Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2020; aop Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm* Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie https://doi.org/10.1515/pwp-2020-0027 enterprises was upheld by easy and quick access to cheap and state-guaranteed credit. In contrast, little was done to Zusammenfassung: Die Schweizer Volkswirtschaft beweg- prevent over-indebtedness of the economy and for firms to te sich zu Beginn der Covid-19-Pandemie aus einem kon- form expectations relevant for innovation and investment junkturellen Tief in eine sanfte Aufschwungsphase mit im decisions. Companies received no significant support for internationalen Vergleich niedriger Arbeitslosigkeit und bearing their cost of capital. The communication of govern- gesunden öffentlichen Finanzen. Aufgrund ihrer geogra- ment often lacked forward guidance. phischen Lage waren insbesondere die italienisch- und französischsprachigen Regionen der Schweiz frühzeitig und stark von Ansteckungen mit SARS-CoV-2 betroffen. 1 Die Covid-19-Pandemie in der Während der Sperrperiode (sanfter Lockdown) hatte die Strukturerhaltung höchste Priorität. Arbeitsplätze wurden Schweiz und die staatlichen durch Kurzarbeit erhalten, die Liquidität der Unternehmen Eindämmungsmaßnahmen wurde durch den einfachen und raschen Zugang zu güns- tigen und staatlich garantierten Krediten gewährleistet. Im Am 25. Februar 2020 bestätigte die Schweiz den ersten Fall Hinblick auf die Prävention der Überschuldung der Wirt- von Covid-19; er betraf einen 70-jährigen Mann im italie- schaft und die für Innovations- und Investitionsentschei- nischsprachigen, an Italien grenzenden Kanton Tessin. dungen relevante Erwartungsbildung wurde allerdings Der Mann hatte zuvor Mailand besucht und wurde positiv wenig unternommen. Unternehmen erhielten keine nen- auf SARS-CoV-2 getestet. Aufgrund ihrer Nähe zu Nordita- nenswerte Unterstützung für ihre Kapitalkosten. In der lien war die Schweiz damit nach Italien eines der ersten Kommunikation der Regierung fehlte es zudem oft an vor- Länder in Europa, das von der Covid-19-Pandemie erreicht wärtsorientierenden Aussagen. wurde. Die Geographie erklärt wahrscheinlich auch, wes- halb insbesondere das Tessin so stark betroffen ist und die JEL-Klassifikation: E60, E65, I18 Pro-Kopf-Fallzahlen der Schweiz innerhalb Europas zu Schlüsselwörter: Corona, Schweiz, Wirtschaftspolitik den unerfreulichen „Spitzenwerten“ zählen. Als Reaktion auf die rasch ansteigenden nationalen Abstract: At the beginning of the Covid-19 pandemic, the Fallzahlen ergriff der Bundesrat, die Schweizer Konsens- Swiss economy was moving from an economic low into a regierung mit sieben Mitgliedern aus vier Parteien, ab Ende gentle upswing phase with low unemployment and healthy Februar eine Reihe von national einheitlichen Gesund- public finances by international standards. Due to its geo- heitsmaßnahmen und wirtschaftspolitischen Unterstüt- graphic location, Switzerland and in particular its Italian- zungsprogrammen. Kantonale Ausnahmen wurden nur im and French-speaking regions were affected early and sever- Einzelfall und in Rücksprache mit dem Bund, der Regie- ely by SARS-CoV-2 infections. During the (gentle) lockdown rung auf Bundesebene, toleriert. Gestützt auf das Epi- period, the preservation of structures had top priority. Jobs demien-Gesetz (EpG, AS 2015 1435), kann der Bundesrat were maintained by short-time work and the liquidity of unter Einbezug der Kantone die Ziele und Strategien der Erkennung, Überwachung, Verhütung und Bekämpfung Hinweis: Dieser Beitrag spiegelt den Informationsstand vom 1. Mai übertragbarer Krankheiten festlegen. Die Schweizer Bevöl- 2020. kerung hatte das revidierte Gesetz 2013 in einem fakultati- ven Referendum mit einem Ja-Anteil von 60 Prozent an- Vera Eichenauer, ETH Zürich, KOF Konjunkturforschungsstelle, genommen, was den Rückhalt der nationalen Maßnahmen Leonhardstrasse 21, CH-8092 Zürich, in der Bevölkerung und der Politik noch verstärkt haben E-Mail: eichenauer@kof.ethz.ch *Kontaktperson: Jan-Egbert Sturm, ETH Zürich, KOF dürfte. Konjunkturforschungsstelle, Leonhardstrasse 21, CH-8092 Zürich, Die von der Schweiz ergriffenen Einschränkungen des E-Mail: sturm@kof.ethz.ch Wirtschaftslebens sind im Vergleich mit den meisten In-
2 Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm Abbildung 1: Die Entwicklung der Covid-19-Pandemie in der Schweiz und ein Mobilitätsindikator für die Schweiz Anmerkung: Der Mobilitätsindikator zeigt die grundlegende Tendenz von ausgewählten hochfrequenten Zeitreihen, die das Mobilitätsver- halten der Schweizer Bevölkerung widerspiegeln. Dazu gehören unter anderem das Verkehrsaufkommen im Individualverkehr, die Benutzung des öffentlichen Verkehrs, Bargeldbezüge, Debitkarten-Einsätze, Flugbewegungen und die Nutzung von Online-Plattformen. Der Mobilitäts- indikator hat während der Periode vom 7. Januar bis 24. Februar 2020 einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1. Quelle: Johns Hopkins University, KOF dustriestaaten mild. Während des Schweizer Lockdowns Maßnahmen in den Nachbarländern her. Abbildung 1 zeigt konnten die Industriebetriebe und das Baugewerbe (außer die Entwicklung der Fallzahlen und der wichtigsten Maß- in wenigen Kantonen) unter Einhaltung der Hygienevor- nahmen. Zunächst wurden am 28. Februar Veranstaltun- schriften weiterarbeiten. Der Alltag vieler Arbeitnehmer gen mit mehr als 1000 Personen verboten. Anfangs wurde war durch die Arbeit und den Schulunterricht von zu Hau- telefonisch versucht herauszufinden, mit wem infizierte se, die Beschränkung von Versammlungen auf maximal Personen Kontakt gehabt hatten (Contact tracing). Hierzu fünf Personen mit zwei Metern Distanz und der Schließung riefen speziell ausgebildete Personen die Betroffenen an. von Läden und Restaurationsbetrieben zwar sehr einge- Sobald die Zahl der Infektionen zunahm, funktionierte schränkt, aber weniger stark als in den Nachbarländern. dieses System nicht mehr. Am 6. März wechselte der Bun- Diese verhältnismäßig geringen Einschränkungen, ins- desrat die „Strategie“ und gab die Rückverfolgung der besondere für Firmen mit hoher Wertschöpfung, erklären, Kontakte mit Infizierten auf. Zudem wurde klar, dass die wieso in den Schätzungen der KOF Konjunkturforschungs- Testkapazitäten nicht ausreichten, um die stark gestiegene stelle vom 7. und 24. April 2020 für die meisten Szenarien Nachfrage zu befriedigen. Personen mit milden Sympto- des Pandemieverlaufs in der Schweiz deutlich mehr als die men wurden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr getestet. Hälfte aller kurzfristigen Wertschöpfungsverluste mit in- Nach diesen anfänglich zurückhaltenden Maßnahmen ternationalen Nachfragerückgängen und Lieferengpässen beschloss der Bundesrat am 13. März, den Präsenzunter- zusammenhängen.1 richt in allen Bildungseinrichtungen einzustellen, und un- Der Bundesrat ergriff zunächst langsam und dann ab tersagte alle (öffentlichen und privaten) Veranstaltungen Mitte März 2020 in rasch aufeinanderfolgenden Teilschrit- mit mehr als 100 Personen. Zudem durften sich in Speise- ten immer stärkere gesundheitspolitische Maßnahmen mit und Trinklokalen nur noch maximal 50 Personen aufhal- entsprechenden Konsequenzen für das Wirtschaftsleben. ten. Die Arbeitgeber wurden aufgefordert, besonders ge- Gleichzeitig appellierte die Schweizer Regierung an die fährdeten Arbeitnehmern die Möglichkeit zu geben, ihren Eigenverantwortung und Rücksichtnahme der Bevölke- Arbeitsverpflichtungen von zu Hause aus nachzukommen. rung und empfahl das Arbeiten von zu Hause. Zeitlich Die Grenzen wurden teilweise geschlossen und Grenzkon- hinkte die Schweiz trotz hoher absoluter und Pro-Kopf- trollen für Personen aus Risikogebieten eingeführt.2 Fallzahlen jeweils leicht hinter den Ankündigungen von 2 Manche Kantone haben früher oder gleichzeitig drastischere Mass- 1 Rathke et al. 2020a, b. nahmen ergriffen. Im Kanton Waadt wurden zum Beispiel gleichzeitig
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie 3 Gleichzeitig kündigte der Bundesrat (2020a) das erste wirt- Angaben gemacht. Die erste Stufe der Lockerung hat am schaftliche Maßnahmenpaket im Umfang von 10 Milliar- 27. April begonnen, und zwar für diejenigen Berufe, in den Franken an, das sich mit 8 Milliarden Franken schwer- denen Menschen in engem Kontakt mit anderen, aber gewichtig auf die Kurzarbeit konzentrierte, aber auch ein nicht in großer Zahl, arbeiten. Ärzte durften wieder nicht- Bürgschaftsprogramm über 580 Millionen enthielt. dringliche Behandlungen durchführen; Baumärkte, Blu- Nur drei Tage später, am 16. März, wurde die außer- menläden, Gartenzentren, Gärtnereien, Friseurläden so- ordentliche Lage verkündet sowie Grenzkontrollen zu wie Kosmetik- und Massagestudios durften unter Einhal- Frankreich, Italien und Österreich eingeführt. Restaurants, tung der Gesundheitsvorschriften wieder öffnen. Die Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe mussten Lockerungen werden von Schutzkonzepten begleitet, wel- schließen. Geöffnet bleiben durften Lebensmittelgeschäf- che die Branchenverbände zu entwickeln und zur Prüfung te, Apotheken und die Post. Das Angebot des öffentlichen vorzulegen hatten und haben. Ab dem 11. Mai sollen in Verkehrs wurde reduziert. Die Baubranche und die Indus- einem zweiten Schritt die obligatorischen Schulen sowie trie wurden in der bundesrätlichen Notverordnung nicht alle Läden wieder öffnen. In einem dritten Schritt dürfen erwähnt. Stark betroffene Kantone wie Genf und Waadt ab dem 8. Juni Mittel-, Berufs- und Hochschulen, sowie reagierten darauf und gestatteten nur Unternehmen, wel- Museen, Zoos und Bibliotheken wieder öffnen. Bedingung che die Vorschriften über Hygiene und Sicherheitsabstand ist immer, dass die Infektionslage es erlaubt. einhalten konnten, die Weiterführung des Betriebs. Am Am 29. April gab der Bundesrat Lockerungen für wei- 18. März wurden Einreisebeschränkungen für Nicht- tere Branchen, beispielsweise Restaurants, ab dem 11. Mai Schengen-Staaten und stark vom Corona-Virus betroffe- bekannt. Zuvor war der Druck der Wirtschaftsverbände und nen Schengen-Staaten verkündet. Am 20. März verschärfte der besonders wirtschaftsfreundlichen Parteien gestiegen. die Regierung das Versammlungsverbot auf maximal fünf Erstens sollten weitere Sperrmaßnahmen so rasch wie mög- Personen und stockte die wirtschaftlichen Maßnahmen lich aufgehoben werden und zweitens sei Klarheit für mit einer starken Ausweitung des Bürgschaftsprogramms Eventveranstalter zu schaffen. Parallel zu diesen Öffnungs- auf insgesamt 42 Milliarden Franken auf. Die Einreise- schritten werden auch die Einreisebeschränkungen gelo- beschränkungen wurden am 25. März auf alle Schengen- ckert. Spätestens ab dem 11. Mai sollen zudem alle Kantone Staaten ausgedehnt. Abbildung 1 zeigt, dass die Mobilität die flächendeckende Rückverfolgung von Neuinfektionen der Schweizer Bevölkerung bereits vor den einschneiden- wiederaufnehmen, die in den meisten Kantonen ausgesetzt den Sperrmaßnahmen stark zurückgegangen war. worden war. Am 3. April wurde das Bürgschaftsprogramm der Re- gierung von 20 auf 40 Milliarden Franken weiter erhöht. Um die wirtschaftlichen Konsequenzen der Verbote und 2 Wirtschaftliche Ausgangslage Maßnahmen abzufedern, hat der Bundesrat somit bis zum 14. April 2020 Maßnahmenpakete im kumulativen Wert Bevor wir näher auf die wirtschaftlichen Folgen der Krise von 62 Milliarden Franken aufgelegt (das entspricht 9 Pro- und die fiskalischen Maßnahmen eingehen, wollen wir zent des Schweizer BIP von 2019). Mehrmals sagten die zunächst kurz die wirtschaftliche Situation beschreiben, Mitglieder des Bundesrats in den Pressekonferenzen von die vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie in der Ende März und Anfang April, dass eine substanzielle Lo- Schweiz herrschte. ckerung der Lockdown-Maßnahmen bis Mitte April nicht Die Schweiz war als kleine offene Volkswirtschaft in realistisch sei. Am 8. April verkündete die Regierung der Mitte Europas besonders im Finanzsektor und in der schließlich eine Verlängerung der Maßnahmen bis zum verarbeitenden Industrie von der globalen Finanzkrise 26. April, wobei