Eine kurze Geschichte der klinischen Studie

 
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Geschichte

Eine kurze Geschichte der klinischen Studie
Meilensteine evidenzbasierter Arzneimittelprüfungen

P. Kleist, C. Zerobin Kleist

Übersichtsartikel, insbesondere zu historischen Themen, können langweilig                         wahrscheinlich bekanntesten, jedoch nicht ein-
sein. Dieser ist es hoffentlich nicht. Sie sollten daher den gesamten Artikel                     zigen Fall darstellt: In dieser Studie wurde der
lesen, um Antworten auf folgende, nur beispielhaft gestellte Fragen zu erhal-                     natürliche Verlauf der Syphilis seit 1932 an un-
ten: Warum wird der Wirkungsnachweis neuer Arzneimittel erst seit etwa                            vollständig aufgeklärten und bis zum Studien-
40 Jahren gefordert? Welches sind die «Goldstandards» klinischer Arznei-                          abbruch 1972 unbehandelten Schwarzen unter-
mittelstudien? Warum wurden Homöopathika im 19. Jahrhundert im Rahmen                             sucht, obwohl seit den 50er Jahren mit Peni-
von placebokontrollierten Doppelblindstudien untersucht? Wer hat die Meta-                        cillin ein wirksames Antibiotikum zur Verfügung
analyse «erfunden»? Die nachfolgenden Abschnitte sollen zu Ihrem besseren                         stand. Die amerikanische Reaktion auf diese
Verständnis der modernen Standards von klinischen Studien beitragen, indem                        Skandale gipfelte 1974 im National Research Act,
Sie einiges aus ihrer Entstehungsgeschichte erfahren.                                             durch welchen erstmals die obligatorische Be-
                                                                                                  gutachtung klinischer Studien durch eine Ethik-
                                                                                                  kommission eingeführt, eine adäquate Patien-
                                  Voraussetzung für die Zulassung eines neuen                     teninformation verbindlich vorgeschrieben und
                                  Arzneimittels ist seine positive Nutzen-Risiko-                 eine Kommission mit der Ausarbeitung ethischer
                                  Abwägung auf Basis der pharmazeutischen Qua-                    Prinzipien rund um die klinische Arzneimittel-
                                  lität, Wirksamkeit und Sicherheit. Der Nachweis                 prüfung beauftragt wurde. Deren Ergebnis ist
                                  der wirksamen und sicheren Anwendung am                         der sogenannte Belmont Report von 1979 [3],
                                  Patienten ist Gegenstand klinischer Studien. Ihre               der die drei Grundprinzipien einer ethischen
                                  Durchführung unterliegt heute einer strengen                    medizinischen Forschung festhält: 1. Respekt
                                  Regulierung, die sich auf drei Bereiche konzen-                 vor der freien, autonomen Entscheidung eines
                                  triert: die Beachtung ethischer Grundprinzipien,                Menschen bezüglich der Teilnahme an einer
                                  die Wahrung der Rechte der Versuchspersonen                     Studie; 2. das Überwiegen des Nutzens gegen-
                                  sowie die Einhaltung hoher methodisch-wissen-                   über den Risiken sowie 3. die gerechte und faire
                                  schaftlicher Standards.                                         Auswahl von Versuchsteilnehmern inklusive
                                                                                                  Vorkehrungen bei besonders schutzbedürftigen
                                                                                                  Personengruppen. Sowohl der National Research
                                  Ethische Leitlinien und gesetzliche                             Act als auch der Belmont Report haben die
                                  Regulierung                                                     jüngsten amerikanischen Regelungen zu Arznei-
                                                                                                  mittelversuchen und damit indirekt auch die-
                                  In Ermangelung allgemein akzeptierter For-                      jenigen in anderen Teilen der Welt nachhaltig
                                  schungsmethoden und gesetzlicher Regelungen                     beeinflusst. Sie können als Vorläufer der Good
                                  stützte sich die medizinische Forschung am                      Clinical Practice (GCP; auf deutsch: Gute Praxis
                                  Menschen – als Bestandteil ärztlichen Handelns                  der klinischen Versuche) angesehen werden.
                                  – bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts weit-                       Die Arzneimittelgesetzgebungen in Europa
                                  gehend auf generelle berufsethische Normen.                     und den USA blicken erst auf eine etwa 100jäh-
                                  Deren Weiterentwicklung zu expliziten for-                      rige Tradition zurück. Ihr Ziel bestand zunächst
                                  schungsethischen Leitlinien, wie beispielsweise                 ausschliesslich darin, Import, Kennzeichnung
                                  zur heute häufig im Rahmen von Arzneimittel-                    und Vertrieb von Arzneimitteln auf nationaler
                                  studien als ethische Referenz bezeichneten, 1964                Ebene zu regulieren. Lange Zeit war die klinische
                                  erstmals veröffentlichten Deklaration von Hel-                  Arzneimittelforschung überhaupt kein Thema.
Korrespondenz:                    sinki des Weltärztebundes [1], ist in erster Linie              Heute sind die Arzneimittelgesetze international
Dr. med. Peter Kleist             als Reaktion auf krasse Fälle des Forschungsmiss-               weitgehend harmonisiert und haben in bezug
PFC Pharma Focus AG               brauchs anzusehen. Eine wesentliche Schrittma-                  auf klinische Studien eine zweifache Aufgabe:
Chriesbaumstrasse 2
CH-8604 Volketswil                cherfunktion kam den verabscheuungswürdigen                     den Schutz der einzelnen Versuchsteilnehmer zu
Tel. 044 908 66 66                Humanexperimenten in Nazi-Deutschland zu.                       garantieren sowie die methodisch-wissenschaft-
Fax 044 908 66 77                 Aber selbst in den USA wurden noch in den                       lichen Voraussetzungen für die Untersuchung
E-Mail: peter.kleist@pfc.ch       70er Jahren Forschungsskandale aufgedeckt, von                  der Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimit-
Interessenverbindungen: keine     denen die sogenannte Tuskegee-Studie [2] den                    teln vorzugeben. Die Wahrung des Schutzes und

