Anything goes? - Paul K. Feyerabend als Elefant im Popperschen Porzellanladen
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Dr. Thomas Sukopp (Braunschweig) Anything goes? – Paul K. Feyerabend als Elefant im Popperschen Porzellanladen Paul Kurt Feyerabend gilt den einen als Wir gönnen uns einen kleinen Auszug ei- Querulant, den anderen als Vertreter eines nes Briefes an Hans-Peter Duerr, einem heil- und bodenlosen Relativismus und Freund. Feyerabend schreibt über seine Anarchismus. Obwohl es eine Vielzahl bevorstehende Anstellung in Bern (Duerr guter Darstellungen der Feyerabendschen 1995, S. 77, Brief vom 16.10. 1979): Positionen gibt (z. B. Döring 1998; Hoy- Professor Bandi, der Berner Prähistoriker hatte ningen-Huene 1997, 2000, 2002; Preston in einem langen Gutachten und nach ebenso lan- gen Recherchen mitgeteilt, ich sei ein Staatsfeind [Internet]) scheinen auch heute noch Rich- und Anarchist und überdies ließen Titelbild und tigstellungen nötig, was sein Slogan „Any- die Kapitelüberschrift „Die Vagina der Erde und thing goes“ heißt und in welcher Weise er der Venusberg“ erkennen, dass ich an einer sich von seinem ehemaligen Lehrer, Sir schweren Sexualneurose leide und auf keinen Fall Karl Raimund Popper, abgrenzt. auf die Studenten (-innen!) losgelassen werden Meine Ausführungen umfassen vier Kapi- dürfe. tel. 1. Feyerabend: Ein ungewöhnlicher Feyerabends Polemik schreckt ab und in Mensch. 2. Popper: Ein kritischer Ratio- den Augen Vieler hat er sich sein ohnehin nalist 3. Warum richtet sich Feyerabend nicht leichtes Leben damit noch schwerer gegen Popper? 4. Anything goes? Skizze gemacht. einer gar nicht so anarchistischen Wissen- Der „liebevolle“ Umgang mit Popper wird schaftstheorie. in folgenden Betitelungen deutlich: Über Popper und die kritischen Rationalisten 1. Feyerabend: Ein ungewöhnlicher sagt Feyerabend, sie lebten in den Elends- Mensch quartieren der Wissenschaftstheorie (sie- Lesen Sie Feyerabends Autobiographie he Poppers „dritte Welt“). Er sprach auch mit dem marketingstrategisch ungünstigen von „Papiertiger[n] und Zwergnasen des Titel „Killing Time“, auf deutsch „Zeitver- kritischen Rationalismus“ (Duerr 1980, S. schwendung“. Feyerabends diskreter 178), vom „Ayatollah Popper“ (Duerr Charme der Polemik, der darin zum Aus- 1980, S. 179), der seine Gegner ächtet und druck kommt, spielt eine Rolle in seiner abtrünnige Schüler exkommuniziert. In ei- Auseinandersetzung mit Popper. Es ist nem fiktiven Interview nimmt Feyerabend allerdings verfehlt, Feyerabend lediglich Poppers spätere Neigung aufs Korn, alle als enfant terrible oder als einen Provoka- seine Ergebnisse schon recht früh gefun- teur hinzustellen, der Philosophie nicht den zu haben. Feyerabend nennt „I as a ernst nahm. Ich möchte Ihnen einen klei- Precursor of myself“ (Duerr 1980, S. 181) nen Überblick über den Typen Feyerabend als einen Popper-Aufsatz, in dem Popper geben, schon deswegen, weil Feyerabends überzeugend nachweist, alle seine Ergeb- fast satirisches Talent – bei aller Gefahr nisse schon um Jahre vorweggenommen zu verletzen – unterhält. zu haben. Außerdem spricht Feyerabend von „Erstklässlerphilosophien“ (Duerr 124 Aufklärung und Kritik 1/2007
1980, S. 181) oder von Popper-Punks im Normen und von der Reichweite unserer Zusammenhang mit Popper und seinen Methodologien als Popper. Seine Positi- Anhängern. on steht in scharfem Kontrast zu Poppers Wer war dieser Feyerabend? Er war Philo- kritischem Rationalismus. Um Feyerabend soph, insbesondere Erkenntnistheoretiker zu verstehen, müssen wir einen Blick auf und Wissenschaftstheoretiker, aber auch Popper werfen, den man als eine Station Physiker, genauer Astrophysiker, und aus- in der Geschichte der Wissenschaftstheo- gebildeter Sänger und er war ein Mann rie verstehen kann. Feyerabend ist weit mit einer „großen Klappe“, wie er selbst über diese Station hinausgegangen. Dass von sich sagt. Er studierte ab 1946 zuerst er dabei auch übers Ziel hinaus schoss, in Weimar Theaterwissenschaft und Mu- kann ich hier nur am Rande erwähnen. sik, dann in Wien Geschichte, Mathema- tik, Physik, später Philosophie in London 2. Popper: Ein kritischer Rationalist und Kopenhagen. Er lernte Viktor Kraft „Der Marxist Ernst Bloch putzte ostenta- kennen, durch den er Zugang zum Wie- tiv seine Brille, wenn der kritische Ratio- ner Kreis hatte. Er kannte auch Wittgen- nalist Karl Popper sprach: der wiederum stein, von dem er zeitlebens begeistert war. schaute gelangweilt im Studio umher, wenn Bloch das Wort hatte.“ Wenn wir Von 1951 bis 1956 arbeitete er als Dozent Willy Hochkeppels Bericht von einer Dis- für Wissenschaft und Kunst in Wien und kussion des Jahres 1968 hören, dann kön- von 1955-1956 an der Universität Bristol. nen wir schließen, dass sich die beiden 1959 wurde Feyerabend Associate, 1962 Diskutanten Bloch und Popper nicht Full Professor in Berkeley. Er war durch mochten. Ich denke, dass fundamentale den Einfluss von Popper zunächst kriti- Auffassungen, z.B. darüber, was die Auf- scher Rationalist. Später war Feyerabend gaben der Philosophie sind, Gründe lie- Reisender in Sachen Philosophie, weil er fern, warum sich die beiden nichts zu sa- nach eigener Aussage faul war und ihn die gen hatten. Bei Popper und dem mittleren geringen Lehrverpflichtungen als Profes- bis späten Feyerabend war das ähnlich. sor bei gleichzeitig hohem Gehalt lock- Der gegenseitige Vorwurf, nicht zu ver- ten. So war er Gastprofessor in Hamburg, stehen, was der andere meint, ist dann Berlin, Kassel, an der ETH Zürich und in schnell bei der Hand. Und dann ist es aus Yale. Er hatte eine starke Neigung zur Iro- mit einer Diskussion. Es geht dann nicht nie und zur Selbstironie, war viermal ver- mehr darum, dass und ob jemand eine heiratet und starb im Alter von 70 Jahren abwegige oder wenigstens andere Mei- am 11.2. 1994. nung als man selbst vertritt. Es ist eher Entscheidend für unsere Zwecke ist Fey- so, wie Moritz Schlick in „Die Wende der erabends an wissenschaftshistorischen Philosophie“ (1930, S. 11) schreibt: Beispielen geschulter Blick für das Vor- […] [P]hilosophische Schriftsteller werden noch gehen von Wissenschaftlern. Er gibt an- lange alte Scheinfragen diskutieren, aber schließ- lich wird man ihnen nicht mehr zuhören und sie dere Antworten auf Fragen nach der Rol- werden Schauspielern gleichen, die noch eine le und den Merkmalen von Vernunft, vom Zeitlang fortspielen, bevor sie merken, dass die Wechsel wissenschaftlicher Theorien, von Zuschauer sich allmählich fortgeschlichen haben. der Gültigkeit wissenschaftstheoretischer Dann wird es nicht mehr nötig sein, über ‘philo- Aufklärung und Kritik 1/2007 125