sie für die Zeit danach einen schrittweisen 2008/09 und der anschließenden europäischen Schulden- Ausstieg in Aussicht stellte. krise erschüttert worden. Dabei spielte nicht nur das nega- Am 16. April 2020 kündigte der Bundesrat an, dass er tive internationale Umfeld eine wichtige Rolle, sondern die Beschränkungen in drei Schritten unter Hygieneauf- auch die starke Aufwertung der Fluchtwährung Schweizer lagen lockern werde. Über die Lockerung der Verbote und Franken. Dieser wertete real effektiv zwischen 2006 und Beschränkungen für Gastronomie, Tourismus sowie Sport- 2011 um mehr als 20 Prozent auf. Erst die Einführung eines und Kulturangebote wurden zu diesem Zeitpunkt keine Mindestwechselkurses gegenüber dem Euro am 6. Sep- tember 2011 konnte die Wechselkursstabilität bis Anfang 2015 gewährleisten. Die Aufhebung des Mindestwechsel- alle öffentlichen und privaten Versammlungen mit mehr als 50 Per- kurses am 15. Januar 2015 brachte, trotz Einführung des bis sonen verboten und Bildungseinrichtungen geschlossen. heute negativen Leitzinses in Höhe von minus 0,75 Pro-
4 Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm zent, in dem Jahr eine zweite Aufwertung um real effektiv durch eine Volksabstimmung mit einem Ja-Stimmenanteil rund 7,5 Prozent. von 85 Prozent, hat sich die Bruttoschuldenquote des Bun- Die starke Aufwertung des Schweizer Frankens hatte deshaushaltes vom Höchststand von 130,3 Milliarden (24 jedoch nicht nur negative Auswirkungen auf die Wett- Prozent des BIP 2005) auf 96,9 Milliarden (14 Prozent des bewerbsfähigkeit der exportorientierten Schweizer Wirt- BIP 2019) reduziert. Zudem konnte sich die Eidgenossen- schaft, sondern verbesserte die Terms of trade so weit, dass schaft während der Corona-Krise wie auch in den vergan- sich derjenige Teil der Schweizer Wirtschaft, der nicht in genen Jahren zu Negativzinsen verschulden. Die Gesamt- direkter Konkurrenz zum Ausland steht, relativ stark ent- verschuldung der öffentlichen Hand (einschließlich wickeln konnte. Zudem half die kräftige Erholung im Euro- derjenigen der Kantone und Gemeinden) war 2019 zum raum in den Jahren 2015 bis 2018 der Schweizer Wirtschaft, ersten Mal seit Anfang der neunziger Jahre wieder unter 40 durch die Aufwertungsphase nach Aufhebung des Min- Prozent des BIP gefallen. Die seit der Finanzkrise nahezu destwechselkurses zu kommen. Die 2019 gebremste globale kontinuierlichen Haushaltsüberschüsse im gesamten öf- Konjunktur und das schwache Wachstum der deutschen fentlichen Sektor haben dies ermöglicht. Industrie hemmten indes die Schweizer Wirtschaftsent- wicklung. Bereinigt um die außerordentlichen Einnahmen aus großen internationalen Sportveranstaltungen, ergab 3 Über welche Kanäle wirkt die sich eine Gesamtwachstumsrate von 1,4 Prozent.3 Die durchschnittliche Wachstumsrate während des Zeitraums Pandemie während eines 2010-2018 und die von der KOF geschätzte Potenzialwachs- Lockdowns auf die Konjunktur?4 tumsrate für 2019 beliefen sich auf 1,9 beziehungsweise 1,75 Prozent. Die Covid-19-Pandemie wirkt sich über mehrere Kanäle auf Im Winter 2019/20 wurde eine Reduktion der interna- die (Schweizer) Wirtschaft aus. In Bezug auf die volkswirt- tionalen Risiken im Zusammenhang mit dem Brexit und schaftlichen Auswirkungen muss zwischen nachfrageseiti- den Handelskonflikten, insbesondere zwischen den Ver- gen und angebotsseitigen Effekten unterschieden werden. einigten Staaten und China, erwartet. Damit schien eine Negative Nachfrageeffekte wie die Konsumzurückhaltung wirtschaftliche Talsohle durchschritten und eine leichte führen tendenziell dazu, dass die Preise und die Wert- Erholung im Jahr 2020 möglich zu sein. Wiederum bereinigt schöpfung der Unternehmen sinken. Negative angebots- um die außerordentlichen Einnahmen aus großen interna- seitige Effekte wie Lieferengpässe führen dagegen eher zu tionalen Sportveranstaltungen, prognostizierte die KOF im steigenden Preisen, weil die Unternehmen auf tendenziell Dezember 2019 daher für 2020 und 2021 Wachstumsraten teurere Vorleistungsgüter ausweichen müssen. Die Mehr- von 1,4 Prozent und 1,8 Prozent (Abberger et al. 2019). kosten wälzen sie zum Teil auf die Verkaufspreise ab. Aus Bereits vor der Covid-19-Pandemie waren regionale diesem Grund haben Nachfrage- und Angebotseffekte un- Unterschiede in der wirtschaftlichen Situation der Schwei- terschiedliche Implikationen für die erwartete Erholung, zer Unternehmen sichtbar. Während die Geschäftslage in die Inflationserwartungen und für die Art einer möglichen der Gesamtwirtschaft sowie in der konjunkturabhängigen staatlichen Reaktion. Zudem stehen gesundheitspolitische Industrie zu Beginn des Jahres 2020 als überdurchschnitt- Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und wirt- lich gut eingeschätzt wurde, meldeten die Unternehmen im schaftspolitische Konjunkturmaßnahmen meist diametral Tessin und in der Genfersee-Region bereits vor dem Coro- zueinander. Der Einfluss der Erwartungen der Unterneh- na-Ausbruch ein Geschäftsklima unterhalb des Schweizer men und der Konsumenten über den nationalen und inter- Durchschnitts (KOF Konjunkturumfrage 2020). nationalen Verlauf der Epidemie auf ihr Investitions- und Im Verhältnis zu anderen OECD-Staaten war der fis- Konsumverhalten sind nicht zu unterschätzen. kalische Spielraum der Schweiz am Anfang der Krise groß. Seit der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2001 3.1 Nachfrageseitige Effekte 3 Zur konjunkturellen Betrachtung der Schweizer Wirtschaft sind die Aufgrund von Sperrmaßnahmen, aus Unsicherheit über die unbereinigten BIP-Wachstumsraten nicht informativ. Alle zwei Jahre persönliche finanzielle Situation und wegen der Sorge vor wiederkehrende Sportereignisse wie internationale Fußballmeister- einer Ansteckung mit dem Virus, reduziert oder verschiebt schaften und die Olympischen Spiele – Fifa, UEFA und Olympisches Komitee haben ihren Sitz in der Schweiz – überlagern die für die Konjunktur relevanten Bewegungen. Die unbereinigte BIP-Wachs- tumsrate für das Jahr 2019 war 0,9 Prozent. 4 Dieser Abschnitt beruht auf Abberger et al. 2020, S. 7.