                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44    2475
Editores Medicorum Helveticorum
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                                  der Rechte der Versuchsteilnehmer ist Gegen-                    heraus, dass mehr als 2,5 Millionen Tabletten als
                                  stand der Guten Praxis der klinischen Versuche                  Prüfmuster an über 1200 amerikanische Ärzte
                                  [4]. Diese heute selbstverständlichen, interna-                 verteilt worden waren. Die Zeit war reif, die Prü-
                                  tional harmonisierten und praktisch weltweit                    fungs- und Zulassungsanforderungen an neue
                                  geltenden Standards haben jedoch eine erst                      Arzneimittel zu verschärfen, um ähnliche Fälle
                                  20- bis 30jährige Geschichte. Während in den                    von vornherein zu verhindern. Das 1962 vom
                                  USA mit dem National Research Act bereits in                    Kongress verabschiedete Kefauver-Harris Drug
                                  den 70er Jahren entsprechende Regelungen ent-                   Amendment [5] setzte nicht nur die Anforderun-
                                  standen, dauerte es in Europa bis zur zweiten                   gen an die Sicherheit eines Arzneimittels herauf,
                                  Hälfte der 80er Jahre, dass zunächst auf natio-                 sondern forderte zudem erstmals einen Wirk-
                                  naler Ebene, und bis 1991, dass auf Ebene der                   samkeitsnachweis – rückwirkend für alle seit
                                  Europäischen Gemeinschaft gesetzliche Rege-                     1938 zugelassenen Verschreibungsprodukte.
                                  lungen zur Forschung am Menschen erlassen                       Damit wurde der Grundstein für die gesetzliche
                                  wurden. In der Schweiz war dies entsprechend                    Regelung klinischer Studien im Sinne behörd-
                                  1993 mit der Verabschiedung des IKS-Regle-                      licher Genehmigungsverfahren und qualitäts-
                                  ments über Heilmittel im klinischen Versuch                     sichernder Massnahmen im Rahmen der Arznei-
                                  der Fall.                                                       mittelentwicklung gelegt.
                                      GCP adressiert jedoch nicht nur den Ver-                        In den 60er Jahren zog die amerikanische
                                  suchspersonenschutz, sondern beinhaltet auch                    Gesundheitsbehörde FDA daraufhin Tausende
                                  detaillierte Anforderungen zur Planung, Vor-                    Produkte vom US-Markt zurück, weil keine aus-
                                  bereitung, Durchführung, Auswertung und Be-                     reichenden Belege für deren Wirkung vorhan-
                                  richterstattung klinischer Studien. Die Aspekte                 den waren. Doch was bedeutete der geforderte
                                  der Qualitätssicherung und Aussagefähigkeit                     Nachweis einer Wirkung konkret? Noch 1970
                                  von klinischer Forschung wurden in ihrer Ent-                   klagte ein Arzneimittelhersteller, dass die hohe
                                  wicklung massgeblich durch medizinische Kata-                   Verschreibungsrate eines Produktes – gemessen
                                  strophen beeinflusst – und zwar infolge des Ein-                am wirtschaftlichen Erfolg – als indirekter Aus-
                                  satzes von Arzneimitteln, die hinsichtlich ihrer                druck seiner Wirksamkeit akzeptabel sein müsse.
                                  Sicherheit unzureichend getestet waren. Es ist                  Die Klage wurde zwar vom Berufungsgericht ab-
                                  absolut erstaunlich, dass der Nachweis der Wirk-                gewiesen, dennoch war die FDA gezwungen, ihre
                                  samkeit eines Arzneimittels überhaupt erst seit                 Anforderungen an «substantial evidence» detail-
                                  etwa 40 Jahren gefordert wird.                                  lierter zu formulieren: die Durchführung von
                                                                                                  adäquaten, kontrollierten Studien, in denen
                                                                                                  Experimental- und Kontrollgruppe vergleichbar
                                  Der Einzug kontrollierter klinischer                            und effektive Massnahmen zur Verhinderung
                                  Studien in die Arzneimittelgesetz-                              eines Bias getroffen sind.
                                  gebungen                                                            In den 70er und 80er Jahren vollzog sich
                                                                                                  nicht nur in den USA, sondern auch in Europa
                                  Die frühere Geschichte der amerikanischen Arz-                  ein Wandel in der Zulassungspraxis der Arznei-
                                  neimittelgesetzgebung soll beispielhaft für die-                mittelbehörden. Wurden zuvor die Zulassungs-
                                  jenige in anderen Teilen der Welt dienen. In den                anträge eher auf philosophisch-wissenschaftli-
                                  USA starben 1937 über 100 Patienten, darunter                   cher Ebene diskutiert, rückten die Verlässlichkeit
                                  34 Kinder, nach Einnahme des Erkältungsmittels                  der vorgelegten Daten und die methodischen
                                  Sulfanilamid. Zur Herstellung der flüssigen Arz-                Grundlagen der Datenerhebung zunehmend in
                                  neiform wurde nämlich Diethylenglykol ver-                      den Vordergrund der Begutachtung [6]. Heute
                                  wendet, eine hochtoxische Substanz, die be-                     beruhen die Zulassungsanforderungen der Arz-
                                  kannterweise als Frostschutzmittel eingesetzt                   neimittelbehörden auf international harmoni-
                                  wird. Allerdings verstiess der Hersteller gegen                 sierten Standards, und zwar den Richtlinien der
                                  kein geltendes Gesetz. Erst mit dem daraufhin                   International Conference on Harmonisation
                                  erlassenen Federal Food, Drug and Cosmetic Act                  (ICH) [7], die sukzessive in die Arzneimittel-
                                  von 1938 wurde in den USA der Nachweis der                      gesetzgebungen in den USA, Japan und Europa
                                  Sicherheit vor Zulassung eines Arzneimittels                    aufgenommen wurden bzw. werden. Neben Vor-
                                  gefordert. Eine elementare Ausweitung erfuhr                    gaben zu GCP sind hier die grundlegenden
                                  diese Regelung als Folge der Thalidomid-Tra-                    methodischen Anforderungen an die Entwick-
                                  gödie. Weltweit waren bis Mitte der 60er Jahre                  lung eines Arzneimittels beschrieben. Auch die
                                  über 10 000 Geburtsschäden zu verzeichnen.                      Schweizerische Heilmittelbehörde berücksich-
                                  Obwohl das Schlafmittel Thalidomid in den                       tigt bei ihrer Begutachtung von Zulassungsanträ-
                                  USA keine Zulassung erhalten hatte, stellte sich                gen diese ICH-Richtlinien.

