Anfälliges Getriebe Luxemburg muss sich nach den Grenzerfahrungen während der Coronakrise in der Großregion neu erfinden - Forum.lu
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10 forum 409 Politik Anfälliges Getriebe Luxemburg muss sich nach den Grenzerfahrungen während der Coronakrise in der Großregion neu erfinden Victor Weitzel Anfang Mai 2020 begann die Luxemburger Regie- der wieder geöffneten Schulen, die sich allerdings in rung damit, die Maßnahmen zur Einschränkung der Grenzen hielten, und in den Haushalten oder Häu- Corona-Epidemie im öffentlichen und wirtschaft- sern, in denen die Wohnverhältnisse als zu eng oder lichen Bereich sowie im Erziehungswesen progres- unwürdig beschrieben wurden. siv zu lockern. Sie begründete dies mit dem starken Rückgang der Neuinfektionen und der Quasistag- Risikogebiet nation der durch das Virus verursachten Todesfälle. Sie tat das nicht, ohne vor den damit verbundenen Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Situation für Risiken zu warnen, und appellierte eindringlich an Luxemburg auch international bereits zugespitzt. das individuelle Verantwortungsgefühl aller Bürger, Dänemark, Estland, Lettland und Litauen hatten die Regeln des social distancing zu wahren. Sehr bald gerade Einreisebeschränkungen für Reisende aus aber wurde klar: Die Botschaft der Zurückhaltung Luxemburg eingeführt. Norwegen, Rumänien, die kam nicht wirklich an. Nachdem die Cafés, Bars Slowakei, Slowenien, Zypern und Belgien – wegen der und Restaurants wieder öffnen durften und Ver- engen Bande und Feriengewohnheiten der Luxem- sammlungen von bis zu 20 Menschen ohne Masken- burger an der Côte belge besonders heikel – soll- pflicht erlaubt waren, ging die Party los. ten folgen. Und am 14. Juli geschah, was bei einem Überschreiten von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Auf der Kinnekswiss, auf Dräi Eechelen, auf den Ter- Einwohner innerhalb einer Woche in einem Gebiet rassen der angesagten Bistrots, in den Waldlichtun- geschehen musste, das vom deutschen Robert-Koch- gen, in den Kaschemmen des Rotlichtmilieus, in den Institut (RKI) beobachtet wird: Luxemburg wurde Privatwohnungen und bei größeren und kleineren von Deutschland zum offiziellen Risikogebiet erklärt. Anlässen ließen viele aus dem Lockdown entlassene Menschen jeden Alters, wenn auch die jüngeren am Am 17. Juli waren es bereits 163 Neuinfektio- meisten auffielen, ihrer Lebensfreude, ihrem Bedürf- nen, sodass Gesundheitsministerin Paulette Lenert nis nach kollektivem Rausch, nach Zusammenklün- (LSAP) nichts anders übrigblieb als anzuerkennen, geln- und hängen, und zuweilen auch ihrem Frust, dass man es mit einer zweiten Welle zu tun hatte ihrer Zerstörungslust und Aggressivität nach mehre- und neue Gegenmaßnahmen getroffen werden ren Monaten bedrückender Einschränkungen freien mussten. Für deren Ankündigung in der Nacht Lauf. Das Virus breitete sich wieder in der Bevölke- des 19. Juli ließ es sich Premier Xavier Bettel nicht rung aus. Dazu kamen Neuinfektionen in einigen nehmen, sich vom gerade in Brüssel tagenden
© Le Conseil de l’Union européenne Xavier Bettel bei der außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 18. Juli 2020 EU-Krisenmarathongipfel schnell nach Luxem- Schengener Brücke, den Wunsch geäußert, dass es burg fahren zu lassen. Nach dieser Pressekonferenz Einschränkungsmaßnahmen an den Grenzen nur verschwand der bisher stark im Vordergrund ste- noch nach gegenseitiger Rücksprache geben sollte. hende liberale Premierminister Bettel ganz von der Er fühlte sich jetzt von seinem deutschen Kolle- Corona-Szene. gen, wie er ein Sozialdemokrat, düpiert und hatte alle Mühe, seine Enttäuschung zu kaschieren. „Die Schock und Demütigung Bundesregierung hat uns nicht vorab informiert, geschweige denn konsultiert“, wurde Jean Asselborn Die Einstufung Luxemburgs zum COVID-Risiko- am 1. August vom Spiegel zitiert. „Wir haben aus gebiet durch Deutschland löste einen großen gesell- den Medien davon erfahren“, beklagte er sich, und schaftlichen Schock diesseits und jenseits der Mosel das klang nicht nur nach Ärger, sondern auch nach aus. „Bitte nicht schon wieder“, titelte die FAZ vom Enttäuschung über die öffentliche Demütigung. 