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Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Herausgegeben von Michael Stollt und Sascha Meinert Übersetzung aus dem Englischen: Iris Nau und Birgit Kaut Ein Projekt des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) in Zusammenarbeit mit dem Institut für prospektive Analysen e.V. (IPA)
Inhalt 8 Einleitung 11 Arbeitsbeziehungen 2030 — Vier Szenarien 13 Kurzfassungen der Szenarien 23 Geschichten 33 Szenarien 63 Scenario-building 65 Kurze Einführung in die Entwicklung von Szenarien 67 Der Prozess 70 Erste Anregungen zur Arbeit mit den Szenarien 72 Projektteam 72 Kontakt
Einleitung zur Neige gehende fossile Brennstoffe und andere nicht erneuerbare Ressourcen, die globale Erwärmung, den Verlust der Arten- vielfalt oder die zunehmende Trinkwasser- knappheit in vielen Regionen. Das Entwickeln von Szenarien hat sich in Situationen großer Unsicherheit und Brüche als besonders hilf- reich erwiesen. Anstatt diese Ungewissheiten auszublenden, arbeiten Szenarien sie heraus und bieten einen Rahmen, sie mit anderen gemeinsam zu erforschen. In diesem Sinne verfolgt das Projekt Wor- ker Participation 2030 ein dreifaches Ziel: 1. Sich gemeinsam über langfristige Perspek- tiven und sich verändernde Kontexte für verschiedene Formen der Arbeitnehmerbe- teiligung in Europa auszutauschen. 2. Mehrere Szenarien alternativer Zukünf- te zu entwickeln, in denen die Strukturen und Akteure der Arbeitnehmerbeteiligung möglicherweise agieren werden. 3. Eine Kultur des langfristigen Denkens zu stärken, unsere „Erinnerungen an die Zu- kunft“ zu erweitern und mögliche Zukunfts- strategien für Arbeitnehmerbeteiligung in Liebe Leserin, lieber Leser, Europa aufzuzeigen und zu reflektieren. In dieser Publikation unternehmen wir einen Die hier vorgestellten Szenarien wurden von mutigen Versuch: wir werfen einen Blick in einer Gruppe von Menschen entwickelt, die die Zukunft, und zwar in das Jahr 2030. Ist sich mit Arbeitsbeziehungen befassen, aus es wirklich möglich vorherzusagen, was 2030 verschiedenen Ländern kommen und aus un- sein wird? Sicherlich nicht, aber das ist auch terschiedlichen Perspektiven (Gewerkschaf- nicht das Ziel unserer Szenarien. Wir geben ter, Betriebsräte, Personalverantwortliche, Ihnen vielmehr eine „Landkarte der Zukunft“ Wissenschaftler) auf das Thema schauen. an die Hand, wie die Zukunft aussehen könn- Der Begriff „Arbeitnehmerbeteiligung“ te. Daher gibt es zwangsläufig immer mehr ist hier in einem breiteren Sinne zu verste- als nur ein Szenario. Das Entwickeln von hen und umfasst die verschiedenen Insti- Szenarien hilft uns, Alternativen zu entwer- tutionen und Organisationen, Ebenen und fen, auf mehrere unterschiedliche Zukünfte Mechanismen, durch die Arbeitnehmer und vorbereitet zu sein und uns mit den Risiken ihre Gewerkschaften Einfluss auf die Ar- und Chancen zu befassen, die vor uns liegen. beitsbedingungen und die Entscheidungs- So wie ein Kompass uns dabei hilft, uns im prozesse im Unternehmen nehmen können. Raum zu orientieren, so helfen Szenarien, uns Dieser breite Ansatz berücksichtigt die gro- in der Zeit zurechtzufinden. ßen Unterschiede zwischen den nationalen Wir leben in einer Zeit schneller Verände- Arbeitsbeziehungssystemen im Hinblick auf rungen, in der die einzige Beständigkeit der Gewerkschaften, betriebliche Institutionen ständige Wandel zu sein scheint. Wir wissen der Arbeitnehmervertretung, Tarifverhand- nicht, wie die Zukunft sein wird; wir wissen lungen oder Arbeitnehmervertretung in Auf- nur, dass sie anders aussehen wird als die sichtsgremien. Ein wesentlicher Unterschied Gegenwart. Gleichzeitig steht die Menschheit zwischen den Mitgliedstaaten ist z.B., ob die vor erheblichen Herausforderungen mit zum Interessenvertretung auf betrieblicher Ebene Teil besorgniserregenden Aussichten, denken eingleisig (d.h. nur über die Gewerkschaf- wir nur an die Finanz- und Wirtschaftskrise, ten) oder zweigleisig über Betriebsräte und 8 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Einleitung
Gewerkschaften erfolgt.* Wir wollten, dass jedes der vier Szenarien möglich erscheinen die Szenarien für viele Länder funktionieren lassen. Gleichzeitig ist keines von ihnen un- und Raum zur Anpassung an spezifische nati- vermeidbar. Das ist eine Schlüsselbotschaft onale Rahmenbedingungen lassen. der Szenarien: wir haben es in der Hand, die Die Gewerkschaften stehen heute vor Zukunft zu gestalten. Szenarien sind ein Mit- enormen Herausforderungen. Während Un- tel zur Führung eines konstruktiven Dialogs ternehmen häufig auf europäischer oder so- über Alternativen, Ungewissheiten und die gar weltweiter Ebene tätig sind, müssen die Frage, in welcher Zukunft wir leben wollen. Gewerkschaften, trotz erheblicher Fortschrit- Jedes der vier Szenarien wird auf drei Arten te in der Zusammenarbeit auf europäischer dargestellt, die einen