                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44    2476
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Geschichte

                                  Die gegenwärtigen «Goldstandards»                               menteller Forschung, die praktizierte Polyphar-
                                  klinischer Arzneimittelstudien                                  mazie und nicht zuletzt der Mangel an wirk-
                                                                                                  samen Heilmitteln haben diese Entwicklung
                                  Heute stellt die Durchführung randomisierter,                   zuvor über viele Jahrhunderte verhindert [13].
                                  kontrollierter und doppelblinder Studien den                    Die nachfolgenden Beispiele sollen exempla-
                                  Goldstandard für die Zulassung eines neuen                      risch Meilensteine in der etwa 250jährigen
                                  Arzneimittels dar [8, 9]. Während durch Rando-                  Geschichte der Arzneimittelstudien aufzeigen;
                                  misierung ein Patientenselektions- und Behand-                  es ist nicht beabsichtigt, einen chronologischen
                                  lungsallokationsbias verhindert werden soll [10],               und umfassenden medizinhistorischen Über-
                                  dient die Verblindung der alternativen Behand-                  blick zu geben.
                                  lungen dem Ausschluss eines Beobachter- und
                                  Interpretationsbias [11]. Als Kontrolle für die zu              Die ersten kontrollierten Studien
                                  untersuchende Behandlungsoption werden in                       Im Jahr 1747 startet der schottische Chirurg und
                                  der Regel Placebo oder eine wirksame Vergleichs-                Schiffsarzt der britischen Marine James Lind
                                  therapie eingesetzt. Statistisch notwendige hohe                (1716–1794) während einer Schiffsreise einen
                                  Fallzahlen erfordern die multizentrische Durch-                 Versuch zur Heilung von Skorbut [14]. Er wählt
                                  führung eines klinischen Versuchs. Da zu ver-                   zwölf Seeleute mit den typischen Symptomen
                                  gleichbaren Fragestellungen oftmals Ergebnisse                  aus und bildet sechs Gruppen mit jeweils zwei
                                  aus mehreren Studien vorliegen, hat sich die                    Personen, die während einer Woche unter-
                                  Metaanalyse als methodischer Ansatz zur Kon-                    schiedliche Diäten bzw. Behandlungen erhalten.
                                  solidierung des Wissens etabliert; im Rahmen                    Als Kontrolle dient die Verabreichung von Meer-
                                  der evidenzbasierten Medizin spiegelt sie heute                 wasser. Lediglich die beiden Vertreter der «Zitrus-
                                  den höchsten Erkenntnisgrad wider [12].                         gruppe», die täglich zwei Orangen und eine
                                      Die gültigen Regelungen zur Methodologie                    Zitrone erhalten, werden wieder dienstfähig.
                                  klinischer Arzneimittelstudien haben sich im                    James Linds Abhandlung über Skorbut, die 1753
                                  Verlauf der letzten Jahrzehnte etabliert; mit dem               veröffentlicht wurde [15], stellt nicht nur den
                                  aus dem Angelsächsischen stammenden Begriff                     Beginn der Vitaminforschung dar, sondern ist
                                  der evidenzbasierten Medizin wurden wir erst                    gleichzeitig auch die erste publizierte Vergleichs-
                                  in den 90er Jahren konfrontiert. Dennoch sind                   studie auf Basis einer klaren Hypothese (die den-
                                  die oben genannten methodisch-wissenschaft-                     noch teilweise falsch ist, weil James Lind bis
                                  lichen Standards weder eine Errungenschaft der                  zu seinem Tod glaubte, dass dem Skorbut eine
                                  Neuzeit, ein Importartikel aus den USA noch                     Verdauungsstörung zugrunde liegt [16]) und der
                                  eine Erfindung der Zulassungsbehörden oder der                  erste dokumentierte Einsatz einer nicht wirk-
                                  pharmazeutischen Industrie. Worin also wurzeln                  samen Kontrollbehandlung. Trotz der klaren
                                  die heutigen Versuchsstandards? Die nachfol-                    Resultate dauert es 42 Jahre, bis die «Zitrusthera-
                                  genden Abschnitte sollen aufzeigen, dass sich                   pie» seitens der britischen Marine offiziell ein-
                                  letztlich alle Elemente moderner klinischer                     geführt wird.
                                  Studien in der Medizingeschichte und den                            Der französische Physiologe Claude Bernard
                                  schrittweise, durch forschende Ärzte entwickel-                 (1813–1878) gilt dennoch als der erste, der die
                                  ten Untersuchungsmethoden wiederfinden;                         Notwendigkeit vergleichender Studien in der
                                  nur wurde manchem ärztlichen Pionier der                        Medizin erkannte; er wird als Begründer der wis-
                                  Forschungsmethodik nicht zu Lebzeiten die Ehre                  senschaftlichen Methode angesehen, die auf Be-
                                  zuteil, die er verdient gehabt hätte.                           obachtung, Hypothesenausarbeitung und -über-
                                                                                                  prüfung beruht. Er legt diese Grundsätze 1865 in
                                                                                                  seinem Buch «Einführung in das Studium der
                                  Evidenzbasierte Heilmittelstudien                               Versuchsmedizin» nieder [17]. Etwa zur selben
                                  zwischen dem 18. und der ersten Hälfte                          Zeit hält ein anderer Franzose, Pierre-Charles-
                                  des 20. Jahrhunderts                                            Alexandre Louis (1787–1872), der als einer der
                                                                                                  Begründer der modernen Epidemiologie angese-
                                  Obwohl bereits im antiken Griechenland An-                      hen wird, zusätzlich die statistische Auswertung
                                  sätze einer modernen Medizin zu finden sind,                    solcher Studien für erforderlich. Dies wird in
                                  wurde erst seit der Renaissance die wissenschaft-               seinen Versuchen zur Aderlasstherapie bei Pneu-
                                  liche Methodik entwickelt. Die fehlende Hinter-                 moniepatienten deutlich, in der er mathema-
                                  fragung traditioneller ärztlicher Autoritäten,                  tisch genau die Beziehung zwischen Sympto-
                                  die fehlenden Mittel zur Verfassung und Ver-                    men, Krankheitsdauer und Todesrate und dem
                                  breitung von Befunden, die nicht vorhandene                     Zeitpunkt des Aderlasses beschreibt [18]. Louis
                                  Infrastruktur für die Durchführung von experi-                  selbst war ein entschiedener Gegner einer un-

