Aller guten Dinge sind 4 - die Blutgruppen und ihr Entdecker

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Abteilung für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie
Leiter: Prof. Dr. M. Böck

Vortrag von Prof. Dr. M. Böck über das Leben und Werk Karl Landsteiners anlässlich der Vorlesungsreihe
„Uni für alle“ der Universität Würzburg am 09.01.2007
[Hauptquelle für diesen Vortrag war „Karl Landsteiner“, eine Biographie von Paul Speiser und Ferdinand G. Smekal aus dem Jahre

1974 (Verlag Brüder Hollinek, Wien)]

        Aller guten Dinge sind 4 – die Blutgruppen und ihr Entdecker

Sehr verehrten Damen und Herren,

es ist heute Abend meine Aufgabe – die ich übrigens sehr gerne erfülle -, Ihnen über
einen der großen Pioniere der Medizin zu berichten, einen der 13 Nobelpreisträger, wel-
che in Würzburg hier an unserer Universität gearbeitet und gewirkt haben. Die Vorberei-
tung auf diesen Vortrag war nicht einfach, da Karl Landsteiner ein sehr zurückhaltender,
ruhiger und bescheidener Mensch gewesen war, dem an Publicity und pressewirksamer
Öffentlichkeitsarbeit nur wenig gelegen schien und über den es daher auch nur wenige
wirklich verlässliche Quellen gibt. Wie wenig Wert Karl Landsteiner auf persönlichen
Ruhm und Ansehen in der Öffentlichkeit gelegt hat, mag aus einer Antwort von ihm auf
die Frage eines Journalisten an den frisch gebackenen Nobelpreisträger am 8. Novem-
ber 1930 hervorgehen: „Möchten Sie nicht unseren Lesern einiges über die Wiener Me-
dizinische Schule sagen?“. Landsteiners Antwort: „Nein. Um Gottes willen, nicht. Das
wäre eine Anmaßung von mir. Ich selbst bin doch aus der Wiener Medizinischen Schule
hervorgegangen und was immer ich auch darüber sagen könnte, müsste wie Eigenlob
klingen“.

Wer also war jener Wissenschaftler, der nicht nur mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt
wurde, sondern der auch die Ehrendoktorwürde von Cambridge, Havard und der Uni-
versität Brüssel erhielt, der 1941 in die Royal Society in London aufgenommen wurde,
der Träger der Goldenen Paul-Ehrlich-Medaille und der Goldenen Medaille der Nieder-
ländischen Gesellschaft vom Roten Kreuz war, der als Ehrenmitglied in die Gesellschaft
der Ärzte Wiens aufgenommen wurde, mit dessen Konterfei die verschiedensten Geld-
scheine und Briefmarken unterschiedlicher Länder versehen wurden und der selbst so
wenig öffentliches Aufhebens um seine Person gemacht hat?

Karl Landsteiner wurde am 14. Juni 1868 in Baden bei Wien in der Neugasse 531 gebo-
ren. Die Eltern Landsteiners, der bekannte österreichische Publizist Dr. Leopold
Landsteiner, Begründer der Österreichischen Reichszeitung und der Wiener Morgenpost
und seine 18 Jahre jüngere Frau, Fanny Landsteiner verbrachten wie viele gutbürgerli-
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che Familien aus dem damaligen Wien ihre Sommerferien im malerischen Baden an
den Hängen des Wienerwaldes. Das Haus gehörte dem Industriellen Josef Hesky, ei-
nem Freund der Familie und Vizepräsidenten einer großen Papierfabrik. Interessant ist,
dass Landsteiner selbst später in öffentlichen Dokumenten niemals Baden, sondern im-
mer Wien als seinen Geburtsort angab. Warum es das tat, ist weitgehend unklar. Es
kann nur vermutet werden, dass der Grund in einer Flucht vor dem offensichtlich auch
damals schon wütenden bürokratischen Amtsschimmel lag. Leopold Landsteiner gehör-
te dem mosaischen Glauben, also dem Judentum an. Da es im Jahre 1868 in Baden
noch keine jüdische Kultusgemeinde gab, musste man mit dem Neugeborenen kurz
nach der Geburt nach Wien zurückkehren, wo am 21. Juni 1868 die Beschneidung statt-
fand. Daher gibt es als Geburtsurkunde nur einen Eintrag im Matrikel der Wiener Israeli-
tischen Kultusgemeinde, von Baden ist in keinem offiziellen Dokument die Rede Um
dauernden Fragen und langwierigen Erklärungen aus dem Weg zu gehen, hat Landstei-
ner dann später wohl immer nur Wien als seinen Geburtsort angegeben.

Im Februar 1875 erlag Landsteiners Vater mit nur 57 Jahren einer unerwarteten Herzat-
tacke. Für Fanny Landsteiner und ihren gerade einmal 7 Jahre alten Sohn muss der
plötzliche Tod ihres Ernährers ein harter Schicksalsschlag gewesen sein. Die Vormund-
schaft über den kleinen Karl übernahm der langjährige Freund der Familie Josef Hesky,
in dessen Haus Karl Landsteiner ja auch geboren worden war.

Über die Schulzeit von Karl Landsteiner gibt es wenig zu sagen. Aus den spärlichen Un-
terlagen lässt sich rekonstruieren, dass Landsteiner im Schuljahr 1873/74 eingeschult
wurde und im Schuljahr 1877/78 an das k.k. Maximilian-Staatsgymnasium in der Wasa-
gasse 10, dem heutigen Wasagymnasium wechselte. Seine schulischen Leistungen
müssen wohl recht gut gewesen sein. Im Mai 1885 legte er die schriftliche Matura ab.
Selten spiegelt ein Zeugnis eines jungen Menschen so eindeutig dessen Begabungen
wieder wie bei Karl Landsteiner: Griechisch befriedigend, Deutsch befriedigend, Propä-
deutik befriedigend, Geschichte und Geographie lobenswert, Mathematik lobenswert
und Physik und Naturgeschichte vorzüglich.

Im Herbst 1885 begann Karl Landsteiner das Studium der Humanmedizin an der Alma
Mater Rudolfina der Universität Wien, das er 6 Jahre später mit dem dritten Rigorosum
am 18. Februar 1891 abschloss. 3 Tage nach seiner Abschlussprüfung erfolgte am 21.
Februar 1891die feierliche Promotion zum Doktor der gesamten Heilkunde.