unterschiedlichen Zu- Ebene in jüngster Zeit, weitgehend auf natio gang ermöglichen: Szenario-Zusammenfas- nale Instrumente der Interessenvertretung sungen, Langfassungen und Kurzgeschich- der Arbeitnehmer zurückgreifen. Gleichzei- ten, die eine persönliche Perspektive auf die tig nimmt der gewerkschaftliche Organisa verschiedenen Zukünfte bieten. Am Ende der tionsgrad in vielen Mitgliedstaaten weiter ab, Publikation finden sich einige Anregungen, nicht zuletzt aufgrund von Veränderungen in wie man mit den Szenarien in seinem eigenen der Arbeitsgesellschaft, sei es durch den ra- Umfeld weiterarbeiten kann. santen Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse, Wir möchten allen danken, die sich die den Arbeitsplatzabbau in traditionell stark Zeit für diese Erkundung der Zukunft ge- gewerkschaftlich organisierten Branchen nommen haben (s. Projektteam, S. 72). Wir oder Arbeitslosigkeit. Heute müssen sich mussten dazu sicheres Terrain verlassen und Gewerkschaften sehr grundsätzliche Fragen etwas machen, was wir normalerweise nicht stellen: Wen vertreten wir? Wie finanzieren tun: über mögliche langfristige Perspektiven wir unsere Dienstleistungen? Wie weit wollen nachdenken und Veränderungen antizipie- wir in Entscheidungen einbezogen werden? ren. Es war eine bereichernde Erfahrung, in Müssen wir konfrontativer werden oder uns dieser engagierten, aufgeschlossenen, ver- kooperativ verhalten? Welche Hebel haben trauensvollen und kreativen Atmosphäre zu- wir? Diese Fragen sind nicht neu, aber zahl- sammenzuarbeiten. Diese Publikation ist nur reiche Entwicklungen weisen darauf hin, dass ein Auszug all der Diskussionen und Gedan- die Gewerkschaften neue Antworten finden ken, die im Rahmen dieses Projektes entwi- müssen. Gleichzeitig ist die Arbeitnehmer- ckelt wurden. Besonderer Dank gebührt den beteiligung nicht unabhängig von den allge- Mitgliedern unserer „Szenario-Kerngruppe“, meinen gesellschaftlichen Entwicklungen. mit denen wir uns mehrfach zur Feinabstim- Sie ist sowohl Ausdruck des Willens der Ge- mung der Roh-Szenarien zusammengesetzt sellschaft, die Bürger am Arbeitsplatz einzu- haben. Des Weiteren danken wir Karl-Ludwig beziehen, als auch ein wichtiges Instrument Kunze und Stephanie Böhm, die die schwieri- zur Gestaltung einer sozialen und demokrati- ge Aufgabe übernommen haben, die Dynamik schen Gesellschaft. der verschiedenen Szenarien zu illustrieren. In dieser Publikation werden vier Zu- Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim kunftsszenarien vorgestellt. Sie umfassen Lesen – und freuen uns auf Ihr Feedback! allgemeine Entwicklungen auf der Makroe- bene ebenso wie Strategien und Handlungen Michael Stollt und Sascha Meinert von Menschen und Organisationen auf der April 2010 Mikro ebene, in erster Linie von Akteuren * Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Systeme der der Arbeitnehmerbeteiligung. Die Szenarien Arbeitsbeziehungen in Europa finden Sie unter http://www. sollen aber weder vorhersagen, wie Gewerk- worker-participation.eu/National-Industrial-Relations schaften in einem sich verändernden Umfeld (re)agieren werden, noch ihnen vorgeben, was sie zu tun bzw. zu lassen haben. Welches Szenario ist nun das „richtige“? Wir wissen es nicht. Für uns sind sie aus heutiger Sicht alle vorstellbar und wir sehen Anzeichen, die eine Entwicklung in Richtung Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Einleitung 9
Kurzfassungen der Szenarien
Szenario 1. Das Leben geht weiter ... Nach einigen sorgenvollen Jahren ist die lokaler Ebene in diesen Jahren zweifellos ge- europäische Wirtschaft (und die Weltwirt- stärkt worden. Fast überall stehen betriebli- schaft) wieder in Gang gekommen. Die Krise che Bündnisse auf der Agenda – viele Zuge- scheint überwunden und Befürchtungen, das ständnisse werden erwartet, um im Gegenzug gesamte System könnte zusammenbrechen, zumindest einen Teil der Jobs zu sichern. haben sich allmählich aufgelöst. Jetzt gilt es, Die Gewerkschaften gehen auch ihr dring- die Scherben zu kitten und die „verlorenen lichstes internes Problem an, nämlich den ge- Jahre“ der Krise aufzuholen. Europa ist nicht fährlichen Trend sinkender Mitgliederzahlen unversehrt aus der Krise hervorgegangen und in den meisten EU-Mitgliedstaaten zu stop- wird im Hinblick auf eine Wirtschaftsbele- pen. Viele Gewerkschaften führen Maßnah- bung einige bittere Pillen schlucken müssen, men zur „Professionalisierung“ durch und um wettbewerbsfähig bleiben und Arbeits- bemühen sich, ihren (potenziellen) Kernmit- plätze erhalten zu können. Vor allem die gliedern bessere Dienstleistungen anzubieten. dynamischen Schwellenländer, wie China, Die Strategie, sich zu einem professionellen Indien und Brasilien, setzen die Europäer zu- Dienstanbieter für Arbeitnehmer zu entwi- nehmend unter Druck. Es ist nicht die Zeit für ckeln, erweist sich als erfolgreich und vielen