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie 5 die Bevölkerung ihren Konsum. Diese Konsumzurückhal- weniger zu arbeiten. Solche Maßnahmen mindern die tung trifft insbesondere konsumnahe Dienstleistungen und Wertschöpfung zum einen direkt, weil die Unternehmen senkt das BIP zumindest vorübergehend. Wie stark dieser nicht in gleicher Weise produktiv sind, wenn die Arbeit- Wirkungskanal zum Tragen kommt, hängt von der Dauer nehmer dem Arbeitsplatz fernbleiben. Zum anderen wir- und Entwicklung der Pandemie, der Substituierbarkeit, ken sie indirekt, weil Wertschöpfungsketten unterbrochen Verschiebbarkeit, dem Importanteil und dem Lagereffekt sind. Dadurch kann es zu Lieferschwierigkeiten mit Vor- ab. Allerdings könnten Sorgen über die künftige wirtschaft- leistungsgütern kommen. So mussten beispielsweise Bau- liche Entwicklung und die eigene Einkommensentwick- stellen im Tessin aufgrund von Lieferengpässen geschlos- lung zu einer dauerhaft höheren Sparneigung führen. sen werden. Die Substitution von Vorprodukten oder ein Je geringer der Importanteil beziehungsweise je höher Lieferantenwechsel ist für die meisten Unternehmen und der inländische Wertschöpfungsanteil einer Güterkatego- Produktionsprozesse kurzfristig nur sehr schwer realisier- rie ist, desto stärker wirkt sich die Konsumzurückhaltung bar. Die Wertschöpfungseffekte dieser Maßnahmen hän- in dieser Kategorie auf das inländische BIP aus. So dürfte gen einerseits davon ab, ob die Mitarbeitenden von zu die Konsumzurückhaltung beispielsweise besonders star- Hause aus arbeiten können, andererseits aber auch davon, ke Effekte auf konsumnahe Dienstleister wie Friseure und wie arbeitsintensiv die Produktion der betroffenen Betrie- Hausärzte haben. Branchen wie der Tourismus und der be generell ist. Insgesamt sind die Branchen den Produkti- Einzelhandel werden den inländischen Wertschöpfungs- onsausfällen unterschiedlich stark ausgesetzt. anteil wohl aufgrund von reduzierten Dienstleistungs- Die Nachfragerückgänge und Produktionsstörungen exporten temporär erhöhen können. führen zu Einnahmeausfällen der Unternehmen, wodurch Kurzfristige Nachfrageveränderungen können die Fir- es zu Liquiditätsengpässen kommen kann. Bei längerer men durch eine Anpassung der Lagerhaltung abfedern Dauer der Krise kann dies eine Insolvenzwelle nach sich (Lagereffekt). Solche Effekte verteilen die Wirkung der ziehen. Im schlimmsten Fall entsteht hieraus eine Finanz- Konsumzurückhaltung auf das BIP auf mehrere Quartale. krise – mit negativen Rückwirkungen auf die Realwirt- Hier gibt es aber große Branchenunterschiede: Eventver- schaft. Es ist daher allein schon wegen der Gefahr systemi- anstalter und Restaurants beispielsweise können bei aus- scher Risiken unerlässlich, dass sich die öffentliche Hand bleibender Nachfrage nicht auf Lager produzieren. Die an den Fixkosten von Arbeit und Kapital beteiligt, die bei erhöhte Lagerhaltung kann erhebliche Zusatzkosten für den betroffenen Unternehmen anfallen. die Unternehmen bedeuten. Diese lohnen sich vor allem dann, wenn es nach der Lockerung der Maßnahmen starke Nachholeffekte gibt. 3.3 Erwartungseffekte Auch wenn die Nachfrageeffekte im Aggregat eindeu- tig negativ sein werden, dürften infolge der Pandemie die Die Erwartungsbildung der Unternehmen ist ein entschei- Ausgaben in manchen Bereichen, zum Beispiel in Teilen dendes Element zur Beantwortung der Frage, ob die Pan- des Gesundheitswesens und für Online-Dienstleistungen, demie die Wirtschaftsaktivität dauerhaft oder nur tempo- deutlich steigen. rär beeinträchtigt und wie schnell sich die Wirtschaft wieder erholt. Zum einen dämpfen die Krisenberichte, Nachfragerückgänge und Produktionsstörungen die kurz- 3.2 Angebotsseitige Effekte bis mittelfristigen Geschäftserwartungen der Unterneh- men in den meisten Branchen. Diese reagieren mit einer Die Pandemie beeinträchtigt die Produktionsleistung der Reduktion oder Nicht-Ausweitung ihrer Produktionskapa- Unternehmen durch Produktionsstörungen und -verbote. zitäten darauf. Zum anderen erhöht die Pandemie die Un- Zunächst kann es wegen tatsächlicher Krankheitsfälle sicherheit der Unternehmen über die künftige Geschäfts- oder wegen prophylaktischer Maßnahmen dazu kommen, entwicklung. Als Konsequenz schieben die Unternehmen dass ein Teil der Arbeitnehmer nicht oder nur mit Ein- Personaleinstellungen und Investitionen auf. Beide Effek- schränkungen arbeiten kann. Produktionsstörungen er- te drosseln die Investitions- und Beschäftigungsdynamik, geben sich auch wegen Quarantänen von Mitarbeitern, der was sich wiederum negativ auf die Investitionsentschei- zwangsweisen Schließung von Geschäften und Unterneh- dungen anderer Unternehmen, den Arbeitsmarkt und die mensstandorten sowie der Sperrung von Grenzen und Kaufkraft auswirkt, wodurch sich die Krise verstärkt. Schulen. Letztere zwingen Eltern, die etwa ein Sechstel der Zu Beginn der durch einen exogenen Schock ausgelös- Beschäftigten in der Schweiz ausmachen, sowie Grenzgän- ten Krise und insbesondere während der starken temporä- ger, rund 6 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz, ren Einschränkung des Wirtschaftslebens hat die Struktu-
