A House of Call - 2021 2022 Prinzregententheater - musica viva
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Dienstag Ensemble Modern Orchestra IX 28 20:00 H Heiner Goebbels Prinzregententheater A 2021 2022 Saison musica viva of Call House
Inhalt HEINER GOEBBELS A House of Call. My Imaginary Notebook 06 Programm 08 Heiner Goebbels: Werkkommentar 12 A House of Call: Teile I – IV 16 Instrumentation / Werkdaten 18 Astrid Schenka: Polivoks. Fragen an akusmatische Stimmen 23 Heiner Goebbels und Winrich Hopp im Gespräch 29 Biographien Heiner Goebbels [30] Vimbayi Kaziboni [32] Ensemble Modern Orchestra [34] Mitwirkende EMO [36] 39 Die nächsten musica viva-Konzerte 1. Oktober 2021, Prinzregententheater 18.00 Uhr / 20.30 Uhr Ensemble Modern, David Niemann, Leitung 42 Impressum
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BR-KLASSIK sendet am 29. September ab 20. 05 Uhr den Live-Mit schnitt des Konzerts vom 28. September im Radio.
musica viva München Prinzregententheater Dienstag, 28. September 2021 20.00 Uhr HEINER GOEBBELS [*1952] A House of Call. My Imaginary Notebook [2020] I Stein Schere Papier II Grain de la Voix III Wax and Violence IV When Words Gone Die Teile I – IV folgen attacca aufeinander. Instrumentation von Heiner Goebbels und Diego Ramos Rodríguez Kompositionsauftrag von Ensemble Modern, Berliner Festspiele / Musikfest Berlin, musica viva/ Bayerischer Rundfunk, Elbphilharmonie Hamburg, Kölner Philharmonie, Wien Modern, beuys2021 und Casa da Música Porto Ein Projekt im Rahmen von BTHVN 2020 Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien 06
musica viva Heiner Goebbel s und Hend rik Borowski Lichtregie Norb ert O mmer Klangregie Ensemble Modern Orchestra Vimbayi Kaziboni Leitung Münchner Erstaufführung im Rahmen der Ensemble Modern Orchestra Tournee Das Münchner Gastspiel des Ensemble Modern Orchestra wird ermöglicht durch die Ernst von Siemens Musikstiftung 07
Der Begriff »house of call« bezeichnete im England des frühen 19. Jahrhun derts einen öffentlichen Raum, in dem Wander- und Handwerksgesellen von potentiellen Auftraggebern angeheuert werden konnten. »a prolonged visit to a house of call« – die Zeile findet sich bei James Joyce in FINNEGANS WAKE , auf Seite 41, unweit des onomatopoetischen ›roa- ratorio›, das dem Hörstück von John Cage den Namen geben sollte. Ein Hörstück, das mich nachhaltig geprägt hat, weil sich John Cage inmitten eines Stroms vieler Stimmen, Mesostichon für Mesostichon, durch die 628 Seiten des Romans liest – wie ein ›gesungenes Schreiben der Sprache‹. So hat Roland Barthes die Rauheit (Körnung) der Stimme beschrieben und diese Rauheit – le grain de la voix – macht das Gemeinsame der Stimmen aus, die sich in meinem imaginären Notizbuch eingefunden haben. Heiner Goebbels 08
Heiner Goebbels: A House of Call A House of Call ist ein Liederbuch für Orchester, das aus vier Teilen besteht und die attacca aufeinander folgen: (I) Stein Schere Papier; (II) Grain de la Voix; (III) Wax and Violence; (IV) When Words Gone. A House of Call ist ein Zyklus mit Rufen, Aufrufen, Anrufungen, Beschwör ungen, Gebeten, Sprechakten, Gedichten und Liedern. Aber nicht das Orchester ruft, sondern es ist mit Stimmen konfrontiert; es präsentiert, unterstützt, begleitet sie, antwortet oder widerspricht ihnen – wie in einem säkularen »Responsorium«, einer gemein schaft lichen Antwort des Orchesters auf die vielen einzelnen Stimmen, die mit ihren ganz eigenen Klängen und Sprachen zu hören sind. Sie sind nur akustisch präsent und rufen entweder aus der Vergangenheit oder aus meinem persönlichen Umfeld: eigentümliche Stimmen, traditionelles volkstümliches Material, Rituale, Literatur. A House of Call ist kein wissenschaftliches Medienarchiv, sondern eine pho nographische Sammlung aus meinem imaginären Notizbuch, das keiner Systematik folgt, sondern dessen Quellen sich aus vielen Reisen, zufälligen Begegnungen, verstreuten Recherchen zu künstlerischen Projekten erge- ben haben, manchmal auch zu Projekten, die letztlich nicht realisiert wor den sind. In diesem Konzert kommen Stimmen zu Wort, die mich berührt, verstört, begeistert, befremdet haben und die hier meist erstmals auf einer Kon zertbühne zu hören sind. Etwa die Hälfte dieser Stimmen wurde mit histo rischen Phonographen auf Wachsmatrizen aufgenommen und ihre Ent stehung ist oft ambivalent. Vielerlei Gründe mögen zu diesen Aufnahmen geführt haben: musikethnologische bzw. musik- und sprachwissenschaft liche Forschungen, soziologische, anthropologische Interessen, aber auch rassistische Motive, deren koloniale Kontexte diese Aufnahmen geprägt haben. Manchmal lassen sich die Beweggründe auch nicht voneinander trennen. 09