grandiose Visionen oder soziale Wunschträu- Gewerkschaften gelingt es sogar, ihre Mitglie- me: Pragmatismus und Ad-hoc-Lösungen derzahl zu erhöhen. Gleichzeitig tauchen viele für die dringlichsten Probleme beherrschen neue, kleine, aber höchst effiziente Gewerk- die Tagesordnung. Gewerkschaften und Be- schaften auf, die Arbeitnehmerinteressen in triebsräte sind eng an einem nahezu perma- spezifischen Berufsgruppen vertreten. nenten strukturellen Wandel beteiligt. Sie Generell kann man sagen, dass die Gesell- leisten einen konstruktiven Beitrag zur Über- schaft insgesamt und auch die Gewerkschaf- windung der Folgen der Krise und sind daher ten recht gut mit den Herausforderungen begehrte Partner bei der Gestaltung des Wan- einer zunehmend volatilen Weltwirtschaft dels und der Durchführung von Innovationen zurechtgekommen sind. Tragisch bei diesem in den Unternehmen. Insgesamt gesehen sind Szenario ist allerdings, dass diejenigen, die die Kompetenzen der Interessenvertreter auf am meisten Unterstützung benötigen – seien 14 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
es Arbeitnehmer in prekären Arbeitsverhält- nissen, deren Zahl dramatisch zugenommen hat, oder Langzeitarbeitslose – in der Regel keinerlei Unterstützung erhalten, auch nicht von den Gewerkschaften, die doch einst mit dem Ziel gegründet wurden, für die Rechte der Schwächsten einzutreten. Leitfragen: Sind die Gewerkschaften auf dem Weg zu einem reinen Dienstleistungsanbieter für den abnehmenden Kreis derer, die eine sichere Stelle haben und es sich leisten können? Wie können Gewerkschaften und Betriebsräte den Inter essen einer wachsenden Zahl „atypischer Arbeitnehmer“ und Arbeitsloser Rechnung tragen, vor allem angesichts der Tatsache, dass ihre beitragszahlenden Mitglieder wahr scheinlich etwas anderes von ihnen erwarten? Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien 15
Szenario 2. GRID Das Netz Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts von Allen Bereitschaft zur Veränderung er- haben sich grundlegende institutionelle Ver- wartet wird; in einer zunehmend transparen- änderungen vollzogen, die zu einem neuen ten Welt haben Trittbrettfahrer es schwer. Ge- Gleichgewicht zwischen Wirtschafts-, Sozial- stützt auf bestehende weltweite Institutionen und Umweltebene geführt haben. Die neue und Regulierungssysteme, die in den letzten Ära der globalen Zusammenarbeit und Regu- 60 Jahren geschaffen wurden, nehmen viele lierung stützt sich auf die allgemeine Einsicht, Akteure an der Gestaltung eines neuen welt- dass es auf der Erde mit bald acht Milliarden weiten politischen Systems teil. Schritt für Menschen und bereits begrenzten Ressourcen Schritt wird so eine kritische Masse an Regu- schlichtweg keine Alternative gibt. Der wach- lierung und gegenseitiger Verantwortung in sende Druck und die täglichen Erfahrungen und zwischen den Gesellschaften der Indus- unserer gegenseitigen (und wechselseitigen) trie- und Entwicklungsländer erreicht. Ein Abhängigkeit haben den Weg für ein System Schlüsselelement des neuen globalen Rechts- geebnet, das unterschiedliche Interessen aus- gefüges ist das GRID, ein eng gesponnenes gleicht und langfristige Lösungen sicherstellt. Netz aus Institutionen und Regeln für die Ein moderates und stärker auf Qualität gerechte Verteilung von Ressourcen, Emis- beruhendes Wirtschaftswachstum ist nach sionsrechten und Finanztransfers. In diesem wie vor möglich. Die alte Unternehmensstra- komplexen System gegenseitiger Kontrollen, tegie der Externalisierung von Kosten und In- an dem transnationale Organisationen und ternalisierung von Gewinnen ist hingegen in Regelwerke, nationale Regierungen, Nichtre- vielen Fällen nicht mehr möglich. Heute hat gierungsorganisationen, Gewerkschaften und nicht nur Kohlendioxid einen Preis. Dennoch Unternehmen beteiligt sind, wird es zuneh- haben Wirtschaft und Handel es geschafft, im mend schwierig zu ermitteln, wo genau die Spiel zu bleiben, sich anzupassen und zu einer Zentren der Macht liegen. treibenden Kraft für den Wandel zu werden. Im historischen Vergleich vollzieht sich In der heutigen Welt unterliegen Firmen mehr der Wandel mit einem atemberaubenden Auflagen als je zuvor. Aber die meisten akzep- Tempo. Viele Branchen hat es hart getrof- tieren die notwendigen Einschränkungen, da fen. Eine der wichtigsten Prioritäten der 16 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
