6 Wie ich als Autist die Schulzeit (üb)erlebt habe - GGG - Die inklusive ...

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SCHRIFTENREIHE

            Die inklusive Schule für die Demokratie

Dr. Peter Schmidt
                                                      6
                                                      Heft 6

Wie ich als Autist die
Schulzeit (üb)erlebt habe

GGG
Dr. Peter Schmidt

Wie ich als Autist die
Schulzeit (üb)erlebt habe

Eine für alle -
Die inklusive Schule für die Demokratie
SCHRIFTENREIHE

                             Heft 6
Inhaltsverzeichnis                                      Vorbemerkung

    Vorbemerkung                                  3         Mit dem Themenschwerpunkt Autismus im            ler*innen gibt, wenn Pädagog*innen deren
                                                            Erfahrungsfeld Schule geben wir in diesem        besondere Ansprüche wahrnehmen und sich
                                                            Heft aufklärende Informationen über autisti-     differenzierend darauf einlassen.
    Dr. Peter Schmidt                             4 - 13    sche Menschen, die in den Schulen oft nicht
                                                                                                                   Im dritten Text des Heftes listen Kon-
    Wie ich als Autist die Schulzeit (üb)erlebt             erkannt bzw. verstanden werden oder durch
                                                                                                             stanze Möbius und Svantie Ohder aus der
                                                            ihre überraschenden Reaktionsweisen die
    habe1                                                   Haltung provozieren, für sie sei eine gemein-
                                                                                                             Sicht von im Autismusspektrum erfahrenen
                                                                                                             Pädagoginnen und Beratungslehrerinnen
     		                                                     same inklusive Schule nicht möglich oder
                                                                                                             auf, welche Ansprüche Kinder mit Autismus
    Carolin Rode                                  14 - 18   nicht geeignet.
                                                                                                             stellen, welche Rahmenbedingungen erfüllt
    „Der sieht ja gar nicht autistisch aus.“                      Im ersten Beitrag beschreibt Peter         sein müssen, damit diese Kinder in einer
                                                            Schmidt im Rückblick seine Erlebnisse als        gemeinsamen Schule erfolgreich mitlernen
    (Erfahrungen einer Mutter)                              unmittelbar selbst betroffener autistischer      und möglichst stressfrei leben können.
                                                            Schüler. Er macht deutlich, wie unterschied-
                                                                                                                  Die Beiträge machen deutlich: Vieles,
    Konstanze Möbius, Svantie Ohder               19 - 24   lich und oft gegensätzlich Botschaften von der
                                                            einen und der anderen „Seite“ missverstan-
                                                                                                             was autistische Kinder brauchen, um in der
                                                                                                             Schule zu „überleben“, ist gut für alle Kinder.
    Das brauchen Kinder und Jugendliche                     den werden. Die Gesellschaft tut sich schwer,
    mit Autismus in der Schule                              weil sie mit Menschen, die anders sind, nicht    Anmerkung:
                                                            umzugehen weiß, weil sie abweichendes Ver-       In den Texten wird unterschiedlich gegendert.
    (Empfehlungen von Beratungslehrerinnen)                 halten als „Störung“ begreift. So ist Peter      Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit
                                                            Schmidt im besten Sinne ein Diversity-Bot-       nutzt der Autor Dr. Peter Schmidt nur die mas-
                                                            schafter.                                        kuline Form.
                                                                  Caro Hanf stellt ihre Erfahrungen als
                                                            Mutter eines autistischen Jungen in der
    				                                                    Schule dar. Sie berichtet von ihrer Ratlosig-
                                                            keit und ihrem Erschrecken über die pädago-
                                                            gisch-didaktisch oft hilflosen Umgangsweisen
                                                            von Pädagog*innen mit ihrem Kind, betont
                                                            aber auch, dass es gutes Schulleben und
                                                            erfolgreiche Integration für autistische Schü-

2                                                                                                                                                              3
Wie ich als Autist die Schulzeit (üb)erlebt habe

                                                             Wie so oft im Leben war auch zu                    „In einer Abweichung sollte man nicht
                                                             Beginn meiner Schulzeit der erste Eindruck           gleich eine Störung, sondern einfach
                                                             entscheidend, den ich hinterließ. Unser                            das Besondere sehen.“
                                         Dr. Peter Schmidt   Lehrer stellte uns am ersten Schultag die
                                                             Aufgabe, aus den bunten Stäben unseres            Weiterhin sagte er mir, dass ich bei einem
    Dr. Peter Schmidt ist Diplom-Geophysiker,                Rechenkastens „etwas Schönes“ zu bauen.           anderen Klassenlehrer möglicherweise nicht
    IT-Experte, Projektleiter, Autor und Referent.           Während alle anderen Kinder laut und              lange an der Schule gewesen wäre, weil
    Er startete sein Berufsleben als Wissenschaft-           wild drauflos bauten, brauchte ich einen          andere Lehrer nicht bereit gewesen wären,
    ler. Vor etwa 20 Jahren wechselte er in die              Plan und das Wissen, wie viele Stäbe ich          einige Ausnahmen zu gewähren, die ich ein-
    IT-Abteilung eines großen Pharma-Konzerns.               von welcher Sorte überhaupt im Kasten             forderte, um die Schulzeit möglichst gut über-
    Seither ist er dort in verschiedenen Funktio-            habe! So machte ich eine Inventur, indem          leben zu können. Heute heißt dies für mich,
    nen tätig, zunächst als Programmierer, dann              ich die Stäbe stapelte. Der Lehrer bewun-         weiterzugeben, dass man in einer Abwei-
    als Projekt- und Systemmanager und zurzeit               derte meine Struktur. Und ich begriff, dass       chung nicht gleich die Störung, sondern ein-
    als internationaler Koordinator für IT-Projekte          meine dreidimensionale Inventur schon             fach das Besondere sehen muss!
    mit Schwerpunkt SAP-Software.                            ein Ergebnis ist!
                                                                                                                     Autismus zu verstehen, ist daher eine
          Schmidt ist heute 54 Jahre alt. Er heira-                                                            wichtige Voraussetzung, um das Verhalten
                                                             „Dieses Kind ist was Besonderes.“
    tete 1993 und hat zwei Kinder. Erst mit 41 Jah-                                                            und die Wahrnehmung autistischer Men-
    ren fand er, ohne danach zu suchen, heraus,                                                                schen für Außenstehende nachvollziehbar zu
                                                             35 Jahre später konnte sich dieser Lehrer
    dass er Autist ist. Auf die Frage an Fachärzte,                                                            machen. Daraus ergeben sich die Merkmale
                                                             noch immer an dieses Bauwerk und mein Sein
    ob das denn stimme, hieß es, bei ihm sei                                                                   einer autistenfreundlichen Schule. Daher
                                                             erinnern. Als ich wissen wollte, wie er mich
    Autismus in Form des Asperger-Syndroms                                                                     beginne ich mit einer Einleitung über das Phä-
                                                             damals wahrgenommen hatte, sagte er, vom
    geradezu klassisch ausgeprägt, völlig unty-                                                                nomen Autismus. Autisten sind zwar indivi-
                                                             ersten Moment an sei ihm klar gewesen, „die-
    pisch dagegen sei das, was er damit aus sei-                                                               duell verschieden, es gibt aber dennoch ver-
                                                             ses Kind ist was Besonderes“. Sein unwieder-
    nem Leben gemacht habe.                                                                                    bindende Muster. Autisten haben vor allem
                                                             holbar erster Eindruck, den ich bei ihm hinter-
                                                             ließ, der war positiv! Sein zweiter Eindruck,     große Schwierigkeiten mit der nonverbalen
    Webseite: www.dr-peter-schmidt.de
                                                             „der Junge ist irgendwie komisch“, der kam        Kommunikation. Sie können die Beziehungs-
                                                             erst danach, und das sei mein Glück gewesen.      ebene in einer Kommunikation nicht oder nur
                                                                                                               rudimentär erkennen. Das hat zur Folge, dass
                                                                                                               subtile, soziale Erwartungshaltungen anderer
                                                                                                               oft unerfüllt bleiben.