sophische’ Fragen zu sprechen, weil man über 1. eine Behauptung zu akzeptieren, alle Fragen philosophisch sprechen wird, das 2. ein Ziel anzunehmen oder heißt: sinnvoll und klar. 3. gleiche Bewertungen von solchen Worauf es mir hier ankommt, ist der kaum Dingen vorzunehmen, die man für ana- versteckte Vorwurf an die „philosophi- log zu einem in bestimmter Weise be- schen Schriftsteller“, dass sie eben nicht werteten Problem hält. sinnvoll schreiben. Wer sich gegenseitig sinnloses Reden vorwirft, so wie Popper Natürlich ist es nicht rational, immer nur Feyerabend, nachdem dieser vom kriti- nach diesen Kriterien zu handeln, denn schen Rationalismus abgefallen war, der rational handeln heißt, das zu tun, wozu kann nicht mehr miteinander sprechen. In jeder unter entsprechenden Umständen gut einem weiten Sinn verstanden ist also der beraten ist. Vorwurf, irrational zu sein, gleichbedeu- tend mit dem Abbruch intellektueller Be- 2.2 Was heißt es, ein guter kritischer ziehungen. Was heißt es also, rational zu Rationalist zu sein? Antworten von Sir sein und was zeichnet Poppers kritischen KarlRaimund Popper Rationalismus aus? Popper wendet sich gegen mehrere Posi- tionen, die in seiner Sicht fehlerhaft sind. 2.1 Was heißt es, rational zu sein? Eine dieser Positionen nenne ich „Das Überzeugungen, Handlungen und Bewer- Märchen vom kumulativen Modell der tungen verlangen Rationalität (Rescher). Wissenschaft“, das ich kurz erzähle. Die systematische Natur der Vernunft zeigt Auf den induktiven Wiesen der Wissen- sich in Vernunftdesiderata, in Forderun- schaft waren die Wissenschaftler fleißige gen an unser Tun, die auf eine Rechtferti- Bienen und sammelten Wissen wie Ho- gung unserer Überzeugungen, Handlungen nig. Das konnten sie sehr gut: Je öfter sie und Bewertung zielen. Folgende Kriterien sammelten, desto sicherer waren sie in ih- rationalen Verhaltens können leicht als For- rem Sammeln. Sie beobachteten in der derungen an rationale Wesen formuliert Früh, des Mittags und auch abends, und werden (Rescher 1993): was sie so zu verschiedenen Zeiten beob- achtet hatten, das fassten sie zu Hypothe- • Konsistenz (Vermeide Selbstwider- sen und Theorien zusammen. Ließ sich sprüchlichkeit oder externe Wider- nicht wunderbar von der Süße und Fülle sprüchlichkeit.) des Nektars der einen Blüte auf den Nek- • Uniformität (Behandle gleiche Fälle tar der anderen Blüte schließen? War nicht auf gleiche Weise.) aller Nektar, den sie bisher gesammelt hat- • Kohärenz (Sorge dafür, dass deine ten, immer gleich süß gewesen? Also muss Verpflichtungen untereinander überein- aller Nektar gleich sein. Lieferten nicht bis- stimmen.) her alle Blüten bestimmter Farbe Nektar? • Simplizität (Vermeide überflüssige Also müssen alle Blüten, die eine bestimm- Komplikationen.) te Farbe haben, immer Nektar liefern. • Ökonomie (Sei effizient.) Die induktiven Wissenschaftsbienen schwan- Die einzelnen Kriterien lassen sich weiter gen den Zauberstab der Induktion. Er auffächern. Kohärenz heißt dann etwa, schuf Wissen. Und wer einmal Wissen 126 Aufklärung und Kritik 1/2007
hatte, der gab es nie mehr her. So ward Probleme werden nach Popper versuchs- der Bienenstock des Wissens prall gefüllt. weise, etwa in der eben vorgeschlagenen Da betrat der junge Ritter Karl die Wiese Form, gelöst. Wir schlagen Hypothesen und störte den induktiv-kumulativen Frie- und Theorien vor, die sich als falsch er- den. weisen können. Am besten ist es, wenn kühne Hypothesen vorgeschlagen werden, Was hat Popper gegen dieses Bild oder die nicht falsifiziert werden, die sich also Zerrbild vom Vorgehen innerhalb der Wis- nicht als falsch erweisen. Gute Theorien senschaft? Wie gehen Wissenschaftler vor, sind Theorien, die Versuchen der Falsifi- wie schreiten sie beim Finden und Lösen zierung erfolgreich standgehalten haben. von Problemen voran? Empirische Wissenschaft zeichnet sich in Zunächst betont Popper, dass Wissen- Poppers kritischem Rationalismus da- schaft mit Problemen beginnt und nicht durch aus, dass sie grundsätzlich bewäh- mit Beobachtungen. Denken Sie z.B. dar- rungspflichtig ist. Empirische Theorien an, wie wir erklären wollen, dass Koch- sind durch Erfahrung prüfbar, nichtempi- salz (ionisch aufgebautes Natriumchlorid, rische Theorien sollten immerhin kritisier- kurz NaCl) bei 800 °C schmilzt. Wir ha- bar sein. Theorien können an der Erfah- ben sicherlich irgendwann einmal experi- rung oder in einer realistischen Redewei- mentell beobachtet, dass Kochsalz bei se – an der Welt – scheitern. 