Gewerkschaften und Betriebsräte besteht da- nicht leicht gewesen und hat sie dazu gezwun- rin, für einen sozialverträglichen Übergang gen, die Frage der Interessenvertretung aus zu einer „grünen Wirtschaft“ einzutreten, ei- einer umfassenderen Perspektive anzugehen nen fairen Ausgleich auszuhandeln und neue und ihre Organisationsstruktur grundlegend Perspektiven für die Verlierer des Wandels zu zu ändern. Im Jahr 2030 sehen die Gewerk- finden. Daher spielen sie eine wichtige Rolle schaften in der Tat anders aus als heute. für den sozialen Zusammenhalt in einer tur- bulenten Zeit. Leitfragen: Viele Gewerkschaften und Betriebsräte Sind Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter vorberei tet, um als Schlüsselakteure an der proaktiven Gestaltung sind im Laufe der Jahre zu Schlüsselakteuren der Veränderungen, die für eine nachhaltige Zukunft geworden. Sie haben die notwendigen Verän- notwendig sind, mitzuwirken? Sind sie bereit, ein breiteres derungen proaktiv gefördert und sich als ein Konzept der Interessenvertretung zu verwirklichen? Welche Pfeiler der neuen weltweiten Governance- organisatorischen Veränderungen wären erforderlich? Strukturen erwiesen. Dabei haben sie dies anfänglich nicht unbedingt aus Überzeugung getan, sondern angesichts der dringend not- wendigen Erneuerung der Gewerkschaften, die mit einem kontinuierlichen Rückgang ih- rer Mitgliederzahlen konfrontiert waren und nicht als diejenigen gesehen werden wollten, die den notwendigen Wandel aufhalten. Sie spielen beispielsweise eine Schlüs- selrolle, wenn es darum geht, Menschen miteinander zu verbinden, etwa bei der Zu- sammenführung der Stimmen betroffener Stakeholder, und sie haben wichtige Über- wachungsfunktionen der Regierungen über- nommen. Der Übergang ist mit Sicherheit Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien 17
Szenario 3. Allein / Alles eins Die zahlreichen Krisen unserer Zeit wirken zeigen sich in der Art und Weise, wie die Men- als Katalysator für individuellen Wandel. Im- schen miteinander umgehen. Sie kreieren neue mer mehr Menschen verlassen die traditio- Formen der Interaktion und schaffen Gemein- nellen Wege und Paradigmen der Erwerbsar- schaften, um Lösungen für ihre Probleme zu beitsgesellschaft. Sie bilden keine homogene finden und ihrem Leben einen Sinn zu geben Gruppe, sondern werden durch unterschied- in einer Welt, in der ein simples mehr Haben- liche Motive geleitet und schlagen verschie- wollen entweder nicht mehr zufriedenstellend dene Wege ein. Eines aber haben z.B. ein ist oder schlichtweg nicht realisierbar scheint. überarbeiteter Manager und ein frustrierter Das Leben findet immer mehr in Gruppen und Langzeitarbeitsloser gemeinsam: So weiter- Netzwerken statt, die auf gemeinsamen Werten machen wie bisher bietet nicht gerade eine und vertrauensvollen Beziehungen beruhen. verlockende Aussicht. Viele ändern ihr Leben Dabei entstehen sehr unterschiedliche Teilnah- grundlegend, aber dieser Wandel findet meist meformen und -praktiken, wenngleich die Mit- ohne die Gewerkschaften statt gliedschaft in diesen Gruppen und Netzwerken Immer mehr Menschen wenden sich von den eher fluid und unbeständig sein kann. Im Jahr widersprüchlichen Anforderungen einer zerris- 2030 leben die meisten noch in den vertrauten senen Welt ab und versuchen ihrem Leben wie- Mustern und Paradigmen, aber eine beträchtli- der eine Richtung zu geben. Viele wollen oder che Gruppe innerhalb der Gesellschaft hat be- können schlichtweg nicht mehr darauf warten, gonnen, die Spielregeln zu verändern. Und je dass die Institutionen sich ändern. Immer öfter mehr Möglichkeiten sie zur Verfügung stellen, nehmen sie die Herausforderungen, die sich desto leichter wird es für andere, sich ihnen an- aus den epochalen Veränderungen der Lebens- zuschließen. und Arbeitsbedingungen ergeben, selbst in die Die meisten Gewerkschaften in Europa Hand. Da sie aber auch um ihre wechselseitige sind in diesen Jahren beinahe unbemerkt und Abhängigkeit voneinander wissen, schließen wie ein ausklingendes Lied still und leise ver- sie sich Netzwerken an, in denen sie das, was schwunden. Dies ist vor allem auf den konti- sie benötigen, entwickeln und austauschen nuierlichen Verlust von Arbeitsplätzen in tra- können. (Er)neue(rte) Formen der Solidarität ditionell stark gewerkschaftlich organisierten 18 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
Branchen zurückzuführen und auf die Tatsa- che, dass bei ehemaligen oder potenziellen Ge- werkschaftsmitgliedern einfach kein Interesse (mehr) an einer Mitgliedschaft vorhanden ist. Die neue Welt ist geprägt durch individuelle Beziehungen, während traditionell kollekti- vistisch ausgerichtete Gewerkschaften dahin- schwinden. Für viele ist Erwerbstätigkeit nicht mehr das Wichtigste, und außerhalb des Ar- beitsplatzes haben die Gewerkschaften häufig nur wenig zu bieten. Die Gewerkschaftsstruk- turen als solches sind vielfach zusammenge- brochen. Aber viele der Menschen, die einst in den Gewerkschaften aktiv waren, bemühen sich nun, andere Netzwerke und Initiativen zu gründen oder schließen sich solchen an. Leitfragen: Wie können die Gewerkschaften auf die zunehmende Vielfalt ihrer (potenziellen) Mitglieder und auf ihre sich ändernden Einstellungen reagieren? Sind die Gewerkschaften in der Lage, Menschen in schwierigen Verhältnissen die Unterstützung zu geben, die sie wirklich brauchen? Gibt es eine Zukunft für Gewerkschaften, wenn Erwerbstätigkeit für viele nicht mehr der wichtigste Identi tätsanker oder nicht einmal mehr eine Realität darstellen sollte? Was könnten sie anbieten, um den Menschen zu helfen, ihr Potenzial zu entfalten und ihren Wunsch nach einem sinnvollen Leben zu erfüllen? Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien 19