                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44    2477
Editores Medicorum Helveticorum
Geschichte

                                  reflektierten Anwendung der Aderlasstherapie,                   Rahmen von randomisierten Studien als un-
                                  die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts noch                wirksame Kontrollbehandlung eingesetzt. Dass
                                  eine hohe Popularität unter den französischen                   Placebo aber durchaus Effekte hervorrufen kann,
                                  Ärzten geniesst. Zu dieser Zeit importierte Frank-              erkannte man im Verlauf der 40er und 50er
                                  reich mehr als 40 Millionen Blutegel allein für                 Jahre. Der amerikanische Anästhesist Henry
                                  den medizinischen Gebrauch.                                     Beecher war einer der ersten, die sich mit dem
                                      Eine der ersten dokumentierten Cross-over-                  Placebophänomen auseinandersetzten. Als Arzt
                                  Studien ist auf den Briten Caleb Hillier Parry                  im Zweiten Weltkrieg in Italien ging ihm auf-
                                  (1755–1822) zurückzuführen [19]. Er wollte her-                 grund vieler Verwundeter das Morphin aus; in
                                  ausfinden, ob der viel teurere, aus der Türkei                  seiner Verzweiflung verabreichte er den Verletz-
                                  importierte Rhabarber – der zu jener Zeit von                   ten Kochsalzlösung und stellte häufig eine
                                  Ärzten als Abführmittel verordnet wird – Vorteile               schmerzlindernde Wirkung fest. Daraufhin be-
                                  gegenüber dem heimischen Rhabarber aufweist.                    fasste er sich systematisch mit Placebowirkun-
                                  Zu unterschiedlichen Zeitpunkten verabreichte                   gen. In seinen Versuchen an über 1000 Patien-
                                  er jedem Patienten verschiedene britische                       ten mit unterschiedlichen Erkrankungen zeigte
                                  und türkische Rhabarbersorten und verglich                      sich, dass durchschnittlich 35% der Patienten
                                  anschliessend die Symptome. Der 1786 veröf-                     auf Placebo ansprechen. 1955 publizierte er seine
                                  fentlichte Bericht belegte den medizinischen                    Ergebnisse im JAMA unter dem Titel «The power-
                                  Nutzen auch für britischen Rhabarber [20].                      ful placebo» [23], eine der in der Folgezeit am
                                                                                                  meisten zitierten Arbeiten zu dieser Thematik.
                                  Erster wissenschaftlicher Einsatz von Placebo                   Diese trug mit dazu bei, placebokontrollierte Stu-
                                  Ende des 18. Jahrhunderts waren vor allem in                    dien zur Untersuchung von Arzneimittelwirkun-
                                  England sogenannte «Metallische Traktoren» in                   gen zu etablieren.
                                  Mode, d.h. Metallstäbe, die das Verschwinden
                                  einer Vielzahl von körperlichen Beschwerden                     Von der einfachen Allokation der Studien-
                                  durch deren elektromagnetischen Einfluss ver-                   behandlungen zur zentralen Randomisierung
                                  sprachen. Selbst George Washington wird nach-                   Das Konzept der ungezielten Zuteilung von Be-
                                  gesagt, einen Satz dieser Traktoren erworben zu                 handlungen auf Versuchsgruppen wurde bereits
                                  haben. Um diesem fragwürdigen Heilverfahren                     1662 vom flämischen Arzt Johan Baptista van
                                  auf den Grund zu gehen, liess der britische Arzt                Helmont beschrieben: «Lasst uns aus den Kran-
                                  John Haygarth (1740–1827) im Jahr 1799 «ein-                    kenhäusern 200 oder 500 Patienten mit Fieber,
                                  fach blinde» Versuche durchführen, in denen                     zum Beispiel Pleuritis, nehmen. Diese teilen wir
                                  Patienten an verschiedenen Tagen nicht nur mit                  in zwei Hälften, indem wir Lose ziehen. Die eine
                                  den originalen metallischen Traktoren, sondern                  Hälfte fällt unter meine Art der Behandlung,
                                  auch mit Imitaten aus Holz, Knochen und Tabak-                  die andere unter Eure […]» [24]. Bis zu Beginn
                                  pfeifen «behandelt» wurden. Der erzielte Thera-                 des 20. Jahrhunderts tauchen in der Literatur
                                  piererfolg war jeweils identisch [21]. Haygarths                verschiedene praktische Beispiele für den Ver-
                                  Versuche werden als der erste wissenschaftliche                 such einer objektiven Behandlungszuteilung
                                  Einsatz von Placebo betrachtet.                                 auf, sei es durch das Los, farbige Perlen, Würfel
                                      Während Haygarths Verwendung von Pla-                       oder das Werfen einer Münze [25]. Zwei für die
                                  cebo der Entlarvung einer unwirksamen Thera-                    jeweilige Zeit bemerkenswerte Studien sollen an
                                  pie diente, setzten 1863 der Amerikaner Austin                  dieser Stelle näher genannt werden. Während
                                  Flint (1812–1886) und 1865 der Brite William                    einer Scharlachepidemie nutzt 1854 der briti-
                                  Witney Gull (1816–1890) unwirksame Placebo-                     sche Militärchirurg Thomas Graham Balfour
                                  lösungen bei Patienten mit rheumatischem Fie-                   (1813–1891) die Gelegenheit, die Wirksamkeit
                                  ber ein, um Anhaltspunkte zum natürlichen                       von Belladonna als Prophylaxe des Scharlach-
                                  Verlauf der Erkrankung zu gewinnen [22]. Die                    fiebers zu untersuchen. Dazu setzt er 151 Jungen,
                                  hohe Heilungsrate zeigte, dass der Ausgang                      die bisher nicht erkrankten, auf eine Liste und
                                  der Erkrankung mehr mit dem Spontanverlauf                      teilt sie alternierend der Belladonnagabe oder
                                  der Erkrankung als mit den damals verordneten                   der Nichtbehandlung zu. Er selbst fasst seine
                                  Arzneien zusammenhängt. Der Nachteil der                        Resultate anschliessend wie folgt zusammen: «In
                                  Versuche bestand jedoch in der fehlenden Ver-                   jeder Gruppe erkrankten zwei Jungen. Die Zah-
                                  gleichsgruppe mit einer vermeintlich wirksamen                  len sind zu klein, um definitive Aussagen zur
                                  Therapie. Erstmals zu Beginn des 20. Jahrhun-                   prophylaktischen Wirkung von Belladonna zu
                                  derts und dann häufiger in den 30er und 40er                    machen. Aber die Ergebnisse sind dennoch wert-
                                  Jahren – vor allem in den Studien des Medical                   voll, zeigen sie doch, wie wir durch unvollstän-
                                  Research Council in England – wurde Placebo im                  dige Beobachtungen in die Irre geführt werden