6 Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm rerhaltung höchste Priorität. Massenentlassungen und ei- Verfügung gestellten Beträge nur zögerlich und schrittwei- ne große Anzahl von Insolvenzen aufgrund von Liquidi- se erhöht. Eine bessere Forward guidance hätte hier wohl tätsengpässen sind zu vermeiden. Es gilt der Gesellschaft unnötige Sorgen verhindert, ohne Mehrkosten zu verursa- und der Wirtschaft zu ermöglichen, temporär auf niedrige- chen. Mögliche Mitnahmeeffekte (Moral hazard) bei den re Produktionsniveaus umzustellen. Soweit dies auch nur breit angelegten Maßnahmen mit vereinfachten Verfahren ansatzmäßig möglich ist, sollte die Regierung glaubwür- wurden durch die Ankündigung einer späteren ausführ- dig über die Aussichten kommunizieren, damit die Wirt- lichen Prüfung der während der Krise nur oberflächlich schaftsakteure Erwartungen bilden und sich entsprechend prüfbaren Anträge bekämpft (vgl. NZZ 2020). Dass kleinere anpassen können. und mittlere Unternehmen (KMU) keinerlei Unterstützung Auch in der Lockerungsphase sind vorwärtsorientie- für ihre Kapitalkosten erhalten haben, sehen wir ebenfalls rende Aussagen (Forward guidance) wichtig, um den kritisch. Unternehmen und deren Mitarbeitern eine gewisse Pla- nungssicherheit zu geben oder zumindest die Produkti- onsbereitschaft aufrechtzuerhalten. Ökonomen betonen 4.1 Arbeitsmarkt seit mehreren Jahren, dass Unsicherheit Gift für Unterneh- men wie Haushalte ist. Die Regierungen können hier von Die erste und bis heute wichtigste Säule des Maßnahmen- den Zentralbanken lernen, welche die externe Kommuni- pakets ist die Kurzarbeit. Oberstes Ziel der Kurzarbeit ist kation inzwischen als wichtiges Instrument zur Zielerrei- es, Entlassungen und damit Arbeitslosigkeit zu verhin- chung nutzen. Zwar kann es vollständige Sicherheit nicht dern. Kurzarbeit kann von Unternehmen beantragt wer- geben. Doch es ist wichtig, mögliche Auswege zu kom- den, die mit einem vorübergehenden Rückgang der Nach- munizieren, ohne dabei die Glaubwürdigkeit der Regie- frage nach ihren Gütern und Dienstleistungen konfrontiert rung und ihrer Ankündigungen zu gefährden. Das schafft sind. Durch Kurzarbeit in Teil- oder Vollzeit wird diesen nicht nur Vertrauen, sondern lindert auch die Unsicher- Betrieben ermöglicht, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeitenden heit. Während des Lockdowns können unklare Aussichten vorübergehend zu reduzieren. Die betroffenen Mitarbei- eine Resignation der Bürger befördern, und während der tenden werden in der Schweiz von der Arbeitslosenver- Phase, in der eine Normalisierung gewünscht wird, bremst sicherung zu 80 Prozent für den Lohnverlust entschädigt. fehlende Zuversicht die wirtschaftliche Aktivität. In einer 2018 veröffentlichten KOF-Studie zeigen Kopp und Siegenthaler (2018), dass die Kurzarbeit zwischen 2009 und 2015 ein effektives Instrument war, um Entlassungen langfristig zu verhindern. Die erzielten Einsparungen an 4 Wirtschaftspolitische Arbeitslosengeldern dürften dabei groß genug gewesen Maßnahmen sein, um die zusätzlichen Ausgaben für Kurzarbeitsent- schädigungen zu decken. In wirtschaftspolitischen Szenarien setzen sich die gesamt- Am 13. März 2020 wurden zunächst 8 Milliarden Fran- wirtschaftlichen Kosten für die Schweiz aus zwei Haupt- ken für die Kurzarbeitsentschädigung bereitgestellt und komponenten zusammen: Einerseits aus den unbeein- bereits am 20. März substanziell aufgestockt. Der Bundes- flussbaren Kosten, die durch das internationale Umfeld rat kündigte am 20. März zudem die Ausweitung und Ver- und die mit Covid-19 zusammenhängenden Krankheits- einfachung der Kurzarbeit und eine Entschädigung der ausfälle verursacht werden, und andererseits aus den Erwerbsausfälle von Selbständigen an (Bundesrat 2020c). durch inländische Maßnahmen bedingten Wertschöp- Abbildung 2 zeigt die großen kantonalen Unterschiede im fungsverlusten. Per Definition können wirtschaftspoliti- Anteil der Beschäftigten, für die Kurzarbeit angemeldet sche Maßnahmen im Inland die international verursach- wurde. Ins Auge fallen insbesondere der Kanton Tessin ten Kosten nur abfedern, das heißt, innerhalb der (TI) im Süden des Landes, der eine besonders hohe Anzahl Gesellschaft verteilen. Infizierte pro Kopf der Bevölkerung verzeichnete und zu- Zu Beginn der Covid-19-Krise und insbesondere wäh- dem stark vom (innerschweizerischen) Tourismus ab- rend des Lockdowns ging es um Strukturerhaltung, was hängt. Auf dringliche Empfehlungen des Bundesrats und vor allem mit Kurzarbeit und zinsfreien und (zu großen des Kanton Tessins sollten die Bürger zum Saisonstart um Teilen) staatlich garantierten Krediten zur Liquiditäts- Ostern auf Reisen in das Tessin aber verzichten. Die Kanto- erhaltung erreicht werden sollte. Während die Maßnah- ne Jura (JU) und Neuchâtel (NE) sind stark von der Uhren- men an sich bereits von Beginn an im Großen und Ganzen industrie abhängig, die besonders hart vom globalen geeignet waren, wurden die von der öffentlichen Hand zur Nachfragerückgang betroffen sein dürfte.