Szenario 4. Der verlorene Kuchen Nach einigen Jahren relativer Erholung ist Krise zahlen“ – so das Motto der zunehmen- die weltweite Wirtschaftskrise zurückgekehrt, den Proteste. Jeder versucht, aus der Situation verursacht unter anderem durch überlastete das Beste für seine Gruppe und letztendlich Staatshaushalte, eine Verknappung von Öl, für sich selbst herauszuholen. Dadurch wird Gas und anderen wichtigen Ressourcen und es sehr schwer, Unterstützung für langfristige die wachsenden Umweltprobleme. Die kos- Projekte und Strategien zu finden, die struktu- metischen Reformen, die Ende des ersten relle Lösungen zur Verbesserung der schwie- Jahrzehnts eingeleitet wurden, haben letzt- rigen Situation bieten. Große Institutionen endlich nicht ausgereicht, um den Weg in eine im Allgemeinen und der europäische Inte nachhaltige Zukunft zu ebnen, sondern haben grationsprozess im Besonderen werden aus- teilweise sogar die Probleme noch verschärft. gehöhlt, da sie auf längere Zeiträume angelegt Soziale Ausgrenzung und sogar regelrechte sind und Strukturen des sozialen Vertrauens Armut nehmen in Europa stark zu – auch im erfordern. Für derartige Projekte bleibt keine ehemals sicheren Mittelstand – und vergrö- Zeit, zumal die Früchte dieser Arbeit zu weit ßern die Kluft zwischen Besitzenden und Be- entfernt scheinen. Die verbliebenen Ressour- sitzlosen enorm. Das Vertrauen in die etablier- cen der Erde, die bereits knapp waren, werden ten Institutionen und in das Marktsystem ist rapide aufgebraucht, da jeder versucht, sich weitgehend verschwunden. Es gibt nur wenig die letzten wertvollen Reste zu sichern. Hoffnung und immer mehr Menschen fühlen Eine der großen Herausforderungen für sich isoliert und als Opfer. Die meisten han- Gewerkschaften, Betriebsräte und die meis- deln aus Furcht vor einer Mangelsituation und ten anderen Institutionen besteht darin, nach kümmern sich nur um Dinge, die sie direkt einer Zeit des relativen Wohlstands und der beeinflussen können. Der wachsende Unmut Stabilität nunmehr mit Mangel und Unbe- in der Bevölkerung führt zu starken Spannun- ständigkeit zurechtkommen zu müssen. Die gen und richtet sich gegen diejenigen, die als Gewerkschaften haben auf unterschiedliche Verantwortliche und Gewinner der Krise ge- Weise und entsprechend ihren besonderen Vo- sehen werden, aber auch gegen die ineffekti- raussetzungen auf die neue Situation reagiert. ve politische Elite. „Wir werden nicht für eure Manche von ihnen haben versucht, beruhigend 20 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
einzuwirken und sich in die Debatte zur Frage, wie gerettet werden kann, was noch zu retten ist, eingebracht. Manche kämpfen gegen die offensichtlichsten und unmittelbaren Folgen des Zusammenbruchs und versuchen, in einem Klima der Hoffnungslosigkeit Solidarität und Teilen durch konkrete Projekte für die beson- ders Betroffenen zu organisieren. Bei anderen Gewerkschaften und Betriebsräten ist es durch die anhaltende Verschlechterung der Lage zu einer Radikalisierung oder zur Entstehung von Splittergruppen gekommen, gegründet von Mitgliedern, die mit den zögerlichen und hilf- losen Strategien ihrer Anführer unzufrieden waren und nun mit zunehmend radikalen Akti- onen die Führung selbst übernehmen. Leitfragen: Sind wir auf ein mögliches „Kollaps-Szenario“ vorbereitet, haben wir dafür einen Notfallplan vorbereitet? Welche Risiken stellen sich im schlimmsten Fall für uns und wel che Folgen hätten sie? Gibt es zum Beispiel einen Plan für eine Zeit, in der billige fossile Energieträger nicht mehr zur Verfügung stehen? Welche Kenntnisse und Kompetenzen sind in einer solchen Situation hilfreich? Wie würden Ge werkschaften und betriebliche Arbeitnehmervertreter auf eine zunehmende Radikalisierung der Gesellschaft (und möglicherweise ihrer Mitglieder) reagieren? Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien 21
Geschichten
