Anfälliges Getriebe Luxemburg muss sich nach den Grenzerfahrungen während der Coronakrise in der Großregion neu erfinden - Forum.lu

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10 forum 409   Politik

                         Anfälliges Getriebe
                         Luxemburg muss sich nach den Grenzerfahrungen während
                         der Coronakrise in der Großregion neu erfinden

     Victor Weitzel      Anfang Mai 2020 begann die Luxemburger Regie-           der wieder geöffneten Schulen, die sich allerdings in
                         rung damit, die Maßnahmen zur Einschränkung der         Grenzen hielten, und in den Haushalten oder Häu-
                         Corona-Epidemie im öffentlichen und wirtschaft-         sern, in denen die Wohnverhältnisse als zu eng oder
                         lichen Bereich sowie im Erziehungswesen progres-        unwürdig beschrieben wurden.
                         siv zu lockern. Sie begründete dies mit dem starken
                         Rückgang der Neuinfektionen und der Quasistag-          Risikogebiet
                         nation der durch das Virus verursachten Todesfälle.
                         Sie tat das nicht, ohne vor den damit verbundenen       Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Situation für
                         Risiken zu warnen, und appellierte eindringlich an      Luxemburg auch international bereits zugespitzt.
                         das individuelle Verantwortungsgefühl aller Bürger,     Dänemark, Estland, Lettland und Litauen hatten
                         die Regeln des social distancing zu wahren. Sehr bald   gerade Einreisebeschränkungen für Reisende aus
                         aber wurde klar: Die Botschaft der Zurückhaltung        Luxemburg eingeführt. Norwegen, Rumänien, die
                         kam nicht wirklich an. Nachdem die Cafés, Bars          Slowakei, Slowenien, Zypern und Belgien – wegen der
                         und Restaurants wieder öffnen durften und Ver-          engen Bande und Feriengewohnheiten der Luxem-
                         sammlungen von bis zu 20 Menschen ohne Masken-          burger an der Côte belge besonders heikel – soll-
                         pflicht erlaubt waren, ging die Party los.              ten folgen. Und am 14. Juli geschah, was bei einem
                                                                                 Überschreiten von 50 Neuinfektionen pro 100.000
                         Auf der Kinnekswiss, auf Dräi Eechelen, auf den Ter-    Einwohner innerhalb einer Woche in einem Gebiet
                         rassen der angesagten Bistrots, in den Waldlichtun-     geschehen musste, das vom deutschen Robert-Koch-
                         gen, in den Kaschemmen des Rotlichtmilieus, in den      Institut (RKI) beobachtet wird: Luxemburg wurde
                         Privatwohnungen und bei größeren und kleineren          von Deutschland zum offiziellen Risikogebiet erklärt.
                         Anlässen ließen viele aus dem Lockdown entlassene
                         Menschen jeden Alters, wenn auch die jüngeren am        Am 17. Juli waren es bereits 163 Neuinfektio-
                         meisten auffielen, ihrer Lebensfreude, ihrem Bedürf-    nen, sodass Gesundheitsministerin Paulette Lenert
                         nis nach kollektivem Rausch, nach Zusammenklün-         (LSAP) nichts anders übrigblieb als anzuerkennen,
                         geln- und hängen, und zuweilen auch ihrem Frust,        dass man es mit einer zweiten Welle zu tun hatte
                         ihrer Zerstörungslust und Aggressivität nach mehre-     und neue Gegenmaßnahmen getroffen werden
                         ren Monaten bedrückender Einschränkungen freien         mussten. Für deren Ankündigung in der Nacht
                         Lauf. Das Virus breitete sich wieder in der Bevölke-    des 19. Juli ließ es sich Premier Xavier Bettel nicht
                         rung aus. Dazu kamen Neuinfektionen in einigen          nehmen, sich vom gerade in Brüssel tagenden
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© Le Conseil de l’Union européenne

                                                           Xavier Bettel bei der außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 18. Juli 2020

                           EU-Krisenmarathongipfel schnell nach Luxem-                  Schengener Brücke, den Wunsch geäußert, dass es
                           burg fahren zu lassen. Nach dieser Pressekonferenz           Einschränkungsmaßnahmen an den Grenzen nur
                           verschwand der bisher stark im Vordergrund ste-              noch nach gegenseitiger Rücksprache geben sollte.