16. Juli mit einem äußerst empathischen Artikel, Der deutsche Botschafter in Luxemburg, Heinrich dessen Untertitel die Situation trefflich zusammen- Kreft, wurde zu einem Gespräch ins Außenministe- fasste: „Auf beiden Seiten der Grenze wächst die rium gebeten. „Einbestellt“ aber hieß es in der Presse Angst, dass sich die Schlagbäume abermals senken zunächst, was diplomatisch eine durchaus unfreund- könnten – mit fatalen Folgen für die Großregion.“ lichere Geste gewesen wäre, und diese Meldung ver- Als die Idee von obligatorischen Tests an der Grenze stärkte noch die Verstimmungen an beiden Ufern von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der Mosel. ins Spiel gebracht wurde, stieg die Gefahr einer De- facto-Grenzschließung noch weiter an. Denn inzwischen war bekannt geworden, dass luxemburgische Gäste in deutschen Hotels abge- Außenminister Jean Asselborn (LSAP) hatte Mitte lehnt worden waren, Patienten aus Luxemburg trotz Mai, nach der Aufhebung der zwei Monate anhal- negativem COVID-Test erst nach dem diplomati- tenden traumatisierenden, unilateralen Grenzschlie- schen Eingreifen des Gesundheitsministeriums ihre ßung durch Deutschland gegenüber seinem deut- ärztliche Behandlung in Deutschland bekamen, dass schen Amtskollegen Heiko Maas (SPD) auf der Studierende aus Luxemburg, die nach Deutschland
12 forum 409 Politik reisen durften, u. a. um ihre Prüfungen abzulegen, dem Saarland darüber, dass die über 50.000 Grenz- auf verschiedenen Campus nicht willkommen waren. pendler, aber auch Menschen, die sich weniger als 72 Auch in einigen Geschäften in der Grenzregion soll Stunden in Luxemburg aufgehalten hatten, und Per- es zu unangenehmen Abweisungen gekommen sein. sonen mit einem triftigen Grund – ärztliche Behand- Die Gerüchteküche tat das ihre, die Emotionen, in lung, Familie, Pflege, Sorgerecht und getrenntes Sor- den sozialen Medien angeheizt, kochten hoch. Ber- gerecht etc. – aus Luxemburg auch ohne Test und/ lin, das sich gewiss nicht besonders elegant angestellt oder Quarantänepflicht einreisen durften. Mainz war hatte, lieferte selbst die Vorlage für die luxemburgi- schon von der Grenzschließung im März 2020 nicht schen Tiraden gegen die unbelehrbaren Preußen, die begeistert gewesen, und Saarbrücken, das in einer nach zwei Monaten Pause nun wieder begannen, die panischen Reaktion die Grenzschließung am Anfang Luxemburger an der Grenze zu schikanieren. der Coronakrise mitgetragen hatte, gab sich seit Mai große Mühe, das zerstörte Porzellan besonders mit Beschwichtigung der Région Grand Est, aber dann auch mit Luxem- burg wieder zusammenzukleben. Anders als Xavier Bettel, der während einer Pressekon- ferenz mit Paulette Lenert am 16. Juli die neue Grenz- Keines der benachbarten Bundesländer war von konstellation zwischen Luxemburg und Deutschland den brüskierenden Entscheidungen aus dem fernen auf die Problematik der nunmehr vereitelten „But- Berlin angetan und beide arbeiteten im Bundesrat terfahrten nach Trier“ reduzierte, für die man kein offen auf Schadensbegrenzung hin. Paulette Lenert Anrecht auf einen COVID-Test hätte, stellte das nutzte die Gelegenheit, schloss sich mit ihren Amts- Außenministerium trotz aller Irritationen schnell klar, kolleginnen aus Mainz, Sabine Bätzing-Lichtent- was weiterhin möglich war, und wachte zusammen häler (SPD), und Saarbrücken, Monika Bachmann mit den Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und (CDU), kurz, und konnte damit nicht nur einige Austausch der Gesundheitsministerinnen Paulette Lenert und Monika Bachmann zur COVID-19-Lage in Luxemburg und dem Saarland am 28. Juli 2020 im Hotel Schlossberg, Perl/Nenning. © MSGFF