Nach einer kurzen Hospitation in der Innerer Medizin an der 2ten Medizinischen Klinik
an der Universität Wien folgten 3 Jahre der wissenschaftlichen Ausbildung im Ausland,
Wanderjahre (wenn man es so nennen mag), welche zunächst im Sommersemester
1892 hier in Würzburg bei dem damaligen Ordinarius für Chemie, Emil Hermann Fischer
begannen. Fischer, der im Jahre 1902 selbst den Nobelpreis erhalten sollte, stand kurz
vor seiner Berufung nach Berlin, als Landsteiner in Würzburg zu ihm stieß. Dass
Landsteiner nicht nur passiver Zuhörer Fischers war, sondern rasch zu dessen aktivem
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Mitarbeiter wurde, zeigt eine Arbeit über den Glycolaldehyd, welche beide gemeinsam
im Jahre 1892 veröffentlichten. Auf die Zusammenarbeit mit dem berühmten Chemiker
und die daraus resultierende Publikation soll Landsteiner Zeit seines Lebens sehr stolz
gewesen sein.

Landsteiner wohnte damals in einem Haus in der Eichhorngasse 32. Es handelt sich um
das Eckhaus gegenüber dem Bürgerspital, in dem heute das Kaufhaus Quelle unterge-
bracht ist. Manche von Ihnen mögen jene Medaille vielleicht schon einmal gesehen ha-
ben, welche die Stadt Würzburg im Jahre 1965 zu Ehren dieses großen Forschers an
seinem ehemaligen Wohnhaus angebracht hat. Sie ist allerdings sehr diskret an einer
der Säulen vor dem Haus platziert, so dass sie beim flüchtigen Vorbeigehen nur schwer
wahrzunehmen ist.

Nach kurzer Zeit, im Wintersemester 1892/93, wechselte Landsteiner nach München in
die Akademie der Wissenschaften zu Eugen von Bamberger. Auch hier kam es wieder
sehr rasch zu einer gemeinsamen Publikation von Lehrer und Schüler, welche den Titel
trug: „Das Verhalten des Diazobenzols gegenüber Kaliumpermangat“. Doch auch in
München hielt es Landsteiner nicht lange. Es zog ihn nach Zürich an das eidgenössi-
sche Polytechnikum zu dem Chemiker Arthur Hantzsch, wo er die wissenschaftlichen
Grundlagen für seine siebente Publikation „Reduktion der Pseudonitrole zu Ketoximen“
(die allerdings erst einige Jahre später veröffentlicht wurde) legte.

Im Jahre 1894 endeten Landsteiners wissenschaftliche Lehrjahre im Ausland. Er kehrte
als sog. „Operationszögling“ (das entspricht dem heutigen Assistenzarzt) an das Allge-
meine Krankenhaus in Wien zurück. Man muss wissen, dass Wien zum damaligen Zeit-
punkt als „Mekka“ der Chirurgie in Europa galt. Die II. Chirurgische Klinik wurde von
dem (wenn man so will) Begründer der modernen Chirurgie, Theodor Billroth, geleitet,
welcher sie im Jahre 1867 übernommen und ihr inzwischen einen solchen Ruf verliehen
hatte, dass viele Patienten auch aus den entlegensten Winkeln der österreich-ungari-
schen Monarchie nach Wien kamen um sich hier behandeln zu lassen. Landsteiner ar-
beitete allerdings nicht in der Zweiten, sondern in der Ersten Chirurgischen Klinik des
Allgemeinen Krankenhauses unter der Leitung von Prof. Alberts. An dieser Klinik war
zur gleichen Zeit auch Adolf Lorenz tätig, welcher als sog. „Gipsdoktor“ zunächst von
vielen belächelt worden war (er hatte die Ruhigstellung per Gipsverband als Alternative
zu Operation in die Frakturbehandlung eingeführt, was zum damaligen Zeitpunkt von
vielen Chirurgen mit Vehemenz abgelehnt wurde), der aber heute gerade wegen dieser
konservativen Einstellung als Vater der modernen Orthopädie gilt. Aus vielen noch er-
haltenen Krankengeschichten, welche die Unterschrift Landsteiners tragen, wissen wir,
dass er wohl sehr eng mit diesem Pionier der Orthopädie und Inhaber der ersten Pro-
fessur dieses Fachgebietes weltweit zusammengearbeitet haben muss.

Allerdings schien die praktische Tätigkeit am Patientenbett Landsteiner nie wirklich be-
friedigt zu haben. Es war Wissenschaftler durch und durch und an das exakte Denken
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der Grundlagenwissenschaften gewöhnt. Es fiel ihm wohl schwer, zu akzeptieren, dass
vieles, was man damals in der Medizin getan hat, zu einem großen Teil auf persönliche
Erfahrung, Intuition und Gespür des Arztes basierte und nicht durch exakte, wissen-
schaftlich fundierte Erkenntnisse belegbar war – eine Tatsache, die übrigens heute trotz
aller unbestreitbar vorhandenen modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht viel
anders ist als vor 150 Jahren. Hinzu mag eine gewisse Enttäuschung Landsteiners ge-
kommen sein, wenn er seine Erfolge im Reagenzglas mit denen am Patientenbett ver-
glich. Tödliche Narkosezwischenfälle waren damals die Regel (es war die Zeit des Chlo-
roforms gewesen), viele Patienten verbluteten (Bluttransfusionen wurden zum damali-
gen Zeitpunkt noch kaum angewandt, nur wenige mutige Chirurgen wagten das enorme
Risiko dieses Eingriffes), bei vielen Krankheiten konnte man nur tatenlos dem natürli-
chen Verlauf zusehen. Dies alles dürfte nicht unwesentlich zu Landsteiners Entschluss
beigetragen haben, der praktischen Medizin den Rücken zu kehren und wieder zu sei-
ner geliebten „Theorie“ zurückzukehren. Landsteiner war 27 Jahre alt, als er die Chirur-
gische Klinik verließ.