                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44    2478
Editores Medicorum Helveticorum
Geschichte

                                  können. Hätte ich allen Jungen Belladonna ver-                  unkonventionellen Medizin (welche wir heute
                                  abreicht, wäre ich möglicherweise zur Schluss-                  entsprechend als Schul- bzw. Alternativmedizin
                                  folgerung gelangt, dass ein Zusammenhang zwi-                   bezeichnen würden). Zum Ausschluss von Sug-
                                  schen Belladonna und der Beendigung der                         gestionseffekten und möglichen Täuschungs-
                                  Scharlachepidemie besteht» [26]. Neben der                      manövern wurden homöopathische Verfahren
                                  Notwendigkeit zur Kontrolle eines Selektions-                   in einer Weise untersucht, die als Vorläufer
                                  bias durch die alternierende Behandlungszutei-                  moderner Doppelblindstudien anzusehen sind.
                                  lung hat Balfour also ausserdem die Problematik                 Eines der bemerkenswertesten Beispiele ist das
                                  des statistischen Irrtums (Typ-II-Fehler; falsch-               Milwaukee-Experiment von 1879/80, dem eine
                                  negatives Resultat) und die Gefahren im Zusam-                  Kooperation von homöopathischen und ortho-
                                  menhang mit unkontrollierten Fallbeobachtun-                    doxen Ärzten zugrunde lag [22]. Dabei wurden
                                  gen eindeutig erkannt [27].                                     verschiedene homöopathische Mittel in 30. Ver-
                                       Eine weitere bemerkenswerte kontrollierte                  dünnungsstufe und herkömmliche Zuckerpillen
                                  Studie ist die des dänischen Nobelpreisträgers                  (die Grundlage vieler homöopathischer Auf-
                                  Johannes Fibiger (1867–1928) über den Einfluss                  bereitungen) miteinander verglichen. Die streng
                                  der Serumbehandlung auf Morbidität und Mor-                     verblindete Verabreichung wurde von einem
                                  talität der Diphtherie. In Abhängigkeit vom Tag                 Professor für Moralphilosophie überwacht. Ärzte
                                  der Spitalaufnahme erhielten über 1000 Patien-                  (im Selbstversuch) und Patienten sollten auf-
                                  ten abwechselnd entweder Standardtherapie                       grund der verspürten Wirkungen angeben, wann
                                  oder Standard- plus Serumtherapie. Fibiger ist                  sie das Homöopathikum oder Placebo erhielten
                                  sich vollumfänglich bewusst, welche Bedeutung                   [32]. Der von Samuel Potter und Eugene Storke
                                  der Vermeidung eines Selektionsbias zukommt,                    1880 publizierte Versuch ergab leider keine
                                  und schreibt 1898: «Vertrauenswürdige Ergeb-                    schlüssigen Ergebnisse [33]. Zu jener Zeit spielte
                                  nisse sind nur erzielbar, wenn eine grosse Zahl                 die Verblindung zur Hinterfragung von konven-
                                  zufällig ausgewählter Patienten mit dem neuen                   tionellen medizinischen Verfahren keine Rolle,
                                  Mittel und eine gleich grosse Zahl zufällig aus-                galten diese doch als «rational» [22].
                                  gewählter Patienten mit der gewöhnlichen                            Als erste kontrollierte Doppelblindstudie
                                  Therapie behandelt werden […]» [28]. Er ist einer               wird meistens die 1926–1931 durchgeführte
                                  der ersten, welche die Randomisierung als zen-                  Michigan-Tuberkulosestudie von James Burns
                                  trales methodologisches Prinzip beschreiben,                    Amberson (1890–1979) zitiert [34]. Zwölf Patien-
                                  auch wenn man die von ihm gewählte Methode                      ten erhielten Sanocrysin (eine Goldsalzlösung),
                                  heute als Quasirandomisierung bezeichnen                        zwölf weitere Patienten erhielten Injektionen
                                  würde [29].                                                     mit destilliertem Wasser. Die Behandlungszu-
                                       Die moderne Methode der Randomisierung                     teilung geschah durch Werfen einer Münze, die
                                  als Zufallsverteilung geht auf den englischen Sta-              Gruppenzugehörigkeit war nur zwei Ärzten
                                  tistiker Ronald Fisher zurück, der dieses Prinzip               der Studienleitung und der Studienschwester be-
                                  1923 erstmals im Rahmen seiner Experimente                      kannt. Ausgeprägte Nebenwirkungen in der
                                  an der landwirtschaftlichen Versuchstation in                   Sanocrysin-Gruppe (ein Patient verstarb sogar
                                  Rothamsted anwendet [30]. Es ist jedoch der                     aufgrund eines Leberversagens) lassen jedoch
                                  Verdienst eines weiteren Briten, nämlich des                    Zweifel an der Effektivität der Verblindung auf-
                                  Statistikers Austin Bradford Hill, im Rahmen der                kommen. Der deutsche Beitrag zur Entwicklung
                                  1948 veröffentlichten (und im übernächsten                      der Doppelblindstudie wird im anglo-amerika-
                                  Abschnitt näher beschriebenen) Streptomycin-                    nischen Schrifttum oftmals nicht ausreichend
                                  Studie [31] das Prinzip der zentralen Randomi-                  gewürdigt. Bereits zwischen 1911 und 1914
                                  sierung durch Erzeugung von Zufallszahlen in                    führte der Braunschweiger Arzt Adolf Bingel
                                  die Medizin eingeführt zu haben.                                (1879–1953) eine Studie an über 900 Patienten
                                                                                                  zur Untersuchung von Diphtherie-Antitoxin
                                  Von ersten Blindversuchen                                       durch. Als Kontrolle diente bei der Hälfte der
                                  zur Doppelblindstudie                                           Patienten identisch aussehendes gewöhnliches
                                  Im 18. und 19. Jahrhundert gibt es nur verein-                  Pferdeserum. Die Behandlungszuteilung erfolgte
                                  zelte Beispiele für eine Verblindung der Studien-               alternierend. Bingel verliess sich bezüglich der
                                  medikation [21]. Erstaunlich ist, dass sich die                 ausreichenden Verblindung nicht auf sein eige-
                                  frühesten wissenschaftlich begründeten Ansätze                  nes Urteil; sein Assistenzpersonal musste vor
                                  für verblindete Versuchsanordnungen im Be-                      Beginn des Versuchs die fehlende Unterscheid-
                                  reich der Homöopathie wiederfinden. Bereits im                  barkeit beider Präparationen bestätigen [27]. In
                                  19. Jahrhundert bestand eine Auseinanderset-                    der 1918 erschienenen Veröffentlichung würdigt
                                  zung zwischen der «Mainstream»- und einer                       Bingel explizit die Bedeutung der Verblindung