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Es kann vorkommen, dass zum Beispiel in                  „… als würde man von einem           kennung eine Schwarz-Weiß-Darstellung der                Je jünger ein Autist ist, desto größer ist
    bester Absicht gesendete Informationen oder           Rollstuhlfahrer verlangen, die Treppe        emotionalen Farben mit vielen Grautönen            die Wahrscheinlichkeit, dass derartige Dinge
    gutgemeinte Verhaltensweisen von Autisten                                    raufzufahren“         dazwischen. Das bedeutet, dass ich beispiels-      passieren. Je mehr Lebenserfahrung vorliegt,
    von außen als Provokation aufgefasst werden,                                                       weise nicht erkennen kann, ob die rote oder        desto kleiner wird die Wahrscheinlichkeit,
    ohne dass das so gewollt war. Haltgebende Ritu-     Schon immer fühlte ich um mich eine Art        die grüne Emotion im Raum ist, wenn beide          dass Redewendungen fehlinterpretiert wer-
    ale und Strukturen, die sich Autisten entweder      „Mauer“, von der ich heute weiß, dass sie      in meiner Wahrnehmung den gleichen Grau-           den. Doch es wird nie aufhören! Ein Autist
    selbst geschaffen haben oder die von außen vor-     nur ein anderes Wort für die Wirkung von       ton darstellen.                                    lernt durch Erfahrung, das was er nicht kann,
    gegeben werden, spielen für das Wohlbefinden        Autismus ist. Autismus ist eine unsichtbare                                                       in dem Sinne zu kompensieren, dass er mit
    von Autisten eine große Rolle. Bei unkalkulierba-   Behinderung, die erst durch die Wirkung als          Die Folgen illustriert folgendes Beispiel:
                                                                                                                                                          den Ohren sieht. So wie ein Blinder, der sich
    ren Abweichungen von diesen Strukturen kommt        Undeutbarkeit von Abweichungen im Verhal-      „Peter, damit hast du uns einen großen Bären-
                                                                                                                                                          seine Umgebung mit allen anderen Sinnen
    es zu Krisen, die sich zum Beispiel in Panik oder   ten wahrnehmbar ist. Die Unsichtbarkeit der    dienst erwiesen!“ Was für ein großes Lob!
                                                                                                                                                          ersieht, aber nicht mit den Augen.
    Schweigen äußern können.                            Behinderung hat im Gegensatz zum Rollstuhl-    Die Eins mit Sternchen. Wer immer mir das
                                                        fahrer, dem unmittelbar anzusehen ist, was     sagte, muss hoch erfreut über das gewesen                 Wenn Erwartungen, die an eine non-
    „Autisten wirken oft wie                            man von ihm nicht verlangen kann, bei Autis-   sein, was ich tat. Und so tat ich genau das, was   verbal kommunizierte Botschaft geknüpft
    ‚Gefangene im Ich‘ “                                ten zur Folge, dass man von ihnen oft verge-   er mit diesen Worten lobte, erst recht! Denn       sind, nicht erfüllt werden, dann kann es sein,
                                                        bens Dinge verlangt, die „andere schließlich   vor meinem geistigen Auge sah ich den Bären        dass ein Verhalten als bösartige Provokation
    Weiterhin kämpfen auch viele Autisten mit Pro-                                                     in Alaska, dem ein großer Fischfang gelun-         oder Ignoranz fehlgedeutet wird, obwohl der
                                                        auch ertragen müssen“. So als würde man
    sopagnosie2, was sich zum Beispiel im Nichtgrü-                                                    gen ist! Die Wut, die andere im Gesicht des        Autist aus seiner Wahrnehmung heraus in
                                                        vom Rollstuhlfahrer verlangen, die Treppe
    ßen manifestieren kann, sowie mit der Reizverar-                                                   Senders der Bärendienstbotschaft wahrneh-          gutartiger und bester Absicht handelte. Jede
                                                        raufzufahren!
    beitung, so dass sie nicht hinterherkommen, eine                                                   men, ist für mich ohne weitere Hinweise nicht      Form der Sanktion wäre dann kontraproduk-
    hohe Anzahl von gleichzeitig auf sie einstürzen-           „…du hast uns einen Bärendienst         erkennbar! Die rote Emotion (Wut) zeigte in        tiv – für alle an einer Situation Beteiligten!
    den Informationen zu verarbeiten. Das alles und              erwiesen!“ – Redewendungen            meiner Wahrnehmung die gleiche Farbe
    noch mehr hat zur Folge, dass die Stärken autis-                         fehlinterpretieren        (Grau) wie die grüne Emotion (Freude). Also
                                                                                                                                                                   Ich musste mich nur daneben
    tischer Menschen, z. B. ihr besonderer Blick für                                                   blieben soziale Erwartungshaltungen, die mit
                                                                                                                                                            benehmen, um für mich ungeeignete
    Details oder sonstige vom Autismus völlig unab-     Um das Kernproblem, das alle Autisten mitei-   dem Senden dieser Wut-Botschaft verknüpft
                                                                                                                                                              Dinge nicht mitmachen zu müssen!
    hängige Fähigkeiten, oft nicht mehr gewürdigt       nander verbindet, die abweichende Kommu-       waren, stets unerfüllt. Stattdessen wurde mir
    werden. Zusammengefasst wirken Autisten auf         nikation auf der Beziehungsebene für Außen-    Provokation unterstellt, obwohl nur ein sim-       Kontraproduktiv sind auch alle Strafen, die
    Außenstehende nicht selten wie „Gefangene im        stehende nachfühlbar zu machen, habe ich ein   ples Missverständnis vorlag! Man hätte sich        ein Autist ungerecht findet oder die er gar als
    Ich“.                                               Farbspektrummodell entwickelt. Wenn Emo-       bei mir vergewissern müssen, dass ich die          Belohnung wünscht! In all diesen Fällen errei-
                                                        tionen die Farben der Kommunikation wären,     Botschaft so verstanden habe, wie der Sen-         chen Außenstehende nicht, dass sich das Ver-
                                                        dann hätte ich sozusagen bei der Emotionser-   der es verstanden wissen wollte!                   halten des Autisten ändert, ganz im Gegen-