Das Leben Menschen – wir verkaufen keine Handy-Klin- geltöne an Kinder, wie ein Kollege letzte Wo- che bemerkte. Ich kann in den Spiegel gucken, geht weiter ... ohne mich zu schämen. Gerade sind die neuesten Mitgliederzahlen erschienen: Jeden Monat sind es weniger. Wie kommen wir aus dem Teufelskreis heraus? Weniger Mitglieder heißt weniger Einfluss und Mittel ... und damit weniger gute Ergebnisse für unsere Mitglieder. Dies führt wiederum dazu, dass mehr Mitglieder die Gewerkschaf- ten verlassen, und so weiter. Offensichtlich entsprechen wir nicht mehr den Erwartungen und Realitäten vieler Arbeitnehmer. Kürzlich erzählte mir eine Freundin, dass sie etwa ein Jahr lang Mitglied einer Gewerk- schaft gewesen sei. Sie war der Gewerkschaft beigetreten, da sie Rat in einer spezifischen juristischen Frage im Zusammenhang mit ih- rer Arbeit brauchte. Da die Gewerkschaft ihr nicht helfen konnte, trat sie nach einem Jahr wieder aus. Wir müssen unseren Mitglie- dern zuhören. Wir müssen unser Konzept von Grund auf überdenken, um attraktiver zu wer- den. Es darf nicht soweit kommen, dass junge 2010 Menschen uns als einen Rentnerverein sehen. Wenn wir nicht innovativ sind, werden wir Heute hatte meine Tochter Clara ihren ersten langsam aber sicher untergehen. Europa zählt Schultag. Es war nicht ganz einfach, aber ich mehr als 200 Millionen Arbeitnehmer – wir habe es dann doch geschafft, sie rechtzeitig müssen für sie sprechen und etwas bewegen. zur Schule zu bringen. In ihrer Begrüßungs- rede hat die Schulleiterin über den neuen 2020 Lebensabschnitt gesprochen, der nun für die Kleinen beginnt. Auf dem Weg zum Flugha- Es sind arbeitsreiche Jahre! Wir führen eine fen denke ich an die Ideale, die ich hatte, als Reihe von wertvollen Projekten durch, von ich jung war. Ich wollte etwas bewegen. Ich denen unsere Mitglieder wirklich profitieren. arbeite seit acht Jahren für die Gewerkschaft. Wir haben in den letzten Jahren Terrain zu- Das Leben ist kein Ponyhof, und in der ge- rückgewonnen und beobachten nun sogar ei- genwärtigen Krise stellen sich gewaltige He- nen bescheidenen aber doch stetigen Anstieg rausforderungen. Wir können die Welt wohl unserer Mitgliederzahlen. Wir sind wieder auf nicht ändern, aber wir versuchen, im Spiel dem richtigen Weg! Dennoch hat der Druck zu bleiben und das Beste aus der Situation zu weiter zugenommen, nicht zuletzt durch die machen. Ich kann nicht klagen, ich habe eine drastischen Kürzungen bei den öffentlichen interessante Arbeit und ein gutes Einkom- Ausgaben. Und der weltweite Wettbewerb ist men für mich und meine Familie. Jeden Mo- wahrscheinlich härter als je zuvor. Man muss nat bezahlen wir das Schulgeld für Clara (und zu den Besten gehören und die Herausforde- wir haben ein Konto eröffnet, auf das wir re- rungen proaktiv angehen. gelmäßig Geld für ihr Studium überweisen). Die Beschäftigungslage hat sich weiter di- Auch die monatlichen Hypothekenzahlungen versifiziert. Als Reaktion darauf haben wir in- belasten unser Budget. dividualisierte Formen der Mitgliedschaft und Natürlich gibt es Jobs, die besser bezahlt maßgeschneiderte Dienstleistungspakete ent- sind, Zuschläge und sogar mehr finanziel- wickelt. Intern mussten einige Kämpfe ausge- le Sicherheit bieten. Aber meine Arbeit hilft tragen werden. Es ist nicht mehr wie früher, 24 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
als man quasi automatisch einer Gewerkschaft dem festen Anteil liegen. Ich bin froh, dass beitrat, weil der Vater Gewerkschaftsmitglied unser Haus in zwei Jahren abbezahlt sein war. Heutzutage müssen Gewerkschaften spe- wird. Vor einem Jahr hat Clara das Auswahl- zifische und direkte Vorteile bieten, um neue verfahren der Europäischen Kommission be- Mitglieder zu gewinnen. Berufstätige sind standen. Sie hat eine Stelle in der Abteilung auch wesentlich mehr mit ihrer Karriere be- für Umwelt, Gesundheitsschutz und Sicher- schäftigt. Sie wollen nicht ehrenamtlich Zeit heit angetreten, die sich mit Emissionen und für gewerkschaftliches Engagement aufwen- gefährlichen Stoffen befasst. Sie klagt jetzt den. Dies sind unbequeme Wahrheiten für die schon über das Arbeitspensum und die vielen Gewerkschaften. Reisen. Aber zumindest hat sie einen sicheren Wir bieten nun eine breite Palette an Pro- Arbeitsplatz. grammen, darunter auch eine dreimonatige kostenlose Probemitgliedschaft. Haben Sie ein Problem? Sie sind noch nicht Mitglied der Gewerkschaft? Keine Sorge, registrieren Sie sich jetzt und wir werden Ihnen helfen! Die meisten bleiben in der Gewerkschaft, nach- dem sie uns kennengelernt haben. Für man- che Beratungsleistungen ist es nicht einmal nötig, Mitglied zu sein. So geben wir ihnen die Möglichkeit, zu begreifen, wie nützlich die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist. Kürz- lich hat mein Team ein komplett ausgestatte- tes Premium-Mitgliederprogramm konzipiert, das unter anderem eine Zusatzrente und Ver- sicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit bietet. Aber die Konkurrenz schläft auch nicht. In den letzten Jahren sind kommerzielle Jobservice-Anbieter wie Pilze aus dem Boden geschossen und in vielen Unternehmen arbei- tet die Geschäftsleitung eng mit nicht-organi- sierten betrieblichen Arbeitnehmervertretern zusammen, um für ihre Mitarbeiter ähnliche Dienstleistungen anzubieten und so die Ge- werkschaften fernzuhalten. 2030 Die Zahl unserer Mitglieder stagniert seit Jahren. Aber es geht uns besser als vielen anderen. Schließlich schrumpft der reguläre Arbeitsmarkt kontinuierlich. Die unkontrol- lierte Zunahme prekärer Beschäftigungsver- hältnisse und die Tatsache, dass mittlerwei- le 35 Prozent der Erwerbstätigen Freelancer oder Selbständige sind, macht es uns nicht einfach. In den letzten Jahren mussten wir uns mehr denn je auf die Kernarbeitnehmer- schaft in den größeren Unternehmen unserer Branche konzentrieren. Es ist schlichtweg zu schwierig, die anderen zu organisieren. In diesem Jahr werden die variablen Komponenten unserer Gehälter weit unter Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten 25