800 °C schmilzt. Entscheidend ist, dass Die kritische Komponente des kritischen wir die Ergebnisse unserer Experimente Rationalismus kommt in der grundsätzli- im Lichte einer Hypothese (H) oder einer chen Fehlbarkeit allen Wissens über die Theorie (T) interpretieren, die etwa so lau- Welt, also auch allen empirischen Wis- tet: sens, zum Ausdruck. Das Beste, was wir H: Kochsalz besteht aus Ionen, die sich erreichen können, ist eine gut bestätigte, stark anziehen. Deshalb schmilzt Koch- aber deswegen noch nicht wahre Theo- salz erst bei relativen hoher Temperatur. rie. Außerdem können wir uns in einem T: Innerhalb eines kubischen (hexaedri- fortschreitenden Prozess neuer Probleme schen) Kristallgitters (mit drei jeweils senk- und versuchsweiser Problemlösung mit- recht aufeinander stehenden, und gleich tels bewährungspflichtiger Theorien der langen Kristallachsen) befinden sich in den Wahrheit schrittweise annähern. Ecken eines Würfels abwechselnd Na+ Die kritische Prüfung einer Theorie besteht und Cl--Ionen), die sich durch Coulomb- darin, dass wir sie dem härtestmöglichen Wechselwirkungen gemäß Test aussetzen und ihre Verfechter fragen, F= 1/4πε0 · Q1Q2/r2 unter welchen Umstände sie das Schei- anziehen. tern einer Theorien anerkennen würden. (Hierbei ist F = elektrostatische Anzie- Die kritische Komponente kommt auch hungskraft, ε0 = Dielektrizitätskonstante darin zum Ausdruck, dass wir nach Pop- des Vakuums, Q1 = Q2 = e = Elementar- per die falschen Theorien (fast alle Theo- ladung eines Elektrons und r = Abstand rien sind falsch!) möglichst schnell als der Punktladungen.) falsch erkennen und durch bessere Theo- rien ersetzen. Die Forderung nach Prüfbar- keit ist eine rationale oder rationalistische Aufklärung und Kritik 1/2007 127
Komponente. Wir können falsche Theo- Mit einem Augenzwinkern skizziert der rien schneller als falsche Theorien erken- britische Historiker Edward Hallett Carr nen, wenn sie prüfbar sind. Wir können die starke Rolle der Vernunft in Poppers leichter Bestätigungen für vorläufig wahre Sicht: Theorien finden, wenn sie prüfbar sind. Wissenschaft sollte in Poppers Sicht zwei- In Professor Poppers Ordnungsschema ist der fach rational sein. Status der Vernunft dem eines britischen Staats- beamten ziemlich ähnlich, der dazu qualifiziert ist, 1. Wissenschaftler sollten die rationali- die politischen Ziele der Regierung, die am Ru- stische Norm der empirischen Prüfung der ist, wahrzunehmen, und womöglich sogar befolgen. Wer sich immer wieder dem praktische Vorschläge zu ihrer Verbesserung zu Risiko des Scheiterns aussetzt und sich machen, nicht aber dazu ihre fundamentalen Vor- im Falle von Beobachtungen, die der aussetzungen oder letzten Ziele in Frage zu stel- Theorie widersprechen, nicht gegen Kri- len. tik immunisiert, der ist ein guter Wis- Nicht nur gegen Poppers rigide Vorstel- senschaftler. Ein Beispiel: Astrologen lung von „Vernunft“ bezog Feyerabend sagen ein Ereignis voraus, das nicht ein- Position. trifft. Betrachten sie ihre Theorie als widerlegt? Nein. Sie sagen, dass das 3. Warum richtet sich Feyerabend ge- vorausgesagte Ereignis deshalb nicht gen Popper? eingetreten ist, weil eine bestimmte, bis- Es sind zwei eng miteinander verbundene her wenig einflussreiche Sternenkon- Kritikpunkte, die ich nenne. Erstens spielt stellation einflussreicher geworden ist, Vernunft für Feyerabend eine andere Rolle so dass die Tendenz, aufgrund derer als im kritischen Rationalismus Poppers. das prognostizierte Ereignis eingetreten Zweitens funktioniert Wissenschaft nicht wäre, abgeschwächt wurde. so, wie Popper es nahe legt. Ich komme 2. Den Wissenschaftlern stehen bei der zum ersten Punkt. Wahl konkurrierender Theorien Krite- rien zur Auswahl, die eine rational be- 3.1 Vernunft: Verdrießliches Geschäft gründbare Entscheidung zwischen al- – Ist Feyerabend ein irrationaler Rela- ternativen Theorien ermöglichen. Dazu tivist? zählen interne und externe Konsistenz, Feministinnen, politische Aktivisten, Lin- Zirkelfreiheit, Erklärungswert, Tester- ke und solche, die sich dafür halten, Post- folg und Prüfbarkeit. moderne, Relativisten und andere Grup- pierungen berufen sich auf Feyerabend, Außerdem nennt Popper Kriterien für eine der angeblich die Illusionen monistischer komparative Theorienbewertung, anhand und monolithischer abendländischer Ra- derer wir entscheiden können, welche tionalität zerstörte. Theorien besser ist, noch bevor die In- Wir sollten vor reißerischen Schnell- stanz der Erfahrung zugunsten der Theo- sch(l)üssen zurückschrecken, die einer- rie entscheidet. Diese Kriterien sind: In- seits verständlich sind, weil Feyerabend formationsgehalt und Problemgehalt einer manchmal über sein Ziel hinaus schoss. Theorie. Andererseits unterschätzen solche Kurz- schlüsse Feyerabend. 128 Aufklärung und Kritik 1/2007
1. Feyerabend war weniger ein Relativist ab, weil falsifizierte Theorien aufgegeben als ein Pluralist. werden. 2. Feyerabend schätzte innerhalb eines Feyerabend gibt Beispiele für verschiede- wissenschaftshistorisch, wissen- ne Rationalitätstheorien und ordnet Pop- schaftstheoretisch und erkenntnistheo- per in die erste Kategorie ein. retisch begründeten Pluralismus Ver- A) Naiver Rationalismus (René Des- nunft recht hoch ein. cartes, Immanuel Kant, Rudolf Car- nap, Karl Raimund Popper, Imre La- Hören wir dazu eine Passage aus einem katos) Brief an Hans Albert vom 14.3.1970 B) Kontextabhängiger Rationalismus (Baum 1997, S. 182): (Marxismus; alle Denker, die bei jeder Gegen die Vernunft haben ich nichts, ebensowe- Gelegenheit den historischen Kontext nig, wie gegen Schweinebraten. Aber ich möch- einer Frage für ihre Beantwortung an te nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein den Mann bringen wollen) nichts anderes gibt als Schweinebraten; und ich möchte auch nicht ein Leben leben, in dem es C) Naiver Anarchismus (verschiede- tagaus tagein nichts anderes gibt als vernünftiges ne ekstatische Religionen und Formen Verhalten. Das wäre in der Tat ein elendes Le- des politischen Anarchismus) ben (siehe auch Plato, Philebus 21d-2). Das ist D) Feyerabends Position: Ein Vorläu- die erste Bemerkung zur Vernunft. Meine zweite fer war Kierkegaard („Abschließendes Bemerkung ist, dass die vernünftigen Bedin- unwissenschaftliches Nachwort“), gungen, die wir an unser Wissen stellen, oft bes- ser erfüllt werden, wenn wir der Unvernunft Niels Bohr, Friedrich Nietzsche. einen Eintritt in unser Verhalten erlauben. Genauer behaupten A bis D folgendes: An anderer Stelle (Feyerabend 1995, S. Zu A: Es ist rational (dem Willen der Göt- 54): ter entsprechend, anständig, notwendig, Eine einheitliche Meinung mag das Richtige sein geboten), auf bestimmte Weise zu han- für eine Kirche, für die eingeschüchterten oder deln: man soll Gott gehorchen, man soll gierigen Opfer eines (alten oder neuen) Mythos