                           hende liberale Premierminister Bettel ganz von der           Er fühlte sich jetzt von seinem deutschen Kolle-
                           Corona-Szene.                                                gen, wie er ein Sozialdemokrat, düpiert und hatte
                                                                                        alle Mühe, seine Enttäuschung zu kaschieren. „Die
                           Schock und Demütigung                                        Bundesregierung hat uns nicht vorab informiert,
                                                                                        geschweige denn konsultiert“, wurde Jean Asselborn
                           Die Einstufung Luxemburgs zum COVID-Risiko-                  am 1. August vom Spiegel zitiert. „Wir haben aus
                           gebiet durch Deutschland löste einen großen gesell-          den Medien davon erfahren“, beklagte er sich, und
                           schaftlichen Schock diesseits und jenseits der Mosel         das klang nicht nur nach Ärger, sondern auch nach
                           aus. „Bitte nicht schon wieder“, titelte die FAZ vom         Enttäuschung über die öffentliche Demütigung.
                           16. Juli mit einem äußerst empathischen Artikel,             Der deutsche Botschafter in Luxemburg, Heinrich
                           dessen Untertitel die Situation trefflich zusammen-          Kreft, wurde zu einem Gespräch ins Außenministe-
                           fasste: „Auf beiden Seiten der Grenze wächst die             rium gebeten. „Einbestellt“ aber hieß es in der Presse
                           Angst, dass sich die Schlagbäume abermals senken             zunächst, was diplomatisch eine durchaus unfreund-
                           könnten – mit fatalen Folgen für die Großregion.“            lichere Geste gewesen wäre, und diese Meldung ver-
                           Als die Idee von obligatorischen Tests an der Grenze         stärkte noch die Verstimmungen an beiden Ufern
                           von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)               der Mosel.
                           ins Spiel gebracht wurde, stieg die Gefahr einer De-
                           facto-Grenzschließung noch weiter an.                        Denn inzwischen war bekannt geworden, dass
                                                                                        luxemburgische Gäste in deutschen Hotels abge-
                           Außenminister Jean Asselborn (LSAP) hatte Mitte              lehnt worden waren, Patienten aus Luxemburg trotz
                           Mai, nach der Aufhebung der zwei Monate anhal-               negativem COVID-Test erst nach dem diplomati-
                           tenden traumatisierenden, unilateralen Grenzschlie-          schen Eingreifen des Gesundheitsministeriums ihre
                           ßung durch Deutschland gegenüber seinem deut-                ärztliche Behandlung in Deutschland bekamen, dass
                           schen Amtskollegen Heiko Maas (SPD) auf der                  Studierende aus Luxemburg, die nach Deutschland
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                         reisen durften, u. a. um ihre Prüfungen abzulegen,                dem Saarland darüber, dass die über 50.000 Grenz-
                         auf verschiedenen Campus nicht willkommen waren.                  pendler, aber auch Menschen, die sich weniger als 72
                         Auch in einigen Geschäften in der Grenzregion soll                Stunden in Luxemburg aufgehalten hatten, und Per-
                         es zu unangenehmen Abweisungen gekommen sein.                     sonen mit einem triftigen Grund – ärztliche Behand-
                         Die Gerüchteküche tat das ihre, die Emotionen, in                 lung, Familie, Pflege, Sorgerecht und getrenntes Sor-
                         den sozialen Medien angeheizt, kochten hoch. Ber-                 gerecht etc. – aus Luxemburg auch ohne Test und/
                         lin, das sich gewiss nicht besonders elegant angestellt           oder Quarantänepflicht einreisen durften. Mainz war
                         hatte, lieferte selbst die Vorlage für die luxemburgi-            schon von der Grenzschließung im März 2020 nicht
                         schen Tiraden gegen die unbelehrbaren Preußen, die                begeistert gewesen, und Saarbrücken, das in einer
                         nach zwei Monaten Pause nun wieder begannen, die                  panischen Reaktion die Grenzschließung am Anfang
                         Luxemburger an der Grenze zu schikanieren.                        der Coronakrise mitgetragen hatte, gab sich seit Mai
                                                                                           große Mühe, das zerstörte Porzellan besonders mit
                         Beschwichtigung                                                   der Région Grand Est, aber dann auch mit Luxem-
                                                                                           burg wieder zusammenzukleben.