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Geschichte

                                  als notwendige Massnahme zur Vermeidung                         Ein kurzer Seitenblick auf die Geschichte
                                  eines Beobachter- und Behandlungsbias [35].                     der Metaanalyse
                                  Der Höhepunkt der Methodenentwicklung in                        Sie ist keine «Erfindung» der evidenzbasierten
                                  Deutschland wurde mit dem Forscher Paul Mar-                    Medizin. Bereits 1861 veröffentlicht der britische
                                  tini (1889–1964) erreicht, bevor die Nazizeit die               Astronom George Airy ein Buch, in dem er die
                                  akademische Medizin in Deutschland in den                       Methode zur quantitativen Zusammenfassung
                                  Abgrund stürzte. Martinis «Methodenlehre der                    von Beobachtungen beschreibt [42]. In der Me-
                                  therapeutischen Untersuchung» von 1932 [36]                     dizin sind Vorläufer der Metaanalyse nur spo-
                                  spiegelt bereits alle modernen Elemente der kli-                radisch zu finden. Eines der wenigen Beispiele ist
                                  nischen Versuchsanordnung wider [22].                           die 1904 vom britischen Statistiker Karl Pearson
                                                                                                  vorgenommene Synthese von sieben Studien
                                  Die randomisierte, kontrollierte Studie                         zur Verabreichung hitzeinaktivierter Typhusvak-
                                  wird zum Standard                                               zine [43]. Durch den amerikanischen Psycho-
                                  Erst mit der praktischen Zusammenführung der                    logen Gene Glass, der 1976 erstmals den Begriff
                                  zuvor beschriebenen methodischen Elemente                       der Metaanalyse verwendet [44], findet diese
                                  wird die Grundlage der heutigen Versuchsmedi-                   Methode akzeptierten Eingang in die Wissen-
                                  zin geschaffen. Dem britischen Medical Research                 schaft – zunächst allerdings als Betrachtungs-
                                  Council (MRC) kommt hierbei ein wesentlicher                    philosophie und nicht als statistische Methode.
                                  Anteil zu. In Anerkennung der Notwendigkeit                     Erst in den 80er Jahren gewinnt die Metaanalyse
                                  von fundierter Arzneimittelforschung ruft das                   in der Medizin an Bedeutung, wobei die statisti-
                                  MRC 1931 das Therapeutic Trials Committee ins                   schen Grundlagen eine zunehmende Verfeine-
                                  Leben [37], ein Wegbereiter für sowohl medizi-                  rung erfahren.
                                  nisch als auch methodologisch bahnbrechende
                                  Studien und für viele zentral organisierte und
                                  koordinierte multizentrische Versuche (die also                 Wo stehen wir heute?
                                  nicht von der pharmazeutischen Industrie «er-
                                  funden» wurden). Zwei grosse, multizentrische                   Der modernen Arzneimittelforschung liegen
                                  Studien – unter der Ägide des MRC durchgeführt                  hohe Standards zugrunde. Die randomisierte,
                                  – gelten als Startpunkt der Ära moderner Arznei-                kontrollierte doppelblinde Studie weist den
                                  mittelforschung: die an über 1000 englischen                    höchsten Stellenwert bei der Entwicklung neuer
                                  Fabrikarbeitern durchgeführte und 1944 veröf-                   Arzneimittel auf und hat sich in der Medizin
                                  fentlichte Studie zum Erkältungsmittel Patulin                  breit etabliert. Statistische Überlegungen haben
                                  [38] sowie der an 107 Tuberkulosepatienten vor-                 den Umfang klinischer Studien revolutioniert:
                                  genommene, 1948 veröffentlichte Versuch zur                     10 000 Patienten und mehr sind zur aussage-
                                  Untersuchung von Streptomycin [31]. Obwohl                      fähigen Untersuchung therapeutischer Frage-
                                  methodologisch höchsten Ansprüchen genü-                        stellungen keine Ausnahme mehr. Zwei wichtige
                                  gend, nämlich placebokontrolliert, streng ver-                  und begrüssenswerte Entwicklungen bezüglich