ehrlich sein, Widersprüche vermeiden, oder für die schwachen und willfährigen Unter- man soll keine ad-hoc-Hypothesen einfüh- tanen eines Tyrannen. Für die objektive Erkennt- nis brauchen wir viele Ideen. Und eine Metho- ren, vor der Heirat keinen Geschlechtsver- de, die die Vielfalt fördert, ist auch als einzige mit kehr üben, degenerierende Forschungs- einer humanistischen Auffassung vereinbar [im programme nicht finanziell unterstützen Original in kursiver Schrift; Anm. TS]. etc. Die Rationalität ist universell und un- bedingt und führt zu ebenso unbedingten 3.2 Feyerabend: Beispiele für Ratio- Regeln und Normen. nalitätstheorien Zu B: Die Rationalität ist nicht universell, Wissenschaft funktioniert nicht so, wie es aber es gibt universell gültige Bedingungs- sich Popper vorstellt. Wissenschaftler, sätze, die festlegen, wann etwas rational auch und gerade gute Wissenschaftler, ist und wann nicht. Für Feyerabend sind verhalten sich nicht so, wie Popper es die Regeln von B genauso begrenzt wie meint. Popper hat ein falsches Bild vom die Regeln von A. Feyerabend versucht, Fortschreiten der Wissenschaft. Theori- in „Against Method“ anhand vieler Beispie- en lösen andere Theorien nicht deshalb le zu zeigen, warum jede Regel begrenzt ist. Aufklärung und Kritik 1/2007 129
• Einsteins theoretische Behandlung Zu C: C reagiert nun auf diese Situation der Brownschen Molekularbewegung mit der Verwerfung aller Regeln. C kann zeigt, dass sich Evidenz gegen eine man in zwei Thesen formulieren: wohlbegründete Theorie gelegentlich a) Alle Regeln und Maßstäbe haben nur mit Hilfe einer anderen Theorie fin- ihre Grenzen. den lässt, die der wohlbegründeten b) Daher kann man ohne Regeln aus- Theorie widerspricht. Dadurch wird kommen. die vierte Newtonsche Regel einge- Viele Leser, so Feyerabend, haben ihn für schränkt. Die vierte Newtonsche Re- einen Vertreter von C gehalten. Aber Fey- gel lässt sich so zusammenfassen erabend zeigt nicht nur, welche Methoden (Feyerabend 1995, S. 42, Fußnote 4): versagt haben, sondern auch, welche Me- In der experimentellen Philosophie thoden genutzt haben. These b lehnt er (heute würden wir Physik sagen; Anm. ab. Es ist plausibel, dass alle Regeln Gren- TS) soll man nicht aufgrund von Hy- zen haben und deswegen bevorzugt Fey- pothesen gegen Aussagen argumentie- erabend kontextgebundene Regeln, die ren, die induktiv aus den Erscheinun- absolute Regeln zwar nicht ersetzen, aber gen abgeleitet sind, denn sonst könn- ergänzen (Feyerabend 1995, S. 37, 382): ten Induktionen, auf denen die gesamte Ich will Regeln und Maßstäbe weder eliminieren experimentelle Philosophie fußt, jeder- noch ihre Wertlosigkeit zeigen. Ganz im Gegen- teil – ich will unser Regelinventarium vermehren zeit durch Gegenhypothesen umge- – je mehr Regeln, desto besser – und schlage worfen werden. Ist eine induktiv ge- außerdem eine neue Verwendung für alle Regeln wonnenen Aussage noch nicht genau und Maßstäbe vor. Meine Position ist gekenn- genug, so ist sie nicht durch Hypo- zeichnet durch die Verwendung, nicht durch ei- thesen zu korrigieren, sondern durch nen besonderen Regelinhalt. vollständigere und genauere Naturbe- obachtung. Zu D: Im Gegensatz zu A und B fordert • Galileis Verteidigung der Kopernika- Feyerabend, dass jeder Maßstab, der ei- nischen Lehre (des heliozentrischen nen Handlungsverlauf leitet, selbst zu Systems) zeigt, dass größere Übergän- einem Teil des Handlungsablaufs ge- ge in der Ideengeschichte eine Verän- macht werde: Die Forschung selbst stellt derung von Maßstäben nach sich zie- fest, nach welchen Maßstäben sie abzu- hen, obwohl man in der Praxis auch laufen hat, und wann es nötig ist, diese die neuen Maßstäbe nicht verwendet. Maßstäbe zu ändern.1 In Poppers Sicht hätte Galilei der empi- Zum Beispiel enthält die Relativitätstheo- risch besser bestätigten geozentrischen rie von Einstein das Relativitätsprinzip, Theorie den Vorzug geben müssen. und dieses Prinzip gibt uns einen Maß- • Das Beispiel des Übergangs vom stab zur Beurteilung von Theorien: relati- vorrationalen Weltbild Homers zum vistisch invariante Theorien sind besser Weltbild der Vorsokratiker zeigt, dass als Theorien, die diese Eigenschaft nicht bei der Geburt des Rationalismus sei- haben. Der Maßstab kann revidiert wer- ne Maßstäbe verletzt wurden. Der Ra- den. Er wird revidiert, wenn man z.B. ent- tionalismus kam in die Welt, weil sich deckt, dass die Relativitätstheorie fatale seine Väter nicht an ihn hielten. Schwierigkeiten hat. Solche Schwierigkei- 130 Aufklärung und Kritik 1/2007
ten findet man durch Entwicklung nicht- nennen könnte. Er möchte auch keine relativistischer Theorien, das heißt durch Methodologie verwerfen und durch eine Forschung, die den Maßstab verletzt. andere ersetzen. 4. Anything goes? Skizze einer gar Was heißt dann der berühmt-berüchtigte nicht so anarchistischen Wissen- Schlachtruf „Anything goes“ oder „Mach’, schaftstheorie was du willst“? Hören wir Feyerabend Ich betrachte „Against Method. Outline selbst (Feyerabend 1995, S. 31f., 381f.) of an anarchistic theory of knowledge“ Wer sich dem reichen, von der Geschichte ge- (1974) deutsch: „Wider den Methoden- lieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine nied- zwang. Skizze einer anarchistischen Er- rigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht kenntnistheorie“ (1976, 51995) als Feyer- nach geistiger Klarheit, Präzision, ‘Objektivität’, abends wissenschaftstheoretisches Haupt- ‘Wahrheit’, der wird einsehen, dass es nur einen werk. Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen Ist Feyerabend ein Theoretiker? Minde- und Stadien der menschlichen Entwicklung ver- stens enthält das Buch einen theoretischen treten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes Teil. In seiner etwas ironischen Selbstsicht (Mach’, was du willst.) hört sich das freilich anders an (Feyer- Dieser Ausruf könnte, so Feyerabend, ei- abend 1995, S. 37): nem Wissenschaftler über die Lippen fah- Man habe stets vor Augen, dass meine Demon- ren, wenn er sich die Evidenz des zusam- strationen und meine Rhetorik keinerlei ‘tiefe mengetragenen Materials vor Augen führt. Überzeugung’ ausdrücken. Sie zeigen lediglich, An anderer Stelle sagt Feyerabend, das wie leicht es ist, die Menschen im Namen der Vernunft an der Nase herumzuführen. Ein Anar- Schlagwort „Anything goes“ sei keine chist [das ist die Rolle Feyerabends in „Against methodologische Regel, die er empfehle, Method“; Anm. TS], ähnelt einem Geheimagen- sondern „eine scherzhafte Beschreibung ten, der das Spiel der Vernunft mitspielt, um die der Situation meiner Gegner nach Ver- Autorität der Vernunft (der Wahrheit, der Ehr- gleich ihrer Regeln mit der wissenschaft- lichkeit, der Gerechtigkeit usw.) zu untergraben. lichen Praxis.“ Feyerabend zeigt anhand von Beispielen aus der Wissenschaftsgeschichte, dass 4.1 Feyerabends Thesen zur Methodo- alle Regeln und jede Methodologie ihre logie der Wissenschaften Grenzen haben. Er behautet nicht nur, dass Was heißt methodologischer Anarchis- man sich de facto nicht an Regeln und mus? Wir können Feyerabends Position Maßstäbe hielt, sondern auch, dass die in zwei Thesen zusammenfassen. Befolgung von bestimmten Maßstäben 1. Methodologie gibt es nicht, wenn und Regeln die Forschung zum Stillstand damit eine Liste einfacher Regeln ge- gebracht hätte. Feyerabend meint nicht, meint ist, die Wissenschaftler immer dass alle Regeln verworfen werden soll- befolgen sollten. Wissenschaftler sind ten, sondern nur, dass sich Wissenschaft- Opportunisten und tun das, was in ei- ler wie Opportunisten verhalten, die gele- ner konkreten Situation das beste ist. gentlich auch Regeln befolgen. Feyer- Konkrete Methodologien können an- abend ist zu sehr Rationalist, als dass man hand wissenschaftshistorischer Fall- ihn einen Anarchisten der harten Bauart beispiele durchaus rekonstruiert wer- Aufklärung und Kritik 1/2007 131
den. Eine Bewertung einer Regel oder der Erfahrung überprüft) gibt es natürlich metho- Methodologie erfolgt erst ex post, also dologische Sätze, aber diese stehen mit allge- meinen Hypothesen der Wissenschaft auf glei- im Nachhinein. cher Stufe. Was lernt man am besten in der 2. Anarchistisch ist Feyerabends Me- Wissenschaftstheorie? Man sieht sich am besten thodologie nicht deshalb, weil sie kei- die verschiedenen Schachzüge an, die in verschie- ne Regeln anerkennt, sondern weil sie denen Situationen zum Erfolg geführt haben, und einen Methodenpluralismus fordert übt die eigene Intuition, indem man sich an Hand und fördert, in dem haufenweise Re- neuer wissenschaftlicher Probleme überlegt, geln missachtet werden, die kritische welche Methode wohl hier die geeignetste wäre.2 Rationalisten und andere Wissen- Hans Albert meint, dass Feyerabends schaftstheoretiker anerkennen. Methodologie kein Problem löse. Wenn Wissenschaftler das tun, was sie eben tun, Zur Verdeutlichung dieser Thesen zitiere dann können wir keine Methodologie dar- ich etwas länger aus einem Brief Feyer- aus ableiten. Wissenschaftler handeln so, abends vom 20.12. 1969 an Hans Albert wie es jeweils angemessen ist. Wir kön- (Baum 1997, S. 144f.; Orthographie un- nen kaum Regelmäßigkeiten in ihrem Ver- verändert; Anm. TS): halten erkennen und normative Teile der Anarchismus heißt […] nicht: überhaupt keine Wissenschaftstheorie (z.B. Wie sollten Methode, sondern alle Methoden, nur unter ver- schiedenen Umständen verschiedene Methoden Wissenschaftler vorgehen, wenn sie gute angewendet (einmal ist es besser, dogmatisch zu Wissenschaft treiben wollen?) können sein; dann ist es wieder besser, auf Falsifikatio- durch Wissenschaftsgeschichte ersetzt nen zu achten; dann ist es wieder besser eine ad werden. Feyerabend kontert im oben be- hoc Hypothese nach der anderen zu verwenden; reits zitierten Brief (Baum 1997, S. 145f.): dann ist es wieder besser zu schwindeln, und so weiter und so fort). Und wenn Du mich fragst, ‘Meine’ (sie ist überhaupt nicht meine) ‘anarchi- ob es allgemeine Regeln gibt, die es uns gestat- stische Lösung ist überhaupt keine’, sagst Du. ten zu entscheiden, wann welche Methode an- Lösung wovon? Wenn das Problem ist: Wie ver- gewendet werden muss, dann sage ich nein, denn bessert man unser Wissen? Dann ist meine Ant- die Richtigkeit eines Vorgehens stellt sich oft erst wort: Indem man soviel verschiedene Methoden hinterher heraus, 300 Jahre vielleicht nachdem lernt wie nur möglich, Schwindel und Lüge ein- man begonnen hat zu tun was man nach ‘guter geschlossen, und indem man sich die Fähigkeit Methode’ nicht hätte tun dürfen. Gerade der Um- aneignet, schnell von der einen Methode auf die stand, dass die Brauchbarkeit, die Rationalität andere überzugehen, wenn man die Situation für gewisser Verfahrensweisen erst aufgrund von In- angemessen hält. Und ein solches Vorgehen, eine formationen entschieden werden kann, die Jahr- solche Elastizität, eine solche Inkonsistenz ist nö- hunderte später kommt, die aber nicht gekom- tig, weil die Welt in der wir leben und die Men- men wäre, hätte man nicht die in Frage ste- schen, mit denen zusammen wir Wissenschaft hende Methode verwendet, zeigt, dass es ein betreiben, sehr eigenwillig sind, sie ist wie 50 elender Simplizismus ist, wenn man versucht, verschiedene Boxer mit verschiedenen Boxstilen, gewisse einfache Regeln (sei kritisch! etc.) zur und es ist aussichtslos auch nur einen Schritt weiter Grundlage aller Verfahrensweisen zu machen. zu kommen, wenn man sich auf eine gewisse Methodologie ist also in einem Sinn nicht exi- Methode festlegt […] Diese Antwort, glaube ich, stent (ebenso Erkenntnistheorie). In einem an- ist die einzig richtige auf die gestellte Frage – aber deren Sinne, wo man sich vorläufiger Hypothe- natürlich, sie führt zu keiner Erkenntnistheorie, sen bedient (etwa der Hypothese, dass man der sie führt zu einer Reihe von Faustregeln. ‘Fast Wahrheit näher kommt, wenn man Theorien an alle deine konkreten Probleme finde ich interes- 132 Aufklärung und Kritik 1/2007