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie 7 Abbildung 2: Anteil der für Kurzarbeit vorangemeldeten Arbeitnehmer nach Kanton Ende April 2020 Quelle: Darstellung der KOF basierend auf Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) 4.2 Liquidität der Unternehmen Maßnahmen sind als kurzfristige Kredite des Staates zu sehen und gehören somit zur zweiten Säule. Zudem wurde Die zweite Säule der Strukturerhaltung erlaubt es Unter- im Betreibungswesen (Gerichtsvollzieher) ein Rechtsstill- nehmen, staatlich garantierte Kredite aufzunehmen. Die stand vom 19. März bis einschließlich 4. April 2020 fest- Liquiditätshilfen für KMU im Umfang von bis zu 20 Milliar- gelegt. Für den Sport- und Kultursektor sowie die Touris- den Franken (ab 3. April 40 Milliarden Franken) wurden musindustrie wurden Hilfen in Höhe von mehreren am 20. März angekündigt und konnten ab dem 26. März Millionen Franken versprochen. bei der jeweiligen Hausbank beantragt werden.5 Die zins- Für Unternehmen mit mehr als 500 Millionen Franken freien Darlehen sind staatlich garantiert; bis zu einer hal- Umsatz sind bisher keine staatlichen Liquiditätsmaßnah- ben Million Franken zu 100 Prozent und für darüber- men vorgesehen. Eine Ausnahme ist die bereits am 8. April hinausgehende Beträge zu 85 Prozent (Bundesrat 2020b). angekündigte Prüfung einer möglichen Unterstützung der Die Laufzeit beträgt fünf Jahre, kann jedoch auf maximal Luftfahrtbranche. Am 29. April beantragte der Bundesrat sieben Jahre verlängert werden. Die Kredite dürfen maxi- beim Parlament 1,275 Milliarden Franken, davon 1,2 Milli- mal 20 Millionen Franken oder 10 Prozent des Vorjahres- arden Franken für die Airline Swiss, einer Tochtergesell- umsatzes betragen. Letzteres ist kritisch zu sehen, da die schaft der Lufthansa. Die Kredite wären wiederum von den Bedeutung des Umsatzes zwischen Wirtschaftszweigen Banken zu vergeben, welche 15 Prozent des Kreditrisikos und Geschäftsmodellen bekanntlich stark variiert. Die Li- zu tragen hätten (Bundesrat 2020d). Die staatlich garan- quiditätskredite sind auf eine große Nachfrage gestoßen: tierten Darlehen können, anders als im Fall der KMU, bis Bis zum 29. April 2020 wurden von 123 Banken mehr als zu einem Viertel des Umsatzes der Swiss ausmachen. Der 117.000 Kreditvereinbarungen abgeschlossen, die sich be- Bundesrat hält fest, dass diese Mittel nur den schweizeri- reits auf rund 16,1 Milliarden Franken summieren (Abbil- schen Infrastrukturen dienen dürfen und in der Zukunft dung 3). Der durchschnittliche Bürgschaftsbetrag beträgt erwirtschaftete Mittel prioritär zur Rückzahlung der Liqui- 131.000 Franken. ditätshilfen zu verwenden sind.6 Die Kredite der Eidgenos- Die Unternehmen erhielten zudem einen zinsfreien Zahlungsaufschub für die Sozialversicherungsbeiträge. Auch wurden die Zahlungsfristen für Steuern und Abga- ben an staatliche Dienstleister verlängert, ohne dass Zin- 6 Diese Kredite hängen von der Unterstützung Deutschlands für die sen auf die verspäteten Zahlungen fällig werden. Diese Lufthansa ab. Für die flugnahen Betriebe, die in ausländischer Hand sind, wurde keine Maßnahme beschlossen, jedoch ein Kredit in Höhe von 600 Millionen Franken beantragt. Bei Easyjet Switzerland sind aufgrund der Liquidität des Mutterkonzerns die Bedingungen für ein 5 Bereits ab dem 13. März standen via Bürgschaftsorganisationen subsidiäres Engagement der Eidgenossenschaft gegenwärtig nicht 580 Millionen Franken zur Verfügung (Bundesrat 2020a). gegeben.
8 Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm Abbildung 3: Covid-19-Kreditvereinbarungen kumuliert seit Implementierung am 26. März Quelle: Eigene Darstellung, basierend auf online verfügbaren Daten unter https://covid19.easygov.swiss/fuer-medien/ senschaft hängen von der Unterstützung Deutschlands für ihren Überlegungen für einen großen Rettungsschirm die Lufthansa ab. schlagen die Ökonomen der ETH Zürich vor, dass der Staat Zur Sicherung der Liquidität des Finanzsystems schuf Unternehmen die Kapitalkosten bei einem Produktions- die Schweizerische Nationalbank (SNB) am 25. März eine ausfall teilweise erstattet. Ähnliche Vorschläge kamen von temporäre SNB-Covid-19-Refinanzierungsfazilität (CRF) Ökonomen der Universität Zürich (Alós-Ferrer et al. 2020) für Banken in der Schweiz und in Liechtenstein (SNB und aus der Westschweiz (Bonardi et al. 2020). Als Grund- 2020). Dadurch kann Liquidität als gedecktes Darlehen lage könnten Miet- und Pachtverträge oder die vor dem gegen Forderungen aus Krediten der Covid-19-Solidar- Ausbruch des Coronavirus gezahlten Kreditzinsen dienen. bürgschaftsverordnung und gegen weitere von der SNB Auch eine eher pauschale Lösung über eine teilweise zugelassene Sicherheiten bezogen werden. Das Darlehen Rückerstattung von Mehrwertsteuern für andauernde Pro- ohne fixe Laufzeit wird mit dem SNB-Leitzins verzinst. duktionseinbrüche ist möglich. Für die praktische Umset- zung bieten sich die Kanäle an, die bereits für die Kurz- arbeitsentschädigung und die Liquiditätshilfen genutzt 4.3 Evaluierung werden. Aufgrund der niedrigen Schuldenquote der Eidge- nossenschaft und der Negativzinsen auf Staatsanleihen Die Regierung hat im April Anpassungen an beiden Säulen hat die Schweiz, im Gegensatz zu anderen Industriestaa- der Strukturerhaltung vorgenommen, wodurch sich das ten, den fiskalpolitischen Spielraum für solche Maßnah- geschätzte Maximalvolumen der Maßnahmen auf 95 Milli- men. arden Franken erhöht hat (Blick 2020), was eine Verdoppe- Zudem hätte man den Wirtschaftsakteuren früh eine lung der Schulden der Eigenossenschaft bedeuten würde. möglichst umfassende Perspektive geben können, auch Dennoch reichen diese Maßnahmen nach Einschätzung ohne spezifische Maßnahmen zu nennen und natürlich vieler Ökonomen nicht aus. Denn die Unternehmen mit ohne eine Vollkaskoversicherung für die Wirtschaft zu geringen oder keinen Einnahmen haben weiterhin Fixkos- suggerieren. In diesem Kontext ist der Vorschlag der Öko- ten wie Miete, Pacht oder Kreditzinsen zu tragen. Diese nomen Hans Gersbach und Jan-Egbert Sturm (2020a) zu Kapitalkosten werden mit den beiden Säulen der Struktu- sehen, die bereits am 18. März die Einrichtung eines rerhaltung nicht aufgefangen und sollten den betroffenen Schweizfonds im Volumen von 100 Milliarden Franken