Die Widersprüche kann ich nicht ausräumen, sondern nur künstlerisch bearbeiten: Was verbindet oder was trennt die Aufnahmen, die in den 1910er Jahren in Paris mit einem armenischen Opernsänger gemacht wur- den, von den Aufzeichnungen der Stimmen georgischer Kriegsgefangener im Lager Mannheim etwa zur selben Zeit; was unterscheidet die Aufnah- men des Musikwissenschaftlers Samuel Baud-Bovy, der Anfang der 1930er Jahre auf griechischen Inseln unterwegs war und Ekaterini Mangoúlia aufgenommen hat, von denen eines selbsternannten Anthropologen, der zur gleichen Zeit in Südwestafrika Menschen in eine Polizeistation einbe- stellt, sie ausmisst, von ihnen auf gewalttätige Weise Gesichtsmasken nimmt und Tonaufnahmen macht, für die er sich danach nicht weiter interessiert; was könnten die rituellen Sprachformen im schamanistischen Diskurs von Luciano und Victor Martínez mit denen von Heiner Müller, Gertrude Stein oder Samuel Beckett gemeinsam haben; und was passiert bei den vielfachen Medienwechseln von den historischen Walzen zu digi- talen Samples, von den Aufnahmen zum Konzert, vom Konzert zum Buch? Die Musik ist eine direkte Antwort auf die Komplexität und Rauheit der Stimmen, ihre Ausstrahlung und die Geschichte dieser Aufnahmen. Das zusätzlich zur Komposition entstandene Buch A House of Call. Material sammlung (Neofelis Verlag, 2021; siehe QR-Code) bietet Einblick in die Ma terialien, die Hintergründe und die Fragen, die sich zwischen Bewahren und Aneignen stellen. Beide Arbeiten – die Komposition des Orchesterstücks und die Material ausgabe der Recherchen in Buchform wurden im März 2020 fertiggestellt. 10
I STEIN SCHERE PAPIER INTROITUS (A RESPONSE TO RÉPONS) Pierre Boulez 1981 | Cassiber 1982 IMMER DEN GLEICHEN STEIN Heiner Müller, Aufnahmeort und -datum unbekannt UNDER CONSTRUCTION [2019] Baustelle, Berlin 2017 | Ilse Ritter, Köln 1984 Der erste der vier Teile, Stein Schere Papier, beginnt – neben einem immer gleichen Orgel-Loop – mit einer Verneigung vor Pierre Boulez’ bahnbre- chendem Orchesterwerk Répons. Dem dort aufgenommenen Prinzip des Call and Response folgt Heiner Müllers Sisyphos-Text: »Immer den glei- chen Stein – auch in einer Berliner Baustelle«. 12
II GRAIN DE LA VOIX NU STIRI / Giorgi Nareklishvili 1916 | Platon Machaidze, Mannheim 1916 AGASH AYAK / Amre Kashaubayev, vermutl. Moskau ca. 1925 1346 / Hamidreza Nourbakhsh, Teheran 2010 KRUNK / Armenak Shahmuradian, Paris 1914 | Zabelle Panosian, New York 1917 Grain de la voix, der Titel des zweiten Teils, spielt auf die einzigartige Rau heit / die Körnung der menschlichen Stimme an, die von Roland Barthes da verortet wird, wo Gesang und Sprache zusammenstoßen, wo die Stimme zum »gesungene[n] Schreiben der Sprache« wird. Es kommen Stimmen aus Regionen um den Kaukasus zu Wort, die nicht nur die Spuren der frühen Aufzeichnungssysteme mit sich tragen, sondern auch die Spuren tragi- scher Biographien. 13
III WAX AND VIOLENCE TOCCATA (VOWELS) Carl Stumpf, Berlin 1916 | Judith Barseleysen, Aasiaat 1906 | Erich von Hornbostel, Berlin 1907 | Abigail Bolars, Uummannaq 1906 ACHTUNG AUFNAHME Hans Lichtenecker, Berseba 1931 NUN DANKET ALLE GOTT Schulkinder, Berseba 1931 TI GU GO | NÎGA MÎ (SOME OF THEM SAY) Haneb, Farm Lichtenstein bei Windhoek 1931 Wax and Violence, der Titel des dritten Teils, verweist auf die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Aufnahmetechnik mit Wachszylindern. Sie ermöglichte erstmals das Fixieren von Sprache und Klängen und löste eine enthusiastische Sammelwut der WissenschaftlerInnen aus, die in ver meintlichem Pioniergeist, bewaffnet mit oft zweifelhaften Ideologien und ihren Phonographen, Material für diverse Klangarchive sammelten. Den noch spielerisch anmutenden Probeaufnahmen im ersten Satz sind im zweiten die Ansagen von Hans Lichtenecker gegenübergestellt, der mit ras sistischen Motiven Aufnahmen mit Kindern, Frauen und Männern machte – Nachfahren der Nama und Herero, die eine Generation zuvor in einem der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts durch deutsche Soldaten nahezu ausgelöscht wurden. Schulkinder der Nama singen für ihn ein altes, deut- sches Kirchenlied. Der Aufnahme mit Haneb wohnt – so zeigen aktuelle Recherchen – eine subversiv widerständige Kraft inne und auch das Or chester findet hier wieder zu seiner Sprache. 14
IV WHEN WORDS GONE BAKAKI (DIÁLOGO) Luciano und Victor Martínez, Quebrada Isue 1980 SCHLÄFT EIN LIED IN ALLEN DINGEN Margret Goebbels, Berlin 2017 KALIMÉRISMA / Ekaterini Mangoúlia, Kalymnos 1930 WHAT WHEN WORDS GONE Samuel Beckett, 1983 Im vierten und letzten Teil, When Words Gone, verschiebt sich der Fokus auf andere Aspekte von Sprache: als Sprechakt, als Reim, als Klage, als Be schwörung. Wir hören einen Auszug eines Rituals aus dem Amazonasge biet, die Rezitation eines Gedichts durch eine Frau, deren Sprache langsam schon verschwunden scheint, ein als Klagelied gesungener Morgengruß an die auf See Vermissten und schließlich Zeilen aus einem der letzten Texte von Samuel Beckett, in dem die Narration ganz in Rhythmus und Klang überführt wird. Wer spricht noch, wenn die Worte fehlen? Die Teile I bis IV und ihre Sätze folgen attacca aufeinander. 15
A House of Call Instrumentation von Heiner Goebbels und Diego Ramos Rodríguez 3 Flöten (2. auch Bassflöte, 3. auch Piccolo) 3 Oboen (3. auch Englisch Horn) 3 Klarinetten in B (1. auch Kontrabassklarinette in B, 2. und 3. auch Bass klarinette in B) Tenorsaxofon in B (auch Sopransaxofon in B und Bassklarinette in B) 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott) 4 Hörner in F 3 Trompeten in C (1. auch Piccolo Trompete) 3 Posaunen Tuba 5 Pauken (1 SpielerIn) Schlagzeug (4 SpielerInnen): Marimba (5 Oktaven), Vibraphon, Xylophon, Crotales (2 Oktaven) Röhrenglocken (1 ½ Oktaven), 2 Glockenspiele, Donnerblech, Tamtam, Gong, Hängende Becken (China Splash, Ride), Becken(a due), Hi-Hat, Snare Drums, Wirbeltrommel, 4 Tomtoms, Conga, 2 Bongos, Große Trommel, Kickdrum, Tamburin, Triangel, Ölfass, 2 Metallplatten, Bremstrommel, Holzplatte, Holzbox (medium), Schellen, Windspiele, Kastagnetten, Rassel, Sistrum (Rahmenrassel), Cabassa, Kuhglocken (klein), 3 Holzblöcke, 2 Peitschen, Claves (Klanghölzer) Cymbalon (oder Persische Santur) Harfe Akkordeon 16
