitsbelastung verringern         auszukommen. Ob das funktionieren wird, ist unklar.
  und höhere Ernteerträge ermöglichen. Realisiert
  haben sich diese Versprechungen nicht.            44 SYNGENTA IN BRASILIEN
                                                       UNHEIMLICHE ALLIANZEN
34 KLEINBÄUERLICHE BETRIEBE                           In Lateinamerika landen immer grössere
   NEUE MÄRKTE, ALTE PROBLEME                         Pestizidmengen auf Feldern. Und auf den
  Auf dem afrikanischen Kontinent werden              Konten globaler Konzerne immer grössere
  deutlich weniger Pestizide eingesetzt               Summen. In Brasilien haben Presseagenturen
  als in anderen Weltregionen. Dennoch                enthüllt, wie Politik und Industrie paktieren.
  geraten die 33 Millionen Kleinbäuerinnen
  und Kleinbauern immer stärker in den Fokus        46 PESTIZIDFREIE REGIONEN
  der Pestizidunternehmen. Ihnen wird                  ERFREULICHE ANSÄTZE
  auch verkauft, was in der EU verboten ist.          Beispiele aus der ganzen Welt zeigen:
                                                      Immer mehr Städte, Staaten und Regionen
36 IMPORTE UND EXPORTE                                versuchen, weniger Pestizide auf ihren Feldern
   VERBOTEN UND VERKAUFT                              und Flächen auszubringen – oder gar
  Viele Pestizidwirkstoffe haben ihre                 komplett auf chemische Mittel zu verzichten.
  Genehmigung in Europa verloren. Exportiert
  werden dürfen sie trotzdem: häufig in Länder      48 AUTORINNEN UND AUTOREN,
  des globalen Südens, wo viele Menschen               QUELLEN VON DATEN, KARTEN
  ihnen oft schutzlos ausgeliefert sind.               UND GRAFIKEN

                                                                                                PESTIZIDATLAS 2022   5
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
VORWORT

    I
      m Bier und im Honig, auf Obst und
      Gemüse, im Gras auf Spielplätzen
      und sogar im Urin und in der Luft –
    überall lassen sich mittlerweile Spuren
                                                 «        och nie in der Geschichte
                                                         N
                                                         wurden weltweit so
                                                         viele Pestizide eingesetzt
                                                         wie heute.
    von Pestiziden aus der Landwirtschaft
    nachweisen. Dabei ist die Erkenntnis,
    dass sich chemisch-synthetische              ein Hauptverursacher des Artenrückgangs
    Wirkstoffe negativ auf die menschliche       anerkannt. Insbesondere in Ländern
    Gesundheit auswirken, keineswegs neu.        mit grosser Artenvielfalt hat der Anbau
    Auch ist seit Jahren bekannt, dass sie       von gentechnisch verändertem Soja
    massiv Insekten und Pflanzen schädigen       dazu beigetragen, dass der Pestizideinsatz
    und Gewässer kontaminieren.                  dramatisch steigt.

                                                 K
    Bereits 1962 veröffentlichte Rachel                 aum ein Land weltweit hat eine
    Carson ihr weltweit anerkanntes Buch                ambitionierte Pestizid-
    «Silent Spring» – der stumme Frühling,              Reduktionsstrategie oder gar Konzepte
    in dem die Biologin die schädlichen          für eine Landwirtschaft, die wirklich
    Auswirkungen der Pestizidanwendung           unabhängig vom chemischen
    beschrieb. Es gilt als wegweisend für        Pflanzenschutz ist. Und das nicht ohne
    die Umweltbewegung und als eines der         Grund: Der Markt für Pestizide ist lukrativ.
    einflussreichsten Sachbücher unserer         Nur wenige gut vernetzte und einflussreiche
    Zeit. Seitdem wurden viele Pestizide         Agrarchemiekonzerne teilen ihn unter sich
    vom Markt genommen. Neue kamen               auf – zuvorderst die in Basel ansässige
    mit dem Versprechen hinzu, sie seien         Syngenta Group. Das Firmenkonglomerat
    weniger gefährlich für Gesundheit und        ist für einen Viertel aller Pestizidverkäufe
    Umwelt. Ein Versprechen, das selten          weltweit verantwortlich.
    eingelöst wurde.
                                                 Die vielversprechenden Wachstums-

    T
         rotz vieler Verschärfungen in den       märkte der Pestizidunternehmen liegen
         Zulassungsverfahren und freiwilliger    längst nicht mehr in Europa, sondern vor
         und verbindlicher Vereinbarungen        allem in Lateinamerika und Asien. Aber auch
    zum Umgang mit Pestiziden werden             in afrikanische Länder werden zunehmend
    sechzig Jahre nach Carsons Buch              Pestizide exportiert – nicht zuletzt solche,
    weltweit so grosse Mengen Pestizide          die in der EU und der Schweiz aufgrund ihrer
    ausgebracht wie nie zuvor. Laut einer        gesundheits- oder umweltschädigenden
    aktuellen Studie ist die Zahl der jährlich   Wirkung nicht mehr zugelassen oder
    von Pestizidvergiftungen betroffenen         verboten sind. Eine langjährige Forderung
    Menschen auf 385 Millionen gestiegen,        der internationalen Zivilgesellschaft lautet
    und der Pestizideinsatz ist als              deshalb: endlich Gesetze zu schaffen, die

6   PESTIZIDATLAS 2022
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
konsequenterweise diese giftigen Exporte
verbieten. Die Schweiz hat einen ersten
Schritt getan und den Export von fünf
problematischen Stoffen ab 2021 verboten
                                                 «           Für eine ökologische Trend­-
                                                             wende braucht es Umdenken
                                                              in der Landwirtschaft –
                                                              und politischen Willen.
und die Ausfuhr von 100 weiteren Pestiziden
erschwert. Viel grössere Mengen verbotener
Pestizide werden allerdings von Syngenta         Verschärfung der Ziele des Bundes bei der
und anderen Herstellern wie Bayer oder           Risikoreduktion wurden aufgegleist.
BASF aus EU-Ländern wie Deutschland,             Wie ambitioniert die Umsetzung der
Italien oder Belgien exportiert. Die             Reformen voranschreitet und wie sie sich
EU und auch die neue Bundesregierung             in der Praxis auswirkt, bleibt abzuwarten.
in Deutschland haben die Absicht
geäussert, diese Praxis zu stoppen.

                                                 D
                                                        urch die Klimakrise werden

U
      nd um endlich die international                   Pflanzenkrankheiten, Schädlings-
      verpflichtenden Biodiversitätsziele               befall und Extremwetterlagen
      zu erreichen, fordert die EU nun           in vielen Teilen der Welt zunehmen.
von den Mitgliedsländern bis 2030 eine           Um den dadurch erhöhten Druck auf
Reduktion des Pestizideinsatzes und der          nützliche und unverzichtbare Insekten-
damit zusammenhängenden Risiken um               und Pflanzenpopulationen zu verringern,
50 Prozent. Aus Sicht der 1,2 Millionen          müssen sich unsere Agrarsysteme darauf
europäischen Bürgerinnen und Bürger, die         einstellen, diesen Herausforderungen
bis zum September 2021 die Bürgerinitiative      möglichst ohne chemisch-synthetische
«Save Bees and Farmers» unterschrieben           Pestizide zu begegnen. Dafür müssen sie
haben, geht diese Forderung jedoch nicht         vielfältiger werden und Nützlinge als
weit genug. Sie fordern einen kompletten         Verbündete schützen und einsetzen.
Ausstieg aus der Nutzung chemischer              Den Kampf mit der Natur und nicht gegen
Pestizide bis 2035.                              sie zu führen, ist eine enorme Aufgabe.
                                                 Für ihr Gelingen müssen wir die Weichen

I
    n der Schweiz wollten bereits die            jetzt stellen. Deshalb wollen wir mit
    Volksinitiativen «Für eine Schweiz ohne      diesem Atlas Daten und Fakten für eine
    Pestizide» und die «Trinkwasserinitiative»   zielgerichtete politische Debatte liefern.
die Pestizidnutzung erschweren oder
schrittweise verbieten. Trotz ihrer Ablehnung
durch die Stimmbevölkerung im Juni 2021
                                                 Christa Luginbühl
führten intensive öffentliche Debatten zu
                                                 Geschäftsleitungsmitglied Public Eye
einer Sensibilisierung und erhöhtem
Druck auf die Politik. Eine Neuorganisation      Barbara Unmüssig
des Zulassungsverfahrens und eine                Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

                                                                                        PESTIZIDATLAS 2022   7
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12 KURZE LEKTIONEN

           ÜBER PESTIZIDE IN DER
           LANDWIRTSCHAFT
             1    Der Einsatz von Pestiziden steigt weltweit, obwohl die gesundheitlichen
                  und ökologischen Folgen lange bekannt sind. Die internationalen Ziele zum
                  SCHUTZ DER BIODIVERSITÄT können nur erreicht werden, wenn die Nutzung
                  von Pestiziden deutlich verringert wird.