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teil! Wenn ein Autist eine Strafe ungerecht       den, weil sie das Wohlbefinden des Autisten     „Geschichten von Autisten sind nicht             immer laut und chaotisch. Sie war anstren-
    findet, fühlt er sich mit seiner Wahrnehmung      sichern. Ohne diese auszuleben, könnte er ins   mit dem üblichen Schema bewertbar.“              gend, da sie Ort und Zeit des scheinbar sinn-
    nicht verstanden! Und manchmal gibt es gar        Chaos abgleiten. Sie zu verbieten, wäre unge-                                                    losen Smalltalks war und zudem die größte
    Dinge, die alle anderen als peinlich oder als     fähr so, als würden sich Menschen unterein-     Die abweichende Wahrnehmung wirkte               Angriffsfläche für Mobbing und Bullying bot.
    Strafe bewerten, die ein Autist schön und         ander verbieten, über Witze zu lachen oder      sich natürlich auch auf Klassenarbeiten          Ich dagegen suchte und fand mein Bibliotheks-
    erstrebenswert findet. So wollte ich als Kind     bei Schmerzen schreien zu dürfen!               aus, vor allem in Aufsätzen. Ich war nicht       asyl: In der Studienbücherei gab es leichtes
    zum Beispiel bei der „Reise nach Jerusalem“                                                       fähig, aus einer Bildergeschichte eine „rich-    Lernen und Lesen ohne lästigen Lärm.
    nicht mitmachen, weil es erstens gar keine
                                                         „Autistenfreundliche Schulen haben           tige“ Geschichte zu schreiben, stattdessen
    Reise nach Jerusalem war und zweitens die
                                                             Platz für Halt gebende Rituale.“         beschrieb ich nur, was auf den Bildern darge-
                                                                                                                                                            In der Regel war ich eine Form von Mus-
                                                                                                                                                       terschüler. Aber es gab immer mal wieder
    Spielregeln wirr waren. Es war unklar, wieviel                                                    stellt war. Bei einer Nacherzählung erzählte
                                                      Ich fand schon immer Halt und Freude in mei-                                                     Situationen, die die Lehrer voreilig ungerecht
    Körpereinsatz ich beim Kampf um die verblie-                                                      ich gleich eine ganz andere Geschichte, weil
                                                      nen stereotypen Beschäftigungen. Ich sah                                                         bewerteten. Das illustriert zum Beispiel nach-
    benen Stühle einsetzen darf. Und ich wollte                                                       ich einfach nicht herausfinden konnte, was
                                                      mich selbst als Auto, ging mit ausgestreck-                                                      folgende Geschichte.
    nicht berührt werden. Als ich einmal zu viel                                                      man sich von all dem, was der Onkel Lehrer
    schubste, um einen Stuhl zu ergattern, kam        ten Armen zur Schule und über den Schul-
                                                                                                      da vorgelesen hatte, denn überhaupt mer-                Auf dem Schulhof gab es buschartige
    vom Erzieher ein „In die Ecke, Peter!“ Wow,       hof, das imaginäre Lenkrad haltend, Geräu-
                                                                                                      ken sollte. Auf einen Französisch-Aufsatz am     Bäume, auf denen die Schüler in den Pau-
    was Besseres konnte mir ja gar nicht pas-         sche machend, so kannte mich jeder. Im
                                                                                                      Gymnasium über unsere Klassenfahrt bekam         sen gerne kletterten. So auch ich. Und plötz-
    sieren! Ich war fortan von dem blöden Spiel       Unterricht hatte ich mein Autochen, ein klei-
                                                                                                      ich von der Lehrerin das Feedback: „Peter, du    lich stieß mich ein Mädchen von meinem Ast,
    befreit! Ich lernte, dass ich mich nur daneben    nes Ford Capri Modell, unter dem Pult stehen,
                                                                                                      beschreibst die ganze Zeit, welche Straßen wir   kommentiert mit den Worten „Da habe ich
    benehmen muss, um für mich ungeeignete            das mich beglückte. Andere Kinder brachten
                                                                                                      gefahren sind, aber der Leser erfährt nicht,     gesessen!“, was gar nicht stimmte, jedenfalls
    Dinge nicht mehr mitmachen zu müssen.             fortan auch Autos mit und lärmten und alber-
                                                                                                      mit wem du da warst und was du da gemacht        nicht in der Pause. Ich landete im Dreck, sie
                                                      ten damit herum. Daraufhin verbot unser Leh-
                                                                                                      hast und wie du dich gefühlt hast. Inhaltlich    setzte sich auf den Ast. Was die darf, darf ich
          Außenstehende sehen nicht selten ste-       rer allen Schülern Autos in die Schule mitzu-
                                                                                                      weiß ich nicht was ich davon halten soll!“ Der   auch! Also schubste ich sie genauso von die-
    reotype Bewegungen bei autistischen Men-          bringen, obwohl ich mit meinem Autochen
                                                                                                      Inhalt ist dann nicht mit dem üblichen Schema    sem Ast: „Da habe ich gesessen!“ Diesmal
    schen. Dies sind emotionale Signale, die zum      niemanden gestört hatte. Der Entzug mei-
                                                                                                      bewertbar.                                       stimmte das! Doch das Mädchen schrie los,
    Beispiel große Freude ausdrücken können.          nes Autos hatte einen kompletten Blackout
                                                                                                                                                       ich flüchtete vor dem grellen Gekreische, das
    Ich bin dann völlig in mir selbst versunken und   zur Folge. Ich konnte nicht mehr mitmachen,     Verletzbares Gerechtigkeitsempfinden
                                                                                                                                                       ich nicht ertragen konnte. Damit schien die
    genieße das, worüber ich mich freue. Andere       kaum noch reden. Das schockte mich sehr.
                                                                                                                                                       Sache für mich erledigt.
    Stereotypien helfen wie ein Blitzableiter,        Autistenfreundliche Schulen haben hingegen      Oft war für mich der Unterricht erholsam, in
    mich zu erden und akuten Stress abzubauen.        Platz für Halt gebende Rituale, zumal, wenn     der Pause kam dann der eigentliche Stress.            Im Klassenraum wurde ich von Mit-
    Solange Stereotypien niemanden stören oder        sie nicht stören.                               Denn im Gegensatz zum ruhigen, strukturier-      schülerinnen erwartet mit den Worten: „Du
    gefährden, sollten sie nicht verboten wer-                                                        ten und meist leisen Unterricht war die Pause    spinnst ja wohl, die hat sich was gebrochen!“

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Das kommentierte ich mit der Feststellung:        das Ergebnis zur Beurteilung der Lage her-        wörtlich. Da ich oft geärgert wurde, sagte zum   or Black?“ zu lesen war. Darunter mehrere Bil-
     „Sorry, das ist nicht meine Schuld! Wenn sie      anziehen dürfen. Dann hätte er sich bei mir       Beispiel auch meine Mutter zu mir: „Du musst     der, auf denen verschiedene Gegenstände in
     kranke Knochen hat oder nicht landen kann,        entschuldigen und den Tadel zurücknehmen          dich einfach mehr durchbeißen!“ Den nächs-       Blau oder Schwarz abgebildet waren. Neben
     dann darf sie nicht auf Bäume klettern und        müssen! Oder dem Mädchen auch einen               ten Schüler, der mich ärgerte, indem er mir      den Bildern standen Wörter wie „Tom, Susan,
     erst recht nicht vorher andere vom Baum           Tadel für das Runterschubsen geben müssen!        meine Ordnung auf dem Tisch zerstörte, biss      You, She“ und so weiter, gefolgt von Punk-
     schubsen!“ Der dann erschienene Lehrer            Alles andere war für mich nicht in Ordnung!       ich so stark, dass er sofort zum Arzt musste.    ten. Ok, das ist also ein Vokabeltest, bei dem
     wollte nicht wissen, was sich da genau zuge-                                                        Da merkte ich auch, dass das wohl so nicht       man Sätze bilden soll, in denen der jewei-
     tragen hat, sondern sah ganz allein das Ergeb-          So gleicht der Umgang mit dem Konflikt                                                       lige Gegenstand auf dem Bild vorkommt und
                                                                                                         gemeint gewesen sein konnte, aber es war zu
     nis: „Peter, dein Arm ist heil, du hast ihr den   einer Gratwanderung. Konflikte haben schein-                                                       dazu schreibt, ob der blau oder schwarz ist.
                                                                                                         spät. Sanktionen gab es dennoch keine, sie
     Arm gebrochen! Deswegen gibt es für dich          bar schon öfter dazu geführt, dass Autistenle-                                                     Als Musterlösung gab es: „I have a pen, my
                                                                                                         wären auch kontraproduktiv gewesen, denn
     den Tadel!“                                       ben voreilig zerstört worden sind, weil man                                                        pen is black.“
                                                                                                         ich habe ja nur ausgeführt, was andere von
                                                       Gutgläubigkeit und Gerechtigkeit mit einem
                                                                                                         mir wollten.
          Das verletzte mein Gerechtigkeitsemp-        der Situation nicht angemessenen Normen-                                                                 Alle Sätze vervollständigte ich nach dem-
     finden sehr, denn immerhin hatte sie mich         schema sanktionierte. Ich habe es immer                Daher ist es sehr wichtig, bei Konflikten   selben Schema: “…. has/have a blablabla, my
     zuerst gestoßen, und das auch noch ohne           geschafft, dass es nicht vollkommen eskaliert,    immer nach dem Warum zu fragen, um die           blablabla is blue/black“. Ich bekam den Test
     Grund, wohingegen ich sehr wohl einen Grund       weil ich immer intelligent genug war, die Situ-   Wahrnehmung des Autisten zu verstehen.           zurück mit „4 mistakes“, ich hätte bei Tom
     hatte. Und es war nicht meine Absicht, ihr        ation zu „retten“, und weil ich stets fachlich    Genauso wichtig ist es aber auch, das Warum      „his“, bei Susan „her“ und so weiter schrei-
     mehr wehzutun als sie mir wehgetan hat. Da        das ablieferte, was die Schule verlangte, man     zu erklären, wenn ein Verhalten vom Autis-       ben müssen. Ich hätte die Personalprono-
     sie mit dem Ärgern angefangen hatte, war sie      mich also anderweitig wertschätzte.               ten nicht hinnehmbar ist. Ein „Das gehört sich   mina nicht erkannt! Was für ein Schwachsinn!
     aus meiner Sicht für das Ergebnis ganz allein                                                       nicht!“ reicht bei Weitem nicht! Denn was sich   Daran bestand die Aufgabe nicht! Nur darin,
     verantwortlich. Der dies anders sehende Leh-             Ein Konflikt mit einem Autisten ist wie                                                     blau oder schwarz zu erkennen! Natürlich
                                                                                                         gehört oder nicht, ist oft historisch bedingt
     rer hatte seine Autorität bei mir vollständig     brennendes Fett in der Pfanne. Dieses ist nicht                                                    kann ich die Personalpronomina, ich bot dem
                                                                                                         oder gar reine Willkür!
     verloren, weil er nicht wissen wollte, wie es     mit der Standardmethode „Wasser“ lös(ch)-                                                          Lehrer an, spontan einen mündlichen Test zu
                                                       bar. Man muss aufpassen, dass Mobber ihr          „Autistenfreundliche Schulen geben zu,                                                             Englisch-Test
     zu diesem Ergebnis kam!                                                                                                                              machen, aber er blieb bei seiner Feststellung,
                                                       Ziel nicht methodisch erreichen, indem sie so     wenn sie eine unklare Aufgabenstel-              dass ich das ja offenkundig nicht könne, sonst
     „Ein Konflikt mit einem Autisten ist wie          lange mobben, bis das Opfer als Täter hinge-      lung formuliert haben.“                          hätte ich es ja wohl geschrieben, den münd-
     brennendes Fett in der Pfanne.“                   stellt wird. Ein klassenüblicher Spaß kann vom                                                     lichen Test könne er sich sparen. Da die Eins
                                                       Autisten als Angriff gewertet werden, weil        Eine weitere Form von Schwierigkeiten erwar-     im Englischen dadurch futsch war, machte
     Er konnte auf mich keinerlei Druck mehr aus-      Autisten große Schwierigkeiten haben, Späße       tet vor allem Lehrer, wenn sie versuchen, das    ich fortan bei Englisch nicht mehr mit, der
     üben. Um seine Autorität wiederherzustellen,      und Ironie zu erkennen. Durch das wörtliche       Erreichen des Lernziels nach Schema F zu         Lehrer hatte seine Autorität für den Rest des
     hätte er sich zunächst doch noch die ganze        Verstehen kann es zu üblen Missverständnis-       überprüfen. So gab es in der Schule einen Eng-   Schuljahres verloren! Ein Lehrer behält seine
     Geschichte anhören müssen und nicht nur           sen kommen. Redewendungen nahm ich oft            lisch-Test, bei dem als Aufgabenstellung „Blue