Mit Datum vom 18. Oktober 1895 ist ein Schriftstück von Max von Gruber, dem damali-
gen Vorstand des Hygiene-Institutes in Wien überliefert, in dem er das „löbliche Profes-
soren-Collegium der Medizinischen Fakultät Wien“ bittet, die vom Kultusministerium be-
willigte zweite Assistentenstelle seines Institutes einem gewissen Dr. Karl Landsteiner
für die Zeit vom ersten Januar 1896 bis zum 31. Dezmeber 1897 zu geben. Der Bitte
wurde entsprochen und so konnte Landsteiner wieder seine wissenschaftlichen Arbeiten
aufnehmen. Allerdings änderte sich die Thematik seiner Forschungsrichtung grundle-
gend. Waren bisher seine Arbeiten nahezu ausschließlich chemischer Natur gewesen,
wurde nun die bakteriologische Serologie sein Thema, eine Forschungsrichtung, der er
zeitlebens treu bleiben sollte. Aus dieser Zeit stammen Arbeiten über die „Einverleibung
sterilisierter Bacterienkulturen“, die „Bakteriendichtigkeit der Darmwand“ oder die „Wir-
kung des Choleraserums außerhalb des Tierkörpers“.

Allerdings waren die Arbeitsbedingungen am Hygieneinstitut nicht gerade berauschend.
Das Institut war damals in der sog. alten Gewehrfabrik in Wien untergebracht, einem
relativ kleinen Gebäude, das neben der Hygiene noch die Anatomie, die Physiologie und
die Embryologie beherbergte. Die Räumlichkeiten waren beengt, die Ausstattung
schlecht und veraltet. Deshalb wechselte Landsteiner noch vor Ablauf seines Vertrages
am 1. Juli 1897 in das pathologisch-anatomische Institut der Universität Wien. Für Anton
Weichselbaum, den damaligen Direktor des Institutes, war Landsteiner wohl vor allem
wegen seiner Kenntnisse der Mikrobiologie ein wertvoller Assistent, der von ihm sehr
gefördert und auch später habilitiert wurde.

Diese Zeit war wohl eine der, wenn nicht die intensivste Schaffensperiode Landsteiners
überhaupt. In seiner Zeit am Pathologisch-anatomischen Institut veröffentlichte er insge-
samt 75 hochkarätige wissenschaftliche Arbeiten (darunter jene, für die er 1930 den No-
belpreis erhielt). Daneben ist sein Fleiß aber auch daraus ersichtlich, dass Landsteiner
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in den Jahren 1898 bis 1908 insgesamt 3639 Obduktionen eigenhändig durchführte –
das ist etwa ein Fünftel aller Leichenöffnungen des Institutes in dieser Zeit. Seine schon
sprichwörtliche Arbeitswut zeigt sich in einer Episode, die sein damaliger Schüler und
späterer Primarius des Ospedale Maggiore in Triest, Adriano Sturli, in einem Brief vom
26. September 1961 plastisch schilderte:

„…….Ich muss noch erwähnen, dass die letzten Arbeitsstunden am Nachmittag des 31.
Dezember 1901 anfingen und ununterbrochen bis halb neun Uhr abends dauerten. Nur
wir zwei waren ganz allein in dem stillen, öden, von allen verlassenen pathologischen
Institut! Diese Stunden waren komisch-tragisch für mich: ich wäre gern schon viel früher
mit meinen Freunden davongelaufen, um den Silvesterabend lustig zu verbringen.
Landsteiner aber war freundlichst unerbittlich und so musste ich, nach seinen Weisun-
gen, weiter Blutkörperchen waschen und verschiedene Seren vermischen, abzentrifu-
gieren usw., musste Tierkohlenpulver mit Farbe sättigen und ähnliches, so wie eben die
Experimente in der Publikation erklärt werden, mit Resultaten, die mich in Verwunde-
rung versetzten und Landsteiner als selbstverständlich erwartete. Zuletzt verabschiede-
ten wir uns, müde aber ganz freundlich, uns ein glückliches neues Jahr wünschend!“
Soweit Adriano Sturli zum Silvesterabend 1901.

In diese Zeit fällt auch Landsteiners Habilitation. 1902 wurde er als Mitglied der k.k. Ge-
sellschaft der Ärzte in Wien aufgenommen. Im selben Jahr reichte er seine kumulative
Habilitation ein, welche von Professoren Weichselbaum (seinem Chef) und Prof. Ludwig
(einem Chemiker, dem damaligen Dekan) begutachtet wurden. Am 19. Mai 1903 wurde
Landsteiner mit einem Schreiben des Ministers für Kultus und Unterricht als Privatdo-
zent für pathologische Anatomie bestätigt.

5 Jahre später, am 1. Januar 1908 übernahm Landsteiner als 39-Jähriger die sog. Pro-
sektur, d.h. die Abteilung für Pathologie des Wilhelminenspitals in Wien. Nachdem das
Professorenkollegium der Universität Wien am 16. Juni 1909 seine Ernennung zum Pro-
fessor mit 25 gegen 1 Stimme vorgeschlagen hatte, erfolgte am 9. Jänner 1911 (man
beachte: fast 2 Jahre später) die Ernennung zum unbesoldeten Professor für pathologi-
sche Anatomie. Am Wilhelminenspital blieb Landsteiner bis zum Zusammenbruch der
Donaumonarchie Ende 1918.

Nach dem frühen Tod seines Vaters hing Landsteiner mit großer Liebe an seiner Mutter.
Ihr Tod am 6. April 1908, kurz nach Übernahme der Prosektur am Wilhelminenspital traf
in offenbar sehr. Die Jahre nach dem Tod seiner Mutter waren erfüllt mit einem enormen
Pensum an Arbeit. Landsteiner, der schon immer viel und gern gearbeitet hatte, wurde
in der Folge nahezu unermüdlich. Seine Tage waren mehr als ausgefüllt einerseits
durch seine Tätigkeit am Wilhelminenspital, andererseits durch seine Forschungsaufga-
ben als Professor für pathologische Anatomie an der Universität Wien. Aus dieser Zeit
resultiert eine Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen über die unterschiedlichsten
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Themen, die meisten von ihnen mit wirklich hochkarätigem Inhalt. Viel Platz für ein Pri-
vatleben blieb da offensichtlich nicht.