Elektrische und akustische Gitarre Klavier (mit 2 E-Bows) Sampler 8 Violinen I, 7 Violinen II, 6 Violen, 5 Violoncellos, 4 Kontrabässe (1. auch E- Bass) Mit kompletter Mikrofonierung und Verstärkung aller Instrumente Stand der Instrumentation: April 2021 Entstehungszeit: 2020 Auftraggeber: Kompositionsauftrag von Ensemble Modern, Berliner Festspiele / Musikfest Berlin, musica viva / Bayerischer Rundfunk, Elbphilharmonie Hamburg, Kölner Philharmonie, Wien Modern, beuys2021 und Casa da Música Porto Uraufführung: 30. August 2021 in der Philharmonie, Berlin, durch das Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayj Kaziboni mit Heiner Goebbels und Hendrik Borowski (Lichtregie) und Norbert Ommer (Klangregie) 17
Astrid Schenka: Polivoks. Fragen an akusmatische Stimmen Die menschliche Stimme ist Ursprung einer ganz besonderen Klang erfahrung. Die Stimme ist – als ein mögliches Medium von Sprache – eines der wichtigsten Kommunikationsinstrumente. Sie kann als Transport mittel für Gedanken und Botschaften dienen, für das Äußern von inne- ren Zuständen, für Anrufungen, Gebete und Kriegserklärungen. Sie kann schreien, sprechen, singen, flüstern, stottern, brechen, kippen, zittern, ver- stummen. Zu ihr gehört immer beides: ihre Klangqualität und ihr In formationsgehalt. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen, was aber nicht bedeutet, dass sie immer übereinstimmen müssen. Zu manchen Stimmen fühlen wir uns sofort hingezogen oder sind fasziniert von ihnen, während uns andere oft ohne konkreten Grund Abstand nehmen lassen, uns eine Gänsehaut verschaffen oder sogar abstoßen; und manchmal ge schieht alles gleichzeitig. Doch: Fasziniert uns die Stimme selbst oder die Person dahinter? Machen wir da einen Unterschied? Verweist eine Stim me immer eindeutig auf einen bestimmten Menschen? Mitunter wird die Stimme als individueller Fingerabdruck bezeichnet (Jenny Schrödl). Die Individualität – das heißt auch die Wiedererkennbarkeit – einer Stimme muss nicht automatisch zu einer Individualisierung des Sprechenden füh- ren. Wenn wir auf einmal ein Foto der Radiomoderatorin sehen, deren Stimme uns seit Jahren begleitet und beruhigt oder begeistert, kann es uns zutiefst verstören, wenn dieses Foto so gar nicht unserer Vorstellung ent- spricht. Wir haben uns ein eigenes Bild gemacht, anhand der stimmlichen Anhaltspunkte. Oder konkreter: Wir konnten uns mehrere Bilder machen. Genau diese Offenheit und Komplexität in der Stimme, die wir nicht sehen, wird – unwiederbringlich – durch das Foto zerstört. Stimmen, die wir hören, aber deren Ursprung wir nicht sehen, nennt man akusmatische Stimmen. Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff geht angeblich auf Pythagoras zurück, der seine Vorlesungen gern hinter 18
einem Vorhang sitzend hielt, so dass sich seine SchülerInnen besser auf das Gesagte konzentrieren konnten. Hören wir genauer hin und zu – so wie Pythagoras es intendierte –, wenn wir die sprechende oder singende Person nicht sehen? Sind wir weniger abgelenkt? Sind wir freier im Assoziieren? Was fehlt, wenn wir nicht sehen, wer spricht? Woran heften wir den Klang, die Informationen und unsere Eindrücke, wenn die Quelle der Stimme nicht verfügbar ist? Wonach hören wir? Wonach fragen wir? Eine der ersten Fragen ist meist: Wer spricht da? Die Musikwissenschaft lerin Nina Eidsheim beschreibt diese Frage als akusmatische Frage und betont gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Antwort. Die Identität und Bedeutung einer Stimme ist nie eindeutig mit der Frage nach der sprechen- den Person beantwortet. Unproduktiv ist die Frage zudem, weil es die Stimme reduziert auf die Information des ›Wer‹. Wir können eine Stimme nur als multidimensionalen, nicht abgeschlossenen Prozess verstehen, als Vielheit. Die Polyphonie der Stimme, ihre verschiedenen Merkmale, Facet ten und Dimensionen verweisen eben nicht auf ein klar umrissenes, geschlossenes Individuum, das es so auch gar nicht gibt. Die Antwort auf die Frage ›Wer spricht da?‹ sind stattdessen viele weitere Fragen. Akus matische Stimmen erlauben uns – und zwingen uns – zu einem anderen Hören. Sie werfen uns bestenfalls auf uns selbst zurück. Wir müssen aus- füllen, was sie nicht verraten. Wir müssen mehr fragen als ›Wer spricht da?‹ Zum Beispiel: Wer spricht wie? Das betrifft unter anderem den Klang einer Stimme, ihren Rhythmus, die Wortwahl, die Zuweisung eines Ge schlechts. Jede Person wird in einer Stimme etwas anderes hören. Und die immer gleiche Person wird zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiede- nen Kontexten eine Stimme auch anders wahrnehmen. Akusmatische Stimmen sind zudem immer vermittelt durch Technik; die Aufzeichnung einer Stimme ist nicht die Stimme selbst. Es kommt vor, dass die Quali- tät der Aufnahme bestimmte Assoziationen hervorruft – ein besonders starkes Rauschen oder Knistern oder Kratzen beispielsweise mag auf ein besonders hohes Alter der Aufnahme schließen lassen. Nebengeräusche auf der Aufnahme können uns ab- und fehllenken. Und wie gehen wir mit Stille um? Ist sie ein Schweigen? Ein technischer Fehler? Wann 19