Politik September 2020 13 Elemente kooperativer Normalität einbringen, son- nach Luxemburg pendeln ca. 2.800 sozialversicherte dern auch Luxemburgs Argumente – vermittelt Luxemburger, sodass man davon ausgehen kann, dass Mehr als zwei über ihre Partnerinnen – nach Berlin an Bundes- noch mehr dort leben, aber sie werden in den Tabel- Drittel einer gesundheitsminister Jens Spahn weiterleiten. Mit len des INSEE für die Départements Moselle und wachsenden dem Saarland einigte Lenert sich auf eine verstärkte Meurthe-et-Moselle nicht detailliert aufgeführt. Von Luxemburger Zusammenarbeit in der Bekämpfung der Pandemie. den 21.300 in Deutschland lebenden Luxemburgern Diaspora lebt in Mit Rheinland-Pfalz arbeitet Luxemburg an einem lebten 4470 im Saarland und 9470 in Rheinland- Abkommen, wonach Rettungswagen beider Länder Pfalz, anders gesagt: mehr als zwei Drittel einer Deutschland. über die Grenze fahren dürfen, um sich im medizini- wachsenden Luxemburger Diaspora in Deutsch- schen Notfall gegenseitig zu helfen. land. Damit wird klar, dass die Berliner Maßnahmen unweigerlich einen viel größeren Impakt auf den Nicht auf dem Schirm Alltag vieler Luxemburger jenseits und diesseits der Grenzen haben mussten als die belgischen. Diese unerwartet positive Wendung wurde von der Presse, mit Ausnahme von Radio 100,7, kaum Beeinträchtigungen gewürdigt. Die letzten Krisenmonate haben mehr denn je gezeigt, wie wenig sich die mediale und poli- Die völlig nutzlose und willkürliche Grenzschlie- tische Szene Luxemburgs für das politische Perso- ßung zwischen März und Mai 2020 war für Fami- nal und die Vorgänge bei den direkten Nachbarn lien, Menschen mit geteiltem Sorgerecht, Studie- in Mainz bzw. Trier und Saarbrücken, aber auch rende, Kranke, Pflegefälle, bei denen die Familie in Metz, Straßburg, Namur und Arlon interessiert. oder ein Teil der Familie sich auf der anderen Seite Und wenn Interesse da ist, scheint es eher punktuell der Grenze befand, Berufstätige, die nicht den Pend- auf und weist nur selten auf das evidente gegensei- lerstatus hatten und z. B. für Wartungen an indust- tige vitale Interesse hin, das Luxemburg mit seinen riellen Einrichtungen nicht mehr nach Luxemburg Nachbargebieten verbindet. Von Corinne Cahen, geschickt werden durften, und für die Pendler, die der für die Großregion zuständigen Ministerin der vieles in Kauf nehmen mussten, eine traumatisie- Liberalen, hörte man in diesen Tagen der großre- rende Periode. Umso größer war der Schreck, als gionalen Ver- und Entwirrung nichts außer dieser Luxemburg dann als Risikogebiet eingestuft wurde, flachen Passe-partout-Antwort auf eine Sommerin- für die zahlreichen Betroffenen, deren Kreis eben terviewfrage der Hauspostille Journal vom 1. August: nicht nur auf die über 50.000 Pendler und die FRAGE: „Ist Europa, vor allem aber auch die Groß- fast 14.000 im deutschen Grenzgebiet angesiedel- region, in der Corona-Krise gestorben?“ CAHEN: ten Luxemburger beschränkt ist, Zahlen, die sich „Nein, aber Europa hat wohl auch nicht unbedingt teilweise überkreuzen. Die eingeübte, sich im Ein- dabei gewonnen. Die Bürger der Großregion sind klang mit den europäischen Freizügigkeiten und sich wohl nun eher bewusst, dass wir alle keine dem damit verbundenen Vertrauen in die Zukunft Grenzen mehr kennen und wollen, und dass der eine entfaltende Lebensweise von vielen Hundertausen- den anderen braucht.