Ansprache des Bundespräsidenten Joachim Gauck im Landtag von Schleswig-Holstein während seines Antrittsbesuchs - Freitag, 22. März 2013

Die Seite wird erstellt Hans Winkelmann
 
WEITER LESEN
Schleswig-Holsteinischer Landtag
         18. Wahlperiode

Ansprache
des Bundespräsidenten Joachim Gauck
im Landtag von Schleswig-Holstein
während seines Antrittsbesuchs

Freitag, 22. März 2013
2                       Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - Sondersitzung - Freitag, 22. März 2013

Beginn: 11:12 Uhr                                        menhang und damit in dem, was uns alle über die
                                                         Besonderheiten hinaus verbindet.
Präsident Klaus Schlie:
                                                         Sehr geehrter Herr Bundespräsident, liebe Frau
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte,        Schadt, Sie sind heute unsere Ehrengäste. Seien Sie
liebe Frau Schadt! Sehr geehrter Herr Ministerprä-       uns noch einmal ganz herzlich willkommen im
sident! Sehr geehrter Herr Präsident des Landesver-      Schleswig-Holsteinischen Landtag!
fassungsgerichtes Dr. Flor! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete, meine sehr geehrten                     (Beifall)
Damen und Herren!
                                                         Bundespräsident Joachim Gauck:
Ich heiße Sie alle, vor allem aber Sie, lieber Herr
Bundespräsident, sehr herzlich im Schleswig-             So, dat Eerst mutt ik op Platt seggen. Dat deit mi
Holsteinischen Landtag willkommen. Schön, dass           leed, dat ik 'n lütt beten to laat bün, aver dat liggt
es etwas zeitverzögert geklappt hat.                     nich an uns. Wi beid sün tiedig noog opstahn hüüt
                                                         Morgen. Aver nu geiht dat richtig los.
Als ein Sohn der alten und ehrwürdigen Hansestadt
Rostock sind Ihnen das Meer und insbesondere die                (Beifall)
Ostsee vertraut. Unser Land, gelegen zwischen
zwei verkehrswichtigen Meeren, war und ist Dreh-         Sehr geehrter Herr Präsident des Landtags von
kreuz wirtschaftlicher, politischer und kultureller      Schleswig-Holstein! Sehr geehrter Herr Minister-
Verbindungslinien. Es ist das Tor zu Nordeuropa          präsident! Sehr geehrter Herr Präsident des Lan-
und in die Staaten des Ostseeraums.                      desverfassungsgerichts! Meine Damen und Herren
                                                         Abgeordneten! Verehrte Ehrengäste!
Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie werden
sich heute einen Eindruck von der lebendigen Viel-       Für Küstenmenschen - das haben Sie richtig erra-
falt unseres Landes machen können -, über die            ten, Herr Präsident kann die See ja soviel bedeu-
moderne Wissenschaft, die sich mit den Weltmee-          ten: Heimat oder Sehnsucht, ein großes Verspre-
ren beschäftigt, ebenso wie über die kulturellen         chen, tiefe Erfüllung oder auch Geschäftsbetrieb.
Schätze auf Schloss Gottorf.                             Das kann man auch hier empfinden, wo wir nur ein
                                                         paar Meter entfernt sind, in diesem Plenarsaal hin
Hier im Schleswig-Holsteinischen Landtag schlägt         zur Förde - ein paar Spazierschritte, und schon ist
das politische Herz unseres Landes. Ein unerschüt-       man am Wasser.
terliches Fundament dieses Hauses ist der Födera-
lismus, der für uns Schleswig-Holsteinerinnen und        Ich bin nicht das erste Mal in diesem Haus, aber
Schleswig-Holsteiner nichts anderes bedeutet als         ich bin das erste Mal als Präsident hier im Plenar-
gelebte Einheit in Vielfalt und auch gelebte Solida-     saal. Vielen Dank für diese besondere Einladung.
rität. Gern wollen wir unsere Stärken in das gesam-      Ich freue mich, wieder hier zu sein.
te Deutschland und in Europa einbringen. Ebenso
vertrauen wir darauf, dass Deutschland und Europa        Bei meinem Antrittsbesuch erwartet mich - Sie
unseren Beitrag anerkennen und uns dort, wo es           haben es angedeutet - ein besonderes Programm.
nötig ist, unterstützen.                                 „Zukunft aus Vergangenheit“, so haben es mir
                                                         meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Präsidi-
Ihr Besuch hier im Schleswig-Holsteinischen              alamt in meine Vorbereitungsmappe geschrieben.
Landtag ist Ausdruck dieses besonderen Verhält-          Das werde ich ein Stück in Echtzeit erleben, wenn
nisses, das die Bundesrepublik und ihre Bundes-          mir die Ozeanforscher vom Helmholtz-Zentrum
länder kennzeichnet. Ihr Besuch ehrt unser Haus          GEOMAR begegnen und mir zeigen, wie man aus
und bestätigt unsere Arbeit - das spornt an, die         tiefen Gesteinsschichten Szenarien für die Zukunft
Herausforderungen der Zukunft in dem Wissen              ableiten kann. Und in ganz anderer Weise werde
anzugehen, dass wir in Deutschland einen guten           ich das erleben, wenn ich auf Schloss Gottorf Kin-
Weg darin beschritten haben, unsere politische           der treffe, die das Mittelalter und den Barock stu-
Gemeinschaft so zu formen, dass in ihr das Einzel-       dieren und erkunden und anschließend wohl auch
ne, das Regionale und damit das Besondere seinen         ihr jetziges modernes Leben mit eigenen Augen
Platz hat im nationalen und europäischen Zusam-          sehen.
Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - Sondersitzung - Freitag, 22. März 2013                       3