                                     2   Herbizide werden gegen ungewollte Pflanzen ausgebracht
                                         und sind die MEISTGENUTZTE WIRKSTOFFGRUPPE. Insektizide
                                         wirken gegen schädliche Insekten – häufig schon in kleinsten
                                         Mengen und auch bei den Insekten, die nicht gemeint sind.

                               3   Jährlich kommt es weltweit zu rund 385 Millionen
                                   PESTIZIDVERGIFTUNGEN. Vor allem Menschen im globalen
                                   Süden, die auf dem Land arbeiten, sind betroffen.

                         4 Pestizide, die in Europa AUS ÖKOLOGISCHEN ODER GESUNDHEITLICHEN
                           GRÜNDEN NICHT ZUGELASSEN sind, werden dennoch hier
                           produziert und in andere Länder exportiert. Führend in diesem
                           Geschäft ist der Schweizer Konzern Syngenta.

             5 In der Schweiz und der EU existieren strenge Kriterien
               für die Zulassung von Pestiziden. Die schädlichen
               AUSWIRKUNGEN VON PESTIZIDEN AUF GANZE ÖKOSYSTEME
               werden dabei jedoch nicht berücksichtigt.

                         6 Pestizidwirkstoffe bleiben meist nicht dort, wo sie ausgebracht
                           werden. Sie können versickern, verwehen oder durch die Luft sehr
                           weit transportiert werden – manche BIS ÜBER 1 000 KILOMETER WEIT.

8   PESTIZIDATLAS 2022
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
PESTIDATLAS 2022 / PUCHALLA
    7 Pestizidrückstände in Lebensmitteln können GESUNDHEITSSCHÄDLICH
      sein. Trotz des Versuchs, sich weltweit zu einigen, weichen die
      erlaubten Höchstwerte von Land zu Land stark voneinander ab.

                       8 Auf langjährig ökologisch bewirtschafteten Flächen,
                         auf denen keine chemisch-synthetischen Pestizide
                         eingesetzt werden, wachsen 17-MAL SO VIELE
                         UNTERSCHIEDLICHE PFLANZEN wie auf Flächen, die erst
                         wenige Jahre zuvor auf ökologische Landwirtschaft
                         umgestellt wurden.

    9 Nützlinge sind die NATÜRLICHEN FEINDE VON
      SCHÄDLINGEN. Sie zu fördern, kann dabei helfen,
      den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren.

10 Der Verkauf von Pestiziden ist ein MILLIARDENGESCHÄFT in den Händen von immer
   weniger, immer grösseren Konzernen. VIER AGRARCHEMIEFIRMEN TEILEN SICH HEUTE
   MEHR ALS ZWEI DRITTEL DES WELTMARKTS. Das grösste Wachstum versprechen
   Zukunftsmärkte in Lateinamerika, Asien und zunehmend Afrika.

                       11 Der SCHUTZ VON SAUBEREM WASSER und der
                          biologischen Vielfalt sind jungen Menschen
                          besonders wichtig. Sie wollen nicht, dass diese
                          durch Pestizide belastet oder gefährdet werden.

12 In einigen Regionen der Welt werden bereits weniger
   Pestizide eingesetzt und besonders gefährliche Pestizide
   verboten. Doch einen verbindlichen internationalen
   VERTRAG ZUR REDUKTION VON PESTIZIDEN gibt es bislang nicht.

                                                                               PESTIZIDATLAS 2022                          9
SCHWEIZER AUSGABE Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft - Public Eye
PESTIZIDE IN DER LANDWIRTSCHAFT

     GEFÄHRLICHE SUBSTANZEN
     Jedes Jahr geht auf der ganzen Welt                                                                       gleicher Kulturpflanzen etablieren. Das Ergebnis: Ohne
     ein Teil der landwirtschaftlichen                                                                         Pestizide ist die heutige industrielle Landwirtschaft grossen-
     Produktion durch Schädlingsbefall                                                                         teils nicht mehr vorstellbar. Durch kapitalintensive Inputs
                                                                                                               stiegen in vielen Industrieländern seit den 1950er-Jahren
     und Pflanzenkrankheiten verloren.
                                                                                                               die Erträge und damit das Angebot an landwirtschaftlichen
     Pestizide sollen dagegen helfen.                                                                          Produkten deutlich schneller als die Nachfrage – was im Re-
     Dabei verursachen sie neue Probleme.                                                                      sultat zu immer billigeren landwirtschaftlichen Produkten
                                                                                                               und schlechterem Einkommen für die Landwirtinnen und

     G
            ravierende Hungersnöte und ökonomische Umbrü-                                                      Landwirte führt. Parallel zum Pestizideinsatz intensivierte
            che nach Ernteausfällen gab es in der Geschichte                                                   sich die wissenschaftliche Forschung. Immer mehr Erkennt-
            schon immer. Stets haben Menschen dagegen ge-                                                      nisse haben Fachleute darüber gewinnen können, wie sich
     kämpft – zum Beispiel durch bestimmte Anbaumethoden                                                       Pestizide auf die menschliche Gesundheit auswirken und
     und Fruchtfolgen, die Unkräuter und Schädlinge vermeiden                                                  die Umwelt belasten können.
     sollten. Im Rahmen der industriellen Revolution entstanden                                                    Heute liegt die jährlich ausgebrachte Pestizidmenge
     schliesslich die ersten chemisch-synthetischen Pestizide:                                                 bei circa 4 Millionen Tonnen weltweit. Fast die Hälfte da-
     Sie versprachen den Schutz der Ernte bei gleichzeitiger                                                   von sind Herbizide, die gegen Unkräuter verwendet wer-
     Arbeitserleichterung. Ab den 1940er-Jahren begannen                                                       den; knapp 30 Prozent sind Insektizide, die gegen schäd-
     Chemieunternehmen damit, Pestizidprodukte mit einem                                                       liche Insekten wirken und etwa 17 Prozent sind Fungizide
     breiten Wirkungsspektrum zu vermarkten. Sie waren für                                                     gegen Pilzbefall. Marktanalysen bezifferten den globalen
     ganze Gruppen von Organismen giftig und erwiesen sich                                                     Pestizid-Marktwert im Jahr 2019 auf fast 84,5 Milliarden US-
     im Vergleich zu den zuvor verfügbaren Mitteln als beson-                                                  Dollar. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate lag
     ders effektiv.                                                                                            seit 2015 bei mehr als 4 Prozent – für die kommenden Jahre
         Die eingesetzte Pestizidmenge steigt seit Jahrzehnten                                                 könnte sie steigen. Bis 2023 wird eine Wachstumsrate von
     an: Zwischen 1990 und 2017 um etwa 80 Prozent. Das Zu-                                                    11,5 Prozent und damit ein Anstieg auf fast 130,7 Milliarden
     sammenspiel von Pestiziden, Dünger und technischem                                                        US-Dollar Marktwert prognostiziert. Zusammen hängt die-
     Fortschritt trug dazu bei, dass sich die landwirtschaftliche                                              ser deutliche Anstieg auch mit der Klimakrise: Ein US-For-
     Produktion grundlegend verändert hat. Da Bäuerinnen                                                       schungsteam der Universität von Seattle hat kalkuliert, dass
     und Bauern Krankheiten und Schädlinge nun durch Pesti-                                                    pro Grad Erderwärmung die Ernteerträge von Reis, Mais
     zide statt durch Fruchtfolgen und Fruchtkombinationen                                                     und Weizen um 10 bis 25 Prozent sinken könnten. Die Grün-
     in Schach hielten, konnten sich enge Fruchtfolgen immer                                                   de dafür sind vielfältig. So verändert der Klimawandel zum
                                                                                                               Beispiel Schädlingspopulationen und das Verhältnis von
                                                                                                               Schädlingen und Nützlingen. Hinzu kommt, dass die Wi-
                                                                                                               derstandskraft der Pflanzen gegen Schädlinge infolge von
        WER HAT, DER NIMMT
                                                                                                               klimabedingtem Stress sinkt.
        Umsätze der Pestizidsparten der vier grössten Konzerne in 2020
        und gemeinsamer Weltmarktanteil, in Prozent                                                                Historisch betrachtet geht die Nutzung von Pestiziden in
                                                                                                               unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlicher Intensi-
                                                                                                               tät und zeitlichem Ablauf einher. Die 1960er-Jahre gelten
                                                                                                               als Zeitalter der «Grünen Revolution», in der die Landwirt-
                                                                                                               schaft in den Ländern des globalen Südens den Entwicklun-
                                                                                                               gen im globalen Norden durch Technologietransfer folgen
                                                                                                               sollte. Das erklärte Ziel war, durch den Einsatz von Pestizi-
              Syngenta            Bayer          Corteva        BASF
                                                                                                               den, Düngern, Hochertragssorten und Bewässerung den Er-
               9,9 Mrd.         9,8 Mrd.         5,7 Mrd.      5,5 Mrd.                                        trag deutlich zu steigern. Zivilgesellschaftliche Organisatio-
                 Euro             Euro             Euro          Euro
                                                                                                               nen und Wissenschaftler sehen in der «Grünen Revolution»
                                                                                                               den Beginn einer gescheiterten landwirtschaftlichen Ent-
                                                                                                               wicklung, durch den viele Bäuerinnen und Bauern seitdem
                                                                                                               in verzweifelte Lebenssituationen gerieten. Zum Beispiel
                                                                                                               haben sich im globalen Süden viele Menschen verschuldet,
                                                                          PESTIZIDATLAS 2022 / ARCHIV, CLAPP