10                                                                                                                                                                                                                          11
Autorität, wenn er in der Lage ist, Fehler ein-    Sie äußern bei gelegentlichen Schwierigkeiten       Alles, was autistische Kinder brauchen,
     zugestehen. Er verliert sie, wenn die Fakten-      nicht gleich Killerphrasen wie „Dann gehört         hilft auch allen anderen Schülern
     lage gegen ihn spricht! Autorität kraft Amtes      dieses Kind eben nicht auf diese Schule!“,
     geht gar nicht, nur kraft Kompetenz! Autisten-     „Stell’ dich nicht so an!“, „Es gibt keine Extra-   Anhand meiner persönlichen Geschichten            Anmerkungen
     freundliche Schulen geben zu, wenn sie eine        würste. Basta!“ und andere.                         aus der Schulzeit wird deutlich, dass es vor
                                                                                                                                                              1
     unklare Aufgabenstellung formuliert haben.                                                             allem autistenfreundliche Lehrer und ihnen          Der Text ist erstmalig erschienen im gewerkschaft-
     Das Überprüfen des Lernziels darf nicht zwin-            Insbesondere bestehen sie nicht auf die                                                         lichen Online-Magazin DENK-doch-MAL.de,
                                                                                                            folgende Mitschüler sind, die mit ihrem Ver-
     gend nach Schema F erfolgen!                       Einhaltung von Regeln, die offenbar für einen                                                         Ausgabe 03/2018 („außen*innen*anders*gleich:
                                                                                                            halten eine Schule autistenfreundlich machen
                                                        gegebenen Kontext nicht gemacht sind und                                                              Inklusive Bildung in exklusiven Zeiten“).
                                                                                                            können. Die Inklusion andersartiger Men-
     Lernwege vorschlagen,                              deren Anwendung in der momentanen Situ-                                                               Siehe http://denk-doch-mal.de/
                                                                                                            schen in eine Normenwelt ist immer eine
     nicht vorschreiben!                                ation kontraproduktiv wäre. Sie sorgen für                                                            2
                                                                                                                                                               „Gesichtsblindheit“; Menschen mit Prosopagnosie
                                                                                                            Gratwanderung zwischen Sonderbehandlung
                                                        Ruhe und Reizarmut besonders im Unter-                                                                haben Schwierigkeiten, sich Gesichter zu merken bzw.
                                                                                                            und Integration. Die Sonderbehandlung sollte      Gesichter zu unterscheiden.
     An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt        richt, fördern die Stärken autistischer Schüler
                                                                                                            nur soweit gehen wie nötig. Die Integration
     lassen, dass Autisten oft auch anders lernen       und üben konstruktiv Kritik an deren Schwä-
                                                                                                            sollte, wann immer möglich, erfolgen, um das
     als die meisten anderen Schüler. Man darf          chen.
                                                                                                            Miteinander zu fördern.                           Literaturhinweise
     ihnen gerne Wege des Lernens vorschla-
                                                              Autistenfreundliche Schulen wissen,
     gen, aber niemals vorschreiben, wenn sie für                                                                 Alles, was autistische Kinder brauchen,
                                                        dass die Kommunikation zu Missverständnis-                                                            Einige Veröffentlichungen von Peter Schmidt
     sich eine besser funktionierende Alternative                                                           um an einer normalen Schule zu „überleben“,
                                                        sen führen kann, dass das Sozialverhalten von
     gefunden haben. Dann machen die das eben                                                               hilft übrigens auch allen anderen Schülern.       „Ein Kaktus zum Valentinstag“, 2012, Patmos-Verlag
                                                        Autisten anders ausgeprägt ist, dass Autisten
     anders! Viele Autisten lernen übrigens weni-                                                           Insofern sind in einer autistenfreundlichen       (als Hardcover), 2014, Goldmann-Verlag (als Taschen-
                                                        Strukturen brauchen. Sie streben daher eine                                                           buch)
     ger durch Nachahmen als viel besser durch                                                              Schule Menschen, die die Vielfalt respektie-
                                                        nachhaltige Lös(ch)ung aufkommender Kon-
     Experimentieren!                                                                                       ren. Zugang zu einem autistischen Schüler          „Der Junge vom Saturn“, 2013, Patmos-Verlag
                                                        flikte an, was erfordert, dass auch die Sicht
                                                                                                            erhalten sie nur dann, wenn sie ihn wohlwol-      (als Hardcover), 2015, Goldmann-Verlag (als Taschen-
     Vielfalt respektieren                              des Autisten verstanden und angenommen                                                                buch)
                                                                                                            lend dort abholen, wo er steht, also in seine
                                                        wird, weil dieser grundsätzlich in anderen
                                                                                                            Weltsicht unvoreingenommen eintauchen             „Was eine autistenfreundliche Schule braucht“, in:
     Lehrer sowie weitere Mitarbeiter an autisten-      Normen lebt und oft ein anderes, „logisches“                                                          Hartmut Sautter u. a. (Hrsg.): Kinder und Jugendliche
                                                                                                            und vorhandene Wertesysteme um Abwei-
     freundlichen Schulen leben eine Schulkultur,       Gerechtigkeitsempfinden hat.                                                                          mit ASS – Neue Wege durch die Schule, 2012, Kohl-
                                                                                                            chungen ergänzen. Vor allem dürfen Sie nie-
     die Vielfalt als Normalität begreift. Sie erken-                                                                                                         hammer-Verlag
                                                                                                            mals versuchen, aus ihm etwas zu machen,
     nen die Bedürfnisse aller Beteiligten, respek-                                                                                                           „Aus dem Rahmen gefallen – Praktische Autismus-
                                                                                                            was er nicht ist und nie sein können wird, son-
     tieren dabei besonders die oft ungewöhnli-                                                                                                               kunde von einem, der es wissen muss“, erscheint im
                                                                                                            dern ihn mit dem, was er aus seinem Inners-
     chen Bedürfnisse des autistischen Menschen.                                                                                                              Februar 2020 im Patmos-Verlag.
                                                                                                            ten heraus anbieten kann, aufblühen lassen.