sant’, sagst Du – aber das sind die einzigen Pro- dersprechen. Ein Beispiel bietet die bleme, die es gibt (sogar in der Mathematik!) Entwicklung der Kopernikanischen und man kann nur hoffen, dass man geistig rege Theorie. Wir betrachten dazu Schwie- genug bleibt, neue konkrete Probleme richtig anzupacken, und zu fördern. rigkeiten der Kopernikanischen Theo- Probleme spielen im Wissenschaftspro- rie, d.h. eines heliozentrischen Welt- zess nicht die Rolle, die Popper ihnen zu- bildes (Feyerabend 1995, S. 215). […] [W]ie wir gesehen haben, gab es drei große misst. Hören wir dazu Feyerabend (1995, Schwierigkeiten für die Lehre von der Bewe- S. 356): gung der Erde. Die erste Schwierigkeit war dy- Die wissenschaftliche Forschung, sagt Popper, namischer Natur [es schien so, als ruhe die Erde, beginnt mit einem Problem und schreitet fort zu ich komme auf das entsprechende Argument, seiner Lösung. Diese Kennzeichnung berücksich- das Turmargument zurück; Anm. TS] […] Ga- tigt nicht, dass Probleme falsch formuliert sein lilei versuchte diese Schwierigkeit durch ein können, dass man hinter Eigenschaften von Din- neues Trägheitsprinzip zu überwinden, für das gen her sein kann, die es nach späteren Auffas- er keine empirischen Argumente, sondern nur sungen gar nicht gibt. Solche Probleme werden Plausibilitätsargumente anführte. Die Schwie- nicht gelöst, sie werden aufgelöst und aus dem rigkeit war nur scheinbar überwunden: alle Er- Bereich der sinnvollen Forschung ausgeschieden. fahrungen, auf denen die Aristotelische Lehre Beispiele sind das Problem der absoluten Ge- beruhte, zeigten, dass die Umlaufgeschwindig- schwindigkeit der Erde [oder] das Problem der keit der Erde, falls es sie gibt, langsam abneh- Bahn von Elektronen in einem Interferenzmuster men müsse […] Die dritte Schwierigkeit schließ- […] lich war optischer Natur, und Galilei hat sie selbst erwähnt: die tatsächlichen Helligkeits- Es ist wenig verwunderlich, dass Feyer- änderungen der Venus und des Mars weichen abend (1995, S. 388) auch in der Frage, weit von den Helligkeitsänderungen ab, die ob und wie Wissenschaftler ihre Proble- beide Planeten nach der Kopernikanischen Lehre zeigen sollten. me lösen, zu einer anderen Antwort als Diesen Schwierigkeiten standen keine Entdek- Popper gelangt: kungen Galileis gegenüber, die das Koperni- Die Wissenschaftler lösen Probleme nicht dar- kanische System gegenüber dem Ptolemäischen um, weil sie eine Wünschelrute besitzen – die System auszeichneten, wenn wir etwa Er- Methodologie oder eine Theorie der Rationali- klärungskraft oder Einfachheit als Kriterien tät –, sondern weil sie sich mit einem Problem wählen. lange Zeit beschäftigt haben, weil sie die Ver- hältnisse ziemlich gut kennen, weil sie nicht gera- 2. Die Forderung Poppers, eine (neue) de dumm sind (was heutzutage, wo fast jeder Theorie müsse zu anerkannten Theo- Wissenschaftler werden kann, freilich schon recht zweifelhaft ist), und weil die Exzesse einer wis- rien konsistent sein, schützt die ältere senschaftlichen Schule fast immer durch die Ex- Theorie, nicht die bessere Theorie. Hy- zesse einer anderen ausgeglichen werden. (Au- pothesen, die gut bestätigten Theori- ßerdem lösen die Wissenschaftler nur selten ihre en widersprechen, können auf keinem Probleme, sie machen eine Menge Fehler, und anderen Weg gewonnen werden als viele ihrer Lösungen sind völlig unbrauchbar.) durch Verletzung der Konsistenz-Be- dingung. Als ein Beispiel wählt Feyer- Ich fasse Feyerabends Popper-Kritik in abend den Widerspruch zwischen folgenden fünf Punkten zusammen: Newtons Theorie und dem Galilei- 1. Wir können Wissenschaft vorantrei- schen Fallgesetz. Gemäß Galilei ist die ben, wenn wir Hypothesen verwen- Beschleunigung beim freien Fall eine den, die gut bestätigten Theorien wi- Aufklärung und Kritik 1/2007 133
Konstante (s = ½ a · t2; s = Weg, a = von der Erdbewegung, die dem ein- Beschleunigung, beim freien Fall ist a flussreichen naturphilosophischen gleich der Erdbeschleunigung), wäh- Konzept des Aristoteles widersprach rend die Beschleunigung nach New- und die von Ptolemäus als „unglaub- ton mit steigender Entfernung vom lich lächerlich“ (Feyerabend 1995, S. Erdmittelpunkt, wenn auch nur un- 57, Fußnote 4) bezeichnet wird. merklich, abnimmt: 4. Keine Theorie stimmt jemals mit al- Fatt = G · (m1 · m2)/r2, mit G = 6,67 · len Fakten in dem Gebiet überein, in 10-11 Nm2/kg2 dem sie etwas erklären möchte. Streng mit m1, m2 = Massen; r = Abstand der genommen sind dann alle Theorien fal- Massenmittelpunkte; G = Gravita- sifiziert. Das ist nicht unbedingt zum tionskonstante. Nachteil der Theorie. Eine Tatsache kann erst im Lichte einer bestimmten Feyerabend schlägt in seinem Prü- Theorie zu einer Tatsache werden. fungsmodell wissenschaftlicher Theo- Eine Lücke oder ein Widerspruch zwi- rien vor, dass wir mehrere Theorien, schen Tatsachen und dem, was die die einander widersprechen und die mit Theorie behauptet, kann Fortschritt dem empirischen Material übereinstim- fördern. Wir können z.B. erkennen, men, testen. Wenn man Empirist ist welche Prinzipien implizit unserer Vor- und sich anschaut, wie Wissenschaft- stellung von „Beobachtungssätzen“ zu ler vorgehen, dann könnte man sagen: Grunde liegen. Ein Beispiel: Das Turm- Macht den empirischen Gehalt unse- Argument, das die Aristoteliker als Be- rer Erkenntnisse möglichst groß. Um leg gegen die Erdbewegung verwen- den empirischen Gehalt zu vergrößern, det haben, geht von natürlichen Inter- brauchen wir möglichst viele relevan- pretationen aus, die eng mit tatsächli- te Tatsachen und wir brauchen alter- chen Beobachtungen übereinstimmen. native Theorien, um die Tatsachen zu Wenn, so das Argument, ein Stein von interpretieren. Da die Konsistenzbe- der Spitze eines Turms fallen gelas- dingung Alternativen ausschaltet, soll- sen wird, und sich die Erde während ten wir sie aufgeben. des Fluges dreht, dann sollte der Stein Indem sie wertvolle Prüfungen ausschließt, ver- in einiger Entfernung vom Fundament ringert sie den