schweigen Stimmen, und wie? All diese Aspekte verändern, wie wir zuhö- ren. Sollte eine weitere Frage also nicht lauten: ›Wer hört da?‹ – Der Ursprung einer Stimme ist nicht die sprechende oder singende – es ist die hörende Person (Eidsheim). Aus welcher Position heraus man hört, mit welchem individuellen und gesellschaftlichen Hintergrund, mit welchem Wissen über die Stimmen, wird das Hörerlebnis verändern. Und es verändert die Fragen, die sich stellen, weit über ein ›Wer spricht da?‹ hinaus. Zum Beispiel: Von wo und warum sprechen die Stimmen? Und: Wo sind sie, wenn sie nicht sprechen? Die Stimmen, die in Heiner Goebbels’ Or chesterzyklus A House of Call. My Imaginary Notebook zu hören sind, stam- men aus seiner ganz persönlichen Sammlung und aus ganz unterschiedli- chen Quellen. Doch wie wirken sich die Umstände ihres Entstehens auf unseren Höreindruck aus? Welchen Unterschied macht es, zu wissen, wer dort warum spricht und wie die Aufnahmen erfolgt sind? Hört man den Stimmen die Biografien ihrer TrägerIinnen, die Kontexte ihres Entstehens an? Wie gelingt es diese Kontexte transparent zu machen? Wem»gehören« akusmatische Stimmen? Wer darf über sie verfügen? Wer sammelt sie, wie, wofür, kategorisiert oder löscht sie? Wer hat überhaupt Zugang zu ihnen? Eng damit verbunden ist die Frage: Wie kann man diesen Stimmen begeg- nen? Nimmt man die Multi-Dimensionalität, die Vielstimmigkeit einer Stimme ernst, so darf diese nie auf nur einen Aspekt, auf nur eine Frage reduziert werden. Dann muss das Material auf eine Weise zugänglich ge macht, die den Stimmen Raum gibt, sie ernst nimmt als Gegenüber und die eine eigene Begegnung allen Hörenden erlaubt. Das kann beispielswei- se über eine nicht-hierarchisierende Anordnung erfolgen. Schwerpunkte, Zusammenhänge, Interpretationen werden nicht mitgeliefert, sondern müssen von den Hörenden selbst hergestellt werden. So kann jeder Akt des Zuhörens zu einer Begegnung werden, oder gar einem Dialog, zu einem Austausch, der neue Assoziationen ermöglicht und neue Fragen aufwirft, mehr als nur ein ›Wer spricht da?‹ 21
A House of Call kann als akusmatische Situation beschrieben werden, die viele Fragen ermöglicht. Es ist die Begegnung des Orchesters mit den Stimmaufnahmen aus dem Imaginary Notebook des Komponisten. Und es ist die Begegnung der Hörenden im Konzertsaal mit diesem Dialog. Die Viel stimmigkeit des Orchesters erlaubt es ihm, auf vielfältige Weise auf die akusmatischen Stimmen zu reagieren. Es hört ihnen zuallererst zu, folgt ihnen, antwortet spielerisch, fragt nach, lässt sich bezirzen, erhebt vehe- menten Einspruch. Es lauscht Hanebs Lied und stimmt schließlich ein; erkennt Kadenzen und Rhythmen wieder, die in den Jazz Eingang gefun- den haben und auf einmal finden beide Seiten eine gemeinsame Sprache. Dort, wo die Aufnahme von Haneb abbricht, kann das Orchester weiter- spielen. Und es ist fast so, als könne es die Widerständigkeit und Unzähm barkeit des Lieds spüren und weitertragen. Manchmal aber kann es viel- leicht auch nur erstarren, bei Lichteneckers Ansagen beispielsweise, oder wie im Schock verharren, fast verstummen in lauter Stille, für einen Mo ment, beim Erklingen von Nun danket alle Gott. Es kann aber seine Stim me(n) auch dann erheben, wenn die Worte fehlen. Immer und immer wie- der aufs Neue. Und neue Fragen stellen. 22
Heiner Goebbels/ Winrich Hopp A House of Call – Ein Liederbuch für Orchester Ein Gespräch Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels schrieb auf Initiative des Ensemble Modern und des Musikfest Berlin einen abendfüllenden Orchesterzyklus, der beim Musikfest Berlin am 30. August 2021 in der Ber liner Philharmonie vom Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni uraufgeführt wurde und seither in zahlreichen Staädten präsentiert wird. Das im Rahmen von BTHVN 2020 geförderte Projekt war ursprünglich für das Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 geplant, musste jedoch pandemiebedingt verschoben werden. Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter des Musikfest Berlin und der Münchner musica viva- Konzertreihe, sprach mit Heiner Goebbels über A House of Call. My Imaginary Notebook, hinter dem sich überraschenderweise ein Liederbuch verbirgt ... WINRICH HOPP : Lieber Heiner, in Deinem künstlerischen Umfeld tauchen immer wieder zwei Komponistennamen auf: der Niederländer Louis An driessen und der Franzose Luc Ferrari. Es scheint mir, für sie hegst Du, neben John Cage und Helmut Lachenmann, eine besondere Sympathie. HEINER GOEBBELS: Ja, beide haben ein anderes, »entspannteres« Verhält nis zu den Hörern. Die Arbeiten von Louis Andriessen kenne und schätze ich seit den 1970er Jahren und bin mit ihm befreundet; mit Luc Ferrari war ich es – er ist leider viel zu früh gegangen ... Ferraris Musik habe ich immer als eine Einladung empfunden, in der es keine starke Hierarchisierung des Materials gibt. Er wollte die Leute nicht überreden, nicht übertrumpfen und nicht schockieren. Eine solche Auto ritätsbeziehung zum Publikum, die man ja durchaus auch bei den Kom ponisten seiner Generation findet, war ihm fremd. WINRICH HOPP : Ich finde es interessant, dass Du das Wort »entspannt« gebrauchst. Die Musik Beethovens steht ja enorm unter Spannung. Adorno 23