Unternehmen über bestehende Kanäle teilweise erstattet anregten. Die Ankündigung einer solchen Maßnahme hät- werden. Wenn die Unternehmen diese Kapitalkosten allein te wohl zusätzliche Zuversicht verbreitet. Abbildung 4 tragen müssen, besteht die Gefahr, dass viele von ihnen – zeigt, dass sich die Angst um die wirtschaftliche Existenz insbesondere KMU – den Betrieb einstellen oder aufgrund bei vergleichbaren Unternehmen stark veränderte, sobald der hohen Schuldenlast nach der Krise kaum investieren. Informationen zur Lockerungsstrategie bekannt wurden. Dies bremst die wirtschaftliche Dynamik auf längere Sicht. Trotz der umfassenden Maßnahmen im In- und Aus- Am 31. März haben deshalb Hans Gersbach und Jan- land überrascht es kaum, dass der KOF Geschäftslageindi- Egbert Sturm (2020b) einen dritten Stützpfeiler gefordert: kator im April außerordentlich stark gesunken ist (Abbil- ein „Kurzarbeits-Regime für das Kapital“. Basierend auf dung 5). Vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie 9 Abbildung 4: Angst um die wirtschaftliche Existenz vor und nach der Lockerungsankündigung Anmerkung: Gruppierung danach, ob in der bundesrätlichen Ankündigung vom 16. April eine Öffnung des Betriebes in Aussicht gestellt wurde (Bundesrat 2020b). Untergruppierungen danach, ob die Umfrage vor der bundesrätlichen Ankündigung ausgefüllt wurde oder nachher. Öffnung im April oder Mai: Alle Läden, nicht-dringliche medizinische Behandlungen, Baumärkte, Blumenläden, Gartenzentren, Gärtnereien und Dienstleistungen der Körperpflege. Keine Information über Zeitpunkt der Öffnung: Alle Betriebe aus Tourismus, Hotellerie und Gastrono- mie sowie Sport und Kultur, die schließen mussten oder deren Tätigkeit stark eingeschränkt wurde. Quelle: Brülhart et al. 2020 Abbildung 5: Geschäftslage nach Wirtschaftszweigen Anmerkung: Der Saldowert ist der Prozentanteil der „gut“-Antworten minus dem Prozentanteil der „schlecht“-Antworten auf die Frage nach der Beurteilung der aktuellen Geschäftslage. Quelle: KOF Konjunkturumfrage bewerten die Unternehmen ihre Geschäftslage noch nega- auch bei den wirtschaftlichen und den persönlichen tiver als während der Finanzkrise 2009. Die Krise hinter- Dienstleistungen sind die Nachfrageerwartungen negati- lässt in allen Wirtschaftszweigen tiefe Spuren. ver als während der Finanzkrise. Gefragt nach den Be- Die KOF Konjunkturumfrage vom April 2020 gibt zu- schränkungen durch die Einsatzfähigkeit des eigenen Per- dem erste Hinweise über die wirtschaftlichen Herausforde- sonals, geben 36 Prozent der Firmen an, dass sie dadurch rungen während der Lockdown-Phase. So scheint der stark beeinträchtigt sind. Die Banken erwarten einerseits, Nachfrageeinbruch schwerer zu wiegen als die Behin- angestoßen durch die Hilfsmaßnahmen der öffentlichen derung im eigenen Betriebsablauf. Auf eine Zusatzfrage Hand, ein deutlich zunehmendes Kreditgeschäft mit Fir- nach der expliziten Nachfragewirkung der Pandemie ge- menkunden, jedoch bei erheblich verschlechterter Bonität. ben 55 Prozent der Unternehmen an, dass die Nachfrage Andererseits rechnen sie mit weniger starken Zuwächsen nach ihren Leistungen deutlich reduziert ist. Sowohl im im Kreditgeschäft mit Privatkunden. Teilbereich Verkehr, Information, Kommunikation als
10 Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm 5 Schlussfolgerungen und Effekte die Erholung bremsen werden. Mit einer relativ allgemein gehaltenen Forward guidance über mögliche abschließende Bemerkungen staatliche Unterstützung können Regierungen erstens die wirtschaftliche Erholung gleichsam gratis stimulieren und Zu Beginn der Covid-19-Krise war die allgemeine Auffas- zweitens, bei Bedarf, die geeigneten wirtschaftspolitischen sung oder zumindest Hoffnung, dass die Schweiz nach Maßnahmen ergreifen, wenn sich die Probleme klarer dar- einer kurzen Phase des Stillstands und der internationalen stellen. Das Ausmaß der staatlichen Unterstützung kann Abschottung eine V-förmige Erholung erleben würde. Man nicht nur aus einer nationalen Perspektive betrachtet wer- setzte darauf, dass man leicht und schnell zu einer wirt- den, sondern bedarf sicherlich auch einer Form der inter- schaftlichen Normalität zurückkehren könne, wie sie vor nationalen Koordinierung. Der internationale Austausch der Krise herrschte. Diese Sichtweise ändert sich mehr und sollte auch die Forward guidance umfassen. Ansonsten mehr. Die Diskussion hat sich zunehmend in Richtung besteht das Risiko, dass die staatliche Unterstützung bis einer U-, einer Wurzelzeichen- oder sogar einer L-förmigen hin zu keynesianischen Stimulierungsmaßnahmen sowohl Entwicklung der Gesamtwirtschaft bewegt. Inzwischen zu einem inländischen Lobbying-Boom zwischen den werden immer mehr strukturelle Veränderungen und da- Branchen als auch zu einem internationalen Konkurrenz- mit zusätzliche Verteilungsfragen erwartet. kampf zwischen den Nationen führt. Wir könnten uns so in Die Frage, wie die Lasten innerhalb der Gesellschaft einem Gefangenendilemma wiederfinden, in dem am Ende verteilt und insbesondere die Verlierer kompensiert wer- unterlassen wird, was für alle besser gewesen wäre. den können, wird damit immer wichtiger. Im Großen und Wie erwähnt, steht die öffentliche Hand in der Schweiz Ganzen ist die öffentliche Hand als Versicherer aufgetreten trotz der Krise noch immer verhältnismäßig gut da. Die und hat zunächst einen beträchtlichen Teil der (Personal-) Staatsverschuldung war gering, die Haushaltsdisziplin Kosten auf sich genommen. Aber wie wird die (verbleiben- groß. Im Vergleich zu anderen Ländern wird in der de) Last zwischen den Firmeninhabern und ihren Gläubi- Schweiz somit weniger über eine Monetarisierung der Kos- gern aufgeteilt? Wie fängt man die Verlierer auf der Haus- ten diskutiert. Aufgrund der internationalen Verflechtun- haltsseite auf? In dem Maße, in dem der Staat die Last auf gen und der Rolle des Wechselkurses für das Wohlergehen sich genommen hat und weiter nehmen wird, ist klar, dass der Schweizer Wirtschaft interveniert die Schweizerische die höheren Schulden, die sich daraus ergeben, früher Nationalbank auf den Wechselkursmärkten und häuft wei- oder später zurückgezahlt werden müssen. Inwieweit dies tere internationale Reserven an. Die Bilanz der SNB steigt die gegenwärtige oder künftige