                                  blindet und mit einer hohen Fallzahl versehen                   klinischer Studien haben sich in jüngster Ver-
                                  [39], hat die Patulin-Studie stets weniger Auf-                 gangenheit vollzogen: erstens die stärkere Inte-
                                  merksamkeit als die Streptomycin-Studie hervor-                 gration ethischer Prinzipien, gesetzlicher Rege-
                                  gerufen. Nicht nur weil die erstgenannte negativ                lungen und wissenschaftlicher Standards, bei
                                  ausging und die zweite aufgrund der Revolutio-                  deren Etablierung zunächst ganz unterschied-
                                  nierung der Tuberkulosebehandlung Medizin-                      liche historische Ereignisse eine Rolle gespielt
                                  geschichte schrieb; viel mehr noch, weil in                     haben. GCP vereint heute die Wahrung indi-
                                  letzterer mit der Einführung der zentral vorge-                 vidueller Rechte der Forschungsteilnehmer mit
                                  nommenen Randomisierung der entscheidende                       methodisch-wissenschaftlichen          Ansprüchen.
                                  Schritt in Richtung einer Trennung des Rando-                   Die stärkere Vernetzung wird auch am Beispiel
                                  misierungsprozesses von denjenigen Ärzten voll-                 der Placebofrage deutlich: Die Helsinki-Deklara-
                                  zogen wurde, welche die Patienten auswählten                    tion als ethische Leitlinie schliesst einen metho-
                                  und die Studie einschlossen [40, 41]. Der «Archi-               dologisch erforderlichen Placeboeinsatz nicht
                                  tekt» der Streptomycin-Studie, der Statistiker                  grundsätzlich aus – andererseits ist ein Umden-
                                  Austin Bradford Hill, geniesst heute den Ruf als                ken bei den internationalen Arzneimittelbehör-
                                  Begründer der randomisierten und kontrollier-                   den zu verzeichnen, nur in begründeten Fällen
                                  ten klinischen Studie [22, 27].                                 auf die Durchführung placebokontrollierter Ver-
                                                                                                  suche zu bestehen. Eine gute Forschung muss
                                                                                                  ethisch vertretbar sein, aber sie ist nur dann
                                                                                                  ethisch, wenn die wissenschaftliche Methodik

                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44    2480
Editores Medicorum Helveticorum
Geschichte

                                  aussagefähige Ergebnisse zulässt. Eine wichtige,                fung des Facharztes für Pharmazeutische Medi-
                                  jedoch schwierige und daher absolut zu wür-                     zin Rechnung getragen. Die Weiterbildung von
                                  digende Funktion kommt den Ethikkommis-                         Ärztinnen und Ärzten aus Industrie, Klinik und
                                  sionen zu, weil sie sowohl Ethik und Gesetz als                 Behörden zu Spezialisten in Pharmazeutischer
                                  auch die Eignung der wissenschaftlichen Metho-                  Medizin und insbesondere in Fragen der Metho-
                                  dik in ihrer Nutzen- und Risikobeurteilung von                  dik und Ethik der Arzneimittelentwicklung ist
                                  Forschungsprojekten zu berücksichtigen haben.                   ein wichtiger Beitrag zur Qualitätssicherung der
                                      Die zweite Entwicklung betrifft die Studien-                klinischen Arzneimittelforschung.
                                  durchführung als solche: Sie stellt inzwischen                      Statt eines Schlusswortes soll ein letztes Bei-
                                  aufgrund der detaillierten regulatorischen An-                  spiel die Notwendigkeit qualitativ hochstehen-
                                  forderungen und der hohen Komplexität eine                      der Forschung durch gut ausgebildete Ärzte und
                                  eigene Disziplin dar. Der «normale», klinisch                   aussagekräftige Studien untermauern. Leider ist
                                  tätige Arzt ist praktisch nicht mehr in der Lage,               es uns nicht gelungen, den historischen Wahr-
                                  den heutigen Ansprüchen vollumfänglich ge-                      heitsgehalt der nachfolgenden Episode zu bele-
                                  recht zu werden. Spezialisten sind gefragt! In                  gen (nach [45]):
                                  der Schweiz wurde diesem Aspekt mit der Schaf-