Mitten im ersten Weltkrieg, im Jahre 1916 heiratete er relativ spät, im Alter von 48 Jah-
ren, seine langjährige Verlobte Leopoldine Wlasto, 5 Monate später wurde ihr Sohn
Ernst-Karl geboren. Kurz vor der Geburt hatte die junge Familie Landsteiner ein kleines
Häuschen in Pukersdorf bei Wien gemietet, wo sie nun etwas außerhalb Wiens im Grü-
nen lebte und sich offensichtlich auch recht wohl fühlte. Als Landsteiner wegen der In-
stallation von elektrischem Licht in seinem neuen Haus beim Betriebsleiter des örtlichen
Elektriziätswerks vorsprach, lernte er auch dessen 15-jährigen Sohn Karl Jagersberger
kennen. Dieser junge Mann beschreibt in einem Brief aus dem Jahre 1970 die Persön-
lichkeit Landsteiners mit folgenden Worten: „Wenn ich heute darüber nachdenke, wes-
halb ich mit Dr. Landsteiner trotz des erheblichen Alterunterschiedes (nota bene: Ja-
gersberger war damals 15) ein fast vertrauliches Verhältnis hatte, so mag das daran
gelegen sein, dass er als leidenschaftlicher Arzt, ausgeprägter Wissenschaftler und Ent-
decker seiner Zeit so weit voraus war, dass er auch in Fachkreisen geachtet, aber nicht
gleich verstanden wurde und deshalb, das ist meine Beobachtung, wohl einsam war. In
meiner Person fand er nicht nur einen aufgeschlossenen Gesprächspartner, sondern
was für ihn ausschlaggebend gewesen sein dürfte, einen aufmerksamen Zuhörer….“.
Ganz offensichtlich schien Landsteiner ein sehr ruhiger, eher bescheidener Mensch ge-
wesen zu sein, der nur wenig Aufhebens um seine Person machte. Von Kollegen wurde
er eher als scheu beschreiben, der nie von sich aus eine Diskussion begann, aber im-
mer aufgeschlossen und hilfreich gegenüber Fragen und Bitten war.

Das Jahr 1919 war wohl das bitterste Jahr nach dem verlorenen Krieg überhaupt. Die
Donaumonarchie war zusammen gebrochen, in Österreich herrschte Hunger und Not.
Brennmaterial war knapp, die Menschen froren. An ein wissenschaftliches Arbeiten in
den ungeheizten Räumen des Institutes war nicht mehr zu denken. Auch privat schien
für Landsteiner die Situation ausweglos. Landsteiners finanzielle Verhältnisse waren ja
schon vorher nicht die besten gewesen – aber nun war die Situation unerträglich gewor-
den. Der letzte Anstoß, Österreich den Rücken zu kehren, war wohl die Tatsche gewe-
sen, dass eines Tages Holzsammler in ihrer Not, Brennmaterial zu finden, Teile des
Zaunes von Landsteiners Haus in Pukersdorf abrissen und mitnahmen. Dies hat ihn of-
fenbar sehr getroffen. Zudem war ihm von der vorgesetzten Behörde mitgeteilt worden,
dass er seine Arbeit als Prosektor am Wilhelminenspital weiterhin ohne Anspruch auf
Entlohnung zu erfüllen habe. Der bereits erwähnte Karl Jagersberger schreibt über die-
se Zeit: „Die Verhältnisse nach Kriegsende wurden für Dr. Landsteiner wirtschaftlich und
persönlich unerträglich. Er ist mit Recht über die Behandlung, die man ihm angedeihen
ließ, verbittert. Wir haben in dieser Zeit oft über Auswanderung gesprochen.“

Eines Tages ist es dann soweit. Landsteiner (51-jährig) erhält durch Vermittlung seines
Assistenten Hans Lampl 1919 eine Stellung am Katholischen Krankenhaus in Den
Haag, wo er die Prosektur, d.h. die Pathologie übernahm. Er verließ Wien und zog mit
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seiner Frau und seinem Sohn in ein kleines Haus am Meer in Scheveningen bei Den
Haag. Obwohl Landsteiners sich dort offensichtlich sehr wohl fühlten, war die Zeit alles
andere als glücklich. Zwar waren die Lebensbedingungen in Holland besser als in Öster-
reich, aber der Gehalt Landsteiners reichte auch hier nicht aus, um seine Familie ernäh-
ren zu können. So nahm Landsteiner notgedrungen noch einen Nebenjob an und arbei-
tete in einer kleinen Firma an der Herstellung von Tuberkulin. Auch in wissenschaftlicher
Hinsicht war es für ihn schwierig. Die Räume waren winzig, die Ausstattung offenbar
ungenügend und Landsteiner durch die tägliche Routine in der Pathologie wohl vollstän-
dig ausgelastet. Für wirklich wissenschaftliche Arbeit blieb nur wenig Raum. Deutlich
wird dies aus einer Beschreibung von Peyton Rous, einem späteren Kollegen von Karl
Landsteiner am Rockefeller Institut in New York: „He did the routine work of a clinical
laboratory, examining urines and blood, making Wasserman tests, performing post-
mortems and scrutinizing the tissues microscopically – all this in a single room, with a
nun and a man-servant as his only assistants.” Und weiter heißt es: “The room ist used
for several other purposes, every doctor, who wants to examine a urine or who wants to
have a cup of coffee or who wants to have a talk with Landsteiner comes to that room”.
Man kann sich gut vorstellen, wie effektiv wissenschaftliches Arbeiten unter solchen Be-
dingungen sein konnte. Trotzdem gelang es Landsteiner, auch in seiner holländischen
Zeit mehrere wissenschaftliche Arbeiten zu publizieren, was sicherlich nur mit eiserner
Disziplin und wissenschaftlichem Fanatismus zu bewerkstelligen war.