empirischen Gehalt der Theori- des Turmes zu liegen kommen und en, die bleiben dürfen (und das sind, wie ich nicht direkt am Fundament, wenn man oben ausführte, gewöhnlich die Theorien, die zuerst da waren); insbesondere verringert sie kein Trägheitsprinzip (der Kreisbewe- die Zahl der Tatsachen, die ihre Grenzen auf- gung) annimmt. Galilei identifizierte die zeigen könnten. (Feyerabend 1995, S. 47) natürlichen Interpretationen und ersetz- te sie durch andere. Dabei verfuhr er 3. Jede noch so alte oder absurde Idee nicht wie ein guter Popperianer, weil kann zu unserem Erkenntnisfortschritt er mögliche Falsifikationen nicht in Be- beitragen. Die ganze Ideengeschichte tracht zog. Falsifikationen spielen eine kann dazu verwendet werden, jede ein- geringere Rolle, als Popper behaup- zelne Theorie zu verbessern. Ein Bei- tet. Hören wir dazu Feyerabend (1995, spiel liefert die Pythagoräische Idee S. 74, Fußnote 10): 134 Aufklärung und Kritik 1/2007
So schreibt Feigl: ‘Wenn sich Einstein bei der en fast völlig ad hoc sind und gar nicht anders Aufstellung […] seiner Relativitätstheorie auf sein können. Und sie werden nur stückweise Schönheit, Harmonie, Symmetrie, Eleganz verändert, indem man sie allmählich ausdehnt, bis stützte, so ist doch nicht zu vergessen, dass er sie sich auf Verhältnisse beziehen, an die man auch sagte (in seiner Vorlesung 1920 in Prag anfänglich gar nicht gedacht wurde. (Feyerabend war ich anwesend): ‘Falls die Beobachtungen 1995, S. 120) der Rotverschiebung in den Spektren dichter Sterne nicht quantitativ mit den Grundsätzen der Ein Beispiel für eine ad-hoc-Hypothe- Allgemeinen Relativitätstheorie übereinstimmen, se liefert Galileis Verteidigung des dann ist meine Theorie Staub und Asche.’ Pop- per schreibt: ‘Einstein erklärte, […] wenn die Trägheitsprinzips (Feyerabend 1995, Rotverschiebung bei weißen Zwergen nicht S. 116f.) in dem „Dialog über die bei- beobachtet würde, dann wäre seine Allgemei- den hauptsächlichen Weltsysteme“. ne Relativitätstheorie widerlegt.’ Galileis Stütze für das Prinzip der Trägheit der Kreisbewegung ist von genau derselben Art. Er Popper gibt keine Quelle für seine führt das Prinzip wiederum nicht unter Berufung auf Experimente oder unabhängige Beobachtun- Geschichte an. Wahrscheinlich hat er gen ein, sondern auf das, was jedermann angeb- sie von Feigl. Doch Feigls Geschich- lich schon weiß. te und seine Wiederholung durch Pop- „Simplicio: Du hast also nicht hundert Prüfungen per steht im Gegensatz zu vielen Ge- veranstaltet, oder auch nur eine einzige? Und legenheiten, wo Einstein die ‘Vernunft doch behauptest du so unbedenklich, es sei ge- der Sache’ über die ‘Verifikation durch wiss? … Salviati: Ich bin auch ohne Experimente sicher, kleine Effekte’ stellte, und die nur in dass der Effekt so eintritt, wie ich es dir sage, beiläufigen Bemerkungen während ei- denn er muss so eintreten; und ich möchte hinzu- ner Vorlesung, sondern schriftlich. fügen, dass du selbst ebenfalls weist, dass gar 5. Ad-hoc-Hypothesen sind sinnvoll. nichts anderes geschehen kann, gleichgültig, wie Ad-hoc-Hypothesen sind Hypothesen, du auch vorgeben magst, es nicht zu wissen […] die nicht unabhängig vom Kontext aber ich habe solches Talent, die Gedanken der Menschen aus dem Dunkel hervorzulocken, dass überprüft werden können, in dem sie ich dich dazu bringen werde, es dir selbst zum aufgestellt worden sind. Trotz zuzugeben. (Galilei 1953, S. 147; Anm. TS) Gewöhnlich stellt man sich vor, dass sich gute Wissenschaftler weigern, ad-hoc-Hypothesen zu Ein vorläufiges Fazit könnte so aussehen verwenden, und dass sie damit völlig recht ha- (Feyerabend 1995, S. 369): ben. Neue Ideen, so glaubt man, gehen weit über Keine der Methoden, die Carnap, Hempel, Na- die vorhandenen Daten hinaus und müssen das gel, Popper oder selbst Lakatos heranziehen auch tun, wenn sie einen Wert haben sollen. Ad- möchten, um wissenschaftliche Veränderungen hoc-Hypothesen werden sich auf jeden Fall letz- rational zu machen, lässt sich anwenden, und die ten Endes einschleichen, aber man sollte ihnen einzige Methode, die Widerlegung, wird stark widerstehen und sie sich vom Leibe halten. Das geschwächt. Es bleiben ästhetische Urteile, ist die übliche Auffassung, wie sie sich z.B. in Geschmacksurteile, metaphysische Vorurteile, den Schriften K. R. Poppers niederschlägt. Sie religiöse Bedürfnisse, kurz: es bleiben unsere sub- ist so alt wie das Unbehagen an okkulten Quali- jektiven Wünsche. täten. Im Gegensatz dazu hat Lakatos darauf verwiesen, dass der ad-hoc-Charakter weder Sehen wir uns jetzt an, was Feyerabend etwas Verachtenswürdiges noch dem System der (1995, S. 380) zur Methodologie beitra- Wissenschaft fremd ist. Er betont, dass neue Ide- gen kann. Aufklärung und Kritik 1/2007 135
Damit haben wir eine einfache Antwort auf ver- Handlungen klar wird, die nötig sind, um die Frei- schiedene Kritiker, die mich zur Rechenschaft heit zu schaffen. Die Schaffung eines Gegen- ziehen, weil ich gegen Wissenschaftstheorien bin stands und die Schaffung und das vollständige und doch eine Wissenschaftstheorie entwickle, Verständnis einer richtigen Vorstellung von dem oder die mir vorhalten dass ich ‘keine positive Gegenstand gehören sehr oft zu ein und dem- Bestimmung dessen gebe, was gute Wissenschaft selben unteilbaren Vorgang und lassen sich nicht ist’: wenn man eine Sammlung von Faustregeln trennen, ohne diesen zu unterbrechen. eine ‘Theorie’ nennen will, gut, dann habe ich eben eine Theorie – aber sie unterscheidet sich Nach dieser weiteren anti-popperianischen sehr von den antiseptischen Traumschlössern von Äußerung möchte ich abschließend Pop- Kant und Hegel und den Hundehütten Carnaps pers und Feyerabends Positionen auf der und Poppers. nächsten Seite einander gegenüberstellen (siehe S. 120). Allerdings hat Feyerabend (1995, S. 382 und S. 37) „nicht die Absicht, eine Men- Anmerkungen: ge allgemeiner Regeln durch eine andere 1 Hier gibt es eine interessante Übereinstimmung mit Menge zu ersetzen; meine Absicht