                         Anders als Xavier Bettel, der während einer Pressekon-
                         ferenz mit Paulette Lenert am 16. Juli die neue Grenz-            Keines der benachbarten Bundesländer war von
                         konstellation zwischen Luxemburg und Deutschland                  den brüskierenden Entscheidungen aus dem fernen
                         auf die Problematik der nunmehr vereitelten „But-                 Berlin angetan und beide arbeiteten im Bundesrat
                         terfahrten nach Trier“ reduzierte, für die man kein               offen auf Schadensbegrenzung hin. Paulette Lenert
                         Anrecht auf einen COVID-Test hätte, stellte das                   nutzte die Gelegenheit, schloss sich mit ihren Amts-
                         Außenministerium trotz aller Irritationen schnell klar,           kolleginnen aus Mainz, Sabine Bätzing-Lichtent-
                         was weiterhin möglich war, und wachte zusammen                    häler (SPD), und Saarbrücken, Monika Bachmann
                         mit den Landesregierungen in Rheinland-Pfalz und                  (CDU), kurz, und konnte damit nicht nur einige

                         Austausch der Gesundheitsministerinnen Paulette Lenert und Monika Bachmann zur COVID-19-Lage in Luxemburg
                         und dem Saarland am 28. Juli 2020 im Hotel Schlossberg, Perl/Nenning.

                                                                                                                                                   © MSGFF
Politik     September 2020   13

Elemente kooperativer Normalität einbringen, son-       nach Luxemburg pendeln ca. 2.800 sozialversicherte
dern auch Luxemburgs Argumente – vermittelt             Luxemburger, sodass man davon ausgehen kann, dass       Mehr als zwei
über ihre Partnerinnen – nach Berlin an Bundes-         noch mehr dort leben, aber sie werden in den Tabel-     Drittel einer
gesundheitsminister Jens Spahn weiterleiten. Mit        len des INSEE für die Départements Moselle und          wachsenden
dem Saarland einigte Lenert sich auf eine verstärkte    Meurthe-et-Moselle nicht detailliert aufgeführt. Von    Luxemburger
Zusammenarbeit in der Bekämpfung der Pandemie.          den 21.300 in Deutschland lebenden Luxemburgern
                                                                                                                Diaspora lebt in
Mit Rheinland-Pfalz arbeitet Luxemburg an einem         lebten 4470 im Saarland und 9470 in Rheinland-
Abkommen, wonach Rettungswagen beider Länder            Pfalz, anders gesagt: mehr als zwei Drittel einer       Deutschland.
über die Grenze fahren dürfen, um sich im medizini-     wachsenden Luxemburger Diaspora in Deutsch-
schen Notfall gegenseitig zu helfen.                    land. Damit wird klar, dass die Berliner Maßnahmen
                                                        unweigerlich einen viel größeren Impakt auf den
Nicht auf dem Schirm                                    Alltag vieler Luxemburger jenseits und diesseits der
                                                        Grenzen haben mussten als die belgischen.