hat in seinem Fragment gebliebenen und posthum erschienenen Beet hoven-Buch, das er als eine »Philosophie der Musik« geplant hatte, Musik ganz allgemein in den »intensiven Typ« und den »extensiven Typ« unter- schieden. Der »intensive Typ« ist von der Zeit getrieben, sogar dann, wenn er es selbst ist, der sie aus sich hervortreibt. Dagegen der »extensive Typ«, der Zeit hat und sich Zeit lässt. Natürlich gibt es Mischungen. Was ist das für Dich: Spannung, Entspanntheit? Betrifft das die Kunst selbst, oder steht das für eine Haltung des Künstlers? HEINER GOEBBELS: »Entspannung« ist eigentlich ein polemischer Begriff, denn wenn etwas wirklich entspannt ist, kann es wahnsinnig langweilig sein. Ich meine damit eher, ob dem Publikum auf Augenhöhe begegnet wird oder ob man als Hörer den Eindruck hat, hier glaubt jemand, mich von einer höheren Warte aufklären oder belehren zu müssen. Und ein sol- ches Auftrumpfen stand mir bei Beethoven durchaus im Wege. Ich bin, glaube ich, vom klassisch verengten Repertoirebegriff geschädigt. Denn in der pfälzischen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, hatten wir durch einen glücklichen Zufall in der dortigen Jugendstil-Festhalle zwar ein sehr reichhaltiges Musikprogramm, durch das ich die bedeutends ten Solisten, Orchester und Dirigenten dieser Zeit erleben konnte. Wenn sogar Karajan und die Berliner Philharmoniker in die Pfalz kamen, war das zwar ein Ereignis, hat mich vielleicht beeindruckt, aber berührt hat es mich nicht. Berührt haben mich die langsamen Sätze in den Violin konzerten von Bach mit David Oistrach oder frühe, quasi theatrale Er- fahrungen, wenn Celibidache tanzend über dem Podium schwebte, wenn Mstislaw Rostropowitsch das Publikum eine Viertelstunde warten ließ, oder die bekannte Beethoven-Pianistin Elly Ney als Zugabe Guten Abend, gut’ Nacht spielt und den ganzen Saal zum Mitsingen auffordert. Plötzlich werden die Grenzen dessen überschritten, was ein klassisches, akademi- sches Konzert ist. WINRICH HOPP : Ein Auslöser dafür, nicht nur »Stücke«, sondern eigentlich das Konzertformat zu komponieren? HEINER GOEBBELS: Ja, und dieses zu verändern. Zum Beispiel in den 1980er Jahren der Versuch, mit Jazzmusikern Heiner Müllers Mann im Fahrstuhl als szenisches Konzert zu denken– oder bei den ersten Konzerten mit dem Ensemble Modern mit Mikrofonierung und Licht zu arbeiten und mit anderen Strategien die Stereotypen der Konzertform zumindest 24
zu hinterfragen. Den komplexeren Beethoven, der andere Seiten hat – wie sie Adorno erwähnt hat: den Beethoven der Bagatellen oder des vierten Klavierkonzertes oder der späten Sonaten, habe ich erst viel später kennen- gelernt. WINRICH HOPP : Jetzt hast Du ein neues Orchesterstück geschrieben; ein Format, das bislang nicht deinen Werkkatalog beherrscht. HEINER GOEBBELS: Es gibt bislang nur Surrogate Cities als Zyklus und eine Handvoll Orchesterstücke. Seit 20 Jahren habe ich – mit zwei Ausnahmen – kein Orchesterstück mehr komponiert. Es interessiert mich nicht, wenn ein Stück von mir zwischen Strauß und Beethoven gespielt wird – oder eher vor Beethoven und Strauß. Erst wenn ich die Möglichkeit habe, einen ganzen Abend dramaturgisch zu strukturieren, kann ich dem Publikum eine starke, innere künstlerische Erfahrung anbieten. WINRICH HOPP : In Deinem Stück A House of Call bilden auch Stimmen eine substanzielle Ebene. Das sind Stimmen, denen Du begegnet bist, die Du gefunden und aufgenommen hast. So wie man Gesichtern begegnet. Oder Fotografien. Eigentlich akustische Bewegtbilder. HEINER GOEBBELS: Ja. Wobei mich die tatsächlichen Gesichter nicht interessieren. Bei einer sogenannten »akusmatischen Stimme«, also ei- ner Stimme, deren Quelle man nicht sieht, interessiert mich eher dieser Wunsch, sie sehen zu wollen – der aber unerfüllt bleibt. Dieses Begehren ist das wichtigste Potenzial für die Imagination: Wer singt hier? Wo wird gesungen? Warum? Worüber? Man muss sich als Hörer die Personen, die man hört, selbst inszenieren – über das, was die Stimmen ausstrahlen, was sie als Assoziation, als Bedürfnis wecken. Was wir an Erfahrungen, Sehn süchten, Ängsten oder an Bedürfnissen entwickeln, ist ein wichtiger Anteil an der Aufarbeitung akustischer Erfahrung. WINRICH HOPP : Ist das einfach nur das Nicht-Da des Körpers, das die Ima gination in Kraft treten und das Abwesende ergänzen lässt, oder ist es eine bestimmte Qualität der jeweiligen Stimme? HEINER GOEBBELS: Zuallererst natürlich eine Stimme, von der wir uns angesprochen fühlen, eine eigene, eigentümliche und nicht eine standar disierte Stimme. Eine Stimme, die ihre Körperspur, ihre Geschichte, ihre Erfahrungen nicht verleugnet. Aber es ist in meinen Musiktheater- Stücken auch ein bestimmendes Motiv, dass das Zentrum nicht besetzt ist, dass das, was wir zu sehen erwarten, fehlt – und was sich in mir als Be 25
trachter dabei ereignet. Denn der Wunsch nach einem Zentrum bleibt natürlich. WINRICH HOPP : Das heißt, als Komponist konstituierst Du Abwesenhei ten? HEINER GOEBBELS: Ich glaube, es kann für alle Betrachter reicher sein, wenn das Zentrum nicht besetzt ist. 150 Zuschauer, die in Stifters Dinge sit zen, denken sich 150 verschiedene Geschichten aus, weil niemand auf der Bühne steht, der etwas verkörpert und die Aufmerksamkeit an sich bin- det. Aber alle sehen etwas, das mit den thematischen Feldern zu tun hat, die vom Stück eröffnet werden. Ich rahme, umzingele die Themen. In Stifters Dinge sind es ethnologische, ökologische Fragen. Bei Eislermaterial * ist es nicht unähnlich: Natürlich werden eine politische Zeit und eine poli tische Haltung aufgerufen mit seinem Material. Meine Hoffnung ist, dass wir plötzlich die Chance haben, etwas Eigenes zu erleben und zu denken. Das Eigene zu denken, das ist es auch, was mich an den Architekturen von Louis Andriessen interessiert, beispielsweise wenn er zur Eröffnung seiner Oper De Materie 144 Mal denselben Akkord spielt. Es ist wie ein leeres Gebäude, ein Rohbau; was in diesem Gebäude passiert, das ist Sache der Zuschauer bzw. Zuhörer. WINRICH HOPP : Stell Dir vor, Du bist in einem zentral organisierten Raum, in einer Konzert-, Opern- oder