Antisemitismus in niedersAchsen
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Inhaltsverzeichnis Grußwort der niedersächsischen Justizministerin Barbara Havliza _____________________________________________________ 04 Grußwort des niedersächsischen Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens Dr. Franz Rainer Enste _ 05 [1.0] Vorstellung des Landes-Demokratiezentrums (L-DZ) Niedersachsen _____________________________________________ 07 [2.0] „Antisemitismus. Ein komplexes Phänomen greifbar machen“ von Dr. Dana Ionescu __________________________________ 11 [3.0] Interviews mit Dr. Rebecca Seidler, Antisemitismusbeauftragte des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen und Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R. _____ 17 [4.0] Vorstellung der durch das Landes-Demokratiezentrum geförderten Projekte im Themefeld Antisemitismus 2020 _____________ 23 [4.1] „Jüdisches Leben – Empowerment- und Dialogprojekt“ _______________________________________________________ 23 [4.2] „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Niedersachsen“ ______________________________________________ 25 [4.3] „Wer gegen wen? Gewalt, Ausgrenzung und das Stereotyp ‚Jude‘ im Fußball“ ________________________________________ 26 [5.0] Beratung und Unterstützung im Kontext Antisemitismus ______________________________________________________ 29
Grußwort der niedersächsischen Justizministerin Barbara Havliza Gefährlich verankert! Lässt Sie der Titel dieser Broschüre auch Umso mehr freut es mich, hellhörig werden? Nüchtern und in aller Klarheit verweist dieser dass das im Niedersäch- Titel auf zwei wesentliche Aspekte des Antisemitismus: Zum einen sischen Justizministerium auf seine Jahrhunderte alte Verwurzelung in unserer Gesellschaft, angesiedelte Landes-Demo- zum anderen auf die Bedrohung, die er tagtäglich für Jüdinnen kratiezentrum mit dieser und Juden bedeutet. Besonders deutlich führt uns dies der Anstieg Broschüre nicht nur für die antisemitischer Straftaten vor Augen – mit dem erschütternden Thematik als solche sensi- Tiefpunkt durch den Anschlag auf die Synagoge von Halle am 9. bilisiert. Diese Broschüre Oktober 2019. gibt konkrete Anregungen zum Handeln, etwa durch Neben Straf- und Gewalttaten sind es aber auch alltägliche Bemer- Empfehlungen von jüdischen Akteuren und durch Beispiele aus kungen oder antisemitisch geprägte Verschwörungstheorien im der Praxis. Auch Anlaufstellen zur Beratung und Unterstützung Kontext der Corona-Pandemie, die online wie offline zur Lebens- werden genannt. realität von Jüdinnen und Juden gehören. Wir müssen deshalb ge- nau hinsehen und zuhören, wir müssen uns informieren und uns Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieser Broschüre eine auch kritisch hinterfragen, was wir zur Bekämpfung von Antisemi- interessante sowie erhellende Lektüre und hoffe, dass wir in Nie- tismus beitragen können. Und dies dann auch tun! dersachsen stets die Stärke besitzen, bei antisemitischen Handlun- gen nicht wegzusehen, sondern uns für eine demokratische Gesell- Dabei kommt der Justiz eine besondere Rolle zu. Eine konsequente schaft einsetzen und den Betroffenen zur Seite stehen. Strafverfolgung und die Berücksichtigung antisemitischer Motive bei der Strafzumessung – seit Juni 2020 endlich im Strafgesetz- buch verankert – sind wichtige Signale. Um dem Antisemitismus seinen Nährboden zu entziehen, ist aber auch die präventive, un- terstützende und sensibilisierende Arbeit der Zivilgesellschaft unabdingbar. 4
Grußwort des niedersächsischen Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens Dr. Franz Rainer Enste Antisemitismus ist Antihumanismus und steht im diametralen Ge- Unabhängig davon, aus gensatz zu den humanistischen Grundwerten unserer Verfassung. welchen unsäglichen Quel- Der Antisemitismus macht mit einer geschlossenen, auf Ab- und len sich die heutigen Er- Ausgrenzung setzenden, mit simplen Stereotypen arbeitenden scheinungsformen von Vor- und zu einer verhärteten Weltsicht geronnenen Denkweise Mit- urteilen, Ablehnung und menschen zu Anderen, obwohl sie ganz selbstverständlich zu uns Hass gegen Jüdinnen und dazugehören. Juden speisen und wie die- ses im alltäglichen Mitein- Gerade in Zeiten, in denen das Denken Ewig-Gestriger immer mehr ander auftritt, muss diesen Köpfe zu erreichen scheint, wird es notwendig sein, immer wieder Tendenzen mit aller Kraft mit allem Nachdruck und großer Empathie herauszustellen, in entgegengetreten werden. welcher Weise jüdisches Leben in diesem Land das Leben von uns allen zu bereichern und bedeutsame kulturelle Impulse zu liefern Im breiten gesellschaftlichen Schulterschluss gegen Antisemitis- vermag. Dabei gilt es zu betonen, dass der Neuaufbau jüdischer mus vorzugehen und über seine vielfältigen Formen aufzuklären, Gemeinden in Niedersachsen in den zurückliegenden Jahrzehnten ist Absicht dieser Broschüre. Ausdrücklich danke ich dem Lan- nach der Shoa von einem großartigen Selbstbehauptungswillen des-Demokratiezentrum für die Umsetzung dieser Aufgabe sowie und von einer bemerkenswert optimistischen Zukunftshoffnung den Verfasserinnen und Verfassern und den Interviewten sehr zeugt. Denn er ist Ausdruck eines großen Vertrauensvorschusses herzlich für die von ihnen gelieferten Beiträge. der jüdischen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in die demo- kratische Kultur der deutschen Gesellschaft. Dieses Vertrauen darf nicht enttäuscht werden. 5
Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen Mit der vorliegenden Broschüre soll vor allem für die Kontinuität und Aktualität von Antisemitismus sensibilisiert werden (siehe Das Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen (L-DZ) ist für die hierzu „Antisemitismus. Ein komplexes Phänomen greifbar ma- Umsetzung des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ in Nie chen“ von Dr. Dana Ionescu). In einem Kurzinterview stellen jü- dersachsen zuständig. Grundlegendes Ziel ist die Stärkung der dische Akteur*innen ihre Einschätzungen und Empfehlungen zum demokratischen Kultur im Land. Dazu gehört beispielsweise die Umgang mit Antisemitismus vor (siehe hierzu Dr. Rebecca Seidler, Ausgestaltung einer landesweiten funktionierenden Beratungs-, Antisemitismusbeauftrage der Israelitischen Kultusgemeinden Informations- und Vernetzungsstruktur. Mittel des Landes Nie- in Niedersachsen und Michael Fürst, Vorsitzender des Landes- dersachsen fließen als Eigenmittel sowie in spezifische Maßnah- verbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen). In den men ein. Die Maßnahmen des L-DZ tragen zum Erreichen der Beschreibungen der geförderten Projekte des Landesverbands der Ziele des Landesprogramms für Demokratie und Menschenrechte Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R., der bei. Grundlegendes Ziel ist die Stärkung der demokratischen Kul- Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und der Amadeu Antonio tur im Land. Dazu gehört beispielsweise die Ausgestaltung einer Stiftung wird die Relevanz zivilgesellschaftlichen Engagements bei landesweiten funktionierenden Beratungs-, Informations- und der Bekämpfung von Antisemitismus und für die Gestaltung einer Vernetzungsstruktur. demokratischen und vielfältigen Gesellschaft deutlich. Diese drei Projekte werden durch das Landes-Demokratiezentrum So fördert und unterstützt das L-DZ zivilgesellschaftlich organisier- im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ mit Mit- ] te Beratungsangebote im Themenbereich Rechtsextremismus wie teln des Landes Niedersachsen gefördert. Mit einer Kontaktliste die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus – Für Demokratie, zu verschiedenen zivilgesellschaftlichen Beratungseinrichtungen die Beratung Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer möchten die Herausgeber*innen allen Menschen im Land Nieder- Gewalt, die zivilgesellschaftliche Ausstiegsberatung sowie lokale sachsen Unterstützungsangebote im Kontext von Antisemitismus Netzwerke zur Prävention von sogenannter islamistischer Radika- an die Hand geben. lisierung und von antimuslimischem Rassismus. Das Landes-Demokratiezentrum bedankt sich bei allen, die diese In diesen Themenbereichen hält das L-DZ Informations- und Bil- Broschüre möglich gemacht haben, und wünscht den Leser*innen dungsangebote wie Workshops, Vorträge und Argumentationstrai- viele neue Erkenntnisse und spannende Einblicke. nings vor, die von zivilgesellschaftlichen wie staatlichen Akteur*in- z nen kostenfrei in Anspruch genommen werden können. Das L-DZ ist im Landespräventionsrat beim Niedersächsischen Justizministerium angesiedelt und unter folgenden Kontaktdaten Vor dem Hintergrund des besorgniserregenden, steilen Anstiegs erreichbar: antisemitischer Handlungen, Übergriffe und Gewalt hat das L-DZ Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen 2020 mit zusätzlichen Mitteln des Landes Niedersachsen drei Pro- Siebstraße 4, 30171 Hannover jekte zur Prävention von Antisemitismus gefördert. Telefon: 0511 122 71 37 . landes-demokratiezentrum@lprnds.de www.ldz-niedersachsen.de 7
[2 . 0 ] A n t i s e m i tis m u s
Antisemitismus. Im antisemitischen Denken und Fühlen werden ‚die Juden‘ homo- genisiert, essenzialisiert und dichotomisiert. Das bedeutet, dass, Ein komplexes Phänomen greifbar machen obwohl jüdische Leben sehr heterogen sind, behauptet wird, alle von Dr. Dana Ionescu Juden seien gleich und ‚von ihrer Natur aus so und so‘. Auch be- haupten Antisemit*innen, Juden seien ganz anders und würden Antisemitismus ist für Jüdinnen*Juden eine sehr reale alltägliche nicht in die deutsche Gesellschaft passen. Hierbei werden jüdische Bedrohung. Sie werden in privaten und öffentlichen Räumen, zum Deutsche der vermeintlich homogenen Eigengruppe entgegenge- Beispiel auf der Straße, in der Schule, im Sportverein, oder am Ar- setzt, aus ihr ausgeschlossen und abgewertet. Dies geschieht etwa ] beitsplatz beschimpft, bedroht und körperlich angegriffen. In ei- durch negative Bilder von Jüdinnen*Juden sowie der jüdischen ner Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Kultur und Religion, die dem positiven Selbstbild gegenüberge- von 2018 geben 41 Prozent der in Deutschland lebenden befragten stellt werden. Das alles geschieht aus einer Machtposition her- Jüdinnen*Juden an, in den letzten zwölf Monaten antisemitisch aus, da Jüdinnen*Juden in Deutschland eine kulturell-religiöse beleidigt oder bedroht worden zu sein.1 Aus Angst vor Belästigung Minderheit sind. Das antisemitische Narrativ, ‚die Juden‘ seien und Ausgrenzung verschweigen einige Jüdinnen*Juden sogar im mächtig oder beherrschten die Welt, ändert daran nichts. Hervor- Kreis von Kolleg*innen oder Freund*innen, dass sie jüdisch sind. zuheben ist, dass der Antisemitismus solche Judenbilder erschafft, Nicht erst der rechte Terroranschlag auf die Synagoge in Halle am ganz gleich, was Jüdinnen*Juden tun oder nicht tun. Das Denken jüdischen Feiertag Jom Kippur zeigt die Dimension der Bedrohung. und Fühlen wird in antisemitischen Handlungen sichtbar. Dazu i zählen unter anderem beleidigende Witze, verbale Beschimpfun- Was ist überhaupt Antisemitismus? gen oder körperliche Gewalt gegenüber Jüdinnen*Juden oder ge- Antisemitismus ist ein komplexes soziales Machtverhältnis, das gen jüdische Einrichtungen wie Synagogen, Gemeindehäuser und zumeist mit Judenfeindschaft oder Judenhass beschrieben wird. Friedhöfe. Auch jüdische Symbole wie der Davidstern oder die Der Begriff „Antisemiten“ entstand Ende der 1870er Jahre und Menora, ein Kerzenständer mit sieben Armen, können das Ziel von . war die Selbstbezeichnung einer rechten politisch-sozialen Bewe- gung, die explizit die Bekämpfung des Judentums und den Aus- schluss von Jüdinnen*Juden zum Ziel hatte. Schon bevor sich antisemitischen Angriffen sein. Antisemitismus ist aber weitaus mehr als individuelle judenfeind- Menschen als Antisemiten bezeichneten, gab es Judenfeindschaft liche Handlungen, die darauf abzielen, Jüdinnen*Juden einzu- s und Judenhass – das Phänomen existiert seit mehr als 2000 Jah- schüchtern, auszuschließen oder zu vernichten. Antisemitismus ist ren. Die Feindschaft kann sich auf Individuen, also einzelne jüdi- eine grundlegende Haltung zur Welt, mit der diejenigen, die ihn sche Menschen, oder ‚die Juden‘ als Gruppe richten. Da von außen als Weltbild teilen, alle Phänomene (etwa Krisen und Widersprü- nicht erkennbar ist, wer jüdisch ist, wird Jüdisch-Sein oftmals an che) zu begreifen versuchen. Dieses Denken und Fühlen kann be- sichtbaren Zeichen festgemacht, zum Beispiel einer Kette mit Da- wusst und unbewusst sein, es ist im kollektiven Gedächtnis – also . vidsternanhänger, einer Kippa (einer Kopfbedeckung, die von jü- dischen Männern beim Gebet oder auch im Alltag getragen wird) dem, was in Gesellschaften historisch gewachsen ist und genera- tionell weitergegeben wird – gespeichert und wird von Menschen oder wenn hebräisch gesprochen wird. immer wieder aufs Neue aktiviert und der Gegenwart angepasst.2 9
Menschen, die antisemitisch denken und fühlen, nutzen häufig sprechen Forscher*innen auch vom Antisemitismus als verdichtetes Codes und Ersatzwörter. Sie sprechen beispielsweise über „die Zi- kognitives und emotionales Weltbild. onisten“, „Israel“, „die Ostküste“, „die Rothschilds“, „Strippenzie- her“, „die Globalisten“, „USrael“ 3 und so weiter. Dies hängt damit In einer verschwörungsideologischen Perspektive wird ‚den Ju- zusammen, dass die offene Artikulation von Antisemitismus nach den‘ meist eine unfassbare Macht zugeschrieben. So stützt sich bei- der Shoah, der Vernichtung der europäischen Jüdinnen*Juden im spielsweise der extrem rechte Attentäter des Terroranschlags am 9. Nationalsozialismus, tabuisiert erschien und erscheint. So haben Oktober 2019 in Halle (Saale) auf einen antisemitischen Verschwö- sich neue Äußerungsformen des Antisemitismus entwickelt, die rungsmythos. Sein Ziel war, am jüdischen Feiertag Jom Kippur, eine antisemitische Alltagskommunikation ermöglichen.4 dem wichtigsten Festtag des jüdischen Jahres, eine volle Synagoge zu stürmen und möglichst viele Jüdinnen*Juden zu töten. Seine Aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus Tat rechtfertigte er mit dem Narrativ eines „ZOG“, im Englischen In der deutschen Bevölkerung sind gegenwärtig der Post-Shoah- eines „Zionist Occupied Government“, im Deutschen einer „zionis- Antisemitismus und der antiisraelische oder israelbezogene Anti- tisch besetzten Regierung“. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, semitismus weit verbreitet. Beide Erscheinungsformen unterschei- Staat und Regierung würden von ‚den Juden‘ kontrolliert. In sei- den sich in Bezug auf den Inhalt und die stereotypen Zuschreibun- nem Bekennerschreiben und dem Tatvideo kommt auch die Ver- gen gegenüber Jüdinnen*Juden. Auch Verschwörungsideologien schwörungsfantasie vom „großen Austausch“ zum Ausdruck, in spielen im Antisemitismus eine große Rolle und spiegeln sich in der sich Antisemitismus und Rassismus verschränken. Sie besagt, allen seinen Formen wider. die weiße Bevölkerung – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und den USA – werde durch nichtweiße bzw. muslimi- Antisemitismus und Verschwörungsideologien sche Geflüchtete ausgetauscht und ersetzt. Die entsprechenden Verschwörungsideologien liefern scheinbare Erklärungen für Migrationsbewegungen seien von ‚den Juden‘ gesteuert. Vor allem komplexe Sachverhalte und machen Muster und Pläne von mäch- im Internet lassen sich mit wenigen Klicks unzählige Varianten tigen Personen oder Gruppen aus, wo in der Realität schlicht Zu- dieser antisemitischen Verschwörungsmythen finden. fälle, vielfältige gesellschaftliche Entwicklungen oder schwer zu überblickende Zusammenhänge existieren. Historisch betrachtet Post-Shoah-Antisemitismus wurden ‚die Juden‘ spätestens seit der christlichen Zeitrechnung Der Post-Shoah-Antisemitismus entstand nach 1945 und kreist von nichtjüdischen Menschen für alle möglichen Übel verantwort- um die Vernichtung der europäischen Jüdinnen*Juden im Natio- lich gemacht, darunter beispielsweise Naturkatastrophen (zerstör- nalsozialismus sowie die familiäre und nationale Auseinanderset- te Ernten), Seuchen (wie die Pest), verschwundene und ermordete zung darum. Er ist komplex und hat unterschiedliche Funktionen Kinder, betrügerische Geschäfte, persönliche Misserfolge, verlorene und Ausprägungen: Eine davon ist der Wunsch nach Verdrängung Kriege, aber auch Finanzkrisen. Bis in die Gegenwart schreiben und Entlastung von der nationalsozialistischen Vergangenheit. Antisemit*innen beständig ‚den Juden‘ alles Schlechte, Böse, Ohn- Viele nichtjüdische Deutsche fordern beispielsweise, endlich einen macht erzeugende und Zerstörerische zu. Gerade weil Verschwö- Schlussstrich unter die Aufarbeitung der nationalsozialistischen rungsideologien derart vielfältig und wandelbar waren und sind, Verbrechen und deren Erinnerung zu ziehen, und behaupten, die 10
Vergangenheit sei bereits lange genug und ausreichend thema- ‚die Juden‘ auf den Staat Israel, verstanden als jüdisches Kollek- tisiert worden. Jüdinnen*Juden, sowohl Überlebende als auch tiv, oder die Idee des Zionismus verlagert.5 Der so transformierte deren Nachkommen, werden als lästige und nachtragende Reprä- Antisemitismus argumentiert oftmals mit Werten wie Menschen- sentant*innen der Erinnerung an die Shoah und als Störenfriede rechten oder internationalem Recht. Dies ermöglicht, israelbezo- abgewertet. Mitunter wird ihnen auch vorgeworfen, diese Erinne- genen Antisemitismus im öffentlichen Raum wenig sanktioniert zu rung zu instrumentalisieren oder einen Vorteil aus ihr zu ziehen. kommunizieren. Für diese Erscheinungsform sind besonders drei Aspekte charakteristisch: Das Existenzrecht des jüdischen Staates Ein weiterer Bestandteil des gegenwärtigen Post-Shoah-Antisemi- oder dessen Selbstverteidigungsrecht (wie es im Völkerrecht ver- tismus zeigt sich, wenn die Nachkommen der Täterinnen und Täter ankert ist) werden infrage gestellt oder gänzlich abgelehnt, es im Nationalsozialismus generationell weitergegebene Schuld- und finden Vergleiche mit dem Nationalsozialismus statt, durch die Schamgefühle abwehren. Dies geschieht unter anderem, um sich der israelische Staat dehumanisiert und existenziell delegitimiert auf der individuellen Ebene positiv mit der eigenen Familie und wird, und Jüdinnen*Juden, gleich welcher Staatsangehörigkeit, Familiengeschichte identifizieren zu können oder auf der kollekti- bekommen generalisierend die Verantwortung für eine als illegi- ven Ebene positiv mit der deutschen Nation oder einem National- tim bewertete israelische Politik zugeschrieben. Wenn beispiels- gefühl. So werden etwa diejenigen, die die nationalsozialistische weise deutsche Jüdinnen*Juden aufgefordert werden, sich für die Ideologie unterstützten, als Opfer dargestellt oder es wird behaup- Politik Israels zu rechtfertigen, wenn sie gar dafür angegriffen wer- tet, sie hätten von der Shoah nichts mitbekommen. Jüdische Opfer den, handelt es sich um Antisemitismus. werden mit nichtjüdischen Opfern von Krieg und Vertreibung auf- gerechnet oder es wird gar angezweifelt und geleugnet, dass sechs Um antiisraelischen Antisemitismus einfach erkennen zu können, Millionen Jüdinnen*Juden im Nationalsozialismus vernichtet wur- greifen Forschende und zivilgesellschaftliche Akteur*innen viel- den. Hier kann auch eine Verschwörungskomponente zum Tragen fach auf den sogenannten 3D-Test zurück. Mit den drei Ds ist kommen, wenn es heißt, ‚die Juden‘ hätten diese Vernichtung nur gemeint, Israel zu dämonisieren, zu delegitimieren und doppelte erfunden, um die Welt moralisch unter Druck zu setzen und finan- Standards anzulegen. Zumindest zwei Ds (Dämonisierung und dop- ziell zu erpressen. pelte Standards) flossen in die veranschaulichenden Beispiele zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Antiisraelischer Antisemitismus Remembrance Alliance ein. Die Arbeitsdefinition wurde 2017 von Für die theoretische und analytische Charakterisierung des anti- der deutschen Bundesregierung und dem Bundestag offiziell über- israelischen oder antizionistischen Antisemitismus ist relevant, nommen, um Antisemitismus praktisch erfassen und so auch be- dass er (klassische) antisemitische Stereotype implizit oder expli- kämpfen zu können. Die 3Ds sind eine nützliche Orientierungs- zit auf Israel projiziert. ‚Israel‘ dient dabei als Chiffre oder Symbol hilfe, die jedoch einer weiteren (wissenschaftlichen) Präzisierung für Jüdinnen*Juden oder jüdisches Leben und bezieht sich häufig und theoretisierenden Vertiefung bedarf. nicht auf die konkrete Politik, das Regierungshandeln oder staatli- che Institutionen. Somit lässt sich schlussfolgern, dass sich in die- Eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte ser Erscheinungsform des Antisemitismus die Feindschaft gegen von 2019 fragt nach der Wirkung von israelbezogenem Antisemi- 11
tismus auf Jüdinnen*Juden. Mehr als 90 Prozent der jungen Jü- Antisemitismus in Niedersachsen dinnen*Juden in den europäischen Staaten geben an, dass sich an- Auch in Niedersachsen kommt es immer wieder zu antisemitischen tisemitische Reaktionen auf den Israel-Palästina-Konflikt negativ Vorfällen. Dem Justizministerium zufolge ist die Zahl der antise- auf ihr Sicherheitsgefühl auswirken. 6 mitischen Straftaten in Niedersachsen 2019 stark gestiegen. Die Polizei führte in dem Jahr insgesamt 172 Ermittlungsverfahren Antisemitismus ist kein kleines Problem wegen antisemitisch motivierter Straftaten durch. Sowohl die Zahl Antisemitisches Denken und Fühlen ist in der deutschen Gesell- antisemitischer Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze als auch schaft weit verbreitet. Im Oktober 2019 berichteten zahlreiche Gewalttaten liegen in der Regel jedoch deutlich höher. Viele Jüdin- Tageszeitungen über die Ergebnisse einer Studie des Jüdischen nen*Juden schrecken vor einer Anzeige zurück, nur etwa ein Fünf- Weltkongresses (World Jewish Congress), einer internationalen tel der Betroffenen meldet sich bei der Polizei oder einer anderen Vereinigung, die jüdische Gemeinden und Organisationen in 100 zivilgesellschaftlichen Organisation.10 Ländern weltweit vertritt. Die Meinungsumfrage ergab, dass 2019 ungefähr jede*r vierte Deutsche antisemitische Ressentiments, In Niedersachsen zeigt sich der Antisemitismus in seinen unter- also gefühlsmäßige oft unbewusste Abneigungen, hatte. 7 schiedlichen Erscheinungsformen, unter anderem als Brandstif- tung und Angriff auf Jüdinnen*Juden, als sprachliche Gewalt und Andere Meinungsumfragen wie die Leipziger Autoritarismus-Studie Hassrede im öffentlichen Raum, als Sachbeschädigung, als Fried- von 2018 oder die Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt hofsschändung und Störung der Totenruhe sowie in öffentlichen und Gewaltforschung der Universität Bielefeld von 2018/19 zeigen Veranstaltungen und Mobilisierungen. ebenfalls, dass die Zustimmungswerte zu Antisemitismus hoch sind: Bis zu 55,7 Prozent der Befragten stimmen dem Post-Shoah-Anti- Im Mai 2019 verübten Unbekannte in Hemmingen/Hannover einen semitismus eindeutig zu,8 bis zu 39,4 Prozent dem israelbezoge- Brandanschlag auf das Wohnhaus eines jüdischen Paares. Sie legten nem Antisemitismus. Menschen, die Antisemitismus bejahen und 9 nachts vor der Haustür ein Feuer und schmierten das Wort „Jude“ diesen verbreiten, gibt es in der gesamten Gesellschaft, in Ost- und an den Eingangsbereich des Hauses und die Pforte des naheliegen- Westdeutschland, in allen politischen Spektren, Einkommens- und den Gartengrundstücks. Nicht nur Jüdinnen*Juden vor Ort, son- Altersgruppen und in allen Bildungsgraden. dern auch der Zentralrat der Juden in Deutschland äußerte sich besorgt: „… wenn sich Juden in ihren Wohnhäusern nicht mehr si- Da die wenigsten Menschen Antisemit*in sein wollen, wird Antise- cher fühlen können, ist das in besonderem Maße erschreckend“.11 mitismus häufig relativiert, geleugnet und umgedeutet („ich habe nichts gegen Juden, aber …“). Auch die Vorstellung von „Sprech- Während des Europawahlkampfs im Frühling 2019 hingen (wie in verboten“ (man dürfe Jüdinnen*Juden oder Israel nicht kritisieren) vielen anderen Städten auch) mitten in der hannoverschen Innen- entfaltet eine starke Dynamik, ist gesellschaftlich weit verbreitet stadt, auf der Niki-de-Saint-Phalle-Promenade, antisemitische und gehört damit untrennbar zum gegenwärtigen Antisemitismus. Plakate der extrem rechten Partei Die Rechte. Auf ihnen war zu lesen: „Zionismus stoppen: Israel ist unser Unglück! Schluss da- mit!“. Angelehnt ist die Parole an den Ausspruch „Die Juden sind 12
unser Unglück“, der seit 1927 auf der Titelseite der antisemiti- potenzial der BDS-Initiative Oldenburg überschaubar ist, verfügt schen Wochenzeitung Der Stürmer prangte. Insbesondere im poli- die Facebook-Seite über 711 „gefällt mir“-Angaben. BDS agiert tisch rechten Spektrum wird der Begriff „Zionismus“ als Chiffre für transnational und besteht aus zahlreichen lokalen Gruppen und ‚die Juden‘ gebraucht. Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelte Initiativen, die besonders in Großbritannien, Spanien, den USA wegen des Verdachts der Volksverhetzung, stellte die Ermittlungen und Kanada aktiv sind. BDS richtet sich gegen die Existenz Israels allerdings im Oktober 2020 ein. als jüdischen Staat, ruft zum Boykott „aller israelischen Produkte“ auf und betont, dass „Israel akademisch, kulturell, wirtschaftlich Doch nicht nur im städtischen Raum, sondern auch in ländlichen und militärisch“12 isoliert werden solle. BDS macht die meisten Regionen Niedersachsens kommt es zu antisemitischen Vorfällen. Jüdinnen*Juden generalisierend für die als illegitim bewertete is- Im Juli 2017 sprühten Unbekannte in Gräpel im Landkreis Stade raelische Politik verantwortlich (unabhängig davon, ob sie diese auf dem Gelände eines Kindergartens SS-Runen, Hakenkreuze und Politik unterstützen oder nicht). Nicht nur aus diesem Grund ist „Auschwitz“. In der Kleinstadt Papenburg fand sich am Eingang des die Bewegung zentraler Gegenstand gesellschaftlicher Kontrover- Stadtparks antisemitische Propaganda, wie die Ems-Zeitung am 5. sen um aktuelle Formen des Antisemitismus. März 2020 berichtete. Gut sichtbar stand dort für etwa zwei Tage die Aufforderung „Raus mit Juden“, ohne dass jemand einschritt. Da es in Niedersachsen bisher keine landesweite Meldestelle gibt, Erst die Stadtverwaltung entfernte den antisemitischen Aufruf. werden solche antisemitischen Vorfälle nicht systematisch erfasst. Die Landeshauptstadt Hannover hat mittlerweile eine zivilgesell- Fortwährend kommt es in Deutschland zu Schändungen von jüdi- schaftliche Dokumentations- und Beratungsstelle für antisemiti- schen Friedhöfen, so auch in Niedersachsen. In den letzten zehn sche Vorfälle in Hannover eingerichtet, an die sich sowohl Betrof- Jahren traf es die jüdischen Friedhöfe in Delmenhorst, Wildeshau- fene selbst als auch Beobachter*innen wenden können (siehe die sen, Oldenburg, Hannover/Nordstadt oder Bleckede an der Elbe. Projektvorstellung von RIAS Niedersachsen in dieser Broschüre). Bei den Schändungen wurden u.a. historische Grabsteine umge- stoßen oder zerstört, Stelen abgeschlagen, Grabzubehör gestohlen, _____________________________________________________ Blumengestecke und Vasen ausgerissen, NS-Parolen und Symbole wie z.B. Hakenkreuze geschmiert. Die gewalttätige Botschaft von Dr. Dana Ionescu ist Politikwissenschaftlerin und forscht und pu- Friedhofsschändungen ist, dass Jüdinnen*Juden auch im Tod bliziert zum Themenbereich Antisemitismus. In ihrer Dissertation keine Ruhe und Würde haben, die Erinnerung an jüdisches Leben zur deutschen Beschneidungskontroverse beschäftigt sie sich mit wird zerstört. der Frage, wie klassische antisemitische Motive wieder Bestandteil eines gegenwärtigen Antisemitismus werden. Sie ist erste Vorsit- In Niedersachsen, hier besonders in Oldenburg, sind Unterstüt- zende des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, zer*innen der BDS-Kampagne und Bewegung aktiv (BDS steht für Rassismus und Antisemitismus e.V. Boycott, Divestment, Sanctions, auf Deutsch Boykott, Desinves- titionen und Sanktionen). 2019 fanden mehrere Veranstaltungen statt, die Gegenproteste auslösten. Wenngleich das Mobilisierungs- 13
6 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2019): Quellen Young Jewish Europeans: perceptions and experiences of antisemitism, 1 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2018): Luxembourg, S. 8. Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU, 7 Statista (2020): Umfrage in Deutschland zur Luxembourg, S. 47. Zustimmung zu antisemitischen Aussagen 2019, in: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1041402/umfrage/ 2 Monika Schwarz-Friesel (2019): Judenhass im Internet: umfrage-in-deutschland-zur-zustimmung-zu-antisemitischen-aussagen/ Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, [abgerufen am 23.9.2020]. Berlin/Leipzig, S. 30. 8 Oliver Decker/Elmar Brähler (2018): 3 „Die Ostküste“ steht für die angebliche Vorherrschaft jüdischer Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken Bankiers in New York / den USA. Über den Namen der Familie in der Mitte der Gesellschaft, Gießen, S. 197. Rothschild wird angedeutet, ‚die Juden‘ hätten die Kontrolle über Finanzen und Kapitalismus. Extrem Rechte bezeichnen mit dem 9 Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan (2019): Begriff „Globalisten“ eine angeblich planvoll gesteuerte Vernich- Verlorene Mitte. Feindselige Zustände, Bonn, S. 70. tung von Kulturen, Traditionen und Werten, die von übermächti- gen Globalisierungsbefürworter*innen begangen werde. „USrael“ 10 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2018): setzt sich aus USA und Israel zusammen und soll besagen, die Experiences and perceptions of antisemitism. Second survey US-amerikanische Politik und Wirtschaft werde eigentlich von on discrimination and hate crime against Jews in the EU, Israel gesteuert und verfolge israelische Interessen. Luxembourg, S. 56. 4 Julia Bernstein (2018): „Mach mal keine Judenaktion!“ 11 Josef Schuster (2019): Anschlag in Hemmingen, Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen in: https://www.zentralratderjuden.de/aktuelle-meldung/artikel/ Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus, news/anschlag-in-hemmingen/ Frankfurt am Main, S. 33. [abgerufen am 23.9.2020]. 5 Samuel Salzborn (2018): Globaler Antisemitismus: 12 BDS (2014): Schließt Euch der BDS-Bewegung an!, eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, in: http://bds-kampagne.de/2014/09/28/schliesst-euch-der-bds-bewegung-an/ Weinheim, S. 145. [abgerufen am 23.9.2020]. 14 14
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[3 . 0 ] i n t e r v i e w s
Interview Interview Dr. Rebecca Seidler Michael Fürst Antisemitismusbeauftragte des Landes- Vorsitzender des Landesverbands verbandes der Israelitischen Kultus- der Jüdischen Gemeinden von gemeinden von Niedersachsen K.d.ö.R. Niedersachsen K.d.ö.R. ] Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Nie- Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen dersachsen K.d.ö.R. wurde 1997 im Zuge des Auflebens der jüdi- wurde vor ca. 70 Jahren von den Überlebenden des Holocaust, schen Reformbewegung in Deutschland gegründet. Er umfasst insbesondere von den wenigen zurückgekehrten Hannoveranern, sechs liberale jüdische Gemeinden in Niedersachsen mit rund weiteren, die aufgrund einer Ehe mit einem nicht jüdischen Part- 1.250 Gemeindemitgliedern. Der Landesverband gehört dem Dach- ner überlebt hatten, und einer großen Zahl polnischer Juden, die verband der Union Progressiver Juden in Deutschland mit 27 Re- teilweise mehrere Lager überlebt hatten und schließlich im Kon- formgemeinden an sowie der World Union For Progressive Ju- zentrationslager Bergen-Belsen befreit worden waren, gegründet. daism, die in 46 Ländern insgesamt 2,3 Millionen liberale Jüdin- r nen und Juden vertritt. Bis 1989 gab es in Niedersachsen drei Gemeinden (Hannover, Os- nabrück und Braunschweig) mit ca. 450 Mitgliedern. Erst mit dem Das liberale Judentum hat sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Zuzug sogenannter Kontingentflüchtlinge aus der früheren Sowjet- Niedersachsen (Seesen) entwickelt und die Liberale Jüdische Ge- union stabilisierte sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland meinde Hannover ist die größte Reformgemeinde Deutschlands. und ganz besonders auch in Niedersachsen. Es wurden neue jü- . Das liberale Judentum versteht sich als Erbe der fast 4000 Jah- dische Gemeinden gegründet und bestehende wuchsen erheblich. re alten jüdischen Tradition und religiösen Erfahrung. Es strebt Die Jüdische Gemeinde Hannover ist die fünftgrößte Gemeinde in danach, sie zu erhalten und zu entwickeln, um die Erkenntnisse Deutschland, wie auch der Landesverband der fünftgrößte Landes- aus der Vergangenheit mit der Wirklichkeit der Gegenwart zu ver- verband im Zentralrat der Juden in Deutschland ist. s binden. Durch das Wirken des Landesverbandes ist das liberale Judentum wieder fest in Niedersachsen verankert – dort, wo seine Der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen Wiege stand. K.d.ö.R. hat 11 Gemeinden mit ca. 7.000 Mitgliedern. . 17
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [FRAGE 01] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Wie wird Ihrer Ansicht nach jüdisches Leben in Niedersachsen wahrgenommen? Seidler Fürst Jüdisches Leben in Niedersachsen ist vielfältig und lebendig – Das jüdische Leben in Niedersachsen wird in der Öffentlichkeit sehr durch ein gutes Netzwerk zu verschiedenen Organisationen und deutlich wahrgenommen. Die Jüdische Gemeinde Hannover und Verbänden bin ich sicher, dass dieses auch wahrgenommen und der Landesverband sind enge Partner des religiösen, gesellschaft- geschätzt wird. Wir veranstalten diverse Kultur- und Bildungsver- lichen und politischen Lebens. So sind insbesondere Partnerschaf- anstaltungen in Niedersachsen, wodurch ein reger interkultureller ten zu den muslimischen Landesverbänden und zur Palästinen- und interreligiöser Dialog entsteht. Medial wird leider weniger sischen Gemeinde hervorzuheben, die weit über Niedersachsen über diese Lebendigkeit der jüdischen Kultur und Religion berich- hinaus Wirkung zeigen. Die Politik hat diese Verbindungen sehr tet, vielmehr steht der Umgang und die Erfahrungen der jüdischen positiv aufgenommen und nutzt diese z.B. bei Besuchen in Israel. Gemeinschaft mit Antisemitismus im Fokus. Dies ist zwar auch Hervorzuheben sind ferner die vielfältigen Kulturveranstaltungen wichtig aufzuzeigen, doch verengt es die Perspektive auf jüdisches in sämtlichen Gemeinden, die von der nicht-jüdischen Bevölke- Leben in Niedersachsen. rung positiv aufgenommen und besucht werden. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [FRAGE 02] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Hat sich Ihrer Auffassung nach Antisemitismus in den letzten Jahren – insbesondere mit Blick auf Niedersachsen – verändert? Seidler Fürst Antisemitismus ist in den vergangenen Jahren bundesweit gesell- Der Antisemitismus hat sich in den letzten Jahren tatsächlich, nicht schaftsfähiger geworden, da offenbar die Hemmschwellen gesunken nur in Niedersachsen, leider zum Negativen verändert. Antisemitis- sind, antisemitische Äußerungen zu tätigen. Durch die sozialen mus ist deutlicher spürbar, wenngleich er von vielen nicht erkannt Medien kommt es zudem zu einer Dynamisierung der Verbreitung wird oder auch nicht gesehen werden will. Antisemitismus in Nie- antisemitischer Erzählungen. Dies ist jedoch kein spezifisch nie- dersachsen ist meiner Einschätzung nach aber nicht von einer sol- dersächsisches Problem, wenngleich Niedersachsen hiervon auch chen Gefährdung, wie er von Teilen in der jüdischen Gemeinschaft nicht ausgenommen werden kann. gesehen wird. Zweifellos gibt es aber immer wieder Einzelperso- nen/Einzelgefährder, die kaum erkennbar und damit auch kaum beherrschbar sind. 18
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [FRAGE 03] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Gibt es Ihrer Einschätzung nach eine Art von Alltagsantisemitismus, vergleichbar mit Alltagsrassismus? Und wenn ja, wie äußert sich dieser? Seidler Fürst Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Niedersachsen und auch Alltagsantisemitismus ist nicht immer vergleichbar mit Alltags- bundesweit haben einen Migrationshintergrund. Dadurch sind sie rassismus. Eine große Zahl der „Alltagsrassisten“ wird von sich nicht nur mit Antisemitismus, sondern auch mit Rassismus kon- behaupten, keine Antisemiten zu sein. Das Problem ist aber, dass frontiert. Diese Erfahrungen finden sich in der Berufswelt, in der dieser Alltagsrassismus sehr schnell in einen Antisemitismus um- Nachbarschaft, im Kontext Schule und Ausbildung und letztlich in schlagen kann. Der Alltagsantisemitismus mitten in der Gesell- allen Lebensbereichen wieder. Wenn Jüdinnen und Juden offen schaft wird deutlich in Gesprächen über den Staat Israel, die Aus- mit ihrer jüdischen Identität umgehen, kommt es zudem vermehrt einandersetzung mit den Palästinensern, die US-amerikanische zu Antisemitismuserfahrungen. Diese äußern sich in abschätzigen Unterstützung des Staates Israel u.ä. Hier kommen die antisemiti- Blicken, beleidigenden Sprüchen bis hin zu körperlichen Angriffen. schen Stereotypen immer wieder deutlich zum Vorschein, wobei es häufig gelingt, dem Gesprächspartner dieses Problem deutlich zu machen und ihn zu bewegen, über sein Verhalten nachzudenken. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [FRAGE 04] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Was machen Sie in Ihrem Verband, um Vorurteile und antisemitische Stereotype in der Mehrheitsgesellschaft abzubauen? Seidler Fürst Unser Landesverband setzt aktiv auf den interkulturellen und Der Abbau antisemitischer Vorurteile und Stereotypen ist nur im interreligiösen Dialog. Uns ist wichtig, dass wir als jüdische Ge- direkten Kontakt möglich. „Steter Tropfen höhlt den Stein!“ Immer meinden ein offenes Haus sind, viele Begegnungsmöglichkeiten wieder auf die Vorurteile hinweisen. Mutig genug sein, den anderen schaffen und Bildungsangebote initiieren, um auch präventiv ge- „auf die Füße zu treten“, aufzeigen, dass bestimmte Äußerungen gen Antisemitismus wirken zu können. Zudem müssen wir leider antisemitisch sind, islamfeindlich oder fremdenfeindlich. Und dass auch hin und wieder unbequem sein. Sprich Antisemitismus und die gemeinsamen Werte der Achtung des Friedens, der Toleranz die daraus notwendigen Maßnahmen müssen auch dort benannt und des Respekts von jedem Menschen erforderlich sind. werden, wo sie nicht immer gerne gehört werden. Es ist z.B. das eine, bei antisemitischen Vorkommnissen Betroffenheit zu bekun- den, etwas anderes ist es, unbürokratisch und schnell Gelder für Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Wir legen dort immer wieder den Finger in die offene Wunde. 19
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [FRAGE 05] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Können Sie eine Einschätzung geben, wie Betroffene von antisemitischen Handlungen mit diesem Erlebnis umgehen? Seidler Fürst Seit vielen Jahren begleite und berate ich Betroffene von Antisemi- Bei den einzelnen Fällen, die es gibt, ist die Empfindung der Be- tismus und gebe Hilfestellungen im Umgang und in der Verarbei- troffenen einzuordnen. Man muss sich beispielsweise fragen, wie tung von antisemitischen Erfahrungen. Hierbei helfen insbesonde- alt die Person ist, woher sie stammt und wie das Gesagte daher ver- re das empathische Zuhören und Ernstnehmen der Geschehnisse. standen wurde. Betroffene fühlen sich häufig alleingelassen mit ihren Gefühlen und Es soll nicht verhehlt werden, dass die eine oder andere Partei Sorgen, da Antisemitismus mehrheitlich bagatellisiert und relati- durchaus anfällig für Alltagsantisemitismus und Alltagsrassismus viert wird und den Betroffenen eine Übersensibilität vorgeworfen ist. Auf dieses soll hier aber nicht eingegangen werden. wird. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [FRAGE 06] - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Was wünschen Sie sich von der nicht-jüdischen Bevölkerung Niedersachsens und wo kann jede*r Einzelne ansetzen, um antisemitischen Einstellungen zu begegnen? Seidler Fürst Betroffene von Antisemitismus müssen primär geschützt werden Grundsätzlich muss für alle gelten: Wir stehen zusammen gegen und aktive Solidarität spüren. Es hilft nicht, wenn eine junge Frau, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit. die eine Davidsternkette trägt, in der Straßenbahn als Jüdin be- Demokraten dürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen und schimpft wird und alle wegschauen und sie damit allein lassen. müssen deutlich machen, dass man sich nicht spalten lässt. Jeder Es ist dann auch sinnlos, dieser Frau hinterher, wenn die Bedro- Einzelne ist gefordert, aufzustehen, wenn er Antisemitismus oder hungssituation beendet ist, mitzuteilen, wie mutig sie gewesen sei, Islamfeindlichkeit oder Rassismus beim Gesprächspartner spürt. sich verbal gewehrt zu haben. Antisemitismus findet auch ohne Jüdinnen und Juden statt und auch hier gilt es, sich deutlich dagegen zu positionieren, damit antisemitische Sprüche und Äußerungen nicht kommentarlos im Raum stehen bleiben. Konkrete Taten der Solidarität sind erfor- derlich – und zwar von jeder und jedem. Das Judentum ist seit 1700 Jahren fester Bestandteil in diesem Land. Es gehört hierher und es sollte im Interesse aller sein, es zu schützen und die Mög- lichkeit zu schaffen, dass das lebendige und vielfältige Judentum auch für die nächsten 1700 Jahre hier beheimatet ist. 20
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[ 4 . 0 ] pro je k t e
Vorstellung der durch das Landes- Demokratiezentrum geförderten Projekte im Themenfeld Antisemitismus 2020 Projekt 01 Um den interkulturellen Dialog selbstbewusst führen zu können, Jüdisches Leben – Empowerment- und Dialogarbeit ist somit die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins und der ] Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Nie- Dialogbereitschaft bei den Akteur*innen zu fördern und zum an- dersachsen K.d.ö.R. führt seit Mai 2020 das Projekt „Jüdisches deren ist die aktive Begegnung zwischen jüdischen und nichtjüdi- Leben - Empowerment- und Dialogarbeit“ als Beitrag zur Präventi- schen Menschen anzustreben, damit jüdisches Leben „ein Gesicht“ onsarbeit im Kampf gegen Antisemitismus durch. Das Projekt bin- bekommt. det die sechs liberalen jüdischen Gemeinden des Landesverbandes in Niedersachsen mit ein. Somit werden in Hannover, Celle, Braun- Die erste Zielgruppe des Projektes besteht aus den Akteur*innen schweig, Bad Pyrmont, Hameln und Göttingen entsprechende innerhalb der sechs liberalen jüdischen Gemeinden (Vorstände, Projektmaßnahmen angeboten und durchgeführt, um das Projekt Mitarbeiter*innen, Ehrenamtliche). Mehrheitlich haben diese landesweit umzusetzen. Menschen einen Migrationshintergrund und somit auch sprach- o liche Barrieren. Laut einer internen Befragung der Mitgliedsgemeinden des Lan- desverbandes ist die Mehrheit der jüdischen Akteur*innen der Ziel ist es, die Akteur*innen in den Gemeinden zu ermutigen (Em- Gemeinden durch das Wiedererstarken des Antisemitismus stark powerment), zu schulen und zu unterstützen, um ihre Dialogbe- verunsichert und zieht sich als jüdische Person im öffentlichen reitschaft und Vermittlungsfähigkeit auszubauen und als jüdische Leben bewusst zurück. Mehrheitlich verbergen die Gemeinde- Multiplikator*innen selbstbewusst im interkulturellen Dialog auf- mitglieder ihre jüdische Identität in der Öffentlichkeit, z.B. durch treten zu können. einen Verzicht auf sichtbare jüdische Symbole (u.a. Kippa, David- e sternkette). Die zweite Zielgruppe besteht aus Multiplikator*innen des jewei- ligen städtischen Bildungs- und Kulturwesens, u.a. Lehrkräfte, Hieraus entstehen zwei gravierende Probleme: Erstens eine zu- Sozialarbeiter*innen von Sozial- und Kultureinrichtungen sowie nehmende Verunsicherung hinsichtlich der aktiven Durchfüh- christliche und muslimische Vertreter*innen. Der aktive Dialog rung des interkulturellen Dialogs. Zweitens ist jüdisches Leben und die Schaffung von Begegnungsräumen zur Förderung des Wis- . für nichtjüdische Menschen nicht sichtbar und nicht erlebbar und sens über heutiges jüdisches Leben und zur Prävention gegen An- baut sich als „Unbekanntes/Fremdes“ auf, woraus antisemitische tisemitismus (u.a. Abbau von Hemmschwellen) stehen hierbei im Vorurteile und Einstellungen erwachsen können. Vordergrund. 23
Das Projekt wirkt somit zum einen innerhalb der jüdischen Ge- meinschaft durch die Förderung eines selbstbewussten Judentums ohne Ängste und durch den Aufbau der Dialogfähigkeit. Zum ande- ren außerhalb der jüdischen Gemeinschaft, sprich: im Dialog mit der Stadtgesellschaft, mit muslimischen und christlichen Gemein- schaften, mit Bildungsträger*innen und Multiplikator*innen zur Wiederbelebung des jüdischen Lebens vor Ort und als selbstver- ständlicher Teil der hiesigen Gesellschaft. Durch das Projekt soll somit ein bestehendes Kernproblem behoben werden: die „Unsichtbarkeit/Unbekanntheit“ des jüdischen Lebens in den Städten von Niedersachsen durch aktive Dialogarbeit. Kontakt: Das Projekt agiert hierdurch auch präventiv im Kampf gegen An- Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden tisemitismus: Wenn Jüdinnen und Juden ihr Judentum (wieder) von Niedersachsen K.d.ö.R. selbstbewusst leben und für eine aktive Dialogarbeit offen sind, Frau Katarina Seidler, Vorsitzende entstehen hierdurch zahlreiche Begegnungsmöglichkeiten zwi- schen jüdischen und nichtjüdischen Menschen. Die nichtjüdi- Postanschrift: schen Menschen können hier als wichtige Multiplikator*innen Fuhsestraße 6 angesehen werden, die ihre Erfahrungen und ihr im Rahmen des 30419 Hannover Projektes angeeignetes Wissen über jüdisches Leben und über das Judentum teilen und weitergeben, wodurch die Entwicklung anti- k.seidler@liberale-juden-nds.de semitischer Vorurteile und Ressentiments abnehmen kann. Dem Landesverband gehören sechs liberal-jüdische Da der bisherige Projektverlauf von beiden Zielgruppen durchweg Gemeinden mit insgesamt rund 1250 Mitgliedern an. positiv aufgenommen wurde und bereits erfolgreiche Bildungsse- minare für beide Zielgruppen durchgeführt wurden, entwickeln sich bereits bei den Projektbeteiligten weitere Ideen zur Fortset- zung des Projektes für das Jahr 2021. Jüdische Kulturtage in ganz Niedersachsen sollen das Miteinander stärken und jüdisches Leben in Niedersachsen lebendig und in all seinen Facetten aufzeigen. 24
Dies tut die Stelle durch den Aufbau eines Archivs, das eine wissen- Projekt 02 schaftliche Analyse, Einordnung, Kategorisierung und Verifizierung Recherche- und Informationsstelle antisemitischer Vorfälle beinhaltet. Betroffene und Zeug*innen Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen können sich bei einem Vorfall an die Stelle wenden. Ergänzt wird Vorfälle von Antisemitismus zu dokumentieren, einzuordnen und diese Dokumentation durch ein Active-Monitoring, Beobachtun- aus den so gewonnenen Informationen Angebote zu entwickeln, gen von potentiell antisemitischen Kundgebungen oder Demons- die dem sich verstärkt zeigenden Antisemitismus entgegenwirken trationen. Neben der Sichtbarmachung der vielfältigen Erfahrun- – dieser Aufgabe widmet sich in Niedersachsen die Recherche- und gen von Betroffenen dient die Dokumentation der Evaluation und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen. Weiterentwicklung von Handlungskonzepten zur Präventions- und Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Diese werden im Aus- Antisemitismus ist für die davon betroffenen Jüdinnen und Juden tausch mit Behörden, Schulen, Studierenden, der Polizei und den alltagsprägend. Täglich sind sie der potentiellen Konfrontation mit Strafverfolgungsbehörden verwendet, um die Sensibilisierung für antisemitischer Gewalt ausgesetzt. Dabei reicht das Spektrum von Antisemitismus zu stärken. Durch Jahresberichte, eine regionale verletzenden oder beleidigenden Bemerkungen bis zu gewalttätigen Problembeschreibung und anlassbezogene Analysen soll eine re- Angriffen. Eine Studie der Agentur der Europäischen Union für gelmäßige Berichterstattung über die populären Erscheinungs- Grundrechte von 2018 zeigt jedoch, dass nur 21% der Betroffenen, formen von Antisemitismus gewährleistet werden. Zudem bietet die in den letzten fünf Jahren in Deutschland einen schweren anti- RIAS Niedersachsen die Möglichkeit einer Verweisberatung an semitischen Vorfall erlebten, diesen der Polizei oder einer anderen psychosoziale, Antidiskriminierungs- oder Opferberatungen. Organisation mitteilten. Antisemitische Vorfälle, die keine Strafta- ten darstellen, wurden in Niedersachsen zudem kaum dokumen- Bei ihrer Arbeit orientiert sich die Stelle an den Bedürfnissen und tiert. Dies will RIAS ändern. Wahrnehmungen der Betroffenen, sie arbeitet eng mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen zusammen. Durch eine nied- Im Frühjahr 2020 entwickelte sich aus der Offensive gegen An- rigschwellige Ansprechbarkeit sollen auch Fälle erfasst werden, tisemitismus der Landeshauptstadt Hannover heraus eine Doku- die keinen Straftatbestand erfüllen. RIAS Niedersachsen versteht mentations- und Beratungsstelle für antisemitische Vorfälle. Sie sich dabei als Anlaufstelle und zivilgesellschaftliches Sprachrohr wurde kommunal gefördert und an der Hochschule Hannover für die Betroffenen und Zeug*innen und sieht sich parteilich an angesiedelt. Im Oktober 2020 ging aus dieser Einrichtung RIAS ihrer Seite. Der Vertrauensschutz steht hierbei immer an erster Niedersachsen hervor, um die Arbeit auch über Hannover hinaus Stelle. Nur die Betroffenen entscheiden, wie mit den gesammelten fortzuführen; dies in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung. Informationen verfahren wird. Als Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft RIAS leistet sie ih- Kontakt: ren Teil dazu, einen bundesweiten Überblick über Antisemitismus www.rias-niedersachsen.de (im Aufbau) zu verschaffen und über aktuelle Entwicklungen zu informieren. www.report-antisemitism.de 25
Projekt 03 „Wer gegen wen? Gewalt, Ausgrenzung und das Stereotyp ‚Jude’ im Fußball“ Antisemitische Beschimpfungen, Bedrohungen und gewalttätige Präventionsarbeit gegen Übergriffe gegen jüdische und nicht-jüdische Vereine, Spieler* Antisemitismus im Fußball innen und deren Fans sind sowohl im Profifußball als auch im Präventionsarbeit im Fußball wird meist von engagierten Fans Breitensport kein neues Phänomen. Nachhaltige und vorbeugen- initiiert. Aber auch Fanprojekte, Vereine und die Verbände enga- de Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus sowie For- gieren sich gegen Antisemitismus. Dabei fokussieren sich die En- schung, die zur Aufklärung und Weiterentwicklung von Bildungs- gagierten in erster Linie auf die sogenannte primäre Prävention. angeboten beitragen, sind bisher allerdings nur vereinzelt vorhan- Diese zielt auf alle Personen und Gruppen ab, die im Fußballkon- den. Das Projekt „Wer gegen wen? Gewalt, Ausgrenzung und das text bisher nicht durch rechtsextremes oder diskriminierendes Stereotyp ‚Jude’ im Fußball“ der Gedenkstätte Bergen-Belsen setzt Verhalten auffällig geworden sind. Ziel dieser Prävention ist es, die an diese Lücke in der Forschung und Praxis an und entwickelt be- Zielgruppen zu stärken und Rahmenbedingungen zu schaffen, um darfsorientierte Handlungsempfehlungen, die in einer Broschüre diskriminierendem – speziell auch antisemitischem – Verhalten Akteur*innen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich ge- vorzubeugen. Neben strukturellen Veränderungen, wie z.B. Ergän- macht werden. zungen der Vereinssatzungen durch Antidiskriminierungsparagra- phen, wird Prävention in der Praxis vor allem durch Bildungsarbeit Projektziele gefördert. Zu den Zielgruppen der Bildungsangebote gehören Fans, Neben der Gewinnung einer Übersicht zur Datenlage zu antisemi- Schulklassen, Vereinsangestellte und Sponsoren. Bildungsreisen tischen Vorfällen in Niedersachsen geht es um die Erhebung von zu Gedenkstätten, mit Erinnerungsarbeit kombinierte Stadtrund- Aktionen, Maßnahmen und Projekten, die zur Prävention gegen gänge, Vorträge und Workshops gehören derweil zu den gängigen Antisemitismus im Fußball eingesetzt werden können. Formaten. Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass es sich hier um ein Engagement von einigen wenigen handelt und es für eine Um bedarfsorientierte Handlungsempfehlungen zu formulieren, gelingende Präventionsarbeit eines strukturellen Ausbaus der An- werden Interviews mit Akteur*innen auf verschiedenen Ebenen gebote, einer größeren Anerkennung, Förderung und Verstetigung des organisierten Fußballs in Niedersachsen geführt. Neben Profi- bedarf. Dabei stehen im Fußball vor allem die Verbände und Ver- Vereinen, Fanprojekten und Fan-Initiativen werden Amateurver- eine als gesellschaftspolitisch einflussreiche Akteure in der Pflicht, eine befragt. Darüber hinaus sind Expert*innen aus der Zivilge- um sich entschieden gegen Antisemitismus im Fußball zu positio- sellschaft wie Wissenschaft einbezogen. nieren und zu engagieren. 26
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