                        29                                                                                     um teure Produktionsmittel zu kaufen. Die Selbsttötungen
                                           53                       70                                         von Bäuerinnen und Bauern mit Hilfe von Pestiziden sind

                 1994                 2009                   2018                                              Wenige Konzerne aus dem Norden
                                                                                                               teilen sich den milliardenschweren
                                                                                                               Pestizidmarkt auf.

10   PESTIZIDATLAS 2022
KEIN RÜCKGANG IN SICHT
  Pestizideinsatz in Tonnen nach Kontinenten im Jahr 2019 und Veränderung seit 1999

  Kilogramm Pestizide pro Hektar
      über 5
      bis 4
      bis 3
                                                                      Europa
      bis 2            Nordamerika
      bis 1
                                                                                                                                        + 28,9 %
                                                                                                                Asien
                                                                                      478 389
                                 + 3,6 %    495 475                      + 3,0 %                                         2 171 017

                                                                               Afrika
               91 600
                        Zentralamerika

                      + 38,4 %
                                                                                            107 864
                                                               Südamerika
                                                      767 443                                                       Ozeanien
                                                                                             +71,1 %                                    69 719

                                                                                                                                                   PESTIZIDATLAS 2022/ FAOSTAT
                                                               + 143,5 %                                                + 86,5 %

                                                                                      Jährlich erleiden bis zu 385 Millionen Menschen eine
von der Weltgesundheitsorganisation WHO als globales                         Pestizidvergiftung. Die Folgen reichen von Kopfschmerzen bis
Problem anerkannt – selbst vorsichtigen Schätzungen zufol-                        zu schweren Organschäden mit teils tödlichem Ausgang.
ge liegt die Zahl der jährlichen Opfer über 100 000. Einige
Staaten haben darauf bereits mit dem Verbot von besonders
giftigen Stoffen reagiert.
    Wegen hoher Gewinnspannen und zum Teil ungenü-
                                                                                NICHT NUR SCHÄDLINGE UNTER DEN OPFERN
gender staatlicher Regulierungen nimmt seit einiger Zeit
                                                                                Rückgang der Population von insektenfressenden Vögeln
der Handel mit billigen Nachahmer-Produkten zu. Und                             in den USA zwischen 2008 und 2014 im Zusammenhang
auch der Verkauf von gefälschten Pestiziden hat sich zu                         mit Insektizideinsatz
einem profitablen Geschäft entwickelt. Allein in den ersten
vier Monaten des Jahres 2020 wurden in der EU und sechs
weiteren Nicht-EU-Staaten wie Kolumbien, Schweiz und
USA illegale Pestizide im Wert von bis zu 94 Millionen Euro
beschlagnahmt. Die Anwendung solcher Pestizide gefähr-
det Bäuerinnen und Bauern besonders, da die Inhaltsstoffe
und ihre Konzentrationen falsch oder fehlerhaft angegeben
sein können – was ihre Wirkung und Giftigkeit unvorher-
sehbar werden lässt.
    Ein Element einer veränderten Politik muss also sein,
Bäuerinnen und Bauern weltweit über die Gefahren von
Pestiziden zu informieren, Massnahmen zu ihrem Schutz
zu ergreifen und praktikable Alternativen für den Pflanzen-
schutz anzubieten. Ideen dazu gibt es viele, auch wenn die
Forschung für ökologischen Pflanzenschutz nach wie vor                                Rückgang
unterfinanziert ist.                                                                    mehr als 50 Prozent
                                                                                                                                                   PESTIZIDATLAS 2022 / LI ET AL.

                                                                                        10 bis 50 Prozent
                                                                                        5 bis 10 Prozent
                                                                                        bis 5 Prozent
 Neonikotinoide werden in geringerer Dosis als herkömmliche                             kein Rückgang
    Pestizide auf den Acker ausgebracht, aber sind dafür umso                           keine Daten
  giftiger. Bei insektenfressenden Vögeln in den USA sorgen sie
                für eine jährliche Rückgangsrate von 3 Prozent.

                                                                                                                                    PESTIZIDATLAS 2022                              11
KONZERNE

     GROSSE GESCHÄFTE
     Der weltweite Pestizidmarkt wächst – und                                 bieter 29 Prozent. Im Saatgut­­­sektor – der heute von genau
     es sind nur eine Handvoll Konzerne, die                                  denselben Konzernen angeführt wird – stieg der Anteil der
     ihn untereinander aufteilen. Immer stärker                               grössten Vier im selben Zeitraum von 21 auf 57 Prozent.
                                                                                  Die Macht dieser Akteure und die Verschmelzung der
     investieren sie in den Ländern des
                                                                              beiden Geschäftsfelder wirken sich auf das Produkteange-
     globalen Südens, wo Pestizide weniger                                    bot und auf die Landwirtschaft weltweit aus. So haben Saat-
     streng reguliert werden.                                                 gutproduzenten, die gleichzeitig Pestizide verkaufen, ein
                                                                              Interesse, dass beim Anbau der Saat auch ihre Agrarchemi-

     D
            ie meisten Agrochemiekonzerne wie Bayer oder                      kalien verwendet werden. Im Fokus stehen die züchterische
            Syngenta entstanden aus Chemie- oder Pharmafir-                   Weiterentwicklung und gentechnische Veränderung weni-
            men, deren Gründungen teils bis ins 19. Jahrhun-                  ger Kulturpflanzen, für die es grosse Absatzmärkte gibt, al-
     dert zurückgehen. Zu ihrer heutigen Form haben sie sich                  len voran Soja und Mais, die zusammen knapp zwei Drittel
     entwickelt, als sie mit dem Aufkommen der Gentechnik in                  des Saatgutmarkts ausmachen. Bayer erzielt mit Mais und
     der Landwirtschaft ab Mitte der 1990er-Jahre ein neues Ge-               Soja etwa 75 Prozent seiner Saatgut-Umsätze, Syngenta 55
     schäftsmodell in der Kombination von Pestizid- mit Saatgut-              Prozent und Corteva gar 85 Prozent.
     verkäufen entdeckten. In grosser Zahl kauften sie kleinere                   Die Konzerne haben in den letzten Jahren viel Geld für
     Saatguthersteller auf und spalteten rund um die Jahrtau-                 Forschung ausgegeben, um Saatgut weiterzuentwickeln.
     sendwende die Agrarsparte vom restlichen Geschäft ab, um                 Gleichzeitig stagnieren diese Ausgaben im Bereich der Ag-
     neue spezialisierte Konzerne zu bilden. In den letzten Jah-              rarchemie. Im Jahr 2000 waren noch 70 Prozent der ver-
     ren haben sich die Anteile dieser Konzerne am Weltmarkt                  markteten Pestizidsubstanzen mit einem Patent geschützt.
     nochmals stark vergrössert. 2017 übernahm das chinesische                Viele davon sind mittlerweile ausgelaufen: Auf nur noch 15
     Staatsunternehmen ChemChina den Schweizer Agrarkon-                      Prozent der Pestizide wird ein Patent gehalten; neue werden
     zern Syngenta, zusätzlich fusionierten die beiden US-Unter-              kaum noch angemeldet. Eine Ursache dafür sind strengere
     nehmen Dow Chemical und Dupont, um ihre Pestizid- und                    Zulassungsanforderungen vor allem in der EU, derentwe-
     Saatgutgeschäfte 2019 in Corteva Agriscience zusammen-                   gen sich die Kosten für die Markteinführung eines neuen
     zulegen. 2018 übernahm der deutsche Chemiekonzern Bay-                   Pestizidwirkstoffs deutlich erhöhen. Weniger neue Wirk-
     er die US-amerikanische Firma Monsanto und verkaufte Tei-                stoffe bedeutet aber nicht, dass insgesamt weniger Pestizide
     le seines Geschäfts an die deutsche Chemiefirma BASF, die                vermarktet werden. Vielmehr greifen die grossen Firmen
     damit ins Saatgutgeschäft einstieg. 2020 schliesslich wur-               auf teilweise Jahrzehnte alte Pestizide zurück – die sie in
     den Syngenta, der Pestizidhersteller Adama aus Israel und
     Sinochem aus China in der neuen Syngenta Group vereint.
         Die Vorläuferunternehmen der vier Konzerne – die Syn-                    Das internationale Pesticide Action Network listet in seiner
     genta Group, Bayer, Corteva und BASF – teilten sich 2018                           HHP-Liste aktuell 338 hochgefährliche Pestizide auf,
     etwa 70 Prozent des Weltmarktes für Pestizide. Zum Ver-                           die zum Beispiel als krebserregend, erbgutverändernd,
     gleich: 1994 betrug der Marktanteil der vier grössten An-                 fortpflanzungsschädigend oder hoch bienengefährlich gelten.