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Carolin Rode

     „Der sieht aber gar nicht so autistisch aus!“

                           „Der sieht aber gar nicht so autistisch                         Diagnostik – Ja oder Nein?        Kind an Ihrer Schule zu unterrichten? Haben       kommt auf Rot und es werden Sanktionen
                           aus!“ Tatsächlich ein Satz den man – vor                                                          Sie Erfahrung mit Hochbegabung? Müssen            durchgeführt. Diese variieren von Pausenver-
                           allem im schulischen Kontext – als Mutter        Aus meiner heutigen Sicht würde ich fast         wir etwas Bestimmtes beachten? Die Ant-           bot über Briefe an die Eltern, Zusatzaufgaben
                           immer wieder zu hören bekommt. Was               immer für eine Diagnostik plädieren, denn        worten der damaligen Direktorin waren beru-       oder Ausschluss von „schönen Dingen“, wie
                           soll ich dann sagen? „Danke, gleichfalls!“?      unser System ist genormt und orientiert sich     higend: Alles kein Problem. Es gäbe Lehrerin-     z. B. der Bewegungsstunde. Bei Emil funkti-
                           „Oh, das liegt an seiner neuen Frisur...“?       an einer Art „Musterkind“: So schlau, so groß,   nen, die sich in diesem Bereich fortgebildet      onierte dieses System nicht. Schulterzucken!
                                                                            so beweglich, so begabt, so friedfertig, so      hätten, man würde meinen Sohn dann ein-           Dann geh ich halt nicht in die Pause. Schul-
                           Emil war schon immer anders                      durchsetzungsstark, so höflich..., so hat ein    fach zu einer so ausgebildeten Lehrkraft in die   terzucken! Dann schreib doch ins Mitteilungs-
                                                                            Kind in diesem oder jenem Alter zu sein. Oder    Klasse stecken. Hätten sie alles schon gehabt.    heft. Als sich zum Schulhalbjahr abzeichnete,
       Erfahrungen einer   Bereits im Kindergarten begann Emil, sämt-       sichtbar behindert, ansonsten wird es schwie-    Ganz entspannt. Ich war erleichtert. Wir freu-    dass sein Verhalten nicht „besser“ wurde,
                 Mutter    liche Regeln zu hinterfragen, diskutierte mit    rig. Kinder, die eine feststehende Diagnose      ten uns auf die Einschulung.                      wurde uns durch die Schule mitgeteilt, das
                           den Erziehern, zeigte sich Strafen gegenüber     haben, bekommen in diesem genormten Sys-                                                           liege daran, dass Emil sich in der Klasse lang-
                           uneinsichtig. Meine Hinweise, dass mir das ja    tem wenn schon keine gerechte Chance, dann
                                                                                                                             Erste Schulerfahrungen                            weile und auch durch Binnendifferenzierung
                           in den letzten Jahren per Trial-and-Error-Ver-   doch zumindest das Anrecht auf einen Platz                                                         nicht mehr gefördert werden könne. Es gäbe
                                                                                                                             Doch die Freude währte nicht lange: Die Direk-    nur die Option, Emil in die zweite Klasse sprin-
                           fahren auch schon aufgefallen wäre und mein      in unserer Gesellschaft. Es gibt einen Grund
                                                                                                                             torin war über die Sommerferien durch eine        gen zu lassen. Wir Eltern waren unsicher. Da
                           Kind nicht auf Sanktionen, sondern nur auf       für das „Anderssein“, das Kind „kann nichts
                                                                                                                             neue Schulleiterin ersetzt worden, die offen-     die Schule uns dies aber weniger als Idee,
                           logische Konsequenzen reagieren würde, ver-      dafür“: Als ob Kinder je etwas für irgendwas
                                                                                                                             sichtlich noch nie etwas von „solchen“ Kin-       denn als Bedingung unterbreitete, um unse-
                           hallten ungehört.                                könnten, was sie sind! Das Kind „kann nicht
                                                                                                                             dern gehört hatte. Auch dass es bestimmte,        ren Sohn überhaupt weiter unterrichten zu
                                                                            anders“: Als ob nicht alle Kinder von sich
                                 Diese Erfahrung sollte ich noch öfter                                                       geschulte Lehrkräfte an dieser Schule gäbe,       können, willigten wir ein und Emil sprang in
                                                                            aus ihr Bestes gäben, was ihnen in diesem
                           machen. Der Kinderarzt wies uns darauf hin,                                                       wurde nie mehr erwähnt. Bereits nach ein bis      die zweite Klasse.
                                                                            Moment zu Verfügung steht!
                           dass es eventuell sinnvoll wäre, vor der Ein-                                                     zwei Monaten in der ersten Klasse zeigten sich
                           schulung eine Intelligenztestung durchführen           Wir entschieden uns also schweren Her-     Schwierigkeiten: Emil störe den Unterricht, er          Zunächst schien alles besser. Wir waren
                           zu lassen. Damit taten wir uns schwer. Inzwi-    zens für eine Diagnostik, welche den Verdacht    wäre laut, rufe dazwischen, könne sich nicht      sehr optimistisch. Die neue Klassenlehre-
                           schen weiß ich, dass es vielen Eltern so geht.   des Kinderarztes bestätigte: Hochbegabung.       gut an die Regeln der Klasse halten.              rin machte einen sympathischen Eindruck.
                           Sie wollen ihr Kind nicht „labeln“, wollen ihm                                                                                                      Bald nach den Sommerferien stellten sich
                                                                                 Mit diesem Ergebnis schlugen wir also             Die Klasse hatte ein „Ampelsystem“,         allerdings die gewohnten Probleme ein: Emil
                           keinen Stempel aufdrücken.
                                                                            an der uns zugedachten Grundschule auf. Bei      um die Schülerinnen und Schüler zu diszip-        stört. Emil ist laut. Emil kann sich nicht gut an
                                                                            einem Vorgespräch mit der Rektorin wollte        linieren: Wer stört, dessen Namen wird auf        Regeln halten. Als kurzer Einschub sei hier
                                                                            ich wissen: Können Sie sich vorstellen dieses    Gelb gesetzt. Wer wieder stört, dessen Name

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gesagt, dass wir zu Hause ein Kind haben, das       Ein Gesprächsprotokollbogen offenbart für        einem Sozialarbeiter zu sehen. Auf mehrma-       ser Zeit schon länger klar, dass mein Sohn
     sich fast überhaupt nicht aggressiv zeigt. Er       mich die ganze Herangehensweise: In einem        lige Nachfrage zeigte man sich an der Schule     nicht „nur“ hochbegabt war. Doch wie schon
     diskutiert sehr viel, braucht viel Struktur und     Abschnitt zum Thema „Grund des Gesprächs“        erstaunt: Nein, der Herr wäre ja der ein-        vor der ersten Diagnose zögerte ich wieder
     klare Regeln, und: Er reagiert nicht auf Sank-      steht wörtlich: „Das Sonne-Wolken-Gewitter-      zige Sozialarbeiter, den die Schule hätte, der   mit der Entscheidung, ihn noch zu weiteren
     tionen. Das erfordert im Zusammenleben ein          wolken-System scheint bei Emil nicht zu funk-    müsse sich um die wirklich schwierigen Fälle     Testverfahren zu schicken. Die Angst vor der
     hohes Maß an Kreativität, da sich Kinder, die       tionieren.“ Und einen Abschnitt weiter unten     kümmern, da bleibe keine Zeit für Emil. Emil     schulischen Zukunft unseres Kindes ließ uns
     „Angst“ vor einer Sanktion haben, wesentlich        in „Ziele und Zielvereinbarungen“: „Das Son-     wurde also einfach weiter sanktioniert, saß      schließlich aktiv werden: Ich sprach mit Emil.
     schneller zur Kooperation entschließen, als         ne-Wolken-Gewitterwolken-System soll für         am Einzeltisch und bekam seine zwei Vierer in    Ob er sich vorstellen könnte eine weitere Tes-
     ein Kind, dem die Logik dieser Kooperation          Emil weitergeführt werden.“                      den Kopfnoten.                                   tung zu machen. Es gebe da so ein Syndrom,
     erst klar werden muss. Ersteres finde ich per-                                                                                                        das Asperger-Syndrom. Viele Menschen hät-
     sönlich aber sowieso nicht sehr erstrebens-              Emil indes schrieb ausschließlich sehr      Damoklesschwert „Unbeschulbarkeit“               ten das, und die würden alle so ähnlich ticken
     wert, da ich versuche, mit meinen Kindern in        gute Noten, hatte keine Freunde, saß die                                                          wie er. Ob er wissen wolle, ob er da dazuge-
     einer Gemeinschaft zu leben, die nicht von          meiste Zeit an einem Einzeltisch, sein Name      Am Ende der dritten Klasse gab es ein Tür-und-   höre. Er wollte.
     Angst oder strengen Hierarchien geprägt ist,        stand auf der Gewitterwolke und er hatte         Angel-Gespräch mit der Klassenlehrerin, die
                                                         genau das, was wir nie wollten: Einen dicken     Emil eigentlich immer unterstützt hatte und zu   Zum Halbjahr der dritten Klasse meldeten wir
     sondern von Respekt und Verständnis für die
                                                         Stempel auf der Stirn, auf dem „Stört!“ steht.   der wir ein gutes Verhältnis aufbauen konnten.   uns im Autismusinstitut. Zum Halbjahr der
     Bedürfnisse aller in dieser Gemeinschaft.
                                                                                                          Fazit war, ob wir nicht einmal über eine Brü-    vierten Klasse hatten wir einen Diagnostik-
     Weitere Sanktionsmaßnahmen                                  Keine Spur von Schulsozialarbeit         ckenschule nachgedacht hätten? Man müsse         termin. Das Gespräch mit der Klassenlehrerin
                                                                                                          Emil eigentlich als unbeschulbar bezeichnen.     und ihre Bemerkung über die Unbeschulbar-
     Die dritte Klasse wartete also mit einem            Bei einem weiteren Gespräch war der Schul-                                                        keit meines Kindes bestärkten mich noch ein-
                                                                                                          Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Ein Kind,
     neuen System auf: Es gab jetzt kein Ampel-          sozialpädagoge auch anwesend: Man könne                                                           mal in unserer Entscheidung, unseren Sohn
                                                                                                          das jeden Morgen klaglos zur Schule geht,
     system mehr, sondern das „Sonne-Wolke-Ge-           sich vorstellen, Emil einmal die Woche zu ihm                                                     testen zu lassen. Wir brauchten „etwas in der
                                                                                                          gute Leistungen bringt, den Tag mit Schlag-
     witterwolke-System“. Mir (und meinem Sohn)          zu einer Art „Clearing-Gespräch“ gehen zu las-                                                    Hand“, falls uns so etwas noch einmal passie-
                                                                                                          zeugspielen, Brettspielen, Geo-Cachen ver-
     erschloss sich der Unterschied nicht unbe-          sen, um zu reflektieren und sich dadurch im                                                       ren sollte. Wir wollten beweisen können, dass
                                                                                                          bringt, der gerne mit seinen Eltern und sei-
     dingt, seine Reaktionen auf dieses System           Verhalten zu verbessern. Ein toller Gedanke!                                                      unser Kind „nichts dafür konnte“. Wir wollten
                                                                                                          ner Schwester spielt, Bücher verschlingt und
     blieben dieselben wie zuvor. Es wurde extra         Ich konnte mir gut vorstellen, dass Emil davon                                                    ihn vor der Ungerechtigkeit schützen, die ihm
                                                                                                          für die ganze Familie kochen kann? Unbe-
     für Emil sogar der „Keller“ eingeführt. Ein Platz   profitieren würde. Einige Wochen nach dem                                                         in diesem System immer wieder widerfahren
                                                                                                          schulbar? Als sie mein Entsetzen bemerkte,
     unter der Gewitterwolke, auf dem des Öfteren        Gespräch begann ich bei Emil nachzufra-                                                           würde. Wir wollten seine unsichtbare Ein-
                                                                                                          meinte sie noch, es wäre ja nur mal so eine
     sein Name zu finden war, da die Androhun-           gen: Hatte sich der Herr von der Schulsozial-                                                     schränkung sichtbar machen. In der Grund-
                                                                                                          Idee gewesen.... Dieses Gespräch hielt mich
     gen der Gewitterwolke sich als nicht wirksam        arbeit schon gemeldet? Hatte er nicht. Wei-                                                       schule sollte es aufgrund der langen War-
                                                                                                          als Mutter noch lange in Beschlag. Ich wusste:
     erwiesen. Die Situation spitzte sich rasch zu.      tere Wochen verstrichen. Keine Spur von                                                           tezeiten für einen Diagnostiktermin und die
                                                                                                          Das will ich nie wieder hören! Mir war zu die-