Theateraufführung. Schaffst Du es, das Ge schehen mittels Deiner eigenen Wahrnehmung zu dezentralisieren? Auch die Protagonisten aus dem Fokus zu nehmen? HEINER GOEBBELS: Nicht wirklich. Es interessiert mich immer weniger, wenn eine Aufführung um einen Solisten oder eine Solistin, einen starken Protagonisten oder einen fantastischen Tänzer oder eine virtuose Schau spielerin zentriert ist. Es interessiert mich nicht, mich darin zu spiegeln, mich damit zu identifizieren. WINRICH HOPP : Wie kannst Du Dir dann noch beispielsweise einen Lieder abend vorstellen? HEINER GOEBBELS: Mit meinem neuen Orchesterstück. Das ist ein Liederabend. Es könnte im Untertitel heißen ›Ein Liederabend› oder ›Ein Liederbuch‹. WINRICH HOPP : Du hast dem Stück aber einen anderen Titel gegeben. HEINER GOEBBELS: House of Call. WINRICH HOPP : Das ist ein Ausdruck, der nicht mehr so gängig ist… 26
HEINER GOEBBELS: Ich nutze gern Titel, die unvertraut sind. Hashirigaki oder Eraritjaritjaka zum Beispiel, ein Wort, das schon aus der Welt gefallen war. So auch A House of Call. Noch im 19. Jahrhundert stand es für einen öffentlichen Raum, in dem Mitglieder bestimmter Berufsgruppen, die ge rade unbeschäftigt waren, neue Aufträge bekommen konnten. Also Schrei ner oder Maurer oder vielleicht auch Schauspieler und Musiker. Auch das Konzert sollte ein öffentlicher Raum sein und nicht der persönliche Aus druck des jeweiligen Komponisten. Ich habe den Begriff gefunden im Roaratorio von John Cage, das für mich ein wichtiges Hörstück war. Mit einer nicht enden wollenden Kontinuität – eigentlich wie ein Schamane – spricht Cage einzelne Worte aus Finnegan’s Wake. Er liest sich durch diesen Roman, der de facto über 600 Seiten hat, und sucht dafür nur die Worte aus, die in der Vertikale »James Joyce« erge- ben können. Ich arbeite mit Rufen, mit Anrufungen, Invocations, Incantations, mit Textformen zwischen Litanei und Gebet, mit Gedichten, mit Literatur. Vielleicht trifft House of Call also das, was ich vorhabe: All das hat das Potenzial, sich von diesen Stimmen angerufen zu fühlen. WINRICH HOPP : Dazu kommen die instrumentalen Klänge, und die sind live … HEINER GOEBBELS: … und das Orchester antwortet auf diese Stimmen, es reagiert, unterstützt oder unterbricht sie, oder bringt sie an die Öffentlich keit. WINRICH HOPP : Ist das so eine Art Chor? HEINER GOEBBELS: Ja. Man könnte auch sagen, ein Responsorium, ein weltliches. WINRICH HOPP : Die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Modern be gleiten Dein Schaffen schon sehr lange – und Du sie auch. Ist das eine andere Arbeit, mit Orchestern oder Ensembles zu arbeiten als mit Schau spielern? HEINER GOEBBELS: Das ist ein großer Unterschied. Ich mache eigentlich lieber Theater, weil es ein sozialer Prozess ist, in dem ich über viele Wo chen gemeinsam etwas entwickeln kann. Wenn ich für ein Orchester schreibe, ist das meist ein elendig einsamer Prozess. Diese Einsamkeit ist nicht gut für mich und nicht gut fürs Werk. Bei der Arbeit mit einem Ensemble ist das aber anders. Viele Menschen haben mehr Ideen. Und den 27
Musikern und Musikerinnen des Ensemble Modern, mit denen ich in die- ser Weise seit 35 Jahren Musik und Musiktheater erfinden und aufführen kann, verdanke ich sehr, sehr viel. Ihre künstlerische Intelligenz und ihr selbstverantwortliches Arbeiten machen die kollektive Kreativität so wert- voll – und auch deren Vielstimmigkeit steckt in meinen Arbeiten. [Das Gespräch wurde im Frühjahr 2020 in Berlin geführt.] 28
Biographien Heiner Goebbels Vimbayi Kaziboni Ensemble Modern Orchestra
Heiner Goebbels Heiner Goebbels, 1952 in Neustadt an der Weinstraße geboren, absolvierte in Freiburg und Frankfurt ein Soziologie- und Musikstudium. Von 1976 bis 1981 war er im Sogenannten Linksradikalen Blasorchester aktiv, das er im Umkreis der Frankfurter Sponti-Szene mitgründete. Mit dem Saxophoni sten Alfred Harth bildete er das Duo Goebbels/Harth (1975– 1988), mit Christoph Anders, Alfred Harth und Chris Cutler formte er die Art Rock Band Cassiber (1982 – 1992). Bereits während dieser Zeit schrieb er Theater musiken (unter anderem für Hans Neuenfels, Claus Peymann, Matthias Langhoff und Ruth Berghaus), Filmmusiken (für Helke Sander, Gebrüder Dubini und viele andere) sowie Ballettmusiken. Mitte der 1980er Jahre be gann er eigene Hörstücke, meist auf der Basis von Texten Heiner Müllers, zu komponieren und auch zu inszenieren Es folgten Szenische Konzerte, seit 1988 komponiert er Musik für Ensembles und Orchester. Als Kompo nist hat er mit den wichtigsten Ensembles und Orchestern (Ensemble Modern, London Sinfonietta, Orchestra of the Age of Enlightenment, Ber liner Philharmoniker) und Dirigenten (Lothar Zagrosek, Sir Simon Rattle, Peter Rundel, Peter Eötvös u.v.a.m.) zusammengearbeitet. Seit Beginn der 1990er Jahre komponiert und inszeniert er eigene und weltweit gefeierte Musiktheaterstücke, z.B. Schwarz auf Weiß (1996), Max Black (1998), Eisler material (1998), Hashirigaki (2000), Eraritjaritjaka (2004), Stifters Dinge (2007), I went to the house but did not enter (2008) u.v.a. Manche dieser Musiktheater stücke wurden vom Ensemble Modern Frankfurt, andere vom Théâtre Vidy in Lausanne produziert und zu den wichtigsten internationa- len Theater- und Musikfestivals in Europa, in den USA, Südamerika, Australien und Asien eingeladen. Daneben entstanden zahlreiche Sound- und Videoinstallationen. Von 1999 bis 2018 war Heiner Goebbels als Pro fessor (und von 2003 bis 2011 auch als Geschäftsführender Direktor) am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Justus-Liebig-Uni versität in Gießen. Als Mitbegründer der Hessischen Theaterakademie, der Hessischen Film- und Medienakademie, dem tanzlabor 21 und dem Frank- furt LAB, wie auch als Präsident der Hessischen Theaterakademie und in zahlreichen Vorträgen engagierte er sich für die Ausbildung in den darstel- 30