        TOXISCHE TOPSELLER
        Die umsatzstärksten Substanzen unter den hochgefährlichen Pestiziden (HHPs, Highly Hazardous Pesticides)
        im Jahr 2018, pro Konzern in Millionen US-Dollar

             Bayer
             Glyphosat: Von der Krebsforschungsagentur der WHO als «vermutlich krebserregend» eingestuft      841 Mio. US-Dollar

             Syngenta
             Thiamethoxam: Wegen Bienenschädlichkeit auf EU-Äckern verboten 		                               242 Mio. US-Dollar

             BASF
             Glufosinat: Laut der Europäischen Chemikalienagentur «fortpflanzungsgefährdend»                  227 Mio. US-Dollar
                                                                                                                                           PESTIZIDATLAS 2022 / PUBLIC EYE

             FMC
             Chlorantraniliprol: Hochgefährlich für Wasserorganismen 			                                      255 Mio. US-Dollar

             Corteva
             Cyproconazol: Laut EU «fortpflanzungsgefährdend» 				                                            144 Mio. US-Dollar

12   PESTIZIDATLAS 2022
HOCHGEFÄHRLICH UND HOCHPROFITABEL
  Anteil hochgefährlicher Substanzen am Umsatz der fünf grössten Pestizidunternehmen in Prozent und Umsatz mit hochgefährlichen Substanzen
  auf ihren fünf wichtigsten Märkten im Jahr 2018, in Millionen US-Dollar

                                                                                                                             Deutschland: 649
                                                                              Kanada: 625                                                             12 %
                 USA: 2 890

                                                                                       23 %                                      Bayer Crop
           36 %                                                                                                                   Science
                                                           FMC                                                                     36,7 %
                                                          51,5 %

                                         Corteva                               Frankreich: 784
                                          32 %

                                                                                                 11 %                                               BASF
                                                                                                                           Syngenta                24,9 %
                                                                                                                            39,2 %
          Umsätze mit hochgefährlichen
          Pestiziden nach Verkaufsländern
          Anteil der im Land verkauften                                     Brasilien: 3 300

                                                                                                                                                                                         PESTIZIDATLAS 2022 / PUBLIC EYE
          hochgefährlichen Pestizide
          Anteil hochgefährlicher Pestizide
          am Umsatz                                                                              49 %

  Schätzungen auf Basis der besten verfügbaren Marktdaten; reale Umsatzzahlen deutlich grösser

                                                                                                                                 Drei Viertel der Pestizide ohne EU-Zulassung,
immer neuen Produktmischungen und Kombinationen ver-                                                                             deren Export im Jahre 2018 bewilligt wurde,
treiben. Zu den meistverkauften Pestizidprodukten gehö-                                                                                 landen auf Feldern im globalen Süden.
ren das unter Krebsverdacht stehende Herbizid Glyphosat
(patentiert im Jahr 1971, auf dem Markt seit 1974), das für
Menschen hochgiftige Paraquat (Wirkung als Herbizid ent-                                                    Noch werden in Afrika mit durchschnittlich unter
deckt 1955, auf dem Markt seit 1962), das im Wasser lang-                                               0,4 Kilogramm pro Hektar Anbauland bislang am wenigs-
lebige und hormonaktive Atrazin (auf dem Markt seit 1958)                                               ten Pestizide verwendet – weltweit liegt die Zahl bei etwa
oder die für Bienen hochgiftigen Insektizide der Klasse der                                             2,6 Kilogramm pro Hektar. Doch längst hat die Industrie den
Neonikotinoide (entwickelt 1985, auf dem Markt seit 1991).                                              afrikanischen Kontinent als grössten Wachstumsmarkt aus-
    In den Industriestaaten verkaufen die fünf grössten                                                 gemacht. Mit der zunehmenden Präsenz der Agrarindustrie
Produzenten insgesamt weniger hochgefährliche Pestizi-                                                  verbreitet sich auch die Verwendung von hochgefährlichen
de als in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas:                                               Pestiziden.
Während sie in Deutschland 12 und in Frankreich 11 Pro-
zent am gesamten Pestizidumsatz der fünf grössten Firmen
ausmachen, sind es in Brasilien 49 Prozent und in Indien
                                                                                                          VERKAUFT, VERSCHIFFT, VERGIFTET
59 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass die EU und die Staaten
                                                                                                          EU-Exportvolumen von Pestiziden
der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mehrere
hochgefährliche Pestizide verboten haben. Anderswo aller-                                                     Anteil hochgefährlicher Stoffe an weltweit verwendeten Pestiziden
dings sind sie aufgrund lückenhafter Gesetzgebungen und
                                                                                                          Mio. US-Dollar
industrienaher Regulierungsbehörden weiter zugelassen –
                                                                                                          20 000                                          15,7 Milliarden
insbesondere in Südamerika, Asien und zunehmend Afrika,                                                                                                   US-Dollar
wo die Pestizidverkäufe steigen. Das kontinuierliche Wachs-
tum des globalen Pestizidmarkts um durchschnittlich                                                       15 000                      30 %
                                                                                                                                                                                         PESTIZIDATLAS 2022 / FAOSTAT, PAN GERMANY

4,1 Prozent pro Jahr geht vor allem auf die Verkäufe in die-
sen Weltregionen zurück.                                                                                   10 000

                 In den letzten 30 Jahren hat sich das finanzielle                                          5 000                        4,0 Milliarden
                Exportvolumen aus der EU mehr als verdreifacht.                                                                          US-Dollar
            Exportiert werden auch hochgefährliche Substanzen.                                                  0
            Sie machen rund ein Drittel der über 1000 Wirkstoffe                                                    1989      1994     1999    2004        2009     2014        2019

                             aus, die weltweit verwendet werden.

                                                                                                                                                                           PESTIZIDATLAS 2022                                        13
PESTIZIDPOLITIK IN DER SCHWEIZ

     NOCH EIN LANGER WEG
     Durch Volksinitiativen und neue Gesetze ist                                                     Zudem wurden Vorgaben für die Herkunft der Futtermittel,
     in letzter Zeit viel Bewegung in die Schweizer                                                  den Antibiotikaeinsatz sowie Biodiversitätsleistungen an-
     Diskussion um Pestizide gekommen. Doch                                                          visiert. Parallel zur Trinkwasserinitiative sammelte ein wei-
                                                                                                     teres Bürgerkomitee Unterschriften für die Initiative «Für
     um die Risiken für Mensch und Natur wirklich
                                                                                                     eine Schweiz ohne synthetische Pestizide», die ein Verbot
     spürbar zu reduzieren, handelt die Politik                                                      des Einsatzes von chemisch-synthetischen Pestiziden in der
     bisher zu zögerlich.                                                                            Schweiz forderte, sowohl bei der inländischen Produktion
                                                                                                     als auch für importierte Lebensmittel.