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vom Erwarteten, Entscheidungsspielräumen           sel usw. können gerade für autistische Kinder   schaft verstehen sowie Strategien lernen und     • Missverständnisse und daraus resultie-
     usw. oft überfordert. Schule (und Kita) mit vie-   belastend sein.                                 einüben, mit denen sie sich in verschiedenen     rende Konflikte, die entstehen, weil der/die
     len Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen                                                           Lebensbereichen sicherer bewegen können.         autistische Schüler*in nonverbale Signale,
     sind aber grundsätzlich unruhige Orte, die         JÜL (jahrgangsübergreifendes Lernen):                                                            Stimmungen, soziale Zusammenhänge nicht
     beständig Veränderungsprozessen unterwor-                                                                Diese Kinder und Jugendliche „ecken“       erfasst; seine/ihre Reaktionen/Verhaltens-
                                                        - Jährlich sich ändernde Klassenzusammen-
     fen sind/sich in Veränderung befinden. Wenig                                                       auf Grund ihrer mannigfaltigen störungsspe-      weisen sind für die Mitschüler*innen häufig
                                                        setzung.
     förderlich und schwierig sind für die meisten                                                      zifischen Handicaps im Bereich der sozialen      nicht nachvollziehbar, deren Reaktion da-
     autistischen Schüler*innen eine Schulpraxis        „Offene“ Unterrichtsformen                      Wahrnehmung /sozialen Kompetenz in ihren         rauf wiederum ist für das autistische Kind
     und Schulstrukturen, die folgende Merkmale         und Tagesstrukturen                             Lerngruppen oft an, wodurch das inklusive        irritierend.
     aufweisen:                                                                                         Miteinander erheblich gestört werden kann.
                                                        - Oft für die autistischen Schüler*innen                                                         • In ihrem Wunsch nach Kontakt fixieren
     Ganztagsschule:                                    wenig nachvollziehbare Struktur,                     Das soziale Zusammenleben in der            sich autistische Kinder oft auf EINE/N Mit-
                                                                                                        Schulklasse kann insbesondere durch folgen-      schüler*in und „vereinnahmen“ sie/ihn.
     - Sehr langer Schultag ohne echte Ruhephasen,      - Entscheidungsspielräume sorgen für Unsi-
                                                                                                        de Aspekte erschwert werden:
                                                        cherheit und Desorientierung,                                                                    • Autistische Schüler*innen haben neben
     - fehlende Struktur und überfordernde
     soziale Anforderungen in den außerunter-           - Bewegung und Unruhe im Klassenraum            • Gemeinsame Aktivitäten (Spiel, Partner-,       ihren oft „unberechenbaren“ Reaktionswei-
                                                        sind Ursache für Überlastung und Irritation,    Gruppenarbeit), die ein spontanes und pro-       sen teilweise auch Verhaltensweisen (Ste-
     richtlichen Phasen (v.a. in der Sekundarstufe
                                                                                                        duktives Miteinander, Flexibilität, wechsel-     reotypien, Selbststimulation), die die Mit-
     ohne engmaschige Betreuung),                       - Partner- und Gruppenarbeiten stellen hin-
                                                                                                        seitige Kommunikation und Interaktion erfor-     schüler*innen irritieren oder stören können.
     - Wechsel zwischen Unterrichtsräumen               sichtlich Kommunikation, Interaktion und
                                                                                                        dern. Dies stellt für autistische Kinder eine    • Autistische Kinder sind oft kognitiv sehr
     und Horträumen/Räumen für außerunter-              Flexibilität oft eine Überforderung dar,
                                                                                                        Überforderung dar und wird von ihnen oft         fit und werden dadurch leicht in Bezug auf
     richtliche Aktivitäten,                            - „Offene“ Hortstruktur / „Offene“ Nach-        abgelehnt; sie suchen Wiederholung/gleiche
                                                        mittagsstruktur im Außerunterrichtlichen                                                         ihren emotionalen Entwicklungsstand über-
     - viele verschiedene Bezugspersonen                                                                Spiele und Spielformen; sie möchten oft das      schätzt.
     (Lehrkräfte, Erzieher, Sozialpädagogen etc.),      Bereich der Sekundarschulen.                    Geschehen mit ihren eigenen Vorstellungen
                                                                                                        und Ideen bestimmen. Das entspricht häufig            So ist es neben der durch pädagogische
     - Essen in der Mensa (Lärm, fehlende Struk-         Soziales Zusammenleben muss für alle
                                                                                                        nicht den Erwartungen/Vorstellungen/Mög-         Interventionen geförderten persönlichen
     tur, Gerüche, unbekannte Gerichte / Essen-                 erlernt werden – mit Umwegen
                                                                                                        lichkeiten der Mitschüler*innen.                 Entwicklung der Schüler*innen mit Autismus
     auswahl, Zeitdruck im Rahmen des Stunden-
                                                                                                                                                         wichtig, dass die Mitschüler*innen für ein
     plans),                                            Gemeinsame, inklusive Schule muss sich auch     • Körperliche Nähe/Körperkontakt, der nicht      Zusammenleben vorbereitet werden. Dabei
     - der sog. „rhythmisierte“ Schultag (insbe-        für Schüler*innen mit Autismus entwickeln,      von dem autistischen Kind initiiert und kon-     geht es v.a. darum, dass sie die Bedeutung
     sondere im Ganztag): „entlastende“ Phasen          um ihnen ein sicheres Lernumfeld zu schaffen,   trolliert werden kann, oder aber auch Distanz-   der oft sehr „anderen“ sozialen Verhaltens-
     mit freiem Spiel, Aktivitäts- und Raumwech-        in dem sie das „Funktionieren“ von Gesell-      losigkeit auf Seiten des autistischen Kindes.