GRID Scheideweg. Entweder fahren wir fort als Zahnrad in einer erodierenden Maschine, bis wir selbst auseinanderfallen und bedeu- Das Netz tungslos werden. Oder wir entwickeln uns zu einer Pioniergruppe unserer Gesellschaft, um etwas Neues aufzubauen. Wir wissen, was zu tun ist, also lasst es uns versuchen! Ist es nicht eine unserer Stärken, Menschen zu or- ganisieren und sie für einen grundlegenden Wandel zu mobilisieren, einen Wandel, der heute fast unerreichbar scheint? Dies setzt al- lerdings voraus, dass wir über den Tellerrand hinausblicken und akzeptieren, dass unsere Aufgabe weit mehr umfasst als über Löhne und Arbeitsbedingungen für einen schrump- fenden Teil der Bevölkerung zu verhandeln. Und ist mehr Wirtschaftswachstum, sei es auch ein umweltorientiertes Wachstum, wirklich die Lösung für unsere Probleme? Ei- nige Jahrzehnte lang ist es den Gewerkschaf- ten gelungen, Teile der enormen Überschüsse auf den „kleinen Mann“ umzuverteilen. So haben die Menschen einen kleinen Teil eines rasch wachsenden Kuchens erhalten. Für im- mer mehr von uns ist dies einfach nicht mehr 2010 möglich, und ein paar wenige akkumulieren die Gewinne. Der Teufel sch… immer auf den Heute hatte meine Tochter Sara ihren ersten größten Haufen! Wir sollten aufhören, über Schultag. Was für ein Anblick! Zweiunddrei- die Krise zu reden. Heute geht es um viele ßig aufgeregte Menschlein, alle mit weit auf- systemische Krisen, und schnelle Lösungen gerissenen Augen und bereit, eine neue Welt sind verlockend aber werden die Probleme zu entdecken. Aber was steht ihnen bevor? nicht beheben. Sara muss in einer anderen Wir haben einen blühenden weltweiten Welt aufwachsen! Markt geschaffen, in dem gleichzeitig mehr als eine Milliarde Menschen hungern und 2020 mehr als drei Milliarden in Armut leben. Wir geben riesige Geldsummen für unsere Al- In diesen Jahren gilt es, Partei zu ergreifen. tersversorgung und für unsere Gesundheits- Die enorme Herausforderung, quasi spontan systeme aus, während die Armut bei alten eine Wirtschaft aufzubauen, die völlig an- Menschen zunimmt und die Gesundheitsver- ders funktioniert, hat auch tatsächlich eine sorgung schlechter wird. Der Klimawandel Lawine in den europäischen Gewerkschaften zeigt uns eindringlich, dass wir die Probleme ins Rollen gebracht. Es geht dabei um keine mit dem System, das sie geschaffen hat, nicht geringere Aufgabe als die Schaffung eines lösen können. Die Wirtschaftskrise, die durch neuen Modells menschlicher Zivilisation, das das Scheitern der Finanzmärkte und unsere auch weltweit funktioniert. Manchmal habe unverantwortlichen Hypotheken verursacht ich das Gefühl, dass dies einer Sisyphusarbeit wurde, hat viel Vertrauen zerstört, nicht nur gleichkommt, mit endlosen Diskussionen in das System, sondern auch in seine Insti- und aufwendigen Bemühungen, um die Leu- tutionen. Und trotzdem machen wir einfach te zu überzeugen. Welche Position vertreten weiter wie gewohnt. die Gewerkschaften in Bezug auf den Über- Ich habe bereits bei vielen Podiumsdis- gang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft? kussionen darauf hingewiesen: Als Gewerk- Ist die Aussicht auf Millionen neuer grüner schaften stehen wir an einem historischen Arbeitsplätze nur eine Illusion? Wer wird in 26 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
dieser Wirtschaft arbeiten und unter welchen Innovationen zu überleben. Die Geschwin- Bedingungen? Was erwarten unsere Mitglie- digkeit, mit der sich die Entwicklung in den der – vor allem in den traditionellen Bran- letzten zwei Jahrzehnten vollzogen hat, und chen – von uns oder von der Gesellschaft in die Institutionen und der gemeinsame Rah- ihrer Gesamtheit? Werden die Gewerkschaf- men, der in diesem Zeitraum geschaffen ten eine Vorreiterrolle bei der Bewältigung wurden, sind einzigartig in der Geschichte. dieser gewaltigen Herausforderung spielen Die Begeisterung für diese Veränderungen oder die Handlanger für andere sein und ist noch begrenzt. Aber insgesamt gesehen ihr eigenes Grab schaufeln? Sollte es nicht besteht dennoch Vertrauen in das System, Aufgabe der hochbezahlten Manager und nicht zuletzt deswegen, weil die Regeln für Politiker sein, Lösungen zu finden? Mit sol- alle verbindlich sind. Rückblickend können chen Fragen haben sich Gewerkschaften