ist viel- Willard van Orman Quines Auffassungen. Der Slo- mehr zu überzeugen, dass alle Methodo- gan von Quine „Science itself teaches us“ erinnert logien, auch die einleuchtendsten, ihre stark an die pragmatische Sicht Feyerabends, nach Grenzen haben […]“ Als ein Verdienst der die Wissenschaften selbst vorgeben, welchen Maßstäben sie folgen. Obwohl man Feyerabend Feyerabend könnten wir seine Ansicht ver- kaum als Naturalisten bezeichnen wird, ähnelt seine stehen, dass Wissenschaft wesentlich ein Auffassung der Quineschen Grundidee des Natu- soziales Unternehmen ist, in dem es be- ralismus. Danach ist Naturalismus durch zwei Merk- stenfalls relativ vernünftig zugeht (Feyer- male charakterisiert: Erstens ist Naturalismus „die abend 1995, S. 24f.)3: Erkenntnis, dass die Realität im Rahmen der Wis- Dass Interessen, Macht, Propaganda und Ge- senschaft selbst identifiziert und beschrieben wer- hirnwäschemethoden in der Entwicklung der Er- den muss, nicht in einer vorgängigen Philosophie” kenntnis und der Wissenschaft eine viel größere (Quine 1985, S. 35). Zweitens bedeutet Naturalis- Rolle spielen, als allgemein angenommen wird, mus den „Verzicht auf das Ziel einer der Naturwis- das lässt sich auch an einer Analyse des Verhält- senschaft vorgängigen Ersten Philosophie” (Quine nisses von Denken und Handeln erkennen. Es 1985, S. 89). 2 wird oft für selbstverständlich gehalten, dass ein Auch das erinnert stark an Quines Sicht (etwa klares und deutliches Verständnis neuer Ideen Quine 1995, S. 27). Zur Ähnlichkeit der Quineschen ihrer Formulierung und Institutionalisierung vor- Methodologie mit den Auffassungen Poppers siehe angeht und vorangehen sollte. (Eine Untersu- auch Sukopp 2005, S. 133ff. 3 chung beginnt mit einem Problem, sagt Popper.) Siehe dazu auch die Fallstudien in der richtungs- Zuerst hat man einen Gedanken oder ein Pro- weisenden Arbeit von Donovan, Laudan und Lau- blem, dann handelt man, d.h. redet, baut oder dan (ed.) (1992), die Feyerabends Popper-Kritik zerstört. Doch so entwickeln sich gewiss nicht teilweise bestätigen. kleine Kinder. Sie gebrauchen Wörter, verbin- den sie, spielen mit ihnen, bis sie eine Bedeutung Literatur: erfassen, die ihnen bisher unzugänglich war. Und Baum, Wilhelm (Hrsg.) (1997): Paul die anfängliche spielerische Tätigkeit ist eine Feyerabend – Hans Albert. Briefwechsel. wesentliche Voraussetzung für das schließliche Frankfurt am Main: Fischer. Verstehen. Es gibt keinen Grund, warum dieser Donovan, Arthur; Laudan, Larry, Laudan, Mechanismus beim Erwachsenen nicht mehr ar- beiten sollte. Es ist beispielsweise zu erwarten, Rachel (ed.) (1992): Scrutinizing Science. dass die Idee der Freiheit erst im Verlauf jener Empirical Studies of Scientific Change. 136 Aufklärung und Kritik 1/2007
Popper versus Feyerabend: Ein Überblick Aufklärung und Kritik 1/2007 137
Baltimore, London: John Hopkins Paper- Quine, Willard Van Orman (1985): Theo- back Edition. rien und Dinge (übers. von Joachim Schul- Döring, Eberhard (1998): Paul K. Feyer- te), Frankfurt am Main: Suhrkamp. abend zur Einführung. Hamburg: Junius, Quine, Willard Van Orman (1995): Unter- 1998. wegs zur Wahrheit: konzise Einleitung in Duerr, Hans-Peter (Hrsg.) (Bd. 1:1980, die theoretische Philosophie, Paderborn Bd. 2: 1981): Versuchungen. Aufsätze zur [u. a.]: Schöningh. Philosophie Paul Feyerabends, Frankfurt Rescher, Nicholas (1993): Rationalität. am Main: Suhrkamp, 2 Bände. Eine philosophische Untersuchung über Duerr, Hans-Peter (1995): Paul Feyer- das Wesen und die Begründung von Ver- abend: Briefe an einen Freund. Frankfurt: nunft, Würzburg: Königshausen & Neu- Suhrkamp. mann. Feyerabend, Paul K. (51995): Against Schlick, Moritz (1930): Die Wende der Method. Outline of an anarchistic theory Philosophie. In: Erkenntnis 1, S. 4-11. of knowledge (deutsch: Wider den Metho- Sukopp, Thomas (2005b): Against Quine? denzwang. Skizze einer anarchistischen Probleme eines Naturalisten: Wahrheit, Erkenntnistheorie), Frankfurt am Main: Normativität und die Rolle der Evolution. Suhrkamp. In: prima philosophia 18, 2, S. 133-148. Galilei, Galileo (1953): Dialog über die Der Autor ist wissenschaftlicher Mitar- beiden hauptsächlichen Weltsysteme beiter am Seminar für Philosophie der (engl.), Berkeley. TU Braunschweig. Seine Schwerpunkte Hoyningen-Huene, Paul (1997): Paul K. sind Philosophie der Menschenrechte, Feyerabend. In: Journal for General Philo- (naturalistische) Ethik, Naturalismus- sophy of Science, 28. Jg., S. 1 - 18. Antinaturalismus-Debatten in Erkennt- Hoyningen-Huene, Paul (2000): Geht nis- und Wissenschaftstheorie. wirklich alles? Das missverstandene „Any- thing goes“ Paul Feyerabends. In: Neue Veröffentlichungen (Auswahl): Zürcher Zeitung Nr. 216, 16./17.9.2000, – Menschenrechte: Anspruch und Wirk- S. 86. (http://www.unics.uni-hannover.de/ lichkeit. Menschenwürde, Naturrecht zeww/117_Hoyningen_NZZ. pdf). und die Natur des Menschen, Marburg: Hoyningen-Huene, Paul (2002): Paul Tectum 2003. Feyerabend – ein postmoderner Philo- – Naturalismus – Kritik und Verteidi- soph? Ein Portrait. [Paul Feyerabend – a gung erkenntnistheoretischer Positionen, postmodern philosopher? A portrait.]. In: Frankfurt am Main [u.a.]: Ontos 2006. Information Philosophie. März 2002, S. – Radikaler Naturalismus : Beiträge zu 30-37 (http://www.information-philosophie. Willard Van Orman Quines Erkenntnis- de/philosophie/feyerabendportrait.html). theorie, Berlin: Logos 2006. Popper, Karl Raimund (102001): Logik der – How successful is naturalism? Talking Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck. about achievements beyond Theism and Preston, John (2006): Paul Feyerabend: Scientism. In: G. Gasser (ed.): How Artikel aus der „Stanford Encyclopedia successful is naturalism? Frankfurt am of Philosophy“ (http://plato.stanford.edu/ Main [u.a.]: Ontos 2007. entries/feyerabend/; Version vom 3.4.2006). Internet: http://www.thomas-sukopp.de 138 Aufklärung und Kritik 1/2007
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