     Ü
           ber fünf Tonnen Fungizide, Insektizide und Herbizide                                          Der Bundesrat und später das Parlament empfahlen bei-
           versprühen Schweizer Landwirtschaftsbetriebe – pro                                        de Initiativen zur Ablehnung. Ihre Begründung war, dass
           Tag. Zwar ist die Menge an verkauften synthetischen                                       die kurz bevorstehende Weiterentwicklung der Schweizer
     Pestiziden in den letzten Jahren rückläufig, doch die Menge                                     Agrarpolitik mit dem Namen AP22+ auch ein Massnahmen-
     an Stoffen mit besonderem Risikopotenzial für Mensch und                                        paket zur Reduktion der Pestizidrisiken umfasse. Der Vor-
     Umwelt bleibt konstant. Die Pestizide reichern sich in Böden                                    schlag des Bundesrates zu AP22+ wurde ab 2020 im Parla-
     und Gewässern an und gefährden Insekten, Vögel und an-                                          ment behandelt. Grosse Hoffnungen gingen damit einher,
     dere Tiere. Ausserdem ziehen sie die Trinkwasserqualität                                        schliesslich erfüllt die Schweizer Landwirtschaft bis heute
     und menschliche Gesundheit in Mitleidenschaft.                                                  kein einziges der 13 vom Bund gesetzlich festgelegten Um-
         Der Schweizer Bundesrat verabschiedete 2017 nach                                            weltziele, etwa zum Schutz der Biodiversität, der Gewässer,
     langjährigen, intensiven Diskussionen den Aktionsplan                                           des Klimas oder zur Menge an Nährstoffen und Pestiziden,
     Pflanzenschutzmittel, um Risiken durch Pestizide zu redu-                                       die in die Umwelt gelangen. Doch Anfang 2021 wurde die
     zieren. 51 Massnahmen sind im Aktionsplan festgehalten,                                         Behandlung der AP22+ durch das Parlament sistiert und
     von denen bis heute 29 eingeführt wurden, zum Beispiel                                          sämtliche Reformen erst einmal auf Eis gelegt. Hintergrund
     finanzielle Anreize für Landwirtschaftsbetriebe, die auf                                        war ein Deal zwischen dem Wirtschaftsverband Economie-
     Pestizide verzichten. Insgesamt verläuft die Umsetzung der                                      suisse und dem Schweizer Bauernverband (SBV). Wenn sich
     Massnahmen schleppend und ist gegenüber dem Termin-                                             Economiesuisse für die Sistierung der Agrarpolitik einsetzt,
     plan im Verzug.                                                                                 so das Versprechen des SBV, würde man als Verband im
         Weil der Aktionsplan vielen zivilgesellschaftlichen Or-                                     Gegenzug gegen die Konzernverantwortungsinitiative an-
     ganisationen nicht weit genug ging, starteten Schweizer                                         treten. Eine Initiative, mit der Unternehmen mit Sitz in der
     Bürgerinnen und Bürger zwei Volksinitiativen, um weiter-                                        Schweiz auch ausserhalb des Landes auf die Einhaltung von
     gehende Schritte zu fordern. Die Trinkwasserinitiative ver-                                     Menschenrechten und Umweltstandards verpflichtet wer-
     langte, dass Betriebe nur noch dann Subventionen erhalten,                                      den sollten.
     wenn sie auf chemisch-synthetische Pestizide verzichten.                                            Der Wahlkampf zu beiden Agrarinitativen wurde im
                                                                                                     Sommer 2021 äusserst emotional geführt. Die Stimmbeteili-
                                                                                                     gung war insbesondere auf dem Land überdurchschnittlich
                                                                                                     hoch. Obwohl beide Initiativen abgelehnt wurden, haben
        MITTEL AUF LEBENSMITTELN
                                                                                                     sie die Gefahren durch Pestizide im öffentlichen Bewusst-
        Durchschnittliche Wirkstoffmenge auf Schweizer Kulturen
        im Jahr 2019, in Kilogramm pro Hektar                                                        sein verankert – was die Politik nachhaltig unter Druck setz-
                                                                                                     te. Im Frühjahr 2021, kurz vor dem Abstimmungstermin,
                                  Herbizide    Fungizide    Insektizide                              wurde im Parlament der «Absenkpfad Pestizide» beschlos-
                                                                                                     sen. Laut diesem neuen Gesetz sollen die Risiken durch den
         Hülsenfrüchte                   1,1          0,1          0,0
                                                                                                     Pestizideinsatz bis 2027 um 50 Prozent reduziert werden.
         Kartoffeln                      2,1          5,6           3,7                              Zudem muss künftig die Zulassung überprüft werden, wenn
         Kernobst                        1,2         17,2           5,8                              ein Wirkstoff und dessen Abbauprodukte wiederholt öko-
                                                                                                     toxikologische Grenzwerte im Trinkwasser überschreiten.
         Mais                            1,0         0,0           0,0                               Werden diese Grenzwerte auch mit strengeren Auflagen
         Raps                            1,2          0,3          0,2                               überschritten, wird der Wirkstoff verboten.
                                                                                                         Solche Vorgaben sind zielführend – vorausgesetzt, die
         Reben                           0,6         15,0          0,0
                                                                                                     Risikoreduktion wird mit einer sinnvollen Methode be-
         Steinobst                       1,2          8,1          2,0                               rechnet. Ob das der Fall sein wird, ist bislang noch höchst
                                                                                                     ungewiss. Das Bundesamt für Landwirtschaft beabsichtigt
                                                                          PESTIZIDATLAS 2022 / BLW

         Wintergerste                    1,1          1,0          0,0

         Winterweizen                    0,4          0,6           0,1

         Zuckerrüben                     4,1          1,1          0,2                               Alle vier Jahre veröffentlicht das Bundesamt für
                                                                                                     Landwirtschaft, wie oft und intensiv Obst,
                                                                                                     Gemüse, Getreide mit Pestiziden behandelt wird.

14   PESTIZIDATLAS 2022
PESTIZIDATLAS 2022 / FAOSTAT
  EINSATZBEREITSCHAFT
  Ausgebrachte Insektizide, Herbizide und Fungizide                                                                                             Finnland 1 351
  in der EU und in der Schweiz im Jahr 2019, in Tonnen                                                                 Schweden 1 478

                                                                                                                                                          Estland 636
                                                                          Grossbritannien 19 373
                                                                                                                    Dänemark 2 629                          Lettland 1 568
          Gesamtmenge                       Irland 2­  652
          Insektizide                                                                                       10 222       18 598
                                                                                                                                                         Litauen 2 318
          Herbizide                                                   Niederlande 9 309
          Fungizide *                                                                                   Deutschland 45 238
                                                                                                                                               Polen 24 281
                                                                                                             13 972
                                                                               Belgien 6 130

                                          Frankreich 85 072                                                                     Tschechien 3 908
                                                                                Luxemburg 148
                                                                                                                                  1 619            Slowakei 1 859
                                                                                                                      2 071
                                                                                           978        321
                                                                                                                      4 963     1 151           Ungarn 7 826
                                                                                Schweiz 1 808         509
                                                                                                               Österreich
                                                                                                                                                              Rumänien 5 346
                                                                                                                                Slowenien 972

                                                                                                                                Kroatien 1 558
                   Portugal 8 172                                                                                                                          Bulgarien 6 663
                                                     Spanien 61 343
                                                                                               Italien 48 567

  *
    und Bakterizide                                                                                                                       Griechenland 13 096
  Angegeben sind Wirkstoffmengen (nicht Produktmengen). Die Menge der
  Insektizide beinhaltet inerte Gase, die im Vorratsschutz verwendet werden.                                Malta 89
                                                                                                                                                                     Zypern 1 234

                                                                                                                                        Pestizide werden in Privatgärten, Parks
etwa, einen Teil der Risikoreduktion durch Auflagen bei                                                                                         und an Gleisanlagen eingesetzt,
der Anwendung von Pestiziden zu erreichen. Doch ob sol-                                                                                 vor allem jedoch in der Landwirtschaft.
che sogenannt «risikominierenden Massnahmen» korrekt
umgesetzt werden, ist in der Praxis schwierig zu kontrol-
lieren, zumal die zuständigen Kantone nur mit knappen                                                 flächengewässer, Grundwasser und naturnahe Lebensräu-
Ressourcen ausgestattet sind. Ausserdem beziehen sich die                                             me. Überhaupt nicht berücksichtigt werden hingegen die
Vorgaben zur Risikoreduktion nur auf die Bereiche Ober-                                               Boden- und Luftqualität oder der Schutz der Anwender und
                                                                                                      Anwenderinnen sowie der Konsumierenden. 2025 will der
                                                                                                      Bundesrat beurteilen, ob die gesetzten Ziele erreicht wor-
Konstanz bei der durchschnittlich verkauften                                                          den sind. Wenn nicht, soll die Zulassung für besonders risi-
Menge bedeutet nicht konstantes Risiko. Auch von                                                      koreiche Wirkstoffe widerrufen werden. So ist es zumindest
niedriger Dosierung geht mitunter hohe Gefahr aus.                                                    offiziell vorgesehen.