(Bundespräsident Joachim Gauck)

„Zukunft aus Vergangenheit“ könnte auch ein Mot-        oder gar Verfolgung, verlassen: EU-Bürger aus
to dieses Abgeordnetenhauses sein. Einst wurde ja       Bulgarien und Rumänien, die in Deutschland und
um dieses Land zwischen den Meeren hart gerun-          anderen Mitgliedstaaten der EU ein besseres Leben
gen, mal mit der Natur, mal mit Nachbarn. Die           suchen. Wenn ihre Anwesenheit in einigen Orten
Generation unserer Eltern und Großeltern musste         zu Konflikten führt, muss das am konkreten Fall
noch erleben, wie die Nationalsozialisten in Kiel       geklärt und nach Lösungen gesucht werden. Es
verheerende Wahlsiege einfuhren. Die Bürger-            muss besprochen werden.
schaft der Gegenwart nutzt ihr Wahlrecht Gott sei
Dank - wir haben das über Generationen erfahren -       Eine ganze Gruppe von Menschen zu stigmatisie-
anders. So ist heute auch der Südschleswigsche          ren oder ihnen pauschal die Integrationsfähigkeit
Wählerverband Teil der Regierungskoalition.             abzusprechen, setzt die unheilige Tradition jahr-
                                                        hundertealter Diskreditierung, Ausgrenzung und
Als ich eben hereinkam, hat der Herr Präsident die      Verfolgung fort. Das widerspricht nicht nur dem
mehrsprachigen Schilder im Parlamentsgebäude            Prinzip der Gleichberechtigung aller Bürger, es
gezeigt. Das ist Schleswig-Holstein 2013. Ich kann      widerspricht auch unseren positiven Erfahrungen -
natürlich nur zwei der Sprachen, die dort verzeich-     jedenfalls denen im westlichen Teil unseres Vater-
net sind, aber ich könnte ja noch lernen.               landes. Seit den 60er-Jahren leben nämlich Tau-
                                                        sende zugewanderter Roma in Westdeutschland
Im Kieler Parlament ist offensichtlich geworden:        und sind gut integriert. Sie kamen aus Jugoslawien
Die Stärke einer Demokratie erweist sich nicht nur      als Gastarbeiter zu uns.
in ihren Mehrheitsverhältnissen. Die Stärke der
Demokratie erweist sich auch in ihrem Umgang            Was wir brauchen, sind also Besonnenheit, sachli-
mit Minderheiten.                                       cher Austausch und Weitsicht. Wir brauchen das
                                                        Bemühen, den Roma nicht nur bei uns, sondern vor
Schleswig-Holstein ist in den vergangenen Jahr-         allem in ihren Herkunftsländern ein menschenwür-
zehnten demokratisch und gesellschaftlich gewach-       diges Leben zu schaffen, ihnen mit dem gebotenen
sen, weil es seinen Umgang mit Minderheiten erst        Respekt zu begegnen und ihre Würde zu achten.
zu einer neuen Politik und dann zu einem neuen          Das fordert uns in Deutschland, aber es fordert
Alltag gemacht hat. Artikel 5 der Landesverfassung      auch Europa. Das ist eine europäische Aufgabe.
schützte schon früh die dänische Minderheit und
die friesische Volksgruppe.                             Verehrter Herr Präsident, sehr geehrte Abgeordne-
                                                        te, ein gläserner Parlamentssaal ist es, in dem wir
Seit dem 14. November 2012 schützt dieser Arti-         uns treffen. So etwas gilt oft als ein Versprechen,
kel auch die Kultur und Sprache der deutschen           in erster Linie die Vernunft und die Fakten zu Rate
Sinti und Roma in Schleswig-Holstein. Für diesen        zu ziehen, Transparenz zu wagen, weil es keine
Beschluss, für dieses Novum in einer Landesver-         unlauteren Gefühle und Strebungen zu verbergen
fassung, möchte ich dem Parlament von Schleswig-        gibt. Diese Maxime in Kiel gefällt mir. Ihr Parla-
Holstein ausdrücklich danken. Auch mein Dank            mentssaal passt gut zu meinem Bild einer Demo-
passt zum Motto „Zukunft aus Vergangenheit“.            kratie der Bürgerinnen und Bürger.
Schon seit dem 15. Jahrhundert leben Sinti und
Roma im Gebiet von Schleswig-Holstein. Die Ver-         Allerdings wissen Sie aus Ihrer täglichen Arbeit in
fassungsänderung ist nicht nur eine juristische         den Wahlkreisen, wie schwer es ist, tatsächlich
Präzisierung, sie ist auch ein politisches Bekennt-     sichtbar zu machen, was Landespolitik regeln kann
nis.                                                    und wo andere Ebenen zuständig sind – etwa das
                                                        vermeintlich ferne Berlin oder das noch fernere
Die Botschaft aus Kiel lautet: Minderheitenschutz       Brüssel. Die Abgeordneten im Landesparlament
ist kein Akt der Gefälligkeit, Minderheitenschutz       treten oft als Vermittler zwischen Bund und Kom-
ist Ausdruck unserer Demokratie.                        munen auf. Meistens geht es darum, anspruchsvolle
                                                        Vorgaben aus der Hauptstadt mit den fast immer
Ich möchte im Lichte der aktuellen europäischen         knappen Mitteln vor Ort umsetzen. Das wissen Sie
Entwicklung dieser Botschaft eine besondere Rele-       besser als ich. Oder Sie kämpfen um Unterstützung
vanz verleihen. Wir erleben gerade eine sehr emo-       für Großprojekte wie dieser Tage beim Nord-
tionale Debatte, weil Roma - die größten Verlierer      Ostsee-Kanal.
der Transformationsgesellschaften - ihre Heimat
aus Not, oft auch wegen aktueller Diskriminierung
4                                        Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - Freitag, 22. März 2013