4 Jahre später (er war inzwischen 55 Jahre alt) erhielt Landsteiner einen Ruf an das Ro-
ckefeller Institute for Medical Research in New York. Es war die Zeit als die Rockefeller
Foundation die Forschung in Europa massiv unterstützte. Viele europäische Wissen-
schaftler wurden als Gäste an amerikanische Universitäten und Forschungseinrichtun-
gen eingeladen, andere erhielten Berufungen an Rockefeller-Institute. Als Landsteiner
im Frühjahr 1923 mit seiner Familie in New York ankam, soll er auf die Frage, welche
Art der Unterbringung er denn brauche, geantwortet haben: „Ich möchte ein kleines
Häuschen am Meer wie in Scheveningen. Es soll nicht mehr kosten als ich dort zahlte,
warten Sie ….. etwa 50 Dollar im Monat“. Man kann sich leicht vorstellen, dass solche
Forderungen auf die New Yorker Weltstadtbürger etwas befremdlich wirken mussten.
Letztendlich nahm sich die Familie Landsteiner eine Wohnung, die nicht am Meer lag
sondern mitten in Zentrum New Yorks, in der lärmenden, lauten Madison Avenue, im
ersten Stock über einem Metzger – und die sicherlich ein Vielfaches des Preises seines
Häuschens in Scheveningen gekostet haben mag. Verständlich, dass sich Landsteiner,
der die Ruhe und die Abgeschiedenheit liebte und Lärm verabscheute, nie so ganz an
dieses Leben in Amerika gewöhnen konnte. Es wird erzählt, dass Landsteiner eines Ta-
ges sein Klavier verkauft hat, weil er die dauernden Klagen des Nachbarn nicht mehr
ertragen konnte. Dieser beschwerte sich nicht etwa über schlechtes Klavierspiel oder
häufiges Üben, sondern darüber, dass ihn der Lärm des Landsteiner-Pianos beim Ra-
diohören stören würde.
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Obwohl Landsteiner vor dem Erhalt des Nobelpreises nur wenige Räume zu Verfügung
standen und er immer wieder auf typische Wienerische Art darüber „gegrantelt“ haben
soll, waren die Arbeitsbedingungen am Rockefeller Institute gut – zumindest um vieles
besser als in Europa. Landsteiners Arbeiten galten von nun an vorwiegend der Immuno-
logie des Blutes; er arbeitete und publizierte viel. 1926 erhielt er den Jahrespreis der
Hans-Aaronson-Stiftung Berlin, ein Jahr später wurde ihm die Ehrendoktorwürde der
Universität Chicago verliehen und 1929 wurde er zum Präsidenten der American Asso-
ciation of Immunologists gewählt (eine ungewöhnliche Ehre, wenn man bedenkt, dass
Landsteiner zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 7 Jahre in America war).

Wie schon in Wien und Den Haag so verstand es Landseiner auch in New York, Kolle-
gen, Schüler und Mitarbeiter für seine Arbeit zu begeistern. Bald zählte sein Labor zu
einer der begehrtesten Plätze für Wissenschaftler weltweit. Zu seinen Schülern gehörten
Namen wie Phillip Levine und Alexander Wiener, die mit ihm zusammen das Rhesus-
System entdeckten und viele andere mehr. Landsteiner war bekannt als überaus kriti-
scher Wissenschaftler, der alles immer und überall in Frage stellte. Jedes Experiment
seiner Assistenten musste vor seinen Augen wiederholt werden, alle wesentlichen Expe-
rimente wurden letztendlich immer nochmals von ihm persönlich durchgeführt, nichts
wurde dem Zufall überlassen. In der Öffentlichkeit war Landsteiner jedoch eher ein zu-
rückhaltender Mensch. Er verzichtete auf Auto, Radio und Telefon, um lieber abends
zuhause ungestört lesen und arbeiten zu können. Am liebsten zog er sich wohl auf sei-
nen Landsitz zurück, eine verlassene Farm in den riesigen Wäldern von Vermont, die er
für seine Familie als Erholungsort gekauft hatte, wo er sich – wann immer ihm die Zeit
blieb - mit viel Liebe um seinen Garten und seine Obstbäume kümmerte.

Die Krönung seines Lebenswerkes war die Verleihung des Nobelpreises für Medizin. Er
erhielt ihn im Jahre 1930 im Alter von 62 Jahren für die Entdeckung der Blutgruppen, die
er im Jahre 1901 publiziert hatte. Interessant war seine Reaktion, als er erfuhr, dass er
den Nobelpreis erhalten hatte. Als ein Freund am Abend der Verkündungstages bei ihm
vorbeigekommen war, um ihm zu gratulieren, fand er die Familie Landsteiner ganz nor-
mal zusammensitzen wie jeden Tag. Es stellte sich heraus, dass Landsteiner am Abend
nach Hause gekommen war und weder seiner Frau noch seinem Sohn etwas von dem
Nobelpreis erzählt hatte.

Im Jahre 1939, mit 71 Jahren, endete Landsteiners aktive Mitgliedschaft im Rockefeller
Institut. Obwohl üblicherweise Emeriti am Rockefeller-Institut nicht weiterarbeiteten, er-
hielt Landsteiner – als wohl große Ausnahme – auch nach seinem Ausscheiden ein klei-
nes Labor zugeteilt, in dem er trotz seines hohen Alters unermüdlich weiter arbeitete. 28
Publikationen sind das Ergebnis aus jener Zeit; eine davon war die Entdeckung des
Rhesus-Blutgruppen-Systems. Linus Pauling, der spätere Nobelpreisträger für Chemie,
sagte von Landsteiner (den er in dieser Zeit kennen gelernt hatte), dass er bei ihm den
„besten Vier-Tage-Kurs in Immunologie in der Menschheitsgeschichte“ besucht habe.
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Die letzten Jahre Landsteiners wurden durch die Krankheit seiner geliebten Frau ge-
trübt. Leopoldine Landsteiner litt an einem Malignom der Schilddrüse. Aber wie
Landsteiner eben war – eine kampflose Kapitalution kam für ihn nicht in Frage. So wid-
mete er sich die letzten Monate seines Lebens mit ganzer Energie dem Studium bösar-
tiger Geschwülste, bis hin zur absoluten körperlichen Erschöpfung. Am 24. Juni 1943
erlitt er in seinem Labor einen schweren Herzanfall. Zwei Tage später, am 26. Juni
1943, 2 Wochen nach seinem 75ten Geburtstag, verstarb Karl Landsteiner, ein halbes
Jahr vor seine Frau. Beide liegen auf einem kleinen, unbekannten Friedhof in Nantucket
begraben.