“ den an der Grenze wurde erneut in Frage gestellt. Wirtschaftlich dürften die Folgen beiderseits ver- Was aber noch weniger thematisiert wurde, war die heerend sein, nicht nur im Einzelhandel von Trier Frage, warum es, abgesehen von den schlechten Ber- und Saarbrücken, deren Vertreter häufig in den liner Manieren, bei allen möglichen Betroffenen so Medien auftraten, um die neuen Einschränkungen viel Erregung gab über die deutschen Maßnahmen, zu kritisieren. aber weniger über die vollkommen unklaren und chaotischen Einschränkungen und Bedingungen für Dabei haben die kommunalen Verwaltungen, die in jene, die sich aus Luxemburg nach Belgien und vor den benachbarten Bundesländern für die Ausfüh- allem an die belgische Küste begeben wollten. rung der Pandemie-Anordnungen zuständig sind, sich durchaus als vertrauensbildende Partner der dort Hier helfen einige rudimentäre demografische Daten ansässigen Luxemburger Bürger erwiesen, um ihnen weiter. Rund 34.200 Luxemburger, also ein erheb- das grenzübergreifende Leben unter den Bedingun- licher Prozentsatz aller Menschen mit Luxembur- gen der Risikogebietsregeln so erträglich wie mög- ger Pass, lebten 2019 in den drei Nachbarländern: lich zu machen. Von Stigmatisierungen durch die 4.500 in Belgien, 8.400 in Frankreich und 21.300 Behörden vor Ort kann nicht die Rede sein. in Deutschland, dort mit einem Zuwachs von 10 % in zwei Jahren. In den Nachbarregionen sind es ins- Bundesländer als Fürsprecher gesamt mindestens 20.000. In der belgischen Pro- vince du Luxembourg leben je nach Quelle zwischen Nicht die Länder und die Kommunen, sondern der 2.020 und 2.800 Luxemburger. Von Frankreich Bund war die Quelle der Verstörung. Die Länder
14 forum 409 Politik waren – so weit, wie sie dazu befugt waren – Fürspre- Anfang Juli, also noch vor der Einstufung Luxem- cher des Großherzogtums und seiner Anti-Corona- burgs als Risikogebiet, schreibt Bernard Thomas im Strategie, diskret zu Beginn der neuen Beschrän- Lëtzebuerger Land in seinem geistreich betitelten kungen, lauter und expliziter im August, als sich die Beitrag „Après les déluges“: „Durant la pandémie de Hinweise einer auf die Bürger übergreifenden Verun- 2020, les rapports de force entre la métropole et son sicherung bis Zerrüttung des gegenseitigen Vertrau- hinterland ont changé. Les milieux financiers avai- ens häuften. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) ent rêvé le Luxembourg comme plateforme déter- etwa hat so auf die „massiven Auswirkungen“ der ritorialisée, reliée à d’autres centres offshore comme Risikogebietsregeln und die „enge Verbundenheit“ Londres, Singapour ou Dubaï. Ils se sont réveillés zwischen Rheinland-Pfalz und Luxemburg verwiesen, aux réalités géopolitiques d’un micro-Etat enclavé, und wie wichtig es für die Bürger sowie den freien risquant l’asphyxie.“ Und er fügt hinzu: „Cette vul- Waren- und Dienstleistungsverkehr in der Grenzre- nérabilité désormais exposée, le Luxembourg aura gion sei, die Einstufung als Risikogebiet aufzuheben. beaucoup de mal à se soustraire à la revendication de compensations fiscales portée par les maires de Und dennoch kam es in den zwei Tagen, nachdem Trèves, Villerupt et Metz.