(Bundespräsident Joachim Gauck)

Landespolitik ist kein leichtes Unterfangen. Aber         gliedern gerade über diesen Punkt berichten lassen.
sie bringt auch wunderbare und oft unterschätzte          Das, was ich gehört habe, ist sicher ein guter An-
Möglichkeiten, die eigene Heimat als unverwech-           fang, denn wir brauchen geeignete Strukturen, vor
selbare Region in Europa und in der Welt zu ver-          allem brauchen wir jedoch eine innere Haltung, die
treten, ja auch zu bewerben. Bei der Grünen Woche         Bürgerschaft als elementare Gestaltungskraft jeder
in Berlin etwa findet sich der Holsteiner Katen-          Region zu begreifen und zu aktivieren.
schinken in guter Nachbarschaft zu den Spreewäl-
der Gurken, zum Bretonischen Honigwein oder               Parlament und Bevölkerung - das ist naturgemäß
zum Brasilianischen Bohneneintopf. Das ist mehr           ein spannendes Verhältnis und manchmal auch ein
als nur ein schönes Detail. Wer ein starkes Regio-        spannungsreiches, weil Kompromisse ohne Zuge-
nalbewusstsein entwickelt, kann sich auch im har-         ständnisse kaum zu erreichen sind. Ob es nun um
ten Wettbewerb auf den globalen Märkten ganz              den Bau von Energietrassen geht oder um die Na-
selbstbewusst einbringen, kann tatsächlich Zukunft        turschutzgebiete - der Abstand zwischen Wählern
aus der Vergangenheit ableiten. Schleswig-                und Gewählten sollte kleiner werden, wenn wir
Holstein oder Shanghai? Zum Glück werden                  ausgewogene Lösungen finden wollen. Wenn De-
Standortdebatten heute sehr viel differenzierter          mokratie anstrengend wird, ist leider schnell ein
geführt als noch vor zehn Jahren. Denn immer              Standardreflex zu beobachten - nicht nur hier, son-
mehr Menschen sehen, dass beides gelingen muss:           dern überall -, nämlich die gegenseitige Beschimp-
Modernisierung für Wettbewerbsfähigkeit und               fung der handelnden Akteure und gleich des gan-
zugleich eine produktive Rückbesinnung auf das,           zen politischen Systems. Das ist ein weit verbreite-
was diese Region über Jahrhunderte starkgemacht           ter Sport. Aber wir - jedenfalls wir, die wir hier im
hat - das Selbstverständnis der Hanse, ein Kultur-        politischen Raum aktiv sind -, wissen es: Be-
raum in seiner ganzen, ungeteilten Dynamik, ohne          schimpfung ist doch reine Distanzierung.
staatliche Grenzen. Als Rostocker sehe ich mit
großer Freude, wie diese alte Identität in den letz-      Kritik und Debatte allerdings sind Zeichen von
ten zwanzig Jahren wiederbelebt wurde und Men-            Engagement. Kritik und Debatte werden in unde-
schen neu beflügelt hat.                                  mokratischen Gesellschaften behindert oder gar
                                                          verboten. Wir erinnern uns gegenseitig daran, dass
Landespolitik hat also jede Menge Ansatzpunkte,           in unserer Vergangenheit Menschen dennoch ge-