Lassen Sie mich nun noch ein paar Sätze zum wissenschaftlichen Werk Karl Landstei-
ners sagen. Es ist so ungewöhnlich, wie es Landsteiner wohl selbst war. Es ist gekenn-
zeichnet durch 346 Publikationen, viele davon hoch- und höchstkarätig. Es ist kenn-
zeichnet durch eine Vielzahl von Themen, von chemischen Arbeiten über Arbeiten zur
Immunhämatologie bis hin zur Poliomyelitis und zur Syphilis. Es ist gekennzeichnet vom
Humboldschen Ideal des universitären Gelehrten, dessen Ziel nicht die schnelle Umset-
zung neu erworbenen Wissens in gewinnbringende Patente, sondern die Schaffung von
Wissen um des Wissens willen ist. Es würde zu weit führen, nun alle Arbeiten Landstei-
ners aufzulisten und zu beschreiben, Lassen Sie mich deshalb kurz auf jene Arbeit ein-
gehen, welche die Medizin wohl am meisten beeinflusst hat und für die er letztendlich
auch den Nobelpreis erhielt. Landsteiner war der Entdecker der ABO-Blutgruppen und
gilt damit zu Recht als Vater der modernen Transfusionsmedizin, als Begründer des
Fachgebietes, das viele Therapieformen unserer heutigen Medizin überhaupt erst er-
möglicht. Ohne Landsteiner wäre die Medizin heute sicherlich eine andere als die, die
sie ist.

Will man die Bedeutung der Entdeckung Landsteiners verstehen, so muss man in der
Geschichte der Transfusionsmedizin einige Jahrhunderte zu den Anfängen der Blut-
transfusion zurückgehen. Die Idee, Blut von einem Individuum auf ein anderes zu über-
tragen, war keineswegs neu, als Landsteiner seine Bahn brechenden Entdeckungen
machte. Als erster soll ein englischer Landgeistlicher, Francis Potter bereits mehrere
Jahrhunderte vorher, im 17ten Jahrhundert, darüber spekuliert haben.

Die erste Transfusion von Tierblut auf den Menschen fand am 15. Juni 1667 in Paris
statt. Es war der französische Mathematiker und spätere Leibarzt Ludwig des XIVten,
Jean-Babtiste Denis, der als erster einem 15-jährigen Jungen das Blut eines Tieres ü-
bertrug. Der Junge hatte eine fieberhafte Erkrankung und man hatte das gemacht, was
man in jener Zeit therapeutisch immer machte (egal woran er Patient litt): Aderlässe.
Das ging natürlich nur eine Weile gut - so lange, bis der Junge nahezu ausgeblutet war.
Dann entschloss man sich zu dieser Transfusion.

Interessant war die Begründung für die Wahl des Spender-Tieres. Es war der Charakter
des Lammes, das den Ausschlag für diese Art der Transfusion gab. Das Lamm galt in
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der Mythologie als frommes und zahmes Tier, durch dessen Blut man nicht die Übertra-
gung schlechter Charakter-Eigenschaften befürchten musste. Hätte man beispielsweise
Hundeblut genommen, so hätte die große Gefahr bestanden, den Transfusionsempfän-
ger „bissig“ zu machen. Der Junge überlebte – aus welchen Gründen auch immer. Dem-
entsprechend verbreitet sich diese Therapiemethode innerhalb Europas wie ein Lauf-
feuer (auch ohne Radio, Fernsehen und Internet) und es wurde Mode, Patienten (was
immer sie auch hatten) Lammblut zu transfundieren.

Nun, wie nicht anders zu erwarten, ging diese Art der Transfusion nicht immer gut aus
und es kam wie es kommen musste. Die sog. Chirurgia transfusioria (wie man damals
die Transfusionsmedizin nannte) kam in Verruf und es dauerte nicht lange, bis sich die
Juristen der Sache annahmen. So schränkte der französische Gerichtshof „Le Chatelet“
durch einen Urteilsspruch am 17. April 1668 (also bereits ein Jahr nach der ersten
Lammbluttransfusion) die ärztliche Therapiefreiheit in der Form ein, dass „es von nun an
……keinem erlaubt sein solle, ohne die Einwilligung eines der Pariser Fakultät angehö-
renden Arztes die Transfusion anzustellen“.

Trotz dieses Richterspruchs wurde die Transfusion von Schafsblut eine der beliebtesten
Therapiemethoden über Jahrhunderte hinweg. Es dauerte immerhin bis in die zweite
Hälfte des 19ten Jahrhunderts, bis sich – wie manche Spötter damals meinten – die Er-
kenntnis durchsetzte, dass man für eine solche Transfusion 3 Schafe benötigte: einmal
das Schaf, das als Blutspender diente, einmal das Schaf, das eine solche Procedur über
sich ergehen ließ (gemeint war der Patient) und letztendlich das größte aller Schafe,
nämlich das, welches eine solche Therapiemethode durchführte (gemeint natürlich der
Arzt).

Zu Begin des 19ten Jahrhunderts wurde von James Blundell, einem englischen Physio-
logen und Geburtshelfer eine neue Ära der Transfusionsmedizin eingeleitet. Er wagte
als erster im Jahre 1818 (also 82 Jahre vor Landsteiners Entdeckung) eine Bluttransfu-
sion von Mensch zu Mensch. Der Patient verstarb, allerdings nicht – wie die spätere
Obduktion ergab – an den Folgen der Transfusion, sondern an den Folgen einer Blutlee-
re. Damit glaubte man die Unschädlichkeit der Bluttransfusion als bewiesen. Den Ruf als
Vater der modernen Transfusionsmedizin erwarb sich Blundell einige Jahre später im
Jahre 1825, als er über die Rettung von 6 Frauen berichtete, die nach der Geburt zu
verbluten drohten und die er durch eine Bluttransfusion am Leben erhalten konnte.