Diese unerwartet positive Wendung wurde von
der Presse, mit Ausnahme von Radio 100,7, kaum          Beeinträchtigungen
gewürdigt. Die letzten Krisenmonate haben mehr
denn je gezeigt, wie wenig sich die mediale und poli-   Die völlig nutzlose und willkürliche Grenzschlie-
tische Szene Luxemburgs für das politische Perso-       ßung zwischen März und Mai 2020 war für Fami-
nal und die Vorgänge bei den direkten Nachbarn          lien, Menschen mit geteiltem Sorgerecht, Studie-
in Mainz bzw. Trier und Saarbrücken, aber auch          rende, Kranke, Pflegefälle, bei denen die Familie
in Metz, Straßburg, Namur und Arlon interessiert.       oder ein Teil der Familie sich auf der anderen Seite
Und wenn Interesse da ist, scheint es eher punktuell    der Grenze befand, Berufstätige, die nicht den Pend-
auf und weist nur selten auf das evidente gegensei-     lerstatus hatten und z. B. für Wartungen an indust-
tige vitale Interesse hin, das Luxemburg mit seinen     riellen Einrichtungen nicht mehr nach Luxemburg
Nachbargebieten verbindet. Von Corinne Cahen,           geschickt werden durften, und für die Pendler, die
der für die Großregion zuständigen Ministerin der       vieles in Kauf nehmen mussten, eine traumatisie-
Liberalen, hörte man in diesen Tagen der großre-        rende Periode. Umso größer war der Schreck, als
gionalen Ver- und Entwirrung nichts außer dieser        Luxemburg dann als Risikogebiet eingestuft wurde,
flachen Passe-partout-Antwort auf eine Sommerin-        für die zahlreichen Betroffenen, deren Kreis eben
terviewfrage der Hauspostille Journal vom 1. August:    nicht nur auf die über 50.000 Pendler und die
FRAGE: „Ist Europa, vor allem aber auch die Groß-       fast 14.000 im deutschen Grenzgebiet angesiedel-
region, in der Corona-Krise gestorben?“ CAHEN:          ten Luxemburger beschränkt ist, Zahlen, die sich
„Nein, aber Europa hat wohl auch nicht unbedingt        teilweise überkreuzen. Die eingeübte, sich im Ein-
dabei gewonnen. Die Bürger der Großregion sind          klang mit den europäischen Freizügigkeiten und
sich wohl nun eher bewusst, dass wir alle keine         dem damit verbundenen Vertrauen in die Zukunft
Grenzen mehr kennen und wollen, und dass der eine       entfaltende Lebensweise von vielen Hundertausen-
den anderen braucht.“                                   den an der Grenze wurde erneut in Frage gestellt.
                                                        Wirtschaftlich dürften die Folgen beiderseits ver-
Was aber noch weniger thematisiert wurde, war die       heerend sein, nicht nur im Einzelhandel von Trier
Frage, warum es, abgesehen von den schlechten Ber-      und Saarbrücken, deren Vertreter häufig in den
liner Manieren, bei allen möglichen Betroffenen so      Medien auftraten, um die neuen Einschränkungen
viel Erregung gab über die deutschen Maßnahmen,         zu kritisieren.
aber weniger über die vollkommen unklaren und
chaotischen Einschränkungen und Bedingungen für         Dabei haben die kommunalen Verwaltungen, die in
jene, die sich aus Luxemburg nach Belgien und vor       den benachbarten Bundesländern für die Ausfüh-
allem an die belgische Küste begeben wollten.           rung der Pandemie-Anordnungen zuständig sind,
                                                        sich durchaus als vertrauensbildende Partner der dort
Hier helfen einige rudimentäre demografische Daten      ansässigen Luxemburger Bürger erwiesen, um ihnen
weiter. Rund 34.200 Luxemburger, also ein erheb-        das grenzübergreifende Leben unter den Bedingun-
licher Prozentsatz aller Menschen mit Luxembur-         gen der Risikogebietsregeln so erträglich wie mög-
ger Pass, lebten 2019 in den drei Nachbarländern:       lich zu machen. Von Stigmatisierungen durch die
4.500 in Belgien, 8.400 in Frankreich und 21.300        Behörden vor Ort kann nicht die Rede sein.