  ABSATZBEWEGUNGEN
  Verkaufte Pestizidwirkstoffe in der Schweiz, in Tonnen                                                                            Pestizidverkäufe
                                                                                                                                    Wirkstoffe mit besonderem Risikopotenzial

            255           286            287           264            281          222         228           243         216         209          225         212        213

           2 237         2 224                        2 282          2 231         2 290       2 245         2 220
                                        2 148                                                                           2 158                    2 052
                                                                                                                                    2 027                   1 952     1 928
                                                                                                                                                                                   PESTIZIDATLAS 2022 / BLW

            2008           2009          2010           2011          2012          2013       2014          2015        2016           2017      2018        2019       2020

                                                                                                                                                                     PESTIZIDATLAS 2022                           15
ZULASSUNGSVERFAHREN

     BLINDE FLECKEN
     Bevor Pestizide auf Schweizer Feldern landen,                                schen Vielfalt und Informationen über Häufigkeit und Ver-
     müssen sie durch Behörden genehmigt                                          breitung von Krankheiten – was ermöglichen würde, Gefah-
     werden. Diese Verfahren blenden jedoch                                       ren für Natur und Gesundheit besser zu erkennen.
                                                                                      Auch über die Auswirkungen von Pestiziden auf Men-
     verschiedene Gefahrenquellen aus.
                                                                                  schen, die in unmittelbarer Nähe zu landwirtschaftlichen
     Datenlücken erschweren zudem eine                                            Gebieten wohnen, ist wenig bekannt, da dazu schweizweit
     realistische Einschätzung der Langzeitfolgen.                                bisher keine Daten von Vergiftungs- und Krankheitssymp-
                                                                                  tomen erhoben werden. Ausserdem werden in der Schweiz

     D
             ie in der Landwirtschaft in grossem Umfang einge-                    – anders als etwa in Frankreich – Parkinson und Krebsar-
             setzten Pestizide bleiben oft nicht dort, wo sie aus-                ten wie chronische lymphatische Leukämie und multiples
             gebracht werden. Durch Abdrift, Wind, Regen und                      Myelom nicht als Berufskrankheiten von Beschäftigten der
     Auswaschung werden sie in benachbarte Böden, Ackerbe-                        Landwirtschaft und des Gartenbaus gezählt. Dabei konnte
     gleitstreifen, Bäche und andere Gewässer transportiert. Bis                  die Wissenschaft in den letzten Jahren zahlreiche Hinweise
     in entlegene Gebiete werden die chemischen Stoffe ver-                       für entsprechende Zusammenhänge sammeln.
     frachtet. Weil die Behörden keine genauen Daten über den                         Die negativen Auswirkungen der intensiven Landwirt-
     Pestizideinsatz in der Landwirtschaft erheben, bleibt unklar,                schaft und des hohen Pestizideinsatzes auf die biologische
     welche Stoffe überhaupt in welchen Mengen in die Umwelt                      Vielfalt sind gross. In der Schweiz sind mehr Arten gefähr-
     gelangen. Wie gefährlich diese Rückstände für die Umwelt                     det als in anderen OECD-Ländern. Nicht nur die Insekten-
     und die menschliche Gesundheit sind, lässt sich deshalb nur                  biomasse ist stark rückläufig, auch die Populationen von
     schwer nachweisen.                                                           Vogel- und Fischarten in landwirtschaftlichen Gebieten
          Jedes Jahr werden laut Angaben des Bundesamts für Sta-                  haben in der Schweiz in den letzten zwanzig bis dreissig
     tistik rund 2000 Tonnen Pestizidwirkstoffe für die Landwirt-                 Jahren dramatisch abgenommen. Da durch den Verlust von
     schaft verkauft. Nicht von allen Substanzen geht jedoch das                  Biodiversität wichtige Ökosystemleistungen wie fruchtbare
     gleiche Risiko aus. Insektizide aus der Klasse der Neonikoti-                Böden oder Bestäubung beeinträchtigt werden, führt unter
     noide beispielsweise sind bereits in geringsten Konzentra-
     tionen giftig für Honigbienen und Wasserinsekten.
          Die Schweiz erfasst keine detaillierten Zahlen über den                          Die Erkenntnisse aus Zulassungstests mit nur wenigen
     Pestizideinsatz pro Parzelle. Lägen solche Zahlen vor, liessen                        Arten sind mit Unsicherheiten behaftet. Eingerechnete
     sie sich kombinieren mit Daten zum Zustand der biologi-                        Sicherheitsfaktoren sollen diese Unsicherheiten kompensieren.

                                                                                                                                                      PESTIZIDATLAS 2022 / BLV
        NATUR LÄSST SICH SCHWER NACHBAUEN
        Standard-Zulassungsprüfungen betrachten nur einen Ausschnitt möglicher Pestizideffekte auf die Umwelt.

        4 wird geprüft
        x wird nicht geprüft                                                                               Vereinfachte Test-Umwelt

                                                                                                         4 Wirkung einzelner Pestizide
                                                                                                         4 Auswirkungen auf wenige Arten

                                                                                                                 x Sicherheitsfaktor

                                                                                                           Komplexe echte Umwelt

                                                                                                         x Wirkungen von Pestizid-Gemischen
                                                                                                         x Wirkungen auf Nahrungsnetze & Ökosysteme

16   PESTIZIDATLAS 2022
ALS RISIKO ERKANNT – UND DOCH NICHT GEBANNT
  Anzahl der in EU-Ländern und in der Schweiz weiterhin verwendeten Pestizide im Jahr 2021, die laut Regularien ersetzt werden sollten
  (Substitutions­kandidaten); Anzahl biologischer Schädlingsbekämpfungsmittel (Biopestizide) im Jahr 2020 auf dem Weg zur Marktreife

        bis 19                                                                     Dänemark         Schweden
                                     Irland                                                                                       Estland
        20 bis 29                                                                                                                             21
        30 bis 39                                                            14
                                                                                                         19
        40 bis 49                     34
        über 50                                                   Niederlande

      Pestizidwirkstoffe, die für die                                  34                                       Polen
      Gesundheit oder Umwelt
      besonders gefährlich sind, werden                                           Deutschland
      als Substitutionskandidaten                                                                               45
      definiert. Im Zulassungsverfahren
      müssen diese Wirkstoffe daraufhin                                               39
      überprüft werden, ob sie durch                 Frankreich
      ungefährlichere Alternativen                                          Schweiz
      ersetzt werden können. Trotz der                                                                                  Ungarn
      offiziellen Gefahrenprognose dürfen
                                                      44              34
      Substitutionskandidaten, wenn
      auch verkürzt auf sieben Jahre,
      wiederholt genehmigt werden.
                                                                                   Italien
                                                                                                Slowenien                 51
                               Spanien                                             48               32

                                42

                                                                                                                                                       PESTIZIDATLAS 2022 / FEDLEX, IBMA, PA
                                                                                      Biopestizide bestehen aus natürlichen Wirksubstanzen, die
      Biopestizide in der EU                       104                                aus Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen oder bestimmten
                                                                                      Viren entwickelt werden. Sie gelten in der Regel als weniger
        bereits im Zulassungsverfahren                                                problematisch. Die Nachfrage nach Biopestiziden wächst, aber
                                                                         102
        noch nicht im Zulassungsverfahren                                             ihr Anteil am Weltmarkt für Pestizide ist immer noch gering.

                                                                                         Obwohl besonders gefährliche Wirkstoffe möglichst
anderem das Insektensterben zu wirtschaftlichen Folge-                               schnell ersetzt werden sollten, werden sie noch in vielen
schäden, die sich wegen fehlender Daten nur schwer bezif-                      Ländern eingesetzt. Biopestizide könnten eine Alternative sein.
fern lassen.                                                                       Dafür braucht es aber mehr Forschung und Investitionen.
    Damit Pestizide in der Landwirtschaft eingesetzt wer-
den dürfen, ist ein aufwendiger Prozess nötig, bei dem die
Herstellerunternehmen bei den zuständigen Behörden Da-                         spiel Mäuse, Wasserflöhe, Wasserkrebse, Honigbienen, Re-
ten zu Wirkungen und Nebenwirkungen einreichen müs-                            genwürmer oder Algen). Andere Arten von Tieren wie etwa
sen. Das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG stellte                           Amphibien und Pflanzen wie etwa Futterpflanzen von Insek-
2019 einen Mangel an Transparenz und Unabhängigkeit                            ten werden gar nicht berücksichtigt. Obwohl auch sie sehr
beim Schweizer Zulassungsverfahren fest, was zu dessen                         empfindlich auf Pestizidexpositionen reagieren können.
Neuorganisation führte. Seit 2022 liegt die Hauptverant-                           Ein weiterer Mangel der derzeitigen Risikoprüfung be-
wortung beim Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und                          steht darin, dass nur ein Wirkstoff für sich allein auf seine
Veterinärwesen, und die Prüfung der Umweltrisiken beim                         Umweltauswirkungen getestet wird. Realistische Feldbe-
Bundesamt für Umwelt. Ab 2023 bieten weitere geplante                          dingungen, bei denen die Organismen sehr oft einem Pes-
Änderungen zumindest eine Chance, mehr Transparenz                             tizidcocktail ausgesetzt sind, werden vernachlässigt. Auch
zu schaffen. In der Schweiz gilt beim Zulassungsverfahren                      Beistoffe von Pestizidprodukten werden bei der Zulassung
laut Umweltschutzgesetz das Vorsorgeprinzip – demnach                          bislang nicht geprüft. Wissenschaftliche Studien zeigten je-
müssten schädliche Auswirkungen auf die Umwelt und die                         doch, dass sie beispielsweise für Insekten giftig sein können.
menschliche Gesundheit frühzeitig vermieden werden. Die                            Für eine zukunftstaugliche Landwirtschaft müsste daher
Tatsache, dass zwischen 2005 und 2020 175 Wirkstoffe wie-                      auch flächendeckend evaluiert werden, wie Ökosystemleis-
der vom Markt genommen werden mussten, zeigt jedoch,                           tungen durch Pestizide gestört und Lebewesen durch Bei-
dass das heutige Verfahren diesem Vorsorgeprinzip kaum                         stoffe und Pestizidmischungen gefährdet werden. Um das
Rechnung trägt. Bei vielen Stoffen zeigt sich erst im Laufe                    Ziel zu erreichen, die hohe Pestizidbelastung deutlich zu re-
der Zeit, wie gefährlich sie sind.                                             duzieren, braucht es in der Schweiz neben in diesem Sinne
    Die derzeitige Bewertung des Toxizitätsrisikos stützt sich                 verbesserten Zulassungsverfahren auch die Etablierung al-
hauptsächlich auf Daten einiger Modellarten, die leicht un-                    ternativer Produktionsformen und eine stärkere Förderung
ter künstlichen Laborbedingungen zu halten sind (zum Bei-                      der ökologischen Landwirtschaft.