“ Luxemburg nicht mehr als Risikogebiet eingestuft war, zu wahrhaftigen „journées folles“. Mainz hatte Die sukzessiven Bettel-Regierungen haben die Groß- sich bizarrerweise nicht dazu überwinden können, region systematisch vernachlässigt. Die Regierung die Quarantäne- und Testpflicht sofort aufzuheben, tut immer noch so, als ob Luxemburg die einzige sondern zog es zuerst vor, diese erst am 31. August Metropole sei und die Nachbargebiete ihr Hinter- zu beenden, also zwölf Tage nach Aufhebung der land. Sie haben weder den Geist noch die klugen und Einstufung von Luxemburg als Risikogebiet. Saar- differenzierten Vorschläge des vor zehn Jahren von brücken war zuerst anderer Meinung, zog dann aber der Großregion bestellten Metroborder-Berichts1, mit Mainz nach, was einige Bestürzung in Luxem- den die letzte Juncker-Regierung noch gutgehei- burg auslöste. Das Wirrwarr schien perfekt zu sein. ßen hatte, aufgegriffen. Erst mit der Coronakrise Dann rauften die Regierungen sich zusammen, und dämmert ihr, dass die hierzulande beschäftigten am 21. August hieß es in einem gemeinsamen Com- Grenzgänger mehr sind als nur Arbeitskräfte. Aber muniqué: „Nach erneuten Gesprächen zwischen den sie verdrängt immer noch die Frage nach den Fol- Landesregierungen Rheinland-Pfalz und Saarland gen des massiven Pendelns auf die Lebensqualität mit der luxemburgischen Regierung haben sich die der Menschen diesseits und jenseits der Grenzen, Nachbarländer darauf verständigt, dass Menschen, wohlwissend, dass dieser auch mit der Telearbeit die aus Luxemburg einreisen, keine Quarantänere- aus steuerpolitischen Gründen nicht abnehmen gelungen zu beachten haben. Damit wurde ein Weg kann. Sie verdrängt nicht nur systematisch die Frage gefunden, die engen nachbarschaftlichen Beziehun- nach den Kosten des Luxemburger Modells für die gen sowie die gute Zusammenarbeit im Gesund- Kommunen und Gebietskörperschaften jenseits der heitsbereich zu verfestigen.“ Drei vernünftige Frauen Grenzen, sondern der Premier hat sie vor der Krise in hohem Amt hatten es geschafft, den Amtsschim- zuweilen verächtlich verballhornt. Sie betreibt weiter mel zu bändigen, bevor er durchzugehen drohte. eine grenzübergreifende Verkehrspolitik, von der sie weiß, dass sie die Quadratur des Kreises einer opti- Anfälligkeit und Sorglosigkeit malen Fluidität nie in den Griff bekommen kann, weder mit verbreiterten Autobahnen noch mit aus- Der Krisensommer 2020 hat wiederum gezeigt, wie gebautem Schienennetz. verletzlich Luxemburg als staatliches Gebilde nach innen und nach außen geworden ist, mit seiner in Die Regierung hat auch die strukturellen Ursachen Europa einzigartigen Zusammensetzung der Bevöl- der massiven und nicht abnehmenden Abwande- kerung, mit seiner ganz auf die Freizügigkeiten der rung der eigenen Landsleute in die Grenzregionen EU setzenden Wirtschaft und Gesellschaft, mit sei- weder wahrgenommen noch thematisiert. Sie hat Drei vernünftige ner Verwobenheit mit seinen Nachbargebieten, ohne diese zahlreichen und sehr unterschiedlichen Men- Frauen in hohem deren menschliche und materielle Ressourcen es schen, die nach dem einen Erklärungsschema sich Amt hatten es nicht funktionieren kann. Luxemburg ist aber nicht in Luxemburg keine Wohnung leisten konnten und geschafft, den deswegen anfällig geworden, weil es so stark mit sei- deswegen wegzogen, und nach dem anderen Erklä- ner Nachbarschaft verwoben ist und weil es auf die rungsschema sich mit ihren fetten Luxemburger Amtsschimmel zu Freizügigkeiten der EU setzt, sondern weil es nach Löhnen eine billigere Immobilie in einer der Nach- bändigen, bevor innen und nach außen eine Politik betreibt, die mit barregionen als Profiteure beider Systeme unter den er durchzugehen diesen Elementen – man könnte auch sagen wertvol- Nagel gerissen haben, völlig vernachlässigt. Sie hat drohte. len gemeinschaftlichen Gütern, weil in ihnen großes die Interessen dieser Diaspora, der in den Medien, positives Potenzial steckt – sorglos umgeht. und besonders in den sozialen Medien, etwas