20                                                                                                                                                                                                      21
Konstanze Möbius und Svantie Ohder

                                                                                                          Das brauchen Kinder und Jugendliche
                                                                                                          mit Autismus in der Schule

     darauffolgende Wartezeit auf die Diagnose                Allerdings möchte ich hinzufügen, dass      Wir sind zwei von insgesamt sechs Berliner       nen eine Bildungsteilhabe zu ermöglichen,        Erfahrungen und
     dazu aber nicht mehr kommen.                       es auch andere Erfahrungen gibt: Aufge-           Diagnostik- und Beratungslehrkräften für den     müssen auch vermehrt besondere Förderan-         Empfehlungen von Be-
                                                        schlossene und interessierte Lehrerinnen und      Förderschwerpunkt ‚Autismus‘. Zusammen           gebote z. B. in Form von Kleinklassen zur Ver-   ratungslehrerinnen
          Die Klassenlehrerin verließ aufgrund                                                            mit einer weiteren Kollegin gehören wir zum
                                                        Lehrer, die das „Herz an der rechten Stelle“ zu                                                    fügung gestellt werden. Für extrem anfällige
     gesundheitlicher Probleme kurz nach den                                                              SIBUZ Charlottenburg-Wilmersdorf1, sind
                                                        haben scheinen und sich für das Kind als Indi-                                                     Kinder und Jugendliche mit Autismus spielt
     Sommerferien die Klasse. Es übernahm eine                                                            mit unserem Schwerpunkt allerdings über-
                                                        viduum interessieren. Lehrerinnen und Leh-                                                         die Internet-Beschulung eine zunehmende
     nette Referendarin, die aber schon nach eini-                                                        regional für die Hälfte der Berliner Bezirke –
                                                        rer, die selbst innerhalb unseres bürokrati-                                                       Rolle.
     gen Monaten krankheitsbedingt ausfiel. Die                                                           und hier für alle Schularten vom Förderzen-
                                                        schen Systems immer wieder unkomplizierte,
     Klasse bekam keine Klassenleitung mehr. Für                                                          trum bis zum Gymnasium – zuständig. Die                Unsere grundsätzliche Einschätzung ist,
                                                        menschliche Lösungen anbieten.
     den Rest der vierten Klasse übernahmen zwei                                                          andere Hälfte der Stadt wird von den drei Kol-   dass bisher nur wenige Schüler*innen mit
     Kolleginnen neben ihren eigenen Klassenlei-             Diesen und all jenen, die es tagtäg-         leg*innen am SIBUZ Kreuzberg-Friedrichshain      Autismus (v.a. in der Sekundarstufe) in inklu-
     tungen noch die Interimsleitung der Klasse         lich schaffen, die besonderen Ansprüche           betreut. Vor unserer jetzigen Tätigkeit unter-   siven Schulen und im gemeinsamen Unter-
     meines Sohnes.                                     eines jeden Kindes zu beachten und Wege           richteten wir lange an der Comenius-Schule in    richt entspannt lernen und ihr Potential aus-
                                                        zu suchen, es für das Lernen und Leben zu         Berlin-Wilmersdorf in einer der Kleinklassen     schöpfen können, weil sowohl die Rahmen-
          Und Emil? Der tat sich mit den Verän-
                                                        begeistern, möchte ich danken.                    für Schüler*innen mit frühkindlichem Autis-      bedingungen als auch die Ausbildung (Kennt-
     derungen und Bindungsabbrüchen schwer.
                                                                                                          mus bzw. mit dem Asperger-Syndrom.2              nisse und Fähigkeiten) der in den Schulen
     Er wurde sanktioniert, saß am Einzeltisch,         Anmerkung:
                                                                                                                                                           arbeitenden Pädagog*innen für einen ange-
     bekam seine zwei Vierer in den Kopfnoten           Der Name „Carolin Rode“ ist anonymisiert; der     Kann eine integrativ-inklusive Schule            messenen Umgang mit autistischen Men-
     und ging jeden Tag ohne zu klagen zur Schule.      richtige Name der Autorin ist der Redaktion       allen autistischen Schüler*innen                 schen meist nicht ausreichen.
                                                        bekannt.                                          gerecht werden?
     Auf die Lehrperson kommt es an !                                                                                                                            Autistische Menschen haben eine
                                                                                                          Unsere Erfahrungen der vergangenen Jahre                       besondere Wahrnehmung
     Leider ist eine Geschichte wie unsere kein Ein-
     zelfall. Ich stehe mit vielen Familien, die Kin-                                                     bestätigen immer wieder, dass eine inklu-
                                                                                                          sive Beschulung – auch wenn sie personell,       Autistische Menschen sind auf Grund ihrer
     der im Autismusspektrum haben, in Verbin-                                                                                                             besonderen Wahrnehmung und Warneh-
     dung und höre solche Dinge nahezu täglich,                                                           sächlich und mit entsprechendem Know-
                                                                                                          how der Pädagog*innen optimal ausgestattet       mungsverarbeitung mit Lärm, Unruhe, Leben-
     und zwar unabhängig von Kommune, Bundes-                                                                                                              digkeit, offenen (Unterrichts-) Situationen,
     land, Klassenstufe, etc.                                                                             ist – nicht allen Schüler*innen mit Autismus
                                                                                                          gerecht werden kann. Um diesen Schüler*in-       spontanen Veränderungen, Abweichungen

18                                                                                                                                                                                                                                 19
weisen autistischer Menschen verstehen und         • fester Sitzplatz für das betroffene Kind,      • reduzierte Auswahlmöglichkeiten/Ent-          • v.a. an Sekundarschulen mit ihren vielen
     mit ihnen umzugehen lernen.                        evtl. eine feste Sitzordnung der Mitschü-        scheidungsspielräume,                           Fachlehrer*innen Installierung eines/einer
                                                        ler*innen,                                       • Visualisierung von Abläufen, Aufgaben usw.,   verantwortlichen Pädagog*in, der/die für
           Für eine gelungene Inklusion ist es wich-
                                                        • klare, verlässliche Tagesstruktur und                                                          Kommunikation (z. B. didaktisch-methodi-
     tig, dass neben den Pädagog*innen auch die                                                          • Eindeutigkeit in persönlicher Ansprache
                                                        Abläufe, Vorhersehbarkeit durch Tages- und                                                       scher Austausch, classroom-management)
     Mitschüler *innen und deren Eltern über die                                                         und allen Äußerungen.
                                                        Wochenpläne,                                                                                     innerhalb der Lehrerteams sorgt.
     Ansprüche und Stressfaktoren (und den sich
                                                                                                         Entlastung durch:
     daraus ableitenden Nachteilsausgleich und          • sichere und wiederkehrende Rituale,                                                                             Auch die Pädagog*innen
     besonderen Maßnahmen) sowie die Hinter-            • wiedererkennbare Strukturen bei Arbeits-       • Reizarm ausgestattete Klassenräume und                              brauchen Lern-Zeit
     gründe des manchmal nicht nachvollzieh-            aufträgen, Arbeitsblättern, Unterrichtspha-      Fachräume, ggf. reizarmer Einzelarbeitsplatz
     baren Verhaltens des autistischen Kindes/          sen usw.,                                        für den betroffenen Schüler, ggf. besonderer    Bei unserer Beratungstätigkeit stellen wir fest,
     Jugendlichen informiert sind.                                                                       Sitzplatz (vorne oder hinten im Klassenraum),   dass trotz vieler Schwierigkeiten die Aufge-
                                                        • Ankündigung und Erklärung von Abwei-
                                                                                                         • ruhige Ecke im Klassenraum oder Rück-         schlossenheit der Pädagog*innen und Eltern,
     Rahmenbedingungen und Maß-                         chungen vom Gewohnten/Erwarteten,
                                                                                                         zugsraum, Möglichkeiten zur motorischen         autistische Schüler*innen verstehen zu wol-
     nahmen, die autistische Schüler*innen              • Unterstützung kleiner, sicherer /struktu-      Entlastung,                                     len, sich Zeit für Beratung zu nehmen und
     brauchen                                           rierter Peergroup-Bildung für den/die autisti-                                                   die Kinder zu integrieren, wächst. Die Diffe-
                                                        schen Schüler / Schülerin,                       • flexible Pausenregelungen zur Stressver-      renzierungsnotwendigkeit ist allerdings so
     Es sollte sichergestellt werden, dass für autis-                                                    meidung (statt lautem, unruhigem Pausen-
                                                        • Unterstützung bei Kommunikation und                                                            hoch, dass sich daraus zusätzliche Belastun-
     tische Schüler*innen Verlässlichkeit, ihnen                                                         hof mit durcheinander tobenden Kindern,
                                                        Interaktion mit Mitschüler*innen durch                                                           gen ergeben.
     angepasste Unterrichtsformen und Nachteils-                                                         ruhiges Klassenzimmer/Bibliothek),
     ausgleiche sowie die Möglichkeit zur Entlas-       Anleitung und Sicherheit gebende über-                                                                 Diese Eckpunkte stellen also einer-
                                                        schaubare/ vorstrukturierte Situationen.         • gegebenenfalls geringere Klassenfrequen-
     tung bestehen.                                                                                                                                      seits eine Anforderung an die Einstellung
                                                                                                         zen, Möglichkeit der Bildung von temporären
                                                                                                                                                         und Handlungsbereitschaft jeder Pädago-
           Rahmenbedingungen und Maßnahmen              Klarheit durch auf den Schüler/die Schüle-       Kleingruppen.
                                                                                                                                                         gin / jedes Pädagogen dar, andererseits eine
     für ein angemessenes Schulleben autistischer       rin abgestimmtes didaktisch-methodisches
                                                                                                         Für die Umsetzung in den Schulen sind           Anforderung an die bildungspolitisch Verant-
     Kinder und Jugendlicher (diese Rahmenbe-           Vorgehen:
                                                                                                         folgende Aspekte von Bedeutung:                 wortlichen und die Schulverwaltungen, die
     dingungen gelten vielfach ebenso für den vor-      • Individuelle Hilfen bei der Aufmerksam-                                                        notwendigen personellen und sächlichen
     schulischen Bereich.):                             keitssteuerung,                                  • Mehr Zeit für Fortbildung und Beratung,       Unterstützungen zur Verfügung zu stellen.
                                                                                                         um allgemein über die Besonderheiten autis-
     Sicherheit durch verlässliche Struktur:            • kleinschrittige, operationalisierbare Anlei-
                                                                                                         tischer Schüler*innen, individuelle Unter-
                                                        tung und Aufgabenstellung,
     • Feste, zuverlässige Bezugspersonen, kons-                                                         stützungsmaßnahmen und Möglichkeiten
     tante Lerngruppe,                                                                                   des Nachteilsausgleichs aufzuklären,