                                                                                                                                         PESTIZIDATLAS 2022                                    17
GESUNDHEIT

     SCHWERE FOLGEN
     385 Millionen Menschen erkranken jährlich                                                                                geschlagen fühlen und wie bei einer Grippe an Kopf- und
     an Pestizidvergiftungen. Ein                                                                                             Gliederschmerzen leiden. Darüber hinaus wird häufig der
     internationaler Verhaltenskodex der                                                                                      Magen-Darm-Trakt angegriffen – die Folgen sind Übel-
                                                                                                                              keit, Erbrechen oder Durchfall. Folgen zeigen sich auch im
     Weltgesundheits­organisation soll den
                                                                                                                              menschlichen Nervensystem. Bei schweren Verläufen ver-
     weltweiten Umgang mit Pestiziden                                                                                         sagen schliesslich die Organe: Herz, Lunge oder die Nieren
     verbessern und Vergiftungen vermeiden.                                                                                   setzen bei einer solchen Pestizidvergiftung aus. Etwa 11 000
     Doch weil gesetzliche Regelungen fehlen,                                                                                 Menschen sterben unbeabsichtigt daran, Jahr um Jahr.
     passiert wenig.                                                                                                              Weil Pestizide nur schwer zu kontrollieren sind und sie
                                                                                                                              leicht Gegenstände und Lebensmittel kontaminieren, sind
                                                                                                                              auch Menschen ausserhalb des Agrarsektors gefährdet. We-

     M
             enschen kommen in unterschiedlichen Situatio-                                                                    gen unzureichender oder nicht eingehaltener Sicherheits-
             nen mit Pestiziden in Berührung: auf dem Feld                                                                    vorkehrungen können schnell auch Unfälle passieren. Zwei
             und im Forst, durch Lebensmittel oder Trink-                                                                     Beispiele: Weil ihr Mittagessen mit einem Speiseöl zuberei-
     wasser. Treten Krankheitssymptome kurz nach Kontakt                                                                      tet wurde, das durch das Pestizid Monocrotophos verunrei-
     auf, spricht man medizinisch von einer akuten Pestizidver-                                                               nigt war, starben 2013 im indischen Bihar 23 Schulkinder.
     giftung. Deren Opfer können sich schlapp, müde und ab-                                                                   Im gleichen Jahr erlitten im brasilianischen Rio Verde über
                                                                                                                              90 Kinder und Erwachsene eine Vergiftung, weil der Pilot
                                                                                                                              eines Agrarflugzeugs versehentlich den falschen Knopf
                                                                                                                              drückte – und über einer Schule, die in der Nähe von Mais-
        SCHADET DER GESUNDHEIT UND DEM GELDBEUTEL
                                                                                                                              und Sojafeldern liegt, ein Insektizid versprühte.
        Folgekosten in Milliarden Euro im Gesundheitssystem in der EU
        durch hormonschädliche Chemikalien, Studie aus 2015                                                                       Viele der Betroffenen leiden an langanhaltenden Fol-
                                                                                                                              gen. Pestizide verursachen nämlich nicht nur akute Ver-
                                                                                                                              giftungen, sondern können auch chronische Krankheiten
            Krankheiten                                                                                                       auslösen. Wissenschaftliche Studien belegen einen Zusam-
               Neurologische Folgen                                                                                           menhang zwischen Pestiziden und Parkinson sowie Leukä-
               Adipositas und Diabetes
                                                                                                                              mie im Kinderalter. Ausserdem werden Pestizide mit einem
               Fortpflanzungsstörungen
                                                                                                                              erhöhten Risiko für Leber- und Brustkrebs, für Typ-II-Dia-
                                                                                                                              betes und Asthma, für Allergien, Adipositas und Störungen
                                                                                                                              der Hormondrüsen in Verbindung gebracht. Auch Fehlbil-
                                                                                                                              dungen, Frühgeburten und Wachstumsstörungen lassen
        4 15                                           132                                                                    sich auf Kontakt mit Pestiziden zurückführen. In den letzten
                                                                                                                              Jahren wurde die wohl bekannteste Pestiziddebatte um den
                                                                                                                              Wirkstoff Glyphosat geführt. Zahlreiche Menschen, die mit
                                                                                                                              dem Herbizid in Kontakt gekommen und an Krebs erkrankt
                                                                                                                              sind, haben den Pestizidhersteller Bayer auf Schadensersatz
            Hormonschädliche Chemikalien und ihr Anteil an den Kosten                                                         verklagt: Rund 30 000 dieser Klagen sind noch offen, wäh-
              Pestizide                                                                                                       rend der Konzern in den letzten Jahren bereits Vergleiche
              Plastik und Weichmacher
                                                                                                                              mit rund 96 000 Klägerinnen und Klägern erreichte – und
              Flammschutzmittel
                                              1,2 %                                                                           verschiedene Gerichtsprozesse verlor. Die Kosten für die Ver-
              Chemiemischungen
                                                        5,7 %                                                                 gleiche werden bislang auf 11,6 Milliarden Euro geschätzt.
                                                                                                                              Im März 2015 stufte die Internationale Agentur für Krebs-
                                                                                                                              forschung (IARC) – eine Unterorganisation der Weltgesund-
                                            16,5 %                                                                            heitsorganisation (WHO) – Glyphosat als «wahrscheinlich
                                                                                                                              krebserregend» ein. Eine wissenschaftliche Metastudie
                                                                                                                              der Universität Washington aus dem Jahr 2019 ermittelte
                                                                                                                              für Menschen, die dem Pestizid ausgesetzt sind, einen mit
                                                                                       PESTIZIDATLAS 2022 / TRASANDE ET AL.

                                                                                                                              41 Prozent deutlichen Anstieg des relativen Risikos, am
                                                                                                                              Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken.
                                                               76,4 %

                                                                                                                              Bereits bei geringer Konzentration gefährden
        Konservative Schätzungen; tatsächliche Kosten dürften deutlich höher liegen.
        Diverse mit hormonschädlichen Chemikalien zusammenhängende Krankheiten
                                                                                                                              hormonschädliche Chemikalien, sogenannte Endocrine
        wie Parkinson sind aufgrund der Datenlage nicht berücksichtigt.                                                       Disrupting Chemicals (EDC), die Gesundheit. Enthalten
                                                                                                                              sind sie zum Beispiel in Kosmetik oder Pestiziden.

18   PESTIZIDATLAS 2022
GELITTEN UND GESTORBEN WIRD VOR ALLEM IM GLOBALEN SÜDEN
  Pestizidvergiftungen pro Jahr, Studie aus 2020

          nicht-tödliche Vergiftungen
          tödliche Vergiftungen

                                                                                                                          180 303 510
                                                                                   211 580                                           Südasien 9 401
                                                                                 Nordeuropa 1

                    1 377                                          139 357              Osteuropa 75
            Nordamerika 6                                                                                     3 663 972
                                                              Westeuropa 7
                                                                                        1 268 217          Westasien 39                      16 696 758
                                   576 445                                           Südeuropa 14
                                                                                                                    Zentralasien 4
                                 Karibik 8
                                                                    9 647 501                                                                Ostasien 338
               3 835 727

       Zentralamerika 296                                      Nordafrika 154

                                                                                                                                     55 243 562
                                                                                             50 936 173                                Südostasien 159

                                                                   33 833 710                        Ostafrika 81

                    7 934 306

                                                                                                                                                                    PESTIZIDATLAS 2022 / BOEDEKER ET AL
                                                                         Westafrika
               Südamerika 229                                                                                                                     1 251
                                                                                             21 213 838                                        Ozeanien 3

                                                                                     Mittel- und südliches Afrika 67
  Konservative Berechnung. Tatsächliche Todeszahlen vermutlich deutlich höher.