in Deutschland, dort mit einem Zuwachs von 10 %
in zwei Jahren. In den Nachbarregionen sind es ins-     Bundesländer als Fürsprecher
gesamt mindestens 20.000. In der belgischen Pro-
vince du Luxembourg leben je nach Quelle zwischen       Nicht die Länder und die Kommunen, sondern der
2.020 und 2.800 Luxemburger. Von Frankreich             Bund war die Quelle der Verstörung. Die Länder
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                         waren – so weit, wie sie dazu befugt waren – Fürspre-   Anfang Juli, also noch vor der Einstufung Luxem-
                         cher des Großherzogtums und seiner Anti-Corona-         burgs als Risikogebiet, schreibt Bernard Thomas im
                         Strategie, diskret zu Beginn der neuen Beschrän-        Lëtzebuerger Land in seinem geistreich betitelten
                         kungen, lauter und expliziter im August, als sich die   Beitrag „Après les déluges“: „Durant la pandémie de
                         Hinweise einer auf die Bürger übergreifenden Verun-     2020, les rapports de force entre la métropole et son
                         sicherung bis Zerrüttung des gegenseitigen Vertrau-     hinterland ont changé. Les milieux financiers avai-
                         ens häuften. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD)      ent rêvé le Luxembourg comme plateforme déter-
                         etwa hat so auf die „massiven Auswirkungen“ der         ritorialisée, reliée à d’autres centres offshore comme
                         Risikogebietsregeln und die „enge Verbundenheit“        Londres, Singapour ou Dubaï. Ils se sont réveillés
                         zwischen Rheinland-Pfalz und Luxemburg verwiesen,       aux réalités géopolitiques d’un micro-Etat enclavé,
                         und wie wichtig es für die Bürger sowie den freien      risquant l’asphyxie.“ Und er fügt hinzu: „Cette vul-
                         Waren- und Dienstleistungsverkehr in der Grenzre-       nérabilité désormais exposée, le Luxembourg aura
                         gion sei, die Einstufung als Risikogebiet aufzuheben.   beaucoup de mal à se soustraire à la revendication
                                                                                 de compensations fiscales portée par les maires de
                         Und dennoch kam es in den zwei Tagen, nachdem           Trèves, Villerupt et Metz.“
                         Luxemburg nicht mehr als Risikogebiet eingestuft
                         war, zu wahrhaftigen „journées folles“. Mainz hatte     Die sukzessiven Bettel-Regierungen haben die Groß-
                         sich bizarrerweise nicht dazu überwinden können,        region systematisch vernachlässigt. Die Regierung
                         die Quarantäne- und Testpflicht sofort aufzuheben,      tut immer noch so, als ob Luxemburg die einzige
                         sondern zog es zuerst vor, diese erst am 31. August     Metropole sei und die Nachbargebiete ihr Hinter-
                         zu beenden, also zwölf Tage nach Aufhebung der          land. Sie haben weder den Geist noch die klugen und
                         Einstufung von Luxemburg als Risikogebiet. Saar-        differenzierten Vorschläge des vor zehn Jahren von
                         brücken war zuerst anderer Meinung, zog dann aber       der Großregion bestellten Metroborder-Berichts1,
                         mit Mainz nach, was einige Bestürzung in Luxem-         den die letzte Juncker-Regierung noch gutgehei-
                         burg auslöste. Das Wirrwarr schien perfekt zu sein.     ßen hatte, aufgegriffen. Erst mit der Corona­krise
                         Dann rauften die Regierungen sich zusammen, und         dämmert ihr, dass die hierzulande beschäftigten
                         am 21. August hieß es in einem gemeinsamen Com-         Grenzgänger mehr sind als nur Arbeitskräfte. Aber
                         muniqué: „Nach erneuten Gesprächen zwischen den         sie verdrängt immer noch die Frage nach den Fol-
                         Landesregierungen Rheinland-Pfalz und Saarland          gen des massiven Pendelns auf die Lebensqualität
                         mit der luxemburgischen Regierung haben sich die        der Menschen diesseits und jenseits der Grenzen,
                         Nachbarländer darauf verständigt, dass Menschen,        wohlwissend, dass dieser auch mit der Telearbeit
                         die aus Luxemburg einreisen, keine Quarantänere-        aus steuerpolitischen Gründen nicht abnehmen
                         gelungen zu beachten haben. Damit wurde ein Weg         kann. Sie verdrängt nicht nur systematisch die Frage
                         gefunden, die engen nachbarschaftlichen Beziehun-       nach den Kosten des Luxemburger Modells für die
                         gen sowie die gute Zusammenarbeit im Gesund-            Kommunen und Gebietskörperschaften jenseits der
                         heitsbereich zu verfestigen.“ Drei vernünftige Frauen   Grenzen, sondern der Premier hat sie vor der Krise
                         in hohem Amt hatten es geschafft, den Amtsschim-        zuweilen verächtlich verballhornt. Sie betreibt weiter
                         mel zu bändigen, bevor er durchzugehen drohte.          eine grenzübergreifende Verkehrspolitik, von der sie
                                                                                 weiß, dass sie die Quadratur des Kreises einer opti-
                         Anfälligkeit und Sorglosigkeit                          malen Fluidität nie in den Griff bekommen kann,
                                                                                 weder mit verbreiterten Autobahnen noch mit aus-
                         Der Krisensommer 2020 hat wiederum gezeigt, wie         gebautem Schienennetz.