und wir sagen, dass die Menschheit wohl mit ei- Betriebsräte bei ihrer kontroversen und zu- nem blauen Auge davon gekommen ist. weilen ermüdenden Suche nach einem neuen Auch unsere Arbeit hat sich grundlegend Selbstverständnis auseinandergesetzt. verändert. Heute sehen Gewerkschaften an- Zum Glück gibt es in zahlreichen Ins- ders aus als noch zu Beginn des Jahrhun- titutionen innerhalb aber auch außerhalb derts. Wir sind zu einem wichtigen Akteur der Gewerkschaften viele, die nicht länger geworden, wenn es darum geht, den Konflikt warten wollen, bis der Wandel sich vollzieht zwischen Wirtschaftswachstum und öko- oder andere tätig werden. Alte Trennungsli- logischem Kapital zu begrenzen. Wir sind nien verlieren in dieser Hinsicht zunehmend Teil der GRID und tragen dazu bei, dass sie an Bedeutung. Jetzt organisieren wir unsere funktioniert, gleichzeitig werden auch wir eigene Boston Tea Party, um die Koloniali- stärker kontrolliert. Wir müssen ein brei- sierung durch ein Wirtschaftswachstumsmo- tes Spektrum von Interessen berücksichti- dell zu überwinden, das einfach nicht mehr gen, nicht nur die unserer Mitglieder. Und funktioniert. Viele beharren jedoch auf den das ist für viele kein leichter Übergang. Wie Privilegien, von denen sie abhängig geworden könnte es auch anders sein, wenn so viel auf sind. Nicht selten haben wir die Macht und dem Spiel steht, die Herausforderungen so Entschlossenheit derjenigen zu spüren be- groß sind und die Zeit für Veränderungen so kommen, die kurzsichtige Interessen und alte knapp ist? Die Gewerkschaften haben sich Gewohnheiten verteidigen. ihrer Verantwortung gestellt. Wir haben los- gelegt und uns an die Arbeit gemacht. Wie 2030 ein Schneepflug macht die Maschine des Übergangs den Weg zu einer nachhaltigen Allmählich zeichnen sich klare Konturen Zukunft frei. Wir versuchen zu helfen, wo einer nachhaltigen Entwicklung ab. 2026 wir können, um neue Perspektiven für Ar- ist es nach langen und konfliktreichen Ver- beitnehmer zu eröffnen, deren Arbeitsplatz handlungen endlich zur Gründung der GRID in Gefahr ist. Ich muss allerdings zugeben, – Organisation für globale Ressourcen- und dass das Schlagwort eines „gerechten Über- Einkommensverteilung (Organisation for gangs“ für viele zynisch klingen muss, wenn Global Resources and Income Distribution) man an ihre persönliche Situation denkt. gekommen. Natürlich ist sie nicht einfach Nicht wenige unserer Mitglieder sind ausge- vom Himmel gefallen. Die GRID hat zahlrei- treten, da die Gewerkschaft aus ihrer Sicht che internationale Übereinkommen und In- einige ihrer ehemals wichtigsten Werte mit stitutionen zu einem dichten System gegen- Füßen getreten habe. seitiger Kontrollen und Regelungen für den Kürzlich hat Sara bei meiner 60. Geburts- Ausgleich unterschiedlicher Interessen ver- tagsfeier eine Rede gehalten. Sie sagte, dass flochten. Die größten und mächtigsten Un- sie sehr stolz darauf sei, was die Generation ternehmen haben schnell verstanden, dass ihrer Eltern für ihre eigene Zukunft und die sie gut daran tun, die neuen Regeln zu akzep- ihrer Kinder getan habe, und dass diese Zu- tieren – nicht nur um ihre Betriebslizenzen kunft wenig gemein habe mit den düsteren nicht zu gefährden, sondern auch um den Aussichten, die noch vor zwei Jahrzehnten Wettbewerb auf der Grundlage nachhaltiger Anlass zur Sorge gegeben hatten. Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten 27
Allein / 2020 Durch die Inflation haben sich unsere Schul- Alles eins den zumindest teilweise verringert. Wir kön- nen zwar nicht alle Wünsche unserer Tochter erfüllen, aber insgesamt gesehen geht es uns nicht so schlecht. Es gefällt mir, mit Menschen zu arbeiten. Als ich 2010 meine Arbeit verloren hatte, waren die Aussichten auf eine neue Stel- le äußerst schlecht. Ende 2011 habe ich mich selbständig gemacht. Immer noch besser als das Angebot meines Jobmanagers, als Nacht- wächter auf einer Baustelle zu arbeiten. Was die Krise bedeutet, ist einem nicht bewusst, bis man seine Arbeit verliert. Dann ist man plötzlich selbst Teil von ihr. Der Abstieg geht schnell. Die meisten Stellen, die einem ange- boten werden, sind prekäre Beschäftigungs- verhältnisse. Allerdings muss man sich fragen, wie man dies als atypische Arbeitsverhältnisse bezeichnen kann, wo so viele davon betroffen sind? Meine Familie und ein paar gute Freunde haben mir in dieser schweren Zeit Halt gege- ben. Der Anfang verlief wie so oft in diesen Fäl- 2010 len: Mein Selbstwertgefühl sank, ich war oft ungehalten, blieb zu Hause vor dem Fernseher Heute hatte meine Tochter Anna ihren ersten und öffnete um elf Uhr die erste Bierdose, um Schultag. Natürlich haben wir sie zur Schule den langen Tag zu überstehen. Ohne Arbeit gebracht. Und jetzt? Jo ist zur Arbeit gefahren. ist man nichts in unserer Gesellschaft, eine Ich werde einen Kaffee im neuen Café auf der Art fauler Außenseiