A House of Call - 2021 2022 Prinzregententheater - musica viva

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Dienstag                  Ensemble Modern
                                   Orchestra

IX
                    28   20:00 H   Heiner Goebbels
                                          Prinzregententheater
              A
                                                                      2021
                                                                      2022
                                                                 Saison

musica viva
          of Call
          House
Inhalt

         HEINER GOEBBELS
         A House of Call. My Imaginary Notebook

06      Programm
08      Heiner Goebbels: Werkkommentar
12      A House of Call: Teile I – IV
16      Instrumentation / Werkdaten
18      Astrid Schenka: Polivoks. Fragen an akusmatische Stimmen
23      Heiner Goebbels und Winrich Hopp im Gespräch

29      Biographien
         Heiner Goebbels [30]
         Vimbayi Kaziboni [32]
         Ensemble Modern Orchestra [34]
         Mitwirkende EMO [36]

39      Die nächsten musica viva-Konzerte
         1. Oktober 2021, Prinzregententheater
         18.00 Uhr / 20.30 Uhr
         Ensemble Modern, David Niemann, Leitung

42      Impressum
Bitte schalten Sie Ihr Mobiltelefon vor Beginn des Konzertes aus.
BR-KLASSIK sendet am 29. September ab 20. 05 Uhr den Live-Mit­
schnitt des Konzerts vom 28. September im Radio.
musica viva
München
Prinzregententheater
Dienstag, 28. September 2021
20.00 Uhr

HEINER GOEBBELS [*1952]
A House of Call. My Imaginary Notebook [2020]
I    Stein Schere Papier
II Grain de la Voix
III Wax and Violence
IV When Words Gone
Die Teile I – IV folgen attacca aufeinander.

Instrumentation von Heiner Goebbels und Diego Ramos Rodríguez

Kompositionsauftrag von Ensemble Modern, Berliner Festspiele / Musikfest Berlin,
musica viva/ Bayerischer Rundfunk, Elbphilharmonie Hamburg, Kölner
Philharmonie, Wien Modern, beuys2021 und Casa da Música Porto

Ein Projekt im Rahmen von BTHVN 2020

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung
für Kultur und Medien

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musica viva

Heiner Goebbel s und
Hend rik Borowski
Lichtregie

Norb ert O mmer
Klangregie

Ensemble Modern Orchestra
Vimbayi Kaziboni
Leitung

Münchner Erstaufführung
im Rahmen der Ensemble Modern Orchestra Tournee

Das Münchner Gastspiel des Ensemble Modern Orchestra wird
ermöglicht durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

                                   07
Der Begriff »house of call« bezeichnete im England des frühen 19. Jahr­hun­
derts einen öffentlichen Raum, in dem Wander- und Handwerksgesellen
von potentiellen Auftraggebern angeheuert werden konnten.

»a prolonged visit to a house of call« – die Zeile findet sich bei James Joyce
in FINNEGANS WAKE , auf Seite 41, unweit des onomatopoetischen ›roa-
ratorio›, das dem Hörstück von John Cage den Namen geben sollte. Ein
Hör­stück, das mich nachhaltig geprägt hat, weil sich John Cage inmitten
eines Stroms vieler Stimmen, Mesostichon für Mesostichon, durch die 628
Seiten des Romans liest – wie ein ›gesungenes Schreiben der Sprache‹. So
hat Roland Barthes die Rauheit (Körnung) der Stimme beschrieben und
diese Rauheit – le grain de la voix – macht das Gemeinsame der Stimmen
aus, die sich in meinem imaginären Notizbuch eingefunden haben.
                                                             Heiner Goebbels

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Heiner Goebbels: A House of Call

A House of Call ist ein Liederbuch für Orchester, das aus vier Teilen besteht
und die attacca aufeinander folgen: (I) Stein Schere Papier; (II) Grain de la Voix;
(III) Wax and Violence; (IV) When Words Gone. ­

A House of Call ist ein Zyklus mit Rufen, Aufrufen, Anrufungen, Be­schwör­
ungen, Gebeten, Sprechakten, Gedichten und Liedern. Aber nicht das
Orchester ruft, sondern es ist mit Stimmen konfron­tiert; es präsentiert,
unterstützt, begleitet sie, antwortet oder widerspricht ihnen – wie in einem
säkularen »Responsorium«, einer gemein­         schaft­­
                                                      lichen Antwort des
Orchesters auf die vielen einzelnen Stimmen, die mit ihren ganz eigenen
Klängen und Sprachen zu hören sind. Sie sind nur akustisch präsent und
rufen entweder aus der Vergangenheit oder aus meinem persönlichen
Umfeld: eigentümliche Stimmen, traditionelles volkstümliches Material,
Rituale, Literatur.

A House of Call ist kein wissenschaftliches Medienarchiv, sondern eine pho­
nographische Sammlung aus meinem imaginären Notizbuch, das keiner
Systematik folgt, sondern dessen Quellen sich aus vielen Reisen, zufälligen
Begegnungen, verstreuten Recherchen zu künstlerischen Projekten erge-
ben haben, manchmal auch zu Projekten, die letztlich nicht realisiert wor­
den sind.

In diesem Konzert kommen Stimmen zu Wort, die mich berührt, verstört,
begeistert, befremdet haben und die hier meist erstmals auf einer Kon­
zertbühne zu hören sind. Etwa die Hälfte dieser Stimmen wurde mit histo­
rischen Phonographen auf Wachsmatrizen aufgenommen und ihre Ent­
stehung ist oft ambivalent. Vielerlei Gründe mögen zu diesen Aufnahmen
geführt haben: musikethnologische bzw. musik- und sprachwissenschaft­
liche Forschungen, soziologische, anthropologische Interessen, aber auch
rassi­sti­sche Motive, deren koloniale Kontexte diese Aufnahmen geprägt
haben. Manchmal lassen sich die Beweggründe auch nicht voneinander
trennen.

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Die Widersprüche kann ich nicht ausräumen, sondern nur künstlerisch
bearbeiten: Was verbindet oder was trennt die Aufnahmen, die in den
1910er Jahren in Paris mit einem armenischen Opernsänger gemacht wur-
den, von den Aufzeichnungen der Stimmen georgischer Kriegsgefangener
im Lager Mannheim etwa zur selben Zeit; was unterscheidet die Aufnah-
men des Musikwissenschaftlers Samuel Baud-Bovy, der Anfang der 1930er
Jahre auf griechischen Inseln unterwegs war und Ekaterini Mangoúlia
aufgenommen hat, von denen eines selbsternannten Anthropologen, der
zur gleichen Zeit in Südwestafrika Menschen in eine Polizeistation einbe-
stellt, sie ausmisst, von ihnen auf gewalttätige Weise Gesichtsmasken
nimmt und Tonaufnahmen macht, für die er sich danach nicht weiter
interessiert; was könnten die rituellen Sprachformen im schamanistischen
Diskurs von Luciano und Victor Martínez mit denen von Heiner Müller,
Gertrude Stein oder Samuel Beckett gemeinsam haben; und was passiert
bei den viel­fachen Medienwechseln von den historischen Walzen zu digi-
talen Samp­les, von den Aufnahmen zum Konzert, vom Konzert zum Buch?

Die Musik ist eine direkte Antwort auf die Komplexität und Rauheit der
Stimmen, ihre Ausstrahlung und die Geschichte dieser Aufnahmen.

Das zusätzlich zur Komposition entstandene Buch A House of Call. Material­
sammlung (Neofelis Verlag, 2021; siehe QR-Code) bietet Einblick in die Ma­­
te­rialien, die Hintergründe und die Fragen, die sich zwischen Bewahren
und Aneignen stellen.

Beide Arbeiten – die Komposition des Orchesterstücks und die Material­
ausgabe der Recherchen in Buchform wurden im März 2020 fertiggestellt.

                                   10
I
STEIN SCHERE PAPIER

INTROITUS (A RESPONSE TO RÉPONS)
Pierre Boulez 1981 | Cassiber 1982

IMMER DEN GLEICHEN STEIN
Heiner Müller, Aufnahmeort und -datum unbekannt

UNDER CONSTRUCTION [2019]
Baustelle, Berlin 2017 | Ilse Ritter, Köln 1984

Der erste der vier Teile, Stein Schere Papier, beginnt – neben einem immer
glei­chen Orgel-Loop – mit einer Verneigung vor Pierre Boulez’ bahnbre-
chendem Orchesterwerk Répons. Dem dort aufgenommenen Prinzip des
Call and Response folgt Heiner Müllers Sisyphos-Text: »Immer den glei-
chen Stein – auch in einer Berliner Baustelle«.

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II
GRAIN DE LA VOIX

NU STIRI /
Giorgi Nareklishvili 1916 | Platon Machaidze, Mannheim 1916

AGASH AYAK /
Amre Kashaubayev, vermutl. Moskau ca. 1925

1346 /
Hamidreza Nourbakhsh, Teheran 2010

KRUNK /
Armenak Shahmuradian, Paris 1914 | Zabelle Panosian, New York 1917

Grain de la voix, der Titel des zweiten Teils, spielt auf die einzigartige Rau­
heit / die Körnung der menschlichen Stimme an, die von Roland Barthes
da verortet wird, wo Gesang und Sprache zusammenstoßen, wo die Stimme
zum »gesungene[n] Schreiben der Sprache« wird. Es kommen Stimmen aus
Re­gionen um den Kaukasus zu Wort, die nicht nur die Spuren der frühen
Auf­zeichnungssysteme mit sich tragen, sondern auch die Spuren tragi-
scher Biographien.

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III
WAX AND VIOLENCE

TOCCATA (VOWELS)
Carl Stumpf, Berlin 1916 | Judith Barseleysen, Aasiaat 1906 |
Erich von Hornbostel, Berlin 1907 | Abigail Bolars, Uummannaq 1906

ACHTUNG AUFNAHME
Hans Lichtenecker, Berseba 1931

NUN DANKET ALLE GOTT
Schulkinder, Berseba 1931

TI GU GO | NÎGA MÎ (SOME OF THEM SAY)
Haneb, Farm Lichtenstein bei Windhoek 1931

Wax and Violence, der Titel des dritten Teils, verweist auf die zu Beginn des
20. Jahrhunderts entwickelte Aufnahmetechnik mit Wachszylindern. Sie
er­möglichte erstmals das Fixieren von Sprache und Klängen und löste eine
enthusiastische Sammelwut der WissenschaftlerInnen aus, die in ver­
meint­lichem Pioniergeist, bewaffnet mit oft zweifelhaften Ideologien und
ihren Phonographen, Material für diverse Klangarchive sammelten. Den
noch spielerisch anmutenden Probeaufnahmen im ersten Satz sind im
zwei­ten die Ansagen von Hans Lichtenecker gegenübergestellt, der mit ras­
sistischen Motiven Aufnahmen mit Kindern, Frauen und Männern machte
– Nachfahren der Nama und Herero, die eine Generation zuvor in einem
der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts durch deutsche Soldaten nahezu
ausgelöscht wurden. Schulkinder der Nama singen für ihn ein altes, deut-
sches Kirchenlied. Der Aufnahme mit Haneb wohnt – so zeigen aktuelle
Re­­cherchen – eine subversiv widerständige Kraft inne und auch das Or­­
chester findet hier wieder zu seiner Sprache.

                                    14
IV
WHEN WORDS GONE

BAKAKI (DIÁLOGO)
Luciano und Victor Martínez, Quebrada Isue 1980

SCHLÄFT EIN LIED IN ALLEN DINGEN
Margret Goebbels, Berlin 2017

KALIMÉRISMA /
Ekaterini Mangoúlia, Kalymnos 1930

WHAT WHEN WORDS GONE
Samuel Beckett, 1983

Im vierten und letzten Teil, When Words Gone, verschiebt sich der Fokus
auf andere Aspekte von Sprache: als Sprechakt, als Reim, als Klage, als Be­­
schwörung. Wir hören einen Auszug eines Rituals aus dem Amazonas­ge­
biet, die Rezitation eines Gedichts durch eine Frau, deren Sprache langsam
schon verschwunden scheint, ein als Klagelied gesungener Morgengruß an
die auf See Vermissten und schließlich Zeilen aus einem der letzten Texte
von Samuel Beckett, in dem die Narration ganz in Rhythmus und Klang
überführt wird. Wer spricht noch, wenn die Worte fehlen?

Die Teile I bis IV und ihre Sätze folgen attacca aufeinander.

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A House of Call
Instrumentation von Heiner Goebbels und
Diego Ramos Rodríguez

3 Flöten (2. auch Bassflöte, 3. auch Piccolo)
3 Oboen (3. auch Englisch Horn)
3 Klarinetten in B (1. auch Kontrabassklarinette in B, 2. und 3. auch Bass­
klarinette in B)
Tenorsaxofon in B (auch Sopransaxofon in B und Bassklarinette in B)
3 Fagotte (3. auch Kontrafagott)

4 Hörner in F
3 Trompeten in C (1. auch Piccolo Trompete)
3 Posaunen
Tuba

5 Pauken (1 SpielerIn)

Schlagzeug (4 SpielerInnen):
Marimba (5 Oktaven), Vibraphon, Xylophon, Crotales (2 Oktaven)
Röhrenglocken (1 ½ Oktaven), 2 Glockenspiele, Donnerblech, Tamtam,
Gong, Hängende Becken (China Splash, Ride), Becken(a due), Hi-Hat, Snare
Drums, Wirbeltrommel, 4 Tomtoms, Conga, 2 Bongos, Große Trommel,
Kickdrum, Tamburin, Triangel, Ölfass, 2 Metallplatten, Bremstrommel,
Holz­platte, Holzbox (medium), Schellen, Windspiele, Kastagnetten, Rassel,
Sistrum (Rahmenrassel), Cabassa, Kuhglocken (klein), 3 Holzblöcke, 2
Peitschen, Claves (Klanghölzer)

Cymbalon (oder Persische Santur)
Harfe
Akkordeon

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Elektrische und akustische Gitarre
Klavier (mit 2 E-Bows)
Sampler

8 Violinen I, 7 Violinen II, 6 Violen, 5 Violoncellos, 4 Kontrabässe (1. auch E­­-
Bass)

Mit kompletter Mikrofonierung und Verstärkung aller Instrumente

Stand der Instrumentation: April 2021

Entstehungszeit: 2020
Auftraggeber: Kompositionsauftrag von Ensemble Modern, Berliner
Festspiele / Musikfest Berlin, musica viva / Bayerischer Rundfunk,
Elbphilharmonie Hamburg, Kölner Philharmonie, Wien Modern,
beuys2021 und Casa da Música Porto
Uraufführung: 30. August 2021 in der Philharmonie, Berlin, durch das
Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayj Kaziboni
mit Heiner Goebbels und Hendrik Borowski (Lichtregie) und
Norbert Ommer (Klangregie)

                                       17
Astrid Schenka:
Polivoks. Fragen an akusmatische Stimmen

Die menschliche Stimme ist Ursprung einer ganz besonderen Klang­
erfahrung. Die Stimme ist – als ein mögliches Medium von Sprache – eines
der wichtigsten Kommunikationsinstrumente. Sie kann als Transport­
mittel für Gedanken und Botschaften dienen, für das Äußern von inne­­­­­-
ren Zuständen, für Anrufungen, Gebete und Kriegserklärungen. Sie kann
schrei­en, sprechen, singen, flüstern, stottern, brechen, kippen, zittern, ver-
stummen. Zu ihr gehört immer beides: ihre Klangqualität und ihr In­­
formationsgehalt. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen, was
aber nicht bedeutet, dass sie immer übereinstimmen müssen. Zu manchen
Stimmen fühlen wir uns sofort hingezogen oder sind fasziniert von ihnen,
während uns andere oft ohne konkreten Grund Abstand nehmen lassen,
uns eine Gänsehaut verschaffen oder sogar abstoßen; und manchmal ge­­
schieht alles gleichzeitig. Doch: Fasziniert uns die Stimme selbst oder die
Person dahinter? Machen wir da einen Unterschied? Verweist eine Stim­
me immer eindeutig auf einen bestimmten Menschen? Mitunter wird die
Stimme als individueller Fingerabdruck bezeichnet (Jenny Schrödl). Die
Individualität – das heißt auch die Wiedererkennbarkeit – einer Stimme
muss nicht automatisch zu einer Individualisierung des Sprechenden füh-
ren. Wenn wir auf einmal ein Foto der Radiomoderatorin sehen, deren
Stimme uns seit Jahren begleitet und beruhigt oder begeistert, kann es uns
zutiefst verstören, wenn dieses Foto so gar nicht unserer Vorstellung ent-
spricht. Wir haben uns ein eigenes Bild gemacht, anhand der stimmlichen
Anhaltspunkte. Oder konkreter: Wir konnten uns mehrere Bilder machen.
Genau diese Offenheit und Komplexität in der Stimme, die wir nicht
sehen, wird – unwiederbringlich – durch das Foto zerstört.
Stimmen, die wir hören, aber deren Ursprung wir nicht sehen, nennt man
akusmatische Stimmen. Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff
geht angeblich auf Pythagoras zurück, der seine Vorlesungen gern hinter

                                     18
ei­nem Vorhang sitzend hielt, so dass sich seine SchülerInnen besser auf
das Gesagte konzentrieren konnten. Hören wir genauer hin und zu – so wie
Pytha­goras es intendierte –, wenn wir die sprechende oder singende Person
nicht sehen? Sind wir weniger abgelenkt? Sind wir freier im Assoziieren?
Was fehlt, wenn wir nicht sehen, wer spricht? Woran heften wir den
Klang, die Informationen und unsere Eindrücke, wenn die Quelle der
Stimme nicht verfügbar ist? Wonach hören wir? Wonach fragen wir?

Eine der ersten Fragen ist meist: Wer spricht da? Die Musik­wissen­schaft­
lerin Nina Eidsheim beschreibt diese Frage als akusmatische Frage und
betont gleichzeitig die Unmöglichkeit einer Antwort. Die Identität und
Bedeutung einer Stimme ist nie eindeutig mit der Frage nach der sprechen-
den Person beantwortet. Unproduktiv ist die Frage zudem, weil es die
Stimme reduziert auf die Information des ›Wer‹. Wir können eine Stimme
nur als multidimensionalen, nicht abgeschlossenen Prozess verstehen, als
Vielheit. Die Polyphonie der Stimme, ihre verschiedenen Merkmale, Facet­
ten und Dimensionen verweisen eben nicht auf ein klar umrissenes,
geschlossenes Individuum, das es so auch gar nicht gibt. Die Antwort auf
die Frage ›Wer spricht da?‹ sind stattdessen viele weitere Fragen. Akus­
matische Stimmen erlauben uns – und zwingen uns – zu einem anderen
Hören. Sie werfen uns bestenfalls auf uns selbst zurück. Wir müssen aus-
füllen, was sie nicht verraten. Wir müssen mehr fragen als ›Wer spricht
da?‹

Zum Beispiel: Wer spricht wie? Das betrifft unter anderem den Klang
einer Stimme, ihren Rhythmus, die Wortwahl, die Zuweisung eines Ge­­
schlechts. Jede Person wird in einer Stimme etwas anderes hören. Und die
immer gleiche Person wird zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiede-
nen Kontexten eine Stimme auch anders wahrnehmen. Akusmatische
Stimmen sind zudem immer vermittelt durch Technik; die Aufzeichnung
einer Stimme ist nicht die Stimme selbst. Es kommt vor, dass die Quali­-
tät der Aufnahme bestimmte Assoziationen hervorruft – ein besonders
starkes Rauschen oder Knistern oder Kratzen beispielsweise mag auf ein
besonders hohes Alter der Aufnahme schließen lassen. Nebengeräusche
auf der Aufnahme können uns ab- und fehllenken. Und wie gehen wir
mit Stille um? Ist sie ein Schweigen? Ein technischer Fehler? Wann

                                   19
schwei­­gen Stimmen, und wie? All diese Aspekte verändern, wie wir zuhö-
ren.

Sollte eine weitere Frage also nicht lauten: ›Wer hört da?‹ – Der Ursprung
ei­ner Stimme ist nicht die sprechende oder singende – es ist die hörende
Person (Eidsheim). Aus welcher Position heraus man hört, mit welchem
individuellen und gesellschaftlichen Hintergrund, mit welchem Wissen
über die Stimmen, wird das Hörerlebnis verändern. Und es verändert die
Fragen, die sich stellen, weit über ein ›Wer spricht da?‹ hinaus.

Zum Beispiel: Von wo und warum sprechen die Stimmen? Und: Wo sind
sie, wenn sie nicht sprechen? Die Stimmen, die in Heiner Goebbels’ Or­­
chester­zyklus A House of Call. My Imaginary Notebook zu hören sind, stam-
men aus seiner ganz persönlichen Sammlung und aus ganz unterschiedli-
chen Quellen. Doch wie wirken sich die Umstände ihres Entstehens auf
unseren Höreindruck aus? Welchen Unterschied macht es, zu wissen, wer
dort warum spricht und wie die Aufnahmen erfolgt sind? Hört man den
Stimmen die Biografien ihrer TrägerIinnen, die Kontexte ihres Entstehens
an? Wie gelingt es diese Kontexte transparent zu machen?

Wem»gehören« akusmatische Stimmen? Wer darf über sie verfügen? Wer
sammelt sie, wie, wofür, kategorisiert oder löscht sie? Wer hat überhaupt
Zu­gang zu ihnen?

Eng damit verbunden ist die Frage: Wie kann man diesen Stimmen begeg-
nen? Nimmt man die Multi-Dimensionalität, die Vielstimmigkeit einer
Stimme ernst, so darf diese nie auf nur einen Aspekt, auf nur eine Frage
reduziert werden. Dann muss das Material auf eine Weise zugänglich ge­­
macht, die den Stimmen Raum gibt, sie ernst nimmt als Gegenüber und
die eine eigene Begegnung allen Hörenden erlaubt. Das kann beispielswei-
se über eine nicht-hierarchisierende Anordnung erfolgen. Schwer­punk­te,
Zusammenhänge, Interpretationen werden nicht mitgeliefert, son­­dern
müssen von den Hörenden selbst hergestellt werden. So kann jeder Akt des
Zuhörens zu einer Begegnung werden, oder gar einem Dialog, zu einem
Austausch, der neue Assoziationen ermöglicht und neue Fragen aufwirft,
mehr als nur ein ›Wer spricht da?‹

                                   21
A House of Call kann als akusmatische Situation beschrieben werden, die
viele Fragen ermöglicht. Es ist die Begegnung des Orchesters mit den
Stimmaufnahmen aus dem Imaginary Notebook des Komponisten. Und es ist
die Begegnung der Hörenden im Konzertsaal mit diesem Dialog. Die Viel­
stimmigkeit des Orchesters erlaubt es ihm, auf vielfältige Weise auf die
akusmatischen Stimmen zu reagieren. Es hört ihnen zuallererst zu, folgt
ihnen, antwortet spielerisch, fragt nach, lässt sich bezirzen, erhebt vehe-
menten Einspruch. Es lauscht Hanebs Lied und stimmt schließlich ein;
erkennt Kadenzen und Rhythmen wieder, die in den Jazz Eingang gefun-
den haben und auf einmal finden beide Seiten eine gemeinsame Sprache.
Dort, wo die Aufnahme von Haneb abbricht, kann das Orchester weiter-
spielen. Und es ist fast so, als könne es die Widerständigkeit und Unzähm­
barkeit des Lieds spüren und weitertragen. Manchmal aber kann es viel-
leicht auch nur erstarren, bei Lichteneckers Ansagen beispielsweise, oder
wie im Schock verharren, fast verstummen in lauter Stille, für einen Mo­­
ment, beim Erklingen von Nun danket alle Gott. Es kann aber seine Stim­
me(n) auch dann erheben, wenn die Worte fehlen. Immer und immer wie-
der aufs Neue. Und neue Fragen stellen.

                                   22
Heiner Goebbels/ Winrich Hopp
A House of Call – Ein Liederbuch für Orchester
Ein Gespräch

Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels schrieb auf Initiative des
Ensemble Modern und des Musikfest Berlin einen abendfüllenden
Orchester­zyklus, der beim Musikfest Berlin am 30. August 2021 in der Ber­
liner Philharmonie vom Ensemble Modern Orchestra unter der Lei­tung
von Vimbayi Kaziboni uraufgeführt wurde und seither in zahlreichen
Staädten präsentiert wird. Das im Rahmen von BTHVN 2020 geförderte
Projekt war ursprünglich für das Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 geplant,
muss­te jedoch pandemiebedingt verschoben werden. Winrich Hopp,
Künst­leri­scher Leiter des Musikfest Berlin und der Münchner musica viva-
Konzertreihe, sprach mit Heiner Goebbels über A House of Call. My
Ima­gi­nary Notebook, hinter dem sich überraschenderweise ein Liederbuch
verbirgt ...

WINRICH HOPP :     Lieber Heiner, in Deinem künstlerischen Umfeld tauchen
immer wieder zwei Komponistennamen auf: der Niederländer Louis An­­
driessen und der Franzose Luc Ferrari. Es scheint mir, für sie hegst Du,
neben John Cage und Helmut Lachenmann, eine besondere Sympathie.
HEINER GOEBBELS: Ja, beide haben ein anderes, »entspannteres« Ver­hält­
nis zu den Hörern. Die Arbeiten von Louis Andriessen kenne und schätze
ich seit den 1970er Jahren und bin mit ihm befreundet; mit Luc Ferrari war
ich es – er ist leider viel zu früh gegangen ...
Ferraris Musik habe ich immer als eine Einladung empfunden, in der es
keine starke Hierarchisierung des Materials gibt. Er wollte die Leute nicht
überreden, nicht übertrumpfen und nicht schockieren. Eine solche Auto­
ri­tätsbeziehung zum Publikum, die man ja durchaus auch bei den Kom­
ponisten seiner Generation findet, war ihm fremd.
WINRICH HOPP : Ich finde es interessant, dass Du das Wort »entspannt«
gebrauchst. Die Musik Beethovens steht ja enorm unter Spannung. Adorno

                                   23
hat in seinem Fragment gebliebenen und posthum erschienenen Beet­
hoven-Buch, das er als eine »Philosophie der Musik« geplant hatte, Mu­­sik
ganz allgemein in den »intensiven Typ« und den »extensiven Typ« unter-
schieden. Der »intensive Typ« ist von der Zeit getrieben, sogar dann, wenn
er es selbst ist, der sie aus sich hervortreibt. Dagegen der »extensive Typ«,
der Zeit hat und sich Zeit lässt. Natürlich gibt es Mischungen. Was ist das
für Dich: Spannung, Entspanntheit? Betrifft das die Kunst selbst, oder
steht das für eine Haltung des Künstlers?
HEINER GOEBBELS: »Entspannung« ist eigentlich ein polemischer Begriff,
denn wenn etwas wirklich entspannt ist, kann es wahnsinnig langweilig
sein. Ich meine damit eher, ob dem Publikum auf Augenhöhe begegnet
wird oder ob man als Hörer den Eindruck hat, hier glaubt jemand, mich
von einer höheren Warte aufklären oder belehren zu müssen. Und ein sol-
ches Auftrumpfen stand mir bei Beethoven durchaus im Wege.
Ich bin, glaube ich, vom klassisch verengten Repertoirebegriff geschädigt.
Denn in der pfälzischen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, hatten
wir durch einen glücklichen Zufall in der dortigen Jugendstil-Festhalle
zwar ein sehr reichhaltiges Musikprogramm, durch das ich die bedeutends­
ten Solisten, Orchester und Dirigenten dieser Zeit erleben konnte. Wenn
sogar Karajan und die Berliner Philharmoniker in die Pfalz kamen, war
das zwar ein Ereignis, hat mich vielleicht beeindruckt, aber berührt hat es
mich nicht. Berührt haben mich die langsamen Sätze in den Violin­
konzerten von Bach mit David Oistrach oder frühe, quasi theatrale Er­­­-
fahr­ungen, wenn Celibidache tanzend über dem Podium schwebte, wenn
Mstislaw Rostropowitsch das Publikum eine Viertelstunde warten ließ,
oder die bekannte Beethoven-Pianistin Elly Ney als Zugabe Guten Abend,
gut’ Nacht spielt und den ganzen Saal zum Mitsingen auffordert. Plötzlich
werden die Grenzen dessen überschritten, was ein klassisches, akademi-
sches Konzert ist.
WINRICH HOPP : Ein Auslöser dafür, nicht nur »Stücke«, sondern eigentlich
das Konzertformat zu komponieren?
HEINER GOEBBELS: Ja, und dieses zu verändern. Zum Beispiel in den
1980er Jahren der Versuch, mit Jazzmusikern Heiner Müllers Mann im
Fahrstuhl als szenisches Konzert zu denken– oder bei den ersten Konzerten
mit dem Ensemble Modern mit Mikrofonierung und Licht zu arbeiten
und mit anderen Strategien die Stereotypen der Konzertform zumindest

                                    24
zu hinterfragen. Den komplexeren Beethoven, der andere Seiten hat – wie
sie Adorno erwähnt hat: den Beethoven der Bagatellen oder des vierten
Klavierkonzertes oder der späten Sonaten, habe ich erst viel später kennen-
gelernt.
WINRICH HOPP : Jetzt hast Du ein neues Orchesterstück geschrieben; ein
Format, das bislang nicht deinen Werkkatalog beherrscht.
HEINER GOEBBELS: Es gibt bislang nur Surrogate Cities als Zyklus und eine
Handvoll Orchesterstücke. Seit 20 Jahren habe ich – mit zwei Ausnahmen
– kein Orchesterstück mehr komponiert. Es interessiert mich nicht, wenn
ein Stück von mir zwischen Strauß und Beethoven gespielt wird – oder
eher vor Beethoven und Strauß. Erst wenn ich die Möglichkeit habe, einen
ganzen Abend dramaturgisch zu strukturieren, kann ich dem Publikum
eine starke, innere künstlerische Erfahrung anbieten.
WINRICH HOPP : In Deinem Stück A House of Call bilden auch Stimmen
eine substanzielle Ebene. Das sind Stimmen, denen Du begegnet bist, die
Du gefunden und aufgenommen hast. So wie man Gesichtern begegnet.
Oder Fotografien. Eigentlich akustische Bewegtbilder.
HEINER GOEBBELS: Ja. Wobei mich die tatsächlichen Gesichter nicht
interes­sieren. Bei einer sogenannten »akusmatischen Stimme«, also ei-
ner Stim­me, deren Quelle man nicht sieht, interessiert mich eher dieser
Wunsch, sie sehen zu wollen – der aber unerfüllt bleibt. Dieses Begehren
ist das wichtigste Potenzial für die Imagination: Wer singt hier? Wo wird
gesungen? Warum? Worüber? Man muss sich als Hörer die Personen, die
man hört, selbst inszenieren – über das, was die Stimmen ausstrahlen, was
sie als Assoziation, als Bedürfnis wecken. Was wir an Erfahrungen, Sehn­
süchten, Ängsten oder an Bedürfnissen entwickeln, ist ein wichtiger Anteil
an der Aufarbeitung akustischer Erfahrung.
WINRICH HOPP : Ist das einfach nur das Nicht-Da des Körpers, das die Ima­
gination in Kraft treten und das Abwesende ergänzen lässt, oder ist es eine
bestimmte Qualität der jeweiligen Stimme?
HEINER GOEBBELS: Zuallererst natürlich eine Stimme, von der wir uns
angesprochen fühlen, eine eigene, eigentümliche und nicht eine standar­
disierte Stimme. Eine Stimme, die ihre Körperspur, ihre Geschichte, ihre
Erfahrungen nicht verleugnet. Aber es ist in meinen Musiktheater-
Stücken auch ein bestimmendes Motiv, dass das Zentrum nicht besetzt ist,
dass das, was wir zu sehen erwarten, fehlt – und was sich in mir als Be­­

                                   25
trachter dabei ereignet. Denn der Wunsch nach einem Zentrum bleibt
natürlich.
WINRICH HOPP : Das heißt, als Komponist konstituierst Du Ab­wesen­hei­
ten?
HEINER GOEBBELS: Ich glaube, es kann für alle Betrachter reicher sein,
wenn das Zentrum nicht besetzt ist. 150 Zuschauer, die in Stifters Dinge sit­
zen, denken sich 150 verschiedene Geschichten aus, weil niemand auf der
Bühne steht, der etwas verkörpert und die Aufmerksamkeit an sich bin­-
det. Aber alle sehen etwas, das mit den thematischen Feldern zu tun hat,
die vom Stück eröffnet werden. Ich rahme, umzingele die Themen. In
Stifters Dinge sind es ethnologische, ökologische Fragen. Bei Eislermaterial *
ist es nicht unähnlich: Natürlich werden eine politische Zeit und eine poli­
tische Haltung aufgerufen mit seinem Material. Meine Hoffnung ist, dass
wir plötzlich die Chance haben, etwas Eigenes zu erleben und zu denken.
Das Eigene zu denken, das ist es auch, was mich an den Architekturen von
Louis Andriessen interessiert, beispielsweise wenn er zur Eröffnung seiner
Oper De Materie 144 Mal denselben Akkord spielt. Es ist wie ein leeres
Gebäude, ein Rohbau; was in diesem Gebäude passiert, das ist Sache der
Zu­schauer bzw. Zuhörer.
WINRICH HOPP : Stell Dir vor, Du bist in einem zentral organisierten Raum,
in einer Konzert-, Opern- oder Theateraufführung. Schaffst Du es, das Ge­­
sche­hen mittels Deiner eigenen Wahrnehmung zu dezentralisieren? Auch
die Protagonisten aus dem Fokus zu nehmen?
HEINER GOEBBELS: Nicht wirklich. Es interessiert mich immer weniger,
wenn eine Aufführung um einen Solisten oder eine Solistin, einen starken
Protagonisten oder einen fantastischen Tänzer oder eine virtuose Schau­
spielerin zentriert ist. Es interessiert mich nicht, mich darin zu spiegeln,
mich damit zu identifizieren.
WINRICH HOPP : Wie kannst Du Dir dann noch beispielsweise einen Lieder­
abend vorstellen?
HEINER GOEBBELS: Mit meinem neuen Orchesterstück. Das ist ein
Lieder­abend. Es könnte im Untertitel heißen ›Ein Liederabend› oder ›Ein
Liederbuch‹.
WINRICH HOPP : Du hast dem Stück aber einen anderen Titel gegeben.
HEINER GOEBBELS: House of Call.

WINRICH HOPP : Das ist ein Ausdruck, der nicht mehr so gängig ist…

                                     26
HEINER GOEBBELS:        Ich nutze gern Titel, die unvertraut sind. Hashirigaki
 oder Eraritjaritjaka zum Beispiel, ein Wort, das schon aus der Welt gefallen
 war. So auch A House of Call. Noch im 19. Jahrhundert stand es für einen
 öffentlichen Raum, in dem Mitglieder bestimmter Berufsgruppen, die ge­­
 rade unbeschäftigt waren, neue Aufträge bekommen konnten. Also Schrei­
 ner oder Maurer oder vielleicht auch Schauspieler und Musiker. Auch das
 Konzert sollte ein öffentlicher Raum sein und nicht der persönliche Aus­
 druck des jeweiligen Komponisten.
 Ich habe den Begriff gefunden im Roaratorio von John Cage, das für mich
 ein wichtiges Hörstück war. Mit einer nicht enden wollenden Kontinuität
 – eigentlich wie ein Schamane – spricht Cage einzelne Worte aus Finnegan’s
 Wake. Er liest sich durch diesen Roman, der de facto über 600 Seiten hat,
 und sucht dafür nur die Worte aus, die in der Vertikale »James Joyce« erge-
ben können.
Ich arbeite mit Rufen, mit Anrufungen, Invocations, Incantations, mit
Text­formen zwischen Litanei und Gebet, mit Gedichten, mit Literatur.
Vielleicht trifft House of Call also das, was ich vorhabe: All das hat das
Poten­zial, sich von diesen Stimmen angerufen zu fühlen.
WINRICH HOPP : Dazu kommen die instrumentalen Klänge, und die sind
 live …
HEINER GOEBBELS: … und das Orchester antwortet auf diese Stimmen, es
reagiert, unterstützt oder unterbricht sie, oder bringt sie an die Öffentlich­
keit.
WINRICH HOPP : Ist das so eine Art Chor?

HEINER GOEBBELS: Ja. Man könnte auch sagen, ein Responsorium, ein
 weltliches.
WINRICH HOPP : Die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Modern be­­
­gleiten Dein Schaffen schon sehr lange – und Du sie auch. Ist das eine
 andere Arbeit, mit Orchestern oder Ensembles zu arbeiten als mit Schau­
 spie­lern?
HEINER GOEBBELS: Das ist ein großer Unterschied. Ich mache eigentlich
lieber Theater, weil es ein sozialer Prozess ist, in dem ich über viele Wo­­
chen gemeinsam etwas entwickeln kann. Wenn ich für ein Orchester
schrei­be, ist das meist ein elendig einsamer Prozess. Diese Einsamkeit ist
nicht gut für mich und nicht gut fürs Werk. Bei der Arbeit mit einem
Ensemble ist das aber anders. Viele Menschen haben mehr Ideen. Und den

                                     27
Musikern und Musikerinnen des Ensemble Modern, mit denen ich in die-
ser Weise seit 35 Jahren Musik und Musiktheater erfinden und aufführen
kann, verdanke ich sehr, sehr viel. Ihre künstlerische Intelligenz und ihr
selbstverantwortliches Arbeiten machen die kollektive Kreativität so wert-
voll – und auch deren Vielstimmigkeit steckt in meinen Arbeiten.

                        [Das Gespräch wurde im Frühjahr 2020 in Berlin geführt.]

                                    28
Biographien

Heiner Goebbels
Vimbayi Kaziboni
Ensemble Modern Orchestra
Heiner Goebbels

Heiner Goebbels, 1952 in Neustadt an der Weinstraße geboren, absolvierte
in Freiburg und Frankfurt ein Soziologie- und Musikstudium. Von 1976 bis
1981 war er im Sogenannten Linksradikalen Blasorchester aktiv, das er im
Um­kreis der Frankfurter Sponti-Szene mitgründete. Mit dem Saxophoni­
sten Alfred Harth bildete er das Duo Goebbels/Harth (1975– 1988), mit
Christoph Anders, Alfred Harth und Chris Cutler formte er die Art Rock
Band Cassiber (1982 – 1992). Bereits während dieser Zeit schrieb er Theater­
musi­ken (unter anderem für Hans Neuenfels, Claus Peymann, Matthias
Langhoff und Ruth Berghaus), Filmmusiken (für Helke Sander, Gebrüder
Dubini und viele andere) sowie Ballettmusiken. Mitte der 1980er Jahre be­­
gann er eigene Hörstücke, meist auf der Basis von Texten Heiner Müllers,
zu komponieren und auch zu inszenieren Es folgten Szenische Konzerte,
seit 1988 komponiert er Musik für Ensembles und Orchester. Als Kompo­
nist hat er mit den wichtigsten Ensembles und Orchestern (Ensemble
Modern, London Sinfonietta, Orchestra of the Age of Enlightenment, Ber­
li­ner Philharmoniker) und Dirigenten (Lothar Zagrosek, Sir Simon Rattle,
Peter Rundel, Peter Eötvös u.v.a.m.) zusammengearbeitet. Seit Beginn der
1990er Jahre komponiert und inszeniert er eigene und weltweit gefeierte
Musiktheaterstücke, z.B. Schwarz auf Weiß (1996), Max Black (1998), Eisler­
material (1998), Hashirigaki (2000), Eraritjaritjaka (2004), Stifters Dinge (2007),
I went to the house but did not enter (2008) u.v.a. Manche dieser Musikt­heater­
stücke wurden vom Ensemble Modern Frankfurt, andere vom Théâtre
Vidy in Lausanne produziert und zu den wichtigsten internationa-
len Thea­ter- und Musikfestivals in Europa, in den USA, Südamerika,
Australien und Asien eingeladen. Daneben entstanden zahlreiche Sound-
und Videoinstallationen. Von 1999 bis 2018 war Heiner Goebbels als Pro­
fessor (und von 2003 bis 2011 auch als Geschäftsführender Direktor) am
Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Justus-Liebig-Uni­
versität in Gießen. Als Mitbegründer der Hessischen Theaterakademie, der
Hessischen Film- und Medienakademie, dem tanzlabor 21 und dem Frank-
furt LAB, wie auch als Präsident der Hessischen Theaterakademie und in
zahlreichen Vorträgen engagierte er sich für die Ausbildung in den darstel-

                                       30
lenden Künsten wie für avanciertes zeitgenössisches Musiktheater. Seine
Anthologie Aesthetik der Abwesenheit (2012) ist in mehrere Sprachen über-
setzt worden. Von 2012 bis 2014 war er Künstlerischer Leiter der Ruhr­
triennale. Heiner Goebbels wurde vielfach ausgezeichnet. 2018 wurde er
vom Präsidenten der Justus-Liebig-Universität als erster Amtsinhaber auf
die Georg Büchner Professur der JLU berufen.

                                  31
Vimbayi Kaziboni

Vimbayi Kaziboni, 1988 in Zimbabwe geboren, ist gegenwärtig künstleri-
scher Berater der Boston Lyric Opera, Artist-in-Residence des Internatio­
nal Contemporary Ensemble und Professor für Orchesterstudien und zeit­
genössische Musik am Boston Conservatory. Zuvor war er Dirigent an der
Internationalen Ensemble Modern Akademie (Frankfurt), Assistenz­diri­
gent des Ensemble intercontemporain (Paris), Lehrbeauftragter und Or­­
chester­direktor am Gettysburg College und künstlerischer Leiter der New
Philharmonics (Omaha) und des What’s Next? Ensembles (Los Angeles). ).
Kaziboni hat Orchester auf der ganzen Welt dirigiert. Dabei trat er in
Konzerthallen wie der Carnegie Hall, der Walt Disney Hall, der Royal
Festival Hall und Queen Elizabeth Hall, dem Lincoln Center, der Phil­
harmonie de Paris, der Elbphilharmonie, der Oper Frankfurt, der Sala São
Paulo, sowie im Deutschlandfunk und Hessischen Rundfunk auf.
Während der Spielzeit 2021/22 gibt Vimbayi Kaziboni seine Debüts in der
Berliner Philharmonie, der Kölner Philharmonie, der Tonhalle Düssel­
dorf, bei der musica viva des Bayerischen Rundfunk, im Wie­ner Konzert­
haus, dem Miller Theatre, und bei Festivals wie dem Beethovenfest Bonn,
den Donaueschinger Musiktagen und beim Spoleto Festival. Als einer der
führenden Interpreten zeitgenössischer Musik seiner Generation, hat er
mit vielen KomponistIinnen unserer Zeit zusammengearbeitet, darunter
mit Helmut Lachenmann, Steve Reich, George Benjamin, Heiner Goeb­­-
bels, Augusta Read Thomas, George Lewis, Liza Lim, Morten Lauridsen,
Dai Fujikura, Rebecca Saunders, Matthias Pintscher, Olga Neuwirth, Bruno
Mantovani und Nicolaus A. Huber. Neben der Uraufführung neuer Werke
in renommierten Konzerthallen und Festivals weltweit verbindet Vimbayi
Kaziboni eine lange Zusammenarbeit mit zwei der führenden Klang­kör­
per für zeitgenössische Musik: dem Ensemble Modern und dem En­semble
intercontemporain, wo er als Assistenzdirigent begann und mit dem er
heute häufig als Gastdirigent zusammenarbeitet. In jüngerer Zeit hat er
ferner mit dem San Francisco Symphony, der Omaha Symphony, der
London Sinfonietta, dem International Contemporary Ensemble (New
York), der Jungen Deutschen Philharmonie, dem Ensemble Contre-

                                  32
champs (Genf), dem Grossmann Ensemble (Chicago), der Hamburger
Camerata, dem Omnibus Ensemble (Taschkent), der Martha Graham
Dance Company (New York), The Dream Unfinished (New York) und etli-
chen weiteren zusammengearbeitet. Vimbayi Kaziboni ist ein ehemaliger
Fulbright-Stipendiat (2013­­– 14) und erwarb Abschlüsse an der University of
Southern California in Los Angeles und an der Hochschule für Musik und
Darstellende Künste in Frankfurt am Main.

                                    33
Ensemble Modern Orchestra

Das Ensemble Modern, 1980 gegründet und seit 1985 in Frankfurt am Main
beheimatet, ist eines der weltweit führenden Ensembles für Neue Musik.
Derzeit vereint das Ensemble runde 20 SolistIinnen aus neun Ländern,
deren Herkunft den kulturellen Hintergrund dieser Formation bildet. Das
Ensemble Modern ist bekannt für seine weltweit einzigartige Arbeits- und
Organisationsweise: Es gibt keine/n künstlerische/n Leiter/in; Projekte,
Koproduktionen und finanzielle Belange werden gemeinsam entschieden
und getragen. Seine unverwechselbare programmatische Bandbreite um­­
fasst Musiktheater, Tanz- und Videoprojekte, Kammermusik, En­semble-
und Orchesterkonzerte. Tourneen und Gastspiele führen das En­semble
Mo­dern in jährlich ca. 100 Konzerten zu renommierten Festivals und
Spiel­­­­stätten weltweit.
1998 gründete das Ensemble Modern in Frankfurt das weltweit erste Or­­
chester, das ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zur Auf­
führung bringt: das Ensemble Modern Orchestra (EMO ). Den Kern des
von 30 bis zu 130 MusikerIinnen umfassenden Orchesters bilden die Soli-
st­Innen des Ensemble Modern. Sie werden unterstützt durch Musiker­
Innen aus der ganzen Welt, zu denen das Ensemble im Laufe seiner über
40-jährigen Tätigkeit Kontakt gewonnen hat. Dazu zählen gleichermaßen
junge InstrumentalistInnen wie SpezialistInnen auf dem Gebiet der Neu­
en Musik wie etwa AbsolventInnen und TeilnehmerInnen der In­ter­natio­
nalen Ensemble Modern Akademie (IEMA). Die Gründung des En­­semble
Modern Orchestra ist ein künstlerisches Plädoyer für die zeitgenössische
Orchestermusik. Es bietet den KomponistIinnen unserer Zeit ein hoch
qualifiziertes und engagiertes Instrument zur Verwirklichung ihrer Ideen.
Die ambitionierten Konzertprogramme des EMO konfrontieren dabei
oftmals Auftragskompositionen u.a. von Heiner Goebbels, John Adams
oder Enno Poppe mit Schlüsselwerken der Moderne. Renommierte
DirigentInnen wie John Adams, George Benjamin, Pierre Boulez, Peter
Eötvös, Heinz Holliger, Ingo Metzmacher, Enno Poppe und Markus Stenz
leiteten bislang das EMO . Tourneen führten das EMO zu den bedeutends-
ten Festivals und Konzerthäusern in Europa wie Concertgebouw Am­ster­

                                  34
dam, Berliner Philharmonie, Alte Oper Frankfurt, Konzerthaus Wien, Elb­
philharmonie Hamburg, Kölner Philharmonie, Prinzregenten Theater
­
München, Wigmore Hall, Lucerne Festival, Festival d'Automne à Paris,
Acht Brücken | Musik für Köln, Klangspuren Schwaz oder Ruhrtriennale.
Mehrere Konzertmitschnitte mit dem EMO liegen auf CD vor, unter ande-
rem Charles Ives‘ Fourth Symphony, George Benjamins Sudden Time,
Harrison Birtwistles Earth Dances – unter Leitung von Pierre Boulez – und
Theseus Game sowie Helmut Lachenmanns Schwankungen am Rand, NUN,
Kontrakadenz und Ausklang.

                                  35
Mitwirkende EMO

Dietmar Wiesner        Flöte
Jana Machalett         Flöte, Bassflöte
Delphine Roche         Flöte, Piccoloflöte
Christian Hommel       Oboe
Tamon Yashima          Oboe
Antje Thierbach        Oboe, Englischhorn
Jaan Bossier           Klarinette, Kontrabassklarinette
Leonel Matias Quinta   Klarinette, Bassklarinette
Hugo Queirós           Klarinette, Bassklarinette
Matthias Stich         Klarinette, Bassklarinette, Saxofon
Johannes Schwarz       Fagott
Ronan Whittern         Fagott
Haruka Yoshida         Fagott, Kontrafagott
Saar Berger            Horn
Catherine Eisele       Horn
Ona Ramos Tintó        Horn
Ya Chu Yang            Horn
Sava Stoianov          Trompete, Piccolotrompete
Nenad Markovic         Trompete
Stoian Stoianov        Trompete
Uwe Dierksen           Posaune
Till Künkler           Posaune
Michael Büttler        Posaune
Jozsef Juhasz          Tuba
Ueli Wiget             Klavier
Hermann Kretzschmar    Klavier, Sampler
Rainer Römer           Schlagzeug
Rumi Ogawa             Schlagzeug
David Haller           Schlagzeug
Noah Rosen             Schlagzeug
Sven Pollkötter        Schlagzeug
Yu-Ling Chiu           Schlagzeug
Steffen Ahrens         E-Gitarre, Gitarre
Filip Erakovic         Akkordeon
                            36
Eva Debonne                      Harfe
Daniel Skala                     Cymbalon
Jagdish Mistry                   Violine
Adonis Alvanis                   Violine
Jae A Shin                       Violine
Silke Meyer-Eggen                Violine
Yezu Woo                         Violine
Holly Workman                    Violine
William Overcash                 Violine
Michi Stern                      Violine
Giorgos Panagiotidis             Violine
Wolfgang Bender                  Violine
Enrico Alvares                   Violine
Veronika Paleeva                 Violine
Daniella Strasfogel              Violine
Diego Ramos Rodríguez            Violine
Kirsten Harms                    Violine
Megumi Kasakawa                  Viola
Paul Beckett                     Viola
Laura Hovestadt                  Viola
Benoît Morel                     Viola
Robin Kirklar                    Viola
Nefeli Galani                    Viola
Michael Maria Kasper             Violoncello
Eva Böcker                       Violoncello
Imke Frank                       Violoncello
Nathan Watts                     Violoncello
Charles Watt                     Violoncello
Paul Cannon                      Kontrabass, E-Bass
Jakob Krupp                      Kontrabass
Dominique Chabot                 Kontrabass
Pierre Dekker                    Kontrabass

Felix Dreher, Volker Bernhart [Tontechnik]; Kathrin Schulze [Projektmanagement];
Erik Hein, Sebastian Nier, Merlin Krauch, Jens Miska [Stagemanagement];
Johann Schuppe, Josephine Stamer [Assistenz]

                                        37
FörderpreisträgerInnen der Ernst von Siemens
Musikstiftung 2020 und 2021

Zu den begehrten Auszeichnungen der Ernst von Siemens Musikstiftung
gehören neben dem berühmten Ernst von Sie­mens Musikpreis auch die
Förderpreise für die jungen, auf die großen Büh­nen des internationalen
Musiklebens strebenden Komponistinnen und Komponisten unserer Zeit.

Die Preise erhielten 2020 die aus Washington stammende Komponistin
Catherine Lamb, die Italienerin Francesca Verunelli und Samir
Amarouch aus Frankreich; 2021 wurde die Kroatin Mirela Ivičevič,
der in Tübingen geborene Malte Giesen und der aus Israel stammende
Yair Klartag prämiert.

Gemeinsam mit der musica viva des Bayerischen Rundfunks, Münchens
traditionsreicher Konzertreihe für Gegenwartsmusik, und dem Ensemble
Modern, der weltweit einzigartigen Talentschmiede für die Musik der Zu­­
kunft, präsentiert die Ernst von Siemens Musikstiftung in zwei aufeinan-
derfolgenden Konzerten ein speziell kuratiertes Programm mit neuen und
neuesten Werken der sechs PreisträgerInnen: in großen Ensemble­for­ma­
tionen und kammermusikalischen Besetzungen, instrumental und elekt-
ronisch, digital und analog, in jedem Fall live und im Großen Haus des
Münchner Prinzregententheaters.

BR-KLASSIK sendet den Konzertmitschnitt am
Dienstag, 12. Oktober 2021, ab 20.05 Uhr im Radio.

                                       39
musica viva

München
Prinzregententheater
1. Oktober 2021

1. Konzert
18.00 Uhr

Mirela Ivičević [*1980]
Sweet Dreams [2019]
für Ensemble

Yair Klartag [*1985]
Rationale [2021]
für Sopran und Ensemble

Catherine Lamb [*1982]
Prisma Interius V [2017]
für Synthesizer / Harfe, Bassklarinette, Weingläser / Streicher

Samir Amarouch [*1991]
Electronica-b minor crush [2020]
für 21 MusikerInnen

Einat Aronstein, Sopran

Ensemble Modern
David Niemann, Leitung

BRticket Telefon national / gebührenfrei 0800 5900 594
Online-Buchung: shop.br-ticket.de

                                     40
musica viva

München
Prinzregententheater
1. Oktober 2021

2. Konzert
20.30 Uhr

Malte Giesen [*1988]
1. Massenprozession [Covid-19-Fassung, 2020]
für Ensemble

Francesca Verunelli [*1979]
Man sitting at the piano [2017/19]
für Flöte und Klavier

Dietmar Wiesner, Flöte

Ensemble Modern
David Niemann, Leitung

BRticket Telefon national / gebührenfrei 0800 5900 594
Online-Buchung: shop.br-ticket.de

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Impressum

Herausgeber
Bayerischer Rundfunk / musica viva
Künstlerische Leitung
Dr. Winrich Hopp
Redaktion
Dr. Larissa Kowal-Wolk
Konzept / Gestaltung
Günter Karl Bose [www. lmn-berlin.de]

musica viva
Künstlerische Leitung
Dr. Winrich Hopp
Produktion, Projektorganisation
Dr. Pia Steigerwald
Redaktion
Dr. Larissa Kowal-Wolk
Kommunikation, Produktionsassistenz
N. N.
Büro
Bea Rade

Bayerischer Rundfunk
musica viva
Rundfunkplatz 1
D-80335 München
Tel.: 00 49-89-5900-42826
mailto: musicaviva@br.de
www.br-musica-viva.de
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