                         verletzlich Luxemburg als staatliches Gebilde nach
                         innen und nach außen geworden ist, mit seiner in        Die Regierung hat auch die strukturellen Ursachen
                         Europa einzigartigen Zusammensetzung der Bevöl-         der massiven und nicht abnehmenden Abwande-
                         kerung, mit seiner ganz auf die Freizügigkeiten der     rung der eigenen Landsleute in die Grenzregionen
                         EU setzenden Wirtschaft und Gesellschaft, mit sei-      weder wahrgenommen noch thematisiert. Sie hat
  Drei vernünftige       ner Verwobenheit mit seinen Nachbargebieten, ohne       diese zahlreichen und sehr unterschiedlichen Men-
 Frauen in hohem         deren menschliche und materielle Ressourcen es          schen, die nach dem einen Erklärungsschema sich
     Amt hatten es       nicht funktionieren kann. Luxemburg ist aber nicht      in Luxemburg keine Wohnung leisten konnten und
     geschafft, den      deswegen anfällig geworden, weil es so stark mit sei-   deswegen wegzogen, und nach dem anderen Erklä-
                         ner Nachbarschaft verwoben ist und weil es auf die      rungsschema sich mit ihren fetten Luxemburger
 Amtsschimmel zu
                         Freizügigkeiten der EU setzt, sondern weil es nach      Löhnen eine billigere Immobilie in einer der Nach-
   bändigen, bevor       innen und nach außen eine Politik betreibt, die mit     barregionen als Profiteure beider Systeme unter den
  er durchzugehen        diesen Elementen – man könnte auch sagen wertvol-       Nagel gerissen haben, völlig vernachlässigt. Sie hat
           drohte.       len gemeinschaftlichen Gütern, weil in ihnen großes     die Interessen dieser Diaspora, der in den Medien,
                         positives Potenzial steckt – sorglos umgeht.            und besonders in den sozialen Medien, etwas
Politik   September 2020   15
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               Paulette Lenert hebt Luxemburgs ehrgeizige Teststrategie beim informellen Rat der 27 Gesundheitsminister per
               Videokonferenz am 16. Juli 2020 hervor.

               Anrüchiges angedichtet wird, seit Jahren und erst                     sozialen Medien vermitteln, ist zu fragmentarisch bis
               recht nicht in der Coronakrise weiter wahrgenom-                      kaleidoskopisch, auch wenn sie atmosphärisch oft
               men. Dabei müsste man es in dieser Epoche großer                      nah am Ball sind.