lenden Künsten wie für avanciertes zeitgenössisches Musiktheater. Seine Anthologie Aesthetik der Abwesenheit (2012) ist in mehrere Sprachen über- setzt worden. Von 2012 bis 2014 war er Künstlerischer Leiter der Ruhr triennale. Heiner Goebbels wurde vielfach ausgezeichnet. 2018 wurde er vom Präsidenten der Justus-Liebig-Universität als erster Amtsinhaber auf die Georg Büchner Professur der JLU berufen. 31
Vimbayi Kaziboni Vimbayi Kaziboni, 1988 in Zimbabwe geboren, ist gegenwärtig künstleri- scher Berater der Boston Lyric Opera, Artist-in-Residence des Internatio nal Contemporary Ensemble und Professor für Orchesterstudien und zeit genössische Musik am Boston Conservatory. Zuvor war er Dirigent an der Internationalen Ensemble Modern Akademie (Frankfurt), Assistenzdiri gent des Ensemble intercontemporain (Paris), Lehrbeauftragter und Or chesterdirektor am Gettysburg College und künstlerischer Leiter der New Philharmonics (Omaha) und des What’s Next? Ensembles (Los Angeles). ). Kaziboni hat Orchester auf der ganzen Welt dirigiert. Dabei trat er in Konzerthallen wie der Carnegie Hall, der Walt Disney Hall, der Royal Festival Hall und Queen Elizabeth Hall, dem Lincoln Center, der Phil harmonie de Paris, der Elbphilharmonie, der Oper Frankfurt, der Sala São Paulo, sowie im Deutschlandfunk und Hessischen Rundfunk auf. Während der Spielzeit 2021/22 gibt Vimbayi Kaziboni seine Debüts in der Berliner Philharmonie, der Kölner Philharmonie, der Tonhalle Düssel dorf, bei der musica viva des Bayerischen Rundfunk, im Wiener Konzert haus, dem Miller Theatre, und bei Festivals wie dem Beethovenfest Bonn, den Donaueschinger Musiktagen und beim Spoleto Festival. Als einer der führenden Interpreten zeitgenössischer Musik seiner Generation, hat er mit vielen KomponistIinnen unserer Zeit zusammengearbeitet, darunter mit Helmut Lachenmann, Steve Reich, George Benjamin, Heiner Goeb- bels, Augusta Read Thomas, George Lewis, Liza Lim, Morten Lauridsen, Dai Fujikura, Rebecca Saunders, Matthias Pintscher, Olga Neuwirth, Bruno Mantovani und Nicolaus A. Huber. Neben der Uraufführung neuer Werke in renommierten Konzerthallen und Festivals weltweit verbindet Vimbayi Kaziboni eine lange Zusammenarbeit mit zwei der führenden Klangkör per für zeitgenössische Musik: dem Ensemble Modern und dem Ensemble intercontemporain, wo er als Assistenzdirigent begann und mit dem er heute häufig als Gastdirigent zusammenarbeitet. In jüngerer Zeit hat er ferner mit dem San Francisco Symphony, der Omaha Symphony, der London Sinfonietta, dem International Contemporary Ensemble (New York), der Jungen Deutschen Philharmonie, dem Ensemble Contre- 32
champs (Genf), dem Grossmann Ensemble (Chicago), der Hamburger Camerata, dem Omnibus Ensemble (Taschkent), der Martha Graham Dance Company (New York), The Dream Unfinished (New York) und etli- chen weiteren zusammengearbeitet. Vimbayi Kaziboni ist ein ehemaliger Fulbright-Stipendiat (2013– 14) und erwarb Abschlüsse an der University of Southern California in Los Angeles und an der Hochschule für Musik und Darstellende Künste in Frankfurt am Main. 33
Ensemble Modern Orchestra Das Ensemble Modern, 1980 gegründet und seit 1985 in Frankfurt am Main beheimatet, ist eines der weltweit führenden Ensembles für Neue Musik. Derzeit vereint das Ensemble runde 20 SolistIinnen aus neun Ländern, deren Herkunft den kulturellen Hintergrund dieser Formation bildet. Das Ensemble Modern ist bekannt für seine weltweit einzigartige Arbeits- und Organisationsweise: Es gibt keine/n künstlerische/n Leiter/in; Projekte, Koproduktionen und finanzielle Belange werden gemeinsam entschieden und getragen. Seine unverwechselbare programmatische Bandbreite um fasst Musiktheater, Tanz- und Videoprojekte, Kammermusik, Ensemble- und Orchesterkonzerte. Tourneen und Gastspiele führen das Ensemble Modern in jährlich ca. 100 Konzerten zu renommierten Festivals und Spielstätten weltweit. 1998 gründete das Ensemble Modern in Frankfurt das weltweit erste Or chester, das ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zur Auf führung bringt: das Ensemble Modern Orchestra (EMO ). Den Kern des von 30 bis zu 130 MusikerIinnen umfassenden Orchesters bilden die Soli- stInnen des Ensemble Modern. Sie werden unterstützt durch Musiker Innen aus der ganzen Welt, zu denen das Ensemble im Laufe seiner über 40-jährigen Tätigkeit Kontakt gewonnen hat. Dazu zählen gleichermaßen junge InstrumentalistInnen wie SpezialistInnen auf dem Gebiet der Neu en Musik wie etwa AbsolventInnen und TeilnehmerInnen der Internatio nalen Ensemble Modern Akademie (IEMA). Die Gründung des Ensemble Modern Orchestra ist ein künstlerisches Plädoyer für die zeitgenössische Orchestermusik. Es bietet den KomponistIinnen unserer Zeit ein hoch qualifiziertes und engagiertes Instrument zur Verwirklichung ihrer Ideen. Die ambitionierten Konzertprogramme des EMO konfrontieren dabei oftmals Auftragskompositionen u.a. von Heiner Goebbels, John Adams oder Enno Poppe mit Schlüsselwerken der Moderne. Renommierte DirigentInnen wie John Adams, George Benjamin, Pierre Boulez, Peter Eötvös, Heinz Holliger, Ingo Metzmacher, Enno Poppe und Markus Stenz leiteten bislang das EMO . Tourneen führten das EMO zu den bedeutends- ten Festivals und Konzerthäusern in Europa wie Concertgebouw Amster 34