Politik September 2020 15 © #EU2020BMG Paulette Lenert hebt Luxemburgs ehrgeizige Teststrategie beim informellen Rat der 27 Gesundheitsminister per Videokonferenz am 16. Juli 2020 hervor. Anrüchiges angedichtet wird, seit Jahren und erst sozialen Medien vermitteln, ist zu fragmentarisch bis recht nicht in der Coronakrise weiter wahrgenom- kaleidoskopisch, auch wenn sie atmosphärisch oft men. Dabei müsste man es in dieser Epoche großer nah am Ball sind. Migrationen im Einwanderungsland Luxemburg besser wissen: Niemand verlässt freiwillig sein Land, Dabei hat die Coronakrise nicht nur die Anfällig- er tut es erst nach reichlicher Überlegung, wenn es keit Luxemburgs offenbart, sondern vor allem seine viel, viel bessere Opportunitäten woanders gibt oder Abhängigkeit. Gewiss ist Luxemburg die wirtschaft- er einfach nicht anders kann. lich dynamischste und in seinem unmittelbaren Umland treibende Kraft der Région métropolitaine Schlecht informiert polycentrique transfrontalière, wie sie der Metrobor- der-Bericht zugleich treffend und ein wenig bar- Und weil sie die Großregion vernachlässigt hat, ist barisch nannte, aber eben nicht die einzige, auch die Luxemburger Regierung schlecht informiert über wenn sie so tut. Die Krise hat viele Grenzgänger, die das, was sich in ihrem Umland, in der Province du wegen des Lockdowns zu Hause bleiben mussten, Luxembourg, im lothringischen Teil des Grand Est, dazu gebracht, über die Strapazen nachzudenken, in der Politik der Région Grand Est, in Rheinland- die der Job in Luxemburg mit sich bringt, und abzu- Pfalz und im Saarland abspielt. Wo die Entwick- wägen, ob das Lebenszeit raubende Pendeln sich lungen hingehen, wie der demografische Wandel trotz des Lohndifferentials weiter lohne. Die Hybris sich an Luxemburgs Grenzen vollzieht, wie sich das der Luxemburger Regierung hat in den letzten zwei politische Personal entwickelt, welche neuen rich- Jahren zu einer schleichenden atmosphärischen Ver- tungsgebenden Umgestaltungsvorschläge kursieren, schlechterung bei den Pendlern geführt, die mehr als welche Akteure für Luxemburg wichtig sein könn- andere Wettbewerbsfähigkeitskriterien der Attrakti- ten, welche Kooperationsmöglichkeiten sich auftun, vität des Landes als Arbeitgeber schadet. Das Plä- Antworten auf diese Fragen liefert keine bilaterale doyer von Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) auf Botschaft, denn die ist zu weit ab vom Schuss. Auch Radio 100,7 am 21. August für verkürzte Arbeits- kein Beamter, der sich mit der Großregion befasst, zeiten als Wettbewerbsvorteil, der den der höheren liefert sie, weil es nicht sein Auftrag ist, Verbindun- Löhne verstärke, ist ein Indiz dafür, dass dieser um gen zu politischem Personal oder anderen einfluss- sich greifende Sinneswandel auch bei einigen Regie- reichen oder relevanten Personen aufzubauen, kein rungsmitgliedern angekommen ist. ehrenamtlicher Konsul, der vielleicht zwei Stunden pro Woche für Luxemburger Belange erreichbar ist Sich in der Großregion neu erfinden – wenn er es überhaupt ist. Auch die Presse tut sich mit einigen löblichen Ausnahmen schwer damit, Wenn Luxemburg das Gespenst der Abhängig- hier ein Kontinuum reinzubringen. Und was die keit bannen will und sich wieder sicherer in der