               Migrationen im Einwanderungsland Luxemburg
               besser wissen: Niemand verlässt freiwillig sein Land,                 Dabei hat die Coronakrise nicht nur die Anfällig-
               er tut es erst nach reichlicher Überlegung, wenn es                   keit Luxemburgs offenbart, sondern vor allem seine
               viel, viel bessere Opportunitäten woanders gibt oder                  Abhängigkeit. Gewiss ist Luxemburg die wirtschaft-
               er einfach nicht anders kann.                                         lich dynamischste und in seinem unmittelbaren
                                                                                     Umland treibende Kraft der Région métropolitaine
               Schlecht informiert                                                   polycentrique transfrontalière, wie sie der Metrobor-
                                                                                     der-Bericht zugleich treffend und ein wenig bar-
               Und weil sie die Großregion vernachlässigt hat, ist                   barisch nannte, aber eben nicht die einzige, auch
               die Luxemburger Regierung schlecht informiert über                    wenn sie so tut. Die Krise hat viele Grenzgänger, die
               das, was sich in ihrem Umland, in der Province du                     wegen des Lockdowns zu Hause bleiben mussten,
               Luxembourg, im lothringischen Teil des Grand Est,                     dazu gebracht, über die Strapazen nachzudenken,
               in der Politik der Région Grand Est, in Rheinland-                    die der Job in Luxemburg mit sich bringt, und abzu-
               Pfalz und im Saarland abspielt. Wo die Entwick-                       wägen, ob das Lebenszeit raubende Pendeln sich
               lungen hingehen, wie der demografische Wandel                         trotz des Lohndifferentials weiter lohne. Die Hybris
               sich an Luxemburgs Grenzen vollzieht, wie sich das                    der Luxemburger Regierung hat in den letzten zwei
               politische Personal entwickelt, welche neuen rich-                    Jahren zu einer schleichenden atmosphärischen Ver-
               tungsgebenden Umgestaltungsvorschläge kursieren,                      schlechterung bei den Pendlern geführt, die mehr als
               welche Akteure für Luxemburg wichtig sein könn-                       andere Wettbewerbsfähigkeitskriterien der Attrakti-
               ten, welche Kooperationsmöglichkeiten sich auftun,                    vität des Landes als Arbeitgeber schadet. Das Plä-
               Antworten auf diese Fragen liefert keine bilaterale                   doyer von Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) auf
               Botschaft, denn die ist zu weit ab vom Schuss. Auch                   Radio 100,7 am 21. August für verkürzte Arbeits-
               kein Beamter, der sich mit der Großregion befasst,                    zeiten als Wettbewerbsvorteil, der den der höheren
               liefert sie, weil es nicht sein Auftrag ist, Verbindun-               Löhne verstärke, ist ein Indiz dafür, dass dieser um
               gen zu politischem Personal oder anderen einfluss-                    sich greifende Sinneswandel auch bei einigen Regie-
               reichen oder relevanten Personen aufzubauen, kein                     rungsmitgliedern angekommen ist.
               ehrenamtlicher Konsul, der vielleicht zwei Stunden
               pro Woche für Luxemburger Belange erreichbar ist                      Sich in der Großregion neu erfinden
               – wenn er es überhaupt ist. Auch die Presse tut sich
               mit einigen löblichen Ausnahmen schwer damit,                         Wenn Luxemburg das Gespenst der Abhängig-
               hier ein Kontinuum reinzubringen. Und was die                         keit bannen will und sich wieder sicherer in der
16 forum 409   Politik

                         Großregion verankern will, muss seine Regierung        möglichen Gebieten, die für die Großregion relevant
        Luxemburg        auf ihr Umland, die nicht ihr Hinterland ist, zuge-    sind, aufbauen; prospektiv ganz auf Interdependenz
           muss auf      hen, auf eine kontinuierliche Kooperation mit den      und Kooperation setzen. Sie müssten zugleich das
 Interdependenzen        zuständigen Gebietskörperschaften setzen, die belgi-   Phänomen der Luxemburger Diaspora erfassen hel-
    setzen, wenn es      sche Province, die Départements, die Région Grand      fen. Mit einer so besser informierten, umsichtigen,
                         Est und die Bundesländer, ihre Entscheidungsträ-       fairen und vertieften regionalen Kooperation, die
    nicht abhängig
                         ger und ihre Bürger besser kennenlernen, nicht auf     stärkere Interdependenzen in der Großregion schafft,
       bleiben will.     einseitige Ausnutzung der Ressourcen des Umlandes      und damit mehr Europa, bräuchte die Luxemburger
                         setzen, sondern das konzertierte Fließen von Steuer­   Regierung sich in Krisenzeiten viel weniger, wenn
                         geldern ins Auge fassen als Gegenleistung für die      überhaupt, davor fürchten, dass die vitalen EU-Frei-
                         Beschäftigung der woanders ausgebildeten und an        zügigkeiten durch die Zentralregierungen der Nach-
                         ihrem Wohnort substanziell weniger Steuern zahlen-     barländer eingeschränkt werden könnten, von denen
                         den Grenzgänger, und es muss, gemeinsam mit den        zwei Föderalstaaten sind.