                                                                                                             Laut Schätzungen sind rechnerisch jedes Jahr bis zu
    Studien zeigen, dass berufliche Pestizidvergiftungen                                            44 Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft weltweit
seit Jahren stark ansteigen. So schätzte man 1990 etwa eine                                                        von einer Vergiftung durch Pestizide betroffen.
Million Pestizidvergiftungen mit schwerwiegenden Fol-
gen pro Jahr, darunter 20 000 Todesfälle. Rechnet man hier
noch die Fälle mit milderem Verlauf hinzu, kommt man                                            gen der klimatischen Bedingungen nicht getragen wird.
auf eine Zahl von 25 Millionen Vergiftungen im Beruf. Ein                                       Zweitens werden diejenigen, die die Pestizide anwenden,
Grund für den Anstieg auf mittlerweile 385 Millionen dürf-                                      oft nicht ausreichend über die Gefahren von Pestiziden in-
te sein, dass auf der ganzen Welt immer mehr Pestizide zum                                      formiert und zu selten in der Handhabung von Chemikalien
Einsatz kommen. 2017 wurden etwa 80 Prozent mehr Pesti-                                         und Sprühgeräten geschult. Drittens fehlt häufig die Mög-
zide angewendet als noch 1990. In manchen Weltregionen                                          lichkeit, benutzte Geräte und Arbeitskleidung getrennt von
fällt der Anstieg sogar noch deutlicher aus. In Südamerika                                      den Wohnbereichen aufzubewahren.
zum Beispiel beträgt er im gleichen Zeitraum fast 500 Pro-                                          Um die hohe Zahl an Pestizidvergiftungen zu senken,
zent, während in Europa ein Rückgang von 3 Prozent zu ver-                                      hat die WHO zusammen mit der Welternährungsorgani-
zeichnen ist.                                                                                   sation (FAO) einen Verhaltenskodex für den Umgang mit
    Gehäuft lassen sich Pestizidvergiftungen vor allem in                                       Pestiziden verabschiedet. Er besagt unter anderem, dass auf
den Ländern des globalen Südens beobachten: in Südasi-                                          Pestizide verzichtet werden sollte, deren Anwendung per-
en, gefolgt von Südostasien und Ostafrika. Es gibt mehrere                                      sönliche Schutzausrüstung erfordert, die unbequem oder
Gründe, warum hier die Menschen besonders betroffen                                             teuer ist. Zudem empfiehlt die WHO den Einsatz von agrar-
sind. So ist in den Regionen der Anteil hochgefährlicher                                        ökologischen Alternativen und ein Verbot von besonders
Pestizide oft besonders gross. Zudem sind die Menschen                                          giftigen Pestiziden. Diese Empfehlungen wurden jedoch
schlechter geschützt. Erstens weil Schutzkleidung oft nicht                                     bislang kaum umgesetzt und nicht auf eine verbindliche
vorhanden oder vor Ort unbezahlbar ist oder weil sie we-                                        Rechtsgrundlage gestellt.

                                                                                                                                                      PESTIZIDATLAS 2022                                  19
RÜCKSTÄNDE

     DRAUF UND DRAN
     Pestizidanwendung führt zu Rückständen                            mittel aus der EU die erlaubten maximalen Rückstands-
     in Lebensmitteln, denen vor allem                                 höchstgehalte. Insgesamt war die Hälfte der Lebensmittel
     im globalen Süden viele Menschen                                  auf dem EU-Markt frei von Pestizidbelastungen, 27 Prozent
                                                                       der untersuchten Nahrungsmittel enthielten Mehrfach-
     ausgesetzt sind. Belastete Ware aus dem
                                                                       rückstände. Besonders häufig wurden Mehrfachrückstände
     aussereuropäischen Ausland,                                       in frischen Produkten wie Johannisbeeren, Süsskirschen,
     wo weniger reguliert wird, landet als                             Grapefruits, Rucola und Tafeltrauben festgestellt. Trauriger
     Import auch auf europäischen Tellern.                             Spitzenreiter war eine Probe Rosinen mit Rückständen von
                                                                       28 verschiedenen Pestiziden. Gesundheitsfachleute kritisie-
                                                                       ren, dass es keinen Summen-Rückstandshöchstgehalt für

     D
            ie tägliche Aufnahme pestizidbelasteter Nahrungs-          Mehrfachbelastungen von Pestiziden in Lebensmittel gibt.
            mittel birgt Gesundheitsrisiken für alle Menschen,         Ein weiterer Punkt: Verlieren Wirkstoffe beispielsweise we-
            besonders gefährdet sind empfindliche Personen-            gen einer Einstufung als krebserregend ihre EU-Genehmi-
     gruppen wie Schwangere und Kinder. Daher sind fast über-          gung, wird der maximale Rückstandshöchstgehalt automa-
     all auf der Welt Rückstandshöchstmengen für Pestizide in          tisch heruntergesetzt auf in der Regel 0,01 Miligramm pro
     Lebensmitteln festgelegt. Die Vereinten Nationen geben            Kilogramm, um die Gesundheit der Menschen zu schützen.
     seit 1963 den Codex Alimentarius heraus, eine Sammlung            Diesen Wert müssen dann auch Importwaren einhalten.
     von Normen für Lebensmittelsicherheit und Produktquali-           Pestizidherstellern bringt es einen Vorteil, wenn sie einer zu
     tät – die darin enthaltenen Rückstandshöchstmengen für            erwartenden Einstufung ihres Wirkstoffs als gesundheits-
     Pestizide gelten international als eine wichtige Referenz.        gefährlich entgehen, indem sie die Genehmigung in der
     Allerdings gibt es je nach Land und Region grosse Unter-          EU einfach auslaufen lassen. So können sie «Importtoleran-
     schiede, welche Belastungsmengen den Menschen zuge-               zen» beantragen: eine Hochsetzung der Rückstandshöchst-
     mutet werden.                                                     mengen. Pestiziden, die ihre Genehmigung explizit aus Ge-
         Für jeden in der EU genehmigten Pestizid-Wirkstoff wird       sundheitsgründen verloren haben, wird das nach EU-Recht
     festgelegt, wie hoch sein möglicher Rückstand in den ver-         grundsätzlich nicht gewährt.
     schiedenen Lebensmitteln maximal sein darf. Überschrei-               In der EU gelten oft strengere Vorgaben als in Nicht-EU-
     ten Waren diesen Wert, dürfen sie nicht gehandelt werden.         Ländern. In Japan dürfen Mandeln beispielsweise mit einem
     Für die Festsetzung dieser Rückstandshöchstmengengehal-           Milligramm pro Kilogramm und somit um das Zehnfache
     te (RHMG) werden neben der Anbaupraxis die Giftigkeit der         stärker mit Glyphosat belastet sein als in der EU. Bei Toma-
     Wirkstoffe und die Verzehrmengen für die unterschiedli-           ten erlaubt Japan mit 2 Mikrogramm Imidacloprid pro
     chen Lebensmittel berücksichtigt. Nahrung für Babys muss          Kilogramm das Vierfache des derzeit in der EU erlaubten
     wegen deren besonderer Empfindlichkeit strengere Vor-
     gaben erfüllen. Die EU kontrolliert Lebensmittel jährlich
     anhand von Stichproben und veröffentlicht die Ergebnisse                        Über 10 Prozent aller kontrollierten Lebensmittel,
     in Berichten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsi-                      die im Jahr 2017 in die Schweiz importiert wurden,
     cherheit (EFSA). 2019 überschritten 3,9 Prozent der Lebens-                     enthielten Rückstände von verbotenen Pestiziden.

        UNERWÜNSCHTE ZUTATEN
        Rückstände von verbotenen Pestiziden auf importierten                 Obst und Gemüse in der EU ohne nachweisbare
        Lebensmitteln in der Schweiz im Jahr 2017                             Pestizid-Rückstände

                                                                         %

                          16 %        Peperoniarten: Auf        12 %
                                                                         60
                                       16 von 135 Proben

                                                                         55

                                          16 %
                                                                                                                                      PESTIZIDATLAS 2022 / BLV, EFSA

          Gemüse: Auf 35                                                 50
          von 218 Proben
                                                                         45
                                          Exotische Früchte:
                                         Auf 35 von 221 Proben
                                                                         40
                                                                           1997    2000    2003    2006   2009   2012   2015   2018

20   PESTIZIDATLAS 2022
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