                                      Im ausgehenden 18. Jahrhundert stellte Gustav III. von Schweden die Hypothese auf,
                                      dass Kaffee Gift sei, und ordnete eine klinische Studie an.
                                      Hypothese:            Kaffee ist giftiger als Tee.
                                      Design:               Fallkontrollstudie (n = 2).
                                      Studienort:           Ein schwedischer Kerker.
                                      Patienten:            Ein überführter Mörder, der dazu verurteilt wurde, jeden Tag Kaffee
                                                            trinken. Ein zweiter Mörder musste täglich Tee trinken und diente als
                                                            Kontrolle.
                                      Studienendpunkt: Tod, bestätigt durch zwei Studienärzte.
                                      Ergebnisse:           1. Die beiden Ärzte starben zuerst. 2. Der König wurde ermordet. 3. Beide
                                                            Verurteilten erfreuten sich eines langen Lebens, bis der Teetrinker im Alter
                                                            von 83 Jahren sanft entschlief. Das Sterbealter des Kaffeetrinkers wird nicht
                                                            mitgeteilt.
                                      Diskussion:           Die Grösse der Stichprobe erscheint zu gering, um valide Aussagen machen
                                                            zu können. Möglicherweise war der Endpunkt der Studie zu hart gewählt.
                                                            Das Ergebnis der Studie hatte keinen Einfluss auf die Entscheidungsträger.
                                                            Kaffeegenuss wurde in Schweden 1794 und noch einmal 1822 verboten.
                                      Schlussfolgerung:     Im Sinne des Studienziels leider nicht möglich. Äussere Ereignisse und
                                                            nicht studienimmanente Faktoren haben die Ergebnisse beeinflusst.
                                                            Einzig mögliche Schlussfolgerung: Könige sollten keine klinischen Studien
                                                            planen und durchführen.

                                  Literatur
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                                  3     National Commission for the Protection of                 7    International Conference on Harmonisation.
                                        Human Subjects of Biomedical and Behavioral                    History and Guidelines on Efficacy, Safety, and
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                                                                                                  8    International Conference on Harmonisation.
                                  4     International Conference on Harmonization.                     Guideline E8: General Considerations for Clinical
                                        Guideline E6: Good Clinical Practice.                          Trials. www.ich.org/MediaServer.jser?@_ID=
                                        www.ich.org/MediaServer.jser?@_ID=482&@_                       484&@_MODE=GLB.
                                        MODE=GLB.

                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44     2481
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Geschichte

                                   9 International Conference on Harmonisation.                   28 Fibiger J. Om Serumbehandling af Difteri.
                                     Guideline E9: Statistical Principals for Clinical               Hospitalstidende 1898;6:309-25 und 337-50.
                                     Trials. www.ich.org/MediaServer.jser?@_ID=485
                                                                                                  29 Hrobjartsson A, Gotzsche PC, Gluud C. The
                                     &@_MODE=GLB.
                                                                                                     controlled clinical trial turns 100 years: Fibiger’s
                                  10 Altman DG, Bland JM. Statistics notes: treatment                trial of serum treatment of diphtheria. BMJ 1998;
                                     allocation in controlled trials: why randomise?                 317:1243-5.
                                     BMJ 1999;318:1209.
                                                                                                  30 Fisher RA, Mackenzie WA. Studies in crop varia-
                                  11 Day SJ, Altman DG. Statistics notes: blinding in                tion. II. The manorial response of different potato
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                                     504.
                                                                                                  31 A Medical Research Council Investigation.
                                  12 Deutsches Cochrane Zentrum. Evidenzhierarchie.                  Streptomycin treatment of pulmonary tuberculo-
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                                  14 Tröhler U. Lind and scurvy: 1747–1795. The
                                                                                                     records/19th_Century/storke/storke_commentary.
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                                     trial_records/17th_18th_Century/lin/lind_1753_
                                     commentary.html.                                             33 Potter S, Storke EF. Final report of the Milwaukee
                                                                                                     test of the thirtieth solution. Homeopathic Times
                                  15 Lind A. A treatise of the scurvy. Edinburgh: Sands,
                                                                                                     1880;7:280-1.
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                                                                                                  34 Amberson JB, McMahon BT, Pinner M. A clinical
                                  16 Bartholomew M. James Lind’s treatise of the
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                                     Society 1786;III:407-22.                                        centre trial conducted under the aegis of the
                                                                                                     British Medical Research Council. IJE 2004;
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                                                                                                     in pulmonary tuberculosis in the 1940s.
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                                     lots: a time honoured way of dealing with
                                                                                                     observations. London: Macmillan; 1861.
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                                  Schweizerische Ärztezeitung / Bulletin des médecins suisses / Bollettino dei medici svizzeri •2005;86: Nr 44     2482
Editores Medicorum Helveticorum
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