                         Partnern der drei Nachbarländer, neue wirtschaftli-
                         che grenzübergreifende, regionale Entwicklungsmo-      Luxemburg, zurzeit noch sehr anfällig wegen seiner
                         delle konzipieren.                                     Abhängigkeiten, könnte sich in der Interdependenz
                                                                                mit seinem Umland so territorial neu erfinden. Es
                         Luxemburg muss auf Interdependenzen setzen, wenn       bräuchte nicht mehr in die demütigende Opferrolle
                         es nicht abhängig bleiben will, auf Abkommen, die      zu schlüpfen, die aus aufbäumenden Verlautbarun-
                         eine Beschneidung der grenzübergreifenden EU-          gen in den letzten Wochen herausklang, mit Aus-
                         Freizügigkeiten in Zukunft ausschließen. Seine         nahme derer von Paulette Lenert, die es mit ihren
                         Regionalpolitik müsste zugleich Souveränitäts- und     Teams und dem richtigen Ton und Umgang mit den
                         Europapolitik sein, insofern das europäische Projekt   regionalen Partnern in ihrem, dem gesundheitspo-
                         auf eine Stärkung durch Kooperation qua Teilung        litischen Bereich, zukunftsweisend gerichtet hat.
                         der Souveränitätskompetenzen setzt. Vor allem: Die
                         Regionalpolitik gehört ins Außenministerium, in
                         das „ministère régalien“, das mit hoheitsrechtlichen
                         Befugnissen ausgestattet unbefangener im „Ausland“
                         verhandeln kann.

                         Wenn es in Frankreich als Geniestreich des jungen
                         neuen französischen Staatssekretärs für europäische
                         Angelegenheiten, Clément Beaune, gilt, dass, wie
                         Michaela Wiegel am 27. Juli in der FAZ schrieb,
                         „sein Hauptaugenmerk“ Deutschland galt und er
                         Macron dazu brachte, „nicht nur auf Regierungs-
                         kontakte zu setzen, sondern viel stärker die Minis-
                         terpräsidenten zu berücksichtigen“, dürfte es wohl
                         für jeden Luxemburger Außenminister ein Leichtes
                         sein, die benachbarten deutschen Bundesländer wie
                         die französischen und belgischen Gebietskörper-
                         schaften des Umlandes neu zu entdecken, ihnen die
                         Aufmerksamkeit zu schenken, die sie angesichts der
                         eigenen vitalen Interessen verdienen und koordiniert
                         den Fachministern die Wege zu bahnen, die für eine
                         vertiefte regionale Kooperation notwendig sind.

                         Es wäre dann wohl zuerst entscheidend, hauptamt-
                         liche Konsulate bzw. Vertretungen bei diesen Kör-
                         perschaften in Mainz, Saarbrücken, Namur und
                         Straßburg/Metz zu akkreditieren. Diese müssten von
                         im ganzen Staatsapparat gut vernetzten Topbeam-
                         ten geleitet werden. Ihre Aufgabe: die Luxemburger
                         Regierung und die Fachministerien unmittelbar und
                         horizontal besser über alle für die Beziehungen mit
                                                                                1   https://europaforum.public.lu/fr/actualites/2011/02/
                         dem Umland relevanten Entwicklungen informie-              metroborder-synthese/index.html (letzter Aufruf: 24. August
                         ren; Kontakte zu den Entscheidungsträgern in allen         2020).
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