um zu fragen: Wie lässt sich das Profil von               wagt haben, kritisch und kämpferisch zu leben.
Schleswig-Holstein weiterentwickeln? - Die Ant-           Dafür haben manche leiden, manche sogar sterben
worten ergeben sich in einer Großstadt anders als         müssen. Deshalb werde ich wohl niemals, wenn ich
auf dem Land, in einem Industriegebiet - etwa im          in einem demokratischen Parlament zu Gast bin,
Umkreis von Hamburg - anders als in einem Na-             vergessen zu sagen: Danke, verehrte Abgeordnete,
turpark, für die Schülerinnen und Schüler hier im         danke für jede Stunde des Meinungsstreits, für
Saal - über deren Anwesenheit ich mich von Her-           jedes offene Wort, und danke für Ihren Mut, Ziele
zen freue - anders als für deren Eltern und Großel-       zu definieren und eine zukunfts- und bürgerorien-
tern. Aber die Antworten entstehen meistens dort,         tierte Ausgabenpolitik zu wagen!
wo die lebensnahen Fragen gestellt werden, näm-
lich regional. Deshalb haben Sie - jeder Einzelne -       Wir wissen es: Demokratie ist ein Gewinn an sich.
als Parlamentarier und Parlamentarierin eine so           Das haben sechs Jahrzehnte Landesparlament
wichtige Rolle beim Ausgleich der Interessen, mal         Schleswig-Holstein bewiesen. So danke ich Ihnen
als Katalysatoren, mal als Schlichter, jedenfalls         und Ihren Vorgängern in diesem Hohen Haus für
zum Wohl dessen, was wir regionale Identität nen-         alles, was Sie zum Wohl der Bürger im hohen Nor-
nen und schätzen.                                         den Deutschlands geschaffen haben. Dass das nicht
                                                          immer leicht war, ist Ihnen gewiss noch bewusster
Ein solcher Entwicklungsprozess lässt sich be-            als mir: Werftenkrisen oder Regierungskrisen,
kanntlich nicht per Gesetz verordnen. Er muss von         Strukturwandel im Agrarbereich, Energiedebatten -
zwei Seiten getragen werden, von den politischen          ich könnte das fortsetzen. Globale oder hausge-
Repräsentanten genauso wie von einer aktiven              machte Ursachen sorgen oft für schwere See im
Bürgerschaft. Ich habe gehört, dass es hier in Kiel       Land und in seinem Parlament.
regelmäßig Bürgerforen gibt und seit Kurzem auch
gesenkte Quoren für Bürgerbegehren und die Mög-           Aber wenn ich Sie heute besuche, weiß ich: Die
lichkeit öffentlicher Petitionen. Ich werde mir           Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben Sie
nachher bei der Begegnung mit den Kabinettsmit-           gewählt, weil sie auch in Zukunft Vertrauen in ein
Schleswig-Holsteinischer Landtag (18. WP) - Sondersitzung - Freitag, 22. März 2013   5

(Bundespräsident Joachim Gauck)

Parlament setzen möchten, das Stabilität mit Inno-
vationskraft und Tradition mit Zukunftsfähigkeit zu
verbinden vermag. - So soll es sein und bleiben!

      (Lang anhaltender Beifall)

Schluss: 11:30 Uhr
Sie können auch lesen