Blundell nannte seinen Transfusionsapparat damals „The Gravitator“. Im Grunde war
das nichts anderes als ein Trichter, über den das Spenderblut mit Hilfe eines Metallroh-
res per Schwerkraft in die Vene der Patientin geleitet wurde. Nach seinem Bericht in der
Royal Society im Jahre 1828 über diese Transfusionserfolge entwickelte sich die Trans-
fusion von Menschblut zu einer recht anerkannten Therapiemaßnahme mit „nicht zu un-
terschätzendem Erfolg“. Jenes Zitat aus einer Publikation Mitte des 19 Jahrhunderts
spricht Bände:
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„Die Transfusion ist eine der sichersten chirurgischen Eingriffe. Die Sterberate liegt bei
einem von drei Patienten. Damit ist sie noch niedriger als nach der Behandlung von Ein-
geweidebrüchen und entspricht etwa der Sterberate von Amputationen“.

Auf eine wirklich wissenschaftliche Basis wurde die Blutransfusion allerdings erst durch
die Entdeckung Karl Landsteiners gehoben, die ihm 30 Jahre später den Nobelpreis ein-
bringen sollte. Was hatte Landsteiner gemacht?

Wie zum damaligen Zeitpunkt nahezu jede Bahn brechende Erkenntnis war auch
Landsteiners Versuchsaufbau denkbar simpel und einfach. Landsteiner entnahm von
sich selbst und 5 weiteren Mitarbeitern Blut und trennte dieses durch Zentrifugation in
Blutserum (d.h. die Flüssigkeit des Blutes) und rote Blutkörperchen (Erythrozyten) auf.
Anschließend mischte er sein Serum und die Blutkörperchen der einzelnen Mitarbeiter
Dr. Sturli, Dr. Pleen, Dr. Störk, Dr. Erdheim, Dr. Zarisch untereinander und beobachtete
was passierte. Gleiches tat dann er dann in einem weiteren Versuch auch mit den Seren
aller anderen Mitarbeiter.

Da gab es Mischungen, wo gar nichts passierte, beispielsweise wenn man das Serum
Landsteiners mit den Erythrozyten von Dr. Pleen zusammen gab. Die Erythrozyten und
des Plasma vermischten sich problemlos und die Mischung sah aus wie ganz normales
Blut. Es gab aber auch eine ganz andere Situation, beispielsweise beim Zusammenmi-
schen von Landsteiners Serum mit den Erythrozyten von Dr. Sturli. Hier entstanden
merkwürdige Klumpen (die Landsteiner Agglutinate nannte), die ganz anders aussahen
als normales Blut. Offensichtlich wurden hier die Erythrozyten durch irgendeine Eigen-
schaft des zugegebenen Serums zusammengeballt. Diese Ergebnisse publizierte
Landsteiner am 14. November 1901 in der Wiener klinischen Wochenschrift unter dem
Titel „Über Agglutinationserschienungen normalen menschlichen Blutes“.

Landsteiner schloss daraus, dass es drei Blutgruppen geben müsse, nämlich A, B und
O. Alle Menschen besitzen in ihrem Serum Antikörper gegen die jeweils fremde Eigen-
schaft, also Patienten der Blutgruppe A weisen anti-B auf, Patienten der B anti-A, Pati-
enten der Blutgruppe 0 sowohl anti-A als auch anti-B. Die 4te Blutgruppe AB konnte
Landsteiner nicht entdecken, da keiner seiner Mitarbeiter diese Blutgruppe aufwies (sie
ist die seltenste). Sie wurde kurz danach von seinem Schüler Adriano Sturli entdeckt
und definiert.

Damit war er Grundstein für die moderne Transfusionsmedizin gelegt. Damit war auch
erklärt, warum damals ein Drittel der Patienten bei der Bluttransfusion verstarben. Das
waren nämlich all diejenigen Patienten, deren Blutflüssigkeit Antikörper gegen die Blut-
gruppen-Eigenschaften der transfundierten Erythrozyten des Spenders aufwiesen.
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Heute wissen wir natürlich sehr viel mehr über die Blutgruppen als Landsteiner damals.
Heute wissen wir, dass es nicht nur das ABO-Blutgruppensystem mit seinen 4 Blutgrup-
pen gibt, sondern 28 weitere Blutgruppensysteme mit etwa 600 verschiedenen Antige-
nen (von denen übrigens das MN-System, das Rhesus-System und das P-System in
den 40iger Jahren ebenfalls von Karl Landsteiner entdeckt und publiziert wurden); heute
wissen wir von der Bedeutung und der klinischen Relevanz vieler Antikörper für die Blut-
transfusion, für die Organtransplantation, für die Schwangerschaft und vieles mehr.
Doch alles nahm seinen Ausgang von jener ebenso einfachen wie epochalen Erkenntnis
Landsteiners über das Auftreten dieser Zellklumpen beim Zusammengeben von Serum
und Erythrozyten verschiedener Menschen. Er legte den Grundstock, auf den die ge-
samte moderne Transfusionsmedizin aufbaut und nach dessen Prinzip wir auch heute,
über 100 Jahre später, immer noch arbeiten.

Wie ging es nun weiter mit jener Erkenntnis über die Blutgruppensysteme, nachdem sie
im Jahre 1901 publiziert worden war? Eigentlich würde man erwarten, dass ein Auf-
schrei durch die Medizin gegangen wäre, dass angesichts der Lösung eines Jahrhun-
derte alten Problems nun der Fortschritt rasant seinen Lauf genommen hätte und dass
ab dato viele Menschleben durch Bluttransfusionen hätten gerettet worden wären.
Nichts wäre normaler gewesen, als dass Landsteiner – vergleichbar Konrad Röntgen,
der seine Erkenntnis nur einige Jahre früher gemacht hatte und der dadurch innerhalb
weniger Jahre weltberühmt wurde – überall bekannt und berühmt geworden wäre.

Doch es passiert nichts – rein gar nichts. Landsteiners Erkenntnis über die Blutgruppen
wurde schlichtweg von der medizinischen Wissenschaft der damaligen Zeit nicht zur
Kenntnis genommen. Ja, viele unserer akademischen Kollegen belächelten leicht spöt-
tisch die Erkenntnis jenes jungen Pathologen, ohne jemals einen ernsten Gedanken
daran verschwendet zu haben.