dam, Berliner Philharmonie, Alte Oper Frankfurt, Konzerthaus Wien, Elb philharmonie Hamburg, Kölner Philharmonie, Prinzregenten Theater München, Wigmore Hall, Lucerne Festival, Festival d'Automne à Paris, Acht Brücken | Musik für Köln, Klangspuren Schwaz oder Ruhrtriennale. Mehrere Konzertmitschnitte mit dem EMO liegen auf CD vor, unter ande- rem Charles Ives‘ Fourth Symphony, George Benjamins Sudden Time, Harrison Birtwistles Earth Dances – unter Leitung von Pierre Boulez – und Theseus Game sowie Helmut Lachenmanns Schwankungen am Rand, NUN, Kontrakadenz und Ausklang. 35
Mitwirkende EMO Dietmar Wiesner Flöte Jana Machalett Flöte, Bassflöte Delphine Roche Flöte, Piccoloflöte Christian Hommel Oboe Tamon Yashima Oboe Antje Thierbach Oboe, Englischhorn Jaan Bossier Klarinette, Kontrabassklarinette Leonel Matias Quinta Klarinette, Bassklarinette Hugo Queirós Klarinette, Bassklarinette Matthias Stich Klarinette, Bassklarinette, Saxofon Johannes Schwarz Fagott Ronan Whittern Fagott Haruka Yoshida Fagott, Kontrafagott Saar Berger Horn Catherine Eisele Horn Ona Ramos Tintó Horn Ya Chu Yang Horn Sava Stoianov Trompete, Piccolotrompete Nenad Markovic Trompete Stoian Stoianov Trompete Uwe Dierksen Posaune Till Künkler Posaune Michael Büttler Posaune Jozsef Juhasz Tuba Ueli Wiget Klavier Hermann Kretzschmar Klavier, Sampler Rainer Römer Schlagzeug Rumi Ogawa Schlagzeug David Haller Schlagzeug Noah Rosen Schlagzeug Sven Pollkötter Schlagzeug Yu-Ling Chiu Schlagzeug Steffen Ahrens E-Gitarre, Gitarre Filip Erakovic Akkordeon 36
Eva Debonne Harfe Daniel Skala Cymbalon Jagdish Mistry Violine Adonis Alvanis Violine Jae A Shin Violine Silke Meyer-Eggen Violine Yezu Woo Violine Holly Workman Violine William Overcash Violine Michi Stern Violine Giorgos Panagiotidis Violine Wolfgang Bender Violine Enrico Alvares Violine Veronika Paleeva Violine Daniella Strasfogel Violine Diego Ramos Rodríguez Violine Kirsten Harms Violine Megumi Kasakawa Viola Paul Beckett Viola Laura Hovestadt Viola Benoît Morel Viola Robin Kirklar Viola Nefeli Galani Viola Michael Maria Kasper Violoncello Eva Böcker Violoncello Imke Frank Violoncello Nathan Watts Violoncello Charles Watt Violoncello Paul Cannon Kontrabass, E-Bass Jakob Krupp Kontrabass Dominique Chabot Kontrabass Pierre Dekker Kontrabass Felix Dreher, Volker Bernhart [Tontechnik]; Kathrin Schulze [Projektmanagement]; Erik Hein, Sebastian Nier, Merlin Krauch, Jens Miska [Stagemanagement]; Johann Schuppe, Josephine Stamer [Assistenz] 37
FörderpreisträgerInnen der Ernst von Siemens Musikstiftung 2020 und 2021 Zu den begehrten Auszeichnungen der Ernst von Siemens Musikstiftung gehören neben dem berühmten Ernst von Siemens Musikpreis auch die Förderpreise für die jungen, auf die großen Bühnen des internationalen Musiklebens strebenden Komponistinnen und Komponisten unserer Zeit. Die Preise erhielten 2020 die aus Washington stammende Komponistin Catherine Lamb, die Italienerin Francesca Verunelli und Samir Amarouch aus Frankreich; 2021 wurde die Kroatin Mirela Ivičevič, der in Tübingen geborene Malte Giesen und der aus Israel stammende Yair Klartag prämiert. Gemeinsam mit der musica viva des Bayerischen Rundfunks, Münchens traditionsreicher Konzertreihe für Gegenwartsmusik, und dem Ensemble Modern, der weltweit einzigartigen Talentschmiede für die Musik der Zu kunft, präsentiert die Ernst von Siemens Musikstiftung in zwei aufeinan- derfolgenden Konzerten ein speziell kuratiertes Programm mit neuen und neuesten Werken der sechs PreisträgerInnen: in großen Ensembleforma tionen und kammermusikalischen Besetzungen, instrumental und elekt- ronisch, digital und analog, in jedem Fall live und im Großen Haus des Münchner Prinzregententheaters. BR-KLASSIK sendet den Konzertmitschnitt am Dienstag, 12. Oktober 2021, ab 20.05 Uhr im Radio. 39
musica viva München Prinzregententheater 1. Oktober 2021 1. Konzert 18.00 Uhr Mirela Ivičević [*1980] Sweet Dreams [2019] für Ensemble Yair Klartag [*1985] Rationale [2021] für Sopran und Ensemble Catherine Lamb [*1982] Prisma Interius V [2017] für Synthesizer / Harfe, Bassklarinette, Weingläser / Streicher Samir Amarouch [*1991] Electronica-b minor crush [2020] für 21 MusikerInnen Einat Aronstein, Sopran Ensemble Modern David Niemann, Leitung BRticket Telefon national / gebührenfrei 0800 5900 594 Online-Buchung: shop.br-ticket.de 40
musica viva München Prinzregententheater 1. Oktober 2021 2. Konzert 20.30 Uhr Malte Giesen [*1988] 1. Massenprozession [Covid-19-Fassung, 2020] für Ensemble Francesca Verunelli [*1979] Man sitting at the piano [2017/19] für Flöte und Klavier Dietmar Wiesner, Flöte Ensemble Modern David Niemann, Leitung BRticket Telefon national / gebührenfrei 0800 5900 594 Online-Buchung: shop.br-ticket.de 41
Impressum Herausgeber Bayerischer Rundfunk / musica viva Künstlerische Leitung Dr. Winrich Hopp Redaktion Dr. Larissa Kowal-Wolk Konzept / Gestaltung Günter Karl Bose [www. lmn-berlin.de] musica viva Künstlerische Leitung Dr. Winrich Hopp Produktion, Projektorganisation Dr. Pia Steigerwald Redaktion Dr. Larissa Kowal-Wolk Kommunikation, Produktionsassistenz N. N. Büro Bea Rade Bayerischer Rundfunk musica viva Rundfunkplatz 1 D-80335 München Tel.: 00 49-89-5900-42826 mailto: musicaviva@br.de www.br-musica-viva.de
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