22                                                                                                                                                                                                          23
Lage in den Bundesländern                        Anmerkungen
                                                            1
     Aufgrund ihrer Kultushoheit haben die einzel-            Jeder Berliner Bezirk verfügt über ein Schulpsy-
                                                      chologisches und inklusionspädagogisches Beratungs-
     nen Bundesländer einen ganz unterschied-
                                                      und Unterstützungszentrum (SIBUZ), an das sich Schü-
     lichen Umgang mit autistischen Schülern.         ler*innen, deren Eltern, Pädgog*innen und Schulen für
     Während inzwischen manche Bildungsminis-         Beratung und Unterstützung wenden können.
     terien den Förderschwerpunkt Autismus ein-             2
                                                               Die Comenius-Schule war Sonderschule für
     gerichtet haben, ordnen andere die betrof-       den Bereich ‚Lernen‘, ehe sie sich in den 80er Jahren
     fenen Schüler*innen verschiedenen Förder-        des letzten Jahrhunderts um einen integrativen Grund-
     schwerpunkten zu. Ebenso unterschiedlich         schulzweig erweiterte, in dem insbesondere Kinder
     sind die Unterstützungsmaßnahmen bezüg-          mit dem Förderschwerpunkt ‚Autismus‘ integriert wur-
     lich der Anzahl der Sonderpädagogikstunden,      den. Neben diesem weiterhin bestehenden inklusi-
                                                      ven Angebot hält die Schule besondere Förderange-
     des Umfangs und der Organisation von Schul-
                                                      bote in Form von Kleinklassen für Kinder und Jugendli-
     begleitung und nicht zuletzt des Nachteilsaus-   che mit frühkindlichem Autismus sowie für Schüler*in-
     gleichs und dessen Umsetzung.                    nen mit dem Asperger-Syndrom bereit; darüber hinaus
                                                      werden autistische Kinder und Jugendliche mit dem
     Ergänzung der Redaktion                          zusätzlichen Förderschwerpunkt ‚Lernen‘ in den ent-
                                                      sprechenden Förderklassen integriert. Inzwischen ist
     Cornelia Poser, bis 2015 ebenfalls Sonderpä-     die Comenius-Schule eine Schwerpunktschule für den
     dagogin mit dem Schwerpunkt Autismus an          Förderschwerpunkt ‚Autismus‘ und beschult über 100
     der Comenius-Schule und Mitglied des Bera-       Schülerinnen und Schüler mit diesem Förderbedarf.
                                                            3
     tungsteams des SiBUZ Berlin-Wilmersdorf hat              Nur Schleswig-Holstein, Hamburg und Berlin
     2019 ein Buch veröffentlicht, in dem sie auf     haben einen solchen Förderschwerpunkt, der in allen
     der Basis ihrer vielen Erfahrungen und Erleb-    drei Bundesländern unterschiedlich heißt. Der Bun-
                                                      desverband Autismus Deutschland e. V. fordert, dass
     nisse mit Kindern, Eltern und Lehrer*innen
                                                      ein solcher Förderschwerpunkt in allen Bundesländern
     romanhaft von einem autistischen Schüler         eingerichtet wird.
     erzählt: „Echsenkönig“. (Ganymed Edition,
     Hemmingen 2019, ISBN 978-3-946233-71-9)
     Wir können diesen Roman nur jedem als Lek-
     türe empfehlen – er berührt, informiert und
     öffnet uns neue Horizonte des Verstehens.

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Impressum

           Der Bundeskongress „Eine für alle –     © Herausgeber:
      Die inklusive Schule für die Demokratie“     Aktion Humane Schule
        im September 2016 wurde gemeinsam          (vertreten durch Bert Schmid, ehemals Jonas Lanig  ),
mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main,
                                                   GGG Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule –
       Fachbereich Erziehungswissenschaften,
                                                   Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens
                                   veranstaltet.
                                                   (vertreten durch Gerd-Ulrich Franz),
            Zu den Kooperationspartnern und        GEW Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
  finanziellen Förderern gehörten außerdem:        (vertreten durch Dr. Ilka Hoffmann),
                                                   Grundschulverband
                             Aktion Mensch
                                                   (vertreten durch Ulla Widmer-Rockstroh),
                  Deutsche Gesellschaft für
              Demokratiepädagogik (DeGeDe)         NRW-Bündnis Eine Schule für alle
                                                   (vertreten durch Uta Kumar und Dr. Brigitte Schumann),
  Institut für Teamarbeit und Schulentwicklung
                                                   Politik gegen Aussonderung – Koalition für Integration
      Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft      und Inklusion e.V.
                                                   (vertreten durch Dr. Irmtraud Schnell)

                                                   Verantwortlich:
                                                   Dr. Ilka Hoffmann (V.i.S.d.P.),
                                                   Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Hauptvorstand,
                                                   Reifenberger Str. 21, 60489 Frankfurt am Main,
                                                   Telefon: 069/78973-0, Fax: 069/78973-202,
                                                   E-Mail: info@gew.de, www.gew.de

                                                   Redaktion:
                                                   Ulla Widmer-Rockstroh,
                                                   Martina Schmerr,
                                                   Dr. Irmtraud Schnell,
                                                   Dr. Brigitte Schumann

                                                   Gestaltung:
                                                   Dipl. Design. Christa Gramm
                                                   (Gesamtgestaltung der Schriftenreihe „Eine für alle“),
                                                   Bettina Hackenspiel
                                                   (Basislayout für Bundeskongress)

                                    Download:      Kontakt:
                  https://eine-fuer-alle.schule/   martina.schmerr@gew.de
                                                   geschaeftsstelle@ggg-web.de
                                                   info@grundschulverband.de

                                                   Januar 2020
                                                   ISSN 2566-8099
SCHRIFTENREIHE
                                                                       „Eine für alle“

         Eine für alle -
         Die inklusive Schule für die Demokratie
         In unregelmäßigen Abständen werden in dieser
Heft 6   Schriftenreihe Vorträge, Informationen und Posi-
         tionen im Zusammenhang des Bundeskongresses
         „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demo-
         kratie“ vom September 2016 veröffentlicht.
         Damit soll der gesellschaftliche Diskurs zu einem
         inklusiven, demokratischen Bildungswesen ge-
         stärkt und entsprechendes Handeln unterstützt
         werden.

         In der Schriftenreihe erschienen:
         Heft 1/2017
         Vernor Muñoz: Deutschland auf dem
         Prüfstand des Menschenrechts auf Bildung
         Heft 2/2017
         Dr. Reinald Eichholz: Blick nach vorn:
         Menschenrechte bleiben der Maßstab!
         Heft 3/2018
         Justin J.W. Powell: Chancen und Barrieren
         Inklusiver Bildung im Vergleich: Lernen von Anderen
         Heft 4/2018
         Dr. Sigrid Arnade: Die inklusive Gesellschaft -
         ein Gewinn für alle
         Heft 5/2019
         Dr. Brigitte Schumann: Das verweigerte Recht auf
         inklusive Bildung
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