16 forum 409 Politik Großregion verankern will, muss seine Regierung möglichen Gebieten, die für die Großregion relevant Luxemburg auf ihr Umland, die nicht ihr Hinterland ist, zuge- sind, aufbauen; prospektiv ganz auf Interdependenz muss auf hen, auf eine kontinuierliche Kooperation mit den und Kooperation setzen. Sie müssten zugleich das Interdependenzen zuständigen Gebietskörperschaften setzen, die belgi- Phänomen der Luxemburger Diaspora erfassen hel- setzen, wenn es sche Province, die Départements, die Région Grand fen. Mit einer so besser informierten, umsichtigen, Est und die Bundesländer, ihre Entscheidungsträ- fairen und vertieften regionalen Kooperation, die nicht abhängig ger und ihre Bürger besser kennenlernen, nicht auf stärkere Interdependenzen in der Großregion schafft, bleiben will. einseitige Ausnutzung der Ressourcen des Umlandes und damit mehr Europa, bräuchte die Luxemburger setzen, sondern das konzertierte Fließen von Steuer Regierung sich in Krisenzeiten viel weniger, wenn geldern ins Auge fassen als Gegenleistung für die überhaupt, davor fürchten, dass die vitalen EU-Frei- Beschäftigung der woanders ausgebildeten und an zügigkeiten durch die Zentralregierungen der Nach- ihrem Wohnort substanziell weniger Steuern zahlen- barländer eingeschränkt werden könnten, von denen den Grenzgänger, und es muss, gemeinsam mit den zwei Föderalstaaten sind. Partnern der drei Nachbarländer, neue wirtschaftli- che grenzübergreifende, regionale Entwicklungsmo- Luxemburg, zurzeit noch sehr anfällig wegen seiner delle konzipieren. Abhängigkeiten, könnte sich in der Interdependenz mit seinem Umland so territorial neu erfinden. Es Luxemburg muss auf Interdependenzen setzen, wenn bräuchte nicht mehr in die demütigende Opferrolle es nicht abhängig bleiben will, auf Abkommen, die zu schlüpfen, die aus aufbäumenden Verlautbarun- eine Beschneidung der grenzübergreifenden EU- gen in den letzten Wochen herausklang, mit Aus- Freizügigkeiten in Zukunft ausschließen. Seine nahme derer von Paulette Lenert, die es mit ihren Regionalpolitik müsste zugleich Souveränitäts- und Teams und dem richtigen Ton und Umgang mit den Europapolitik sein, insofern das europäische Projekt regionalen Partnern in ihrem, dem gesundheitspo- auf eine Stärkung durch Kooperation qua Teilung litischen Bereich, zukunftsweisend gerichtet hat. der Souveränitätskompetenzen setzt. Vor allem: Die Regionalpolitik gehört ins Außenministerium, in das „ministère régalien“, das mit hoheitsrechtlichen Befugnissen ausgestattet unbefangener im „Ausland“ verhandeln kann. Wenn es in Frankreich als Geniestreich des jungen neuen französischen Staatssekretärs für europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, gilt, dass, wie Michaela Wiegel am 27. Juli in der FAZ schrieb, „sein Hauptaugenmerk“ Deutschland galt und er Macron dazu brachte, „nicht nur auf Regierungs- kontakte zu setzen, sondern viel stärker die Minis- terpräsidenten zu berücksichtigen“, dürfte es wohl für jeden Luxemburger Außenminister ein Leichtes sein, die benachbarten deutschen Bundesländer wie die französischen und belgischen Gebietskörper- schaften des Umlandes neu zu entdecken, ihnen die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie angesichts der eigenen vitalen Interessen verdienen und koordiniert den Fachministern die Wege zu bahnen, die für eine vertiefte regionale Kooperation notwendig sind. Es wäre dann wohl zuerst entscheidend, hauptamt- liche Konsulate bzw. Vertretungen bei diesen Kör- perschaften in Mainz, Saarbrücken, Namur und Straßburg/Metz zu akkreditieren. Diese müssten von im ganzen Staatsapparat gut vernetzten Topbeam- ten geleitet werden. Ihre Aufgabe: die Luxemburger Regierung und die Fachministerien unmittelbar und horizontal besser über alle für die Beziehungen mit 1 https://europaforum.public.lu/fr/actualites/2011/02/ dem Umland relevanten Entwicklungen informie- metroborder-synthese/index.html (letzter Aufruf: 24. August ren; Kontakte zu den Entscheidungsträgern in allen 2020).
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