Obwohl Landsteiner eben jene, später Nobelpreis-gekrönte Arbeit mit den Worten
schloss „ Endlich sei noch erwähnt, dass die angeführten Beobachtungen die wechseln-
den Folgen therapeutischer Menschbluttransfusionen zu erklären gestatten“ und spätes-
tens mit diesem Satz die Bedeutung seiner Erkenntnis klar gewesen sein müsste, be-
fand sich ein Jahrzehnt später, am Vorabend des ersten Weltkrieges, die Bluttransfusion
noch immer im Experimentalstadium. Sie stellte das Steckenpferd einiger weniger, meist
von den seriösen Kollegen nicht sehr ernst genommenen Sektierer dar und führte ein
Schattendasein in der medizinischen Wissenschaft.

Als die Katastrophe im August 1914 dann mit ungeahnter Wucht über Europa herein-
brach konnten Bluttransfusionen allenfalls punktuell und nur ganz vereinzelt durchge-
führt werden. Sie waren damals ein so seltenes Ereignis, dass jeder Fall einzeln publi-
ziert wurde. So berichteter der Chirurg Coenen auf Seiten der Mittelmächte über 11 (!)
Transfusionen auf den Hauptverbandsplätzen und den Feldlazaretten des ersten Welt-
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krieges (zum Vergleich: heute transfundieren wir jährlich über 4 Millionen Erythrozyten-
konzentrate alleine in Deutschland).

Aber auch nach dem ersten Weltkrieg ist man überrascht über die Vorbehalte, die viele
Ärzte der Bluttransfusion entgegenbrachten. Den meisten Ärzten war auch 20 Jahre da-
nach nichts über die Entdeckung Landsteiners bekannt. Kaum einer wusste, dass durch
eine einfache Bestimmung der ABO-Blutgruppen der Transfusion ein Großteil ihrer Ge-
fährlichkeit hätte genommen werden können. Solche Pannen in der wissenschaftlichen
Rezeption von Forschungsergebnissen in Europa waren es, die dazu führten, dass sich
in den 20iger und 30iger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Schwerpunkt der transfu-
sionsmedizinischen Entwicklung zunehmend in die USA verlagerte und insbesondere
Deutschland immer mehr ins Hintertreffen geriet.

Mitte der 20iger, Anfang der 30iger Jahre – vor allem mit der Verleihung des Nobelprei-
ses an Karl Landsteiner – begann sich seine Entdeckung dann jedoch in der medizini-
schen Fachwelt langsam durchzusetzen. Die ersten echten „Blutbanken“ in des Wortes
heutiger Bedeutung entstanden 1937 in den USA am Cook County Hospital und etwas
früher noch in Moskau am „Forschungsinstitut für Hämatologie und Bluttransfusionswe-
sen“, das im Europa der 30iger Jahren auf diesem Gebiet als führend galt. An Deutsch-
land ging die einsetzende Entwicklung der Transfusionsmedizin zunächst jedoch trotz
des Nobelpreises weitgehend vorbei. Während sich in den dreißiger Jahren überall um
uns herum ein blühendes Transfusionswesen etablierte, blieb in Deutschland diesbe-
züglich die Zeit einfach stehen. So kennen wir beispielsweise aus Spanien einen Bericht
aus dem Jahre 1936, nach dem im Rahmen des Bürgerkrieges im Raum Madrid 4000
und im Raum Barcelona 3000 Konserven transfundiert worden waren, während in
Deutschland die Bluttransfusion noch immer eine Rarität darstellt. Volkmar Sachs, einer
der Pioniere der Transfusionsmedizin zu Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts kommentierte diese Entwicklung mit folgenden Worten: „Warum ausgerechnet
Deutschland, das Land, in dem ……besonders seit 1933 jede Tätigkeit organisiert wur-
de, die Organisation von Transfusionsdiensten unterlassen hat, wird ein unlösbares
Rätsel bleiben. Offenbar war die Bedeutung nicht erkannt worden“.

Erst der zweite Weltkrieg zwang Deutschland, langsam umzudenken. Bluttransfusionen
waren dringend erforderlich geworden, sowohl an der Front wie auch zu Hause. Aller-
dings gab es kaum Blutspender. Die Soldaten waren im Feld, die Frauen zu Hause
durch Bombenangriffe verletzt, umgekommen oder durch Arbeitseinsätze kaum verfüg-
bar. So sollte es bis nach dem zweiten Weltkrieg dauern, bis Landsteiners Erkenntnis
nicht nur im übrigen Europa und der Welt, sondern auch in Deutschland ihre volle Wirk-
samkeit zum Wohle der Patienten entfalten konnte.

Und wie ist die Situation heute, im Jahre 2007?
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Heute stehen uns eine Vielzahl der unterschiedlichsten Blutkonserven zur Verfügung
Bluttransfusionen sind aus der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken. Ohne sie
wären die meisten Operationen und auch viele anderen Therapieformen nicht durch-
führbar (man denke nur an die Stammzelltransplantation und viele andere). Blutgrup-
penantigene und ihre Antikörper (nicht nur 4 von Landsteiner, sondern darüber hinaus
nahezu unzählige weitere) können mit modernsten Methoden sicher und rasch bestimmt
werden. Die Bluttransfusion ist eine der sicherten Therapieverfahren in der gesamten
Medizin überhaupt. Sie ist mit einem weit geringeren Risiko verbunden als viele normale
Tätigkeiten des täglichen Lebens aussetzen.

Nur eines haben wir noch nicht geschafft: es gibt noch kein künstliches Blut, das in sei-
ner Qualität menschlichem Blut vergleichbar wäre. Noch hat sich der liebe Gott nicht so
weit in die Karten blicken lassen, dass es uns möglich wäre, den besonderen Saft prob-
lemlos durch ein Kunstprodukt zu ersetzen.

Und so lange uns dies nicht möglich ist, werden wir die Erkenntnisse dieses großen
Wissenschaftlers benötigen. Hermann Chiari, Vorstand jenes Institutes, in dem
Landsteiner 1900 die ABO-Blutgruppen entdeckte, charakterisierte 1957 Landsteiner mit
den Worten:

„So ist Landsteiner durch seine in der Stille des Laboratoriums geleistete unermüdliche
Forscherarbeit zu einem der größten Wohltäter der Menschheit geworden. Wo immer in
der Welt heute eine Bluttransfusion durchgeführt wird, wo immer einer besorgten Mutter
heute ihr höchst gefährdetes Kind erhalten wird, überall ist er unsichtbar zugegen“

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
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