Generation tun muss, ist damit weiter über die bereits Ende 2019 deutlich über- ebenso offen wie die Verteilung innerhalb einer Generati- schrittenen 110 Prozent des Schweizer BIP. Zudem versorgt on. sie das inländische Bankensystem mit ausreichend Liqui- Es ist leicht zu begründen, dass Regierungen die Un- dität, um die Stabilität des Schweizer Finanzsystems auf- ternehmen während der Lockdown-Phase unterstützen recht zu erhalten. In einer Welt, in der viele und vor allem sollten. Ein gesellschaftlich gewollter Winterschlaf oder die größeren Zentralbanken in der quantitativen Locke- zumindest Rückgang der Produktion sollte auch gesell- rung immer weitergehen und in einigen Fällen damit be- schaftlich getragen werden. Die Wirtschaftsstrukturen ginnen, Staatsausgaben direkt zu finanzieren, stellt sich sollten während einer solchen Phase erhalten bleiben, um die Frage, ob oder wie lange die aktuelle geldpolitische eine schnelle Erholung und Normalisierung zu ermögli- Strategie einer relativ kleinen Zentralbank wie der SNB chen. Mit dem Ende behördlich verordneter Sperrmaßnah- noch aufgehen kann. men und Einschränkungen wird es jedoch zunehmend schwieriger zu begründen, wo staatliche Unterstützung benötigt wird und wo strukturelle Veränderungen zugelas- Literaturverzeichnis sen werden sollten. Dies hängt stark von den mittel- bis längerfristigen Aussichten für die Entwicklung einzelner Abberger, K. et al. (2019), Konjunkturanalyse: Prognose 2020/2021, Wirtschaftszweige ab. Gibt es bleibende Verhaltensände- Schwächephase hält an, KOF Analysen 4, S. 1–28. Abberger, K. et al (2020), Konjunkturszenarien, Frühjahr 2020: Im rungen beispielsweise im Tourismus und im Zusammen- Bann des Coronavirus Rezession in Europa und der Schweiz hang mit anderen Freizeitaktivitäten? wahrscheinlich, KOF Analysen 1, S. 1–62. Der krisenbedingte Verschuldungsanstieg von öffent- Alós-Ferrer, C. et al. (2020), Coronavirus – Testen und Einfrieren: Eine licher Hand und Privatunternehmen wird die wirtschaftli- Überlebensstrategie für die Schweizer Volkswirtschaft, Position che Erholung jedes Landes belasten. Weiterhin unklar ist Paper, Universität Zürich, online verfügbar unter https://www. hingegen, ob primär die angebots- oder nachfrageseitigen
Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie 11 econ.uzh.ch/dam/jcr:01ef12ba-a183-4667-9 f.6- Gersbach, H. und J.-E. Sturm (2020a), Ein Schweizfonds mit 100 Mia. 60a33a67d182/20200329_Corona_Positionspapier.pdf. Franken als zweiter Pfeiler, Ökonomenstimme, online verfügbar Blick (2020), Die Corona-Rechnung von Ueli Maurer: Wir zahlen auch unter https://www.oekonomenstimme.org/artikel/2020/03/ 2030 noch dafür, online verfügbar unter https://www.blick.ch/ ein-schweizfonds-mit-100-mia.-franken-als-zweiter-pfeiler/. news/politik/ausserordentliches-defizit-bis-zu-55-milliarden- Gersbach und Sturm (2020b), „Kurzarbeits-Regime für Kapital“ als franken-die-corona-rechnung-von-ueli-maurer-wir-zahlen-auch- dritter Pfeiler, Ökonomenstimme, online verfügbar unter 2030-noch-dafuer-id15865652.html. https://www.oekonomenstimme.org/artikel/2020/03/kurz- Bonardi, J.-P., M. Brülhart, J.-P. Danthine, E. Jondeau und D. Rohner arbeits-regime-fuer-kapital-als-dritter-pfeiler/. (2020), Wieso und wie der Staat die wirtschaftlichen Kosten des KOF Konjunkturforschungsstelle (2020), Prognose Indikatoren, Stand Lockdown übernehmen sollte: Lohnfortzahlungen und Corona- 29. April 2020, online verfügbar unter https://kof.ethz.ch/prog- Darlehen, Batz.ch. nosen-indikatoren/indikatoren.html. Brülhart, M., J. Kläui, R. Lalive, T. Lehmann und M. Siegenthaler Kopp, D. und M. Siegenthaler (2018), Does short-time work prevent (2020), Die Schweizer Selbständigerwerbenden in der Covid19- unemployment? KOF Studies 106. Pandemie, 3. Mai 2020, online verfügbar unter https://ethz.ch/ NZZ – Neue Zürcher Zeitung (2020), Corona-Kredite für KMU: Wie der content/dam/ethz/special-interest/dual/kof-dam/documents/ Bund Betrüger abschreckt, online verfügbar unter https://www. Medienmitteilungen/Sonstige/Hintergrundbericht_Selbstaendi- nzz.ch/wirtschaft/covid-kredite-fuer-kmu-wie-leicht-kann-man- genumfrage.pdf. den-bund-an-der-nase-herumfuehren-ld.1551774. Bundesrat (2020a), Bundesrat verschärft Massnahmen gegen das Rathke, A., S. Sarferaz, S. Streicher und J.-E. Sturm (2020a), Szenario- Coronavirus zum Schutz der Gesundheit und unterstützt betrof- Analysen zu den kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen fene Branchen, Medienmitteilung vom 13. März 2020, online der COVID-19-Pandemie, Medienmitteilung der KOF Konjunktur- verfügbar unter https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumen- forschungsstelle, online verfügbar unter https://ethz.ch/ tation/medienmitteilungen.msg-id-78437.html. content/dam/ethz/special-interest/dual/kof-dam/documents/ Bundesrat (2020b), Bundesrat lockert schrittweise Massnahmen zum Medienmitteilungen/Prognosen/2020/Corona_Krise.pdf. Schutz vor dem neuen Coronavirus, Medienmitteilung vom Rathke, A, S. Sarferaz, S. Streicher und J.-E. Sturm (2020b), Update: 16. April 2020, online verfügbar unter https://www.admin.ch/ Kosten des Lockdown und nächste Publikationen, Mitteilung der gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id- KOF Konjunkturforschungsstelle, online verfügbar unter https:// 78818.html. kof.ethz.ch/news-und-veranstaltungen/news/kof-news0/ Bundesrat (2020c), Coronavirus: Massnahmenpaket zur Abfederung 2020/04/update-kosten-des-lockdown-und-naechste-publika- der wirtschaftlichen Folgen, Medienmitteilung vom 20. März tionen.html. 2020, online verfügbar unter https://www.admin.ch/gov/de/ SNB – Schweizerische Nationalbank (2020), Nationalbank schafft start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-78515.html. SNB-COVID-19-Refinanzierungsfazilität und stellt Antrag auf Bundesrat (2020d), Coronavirus: Bundesrat konkretisiert Unterstüt- Deaktivierung des antizyklischen Kapitalpuffers, Medienmittei- zung für Luftfahrtunternehmen, Medienmitteilung vom 29. März lung vom 25. März 2020, online verfügbar unter https://www. 2020, online verfügbar unter https://www.admin.ch/gov/de/ snb.ch/de/mmr/reference/pre_20200325/source/ start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-78944.html. pre_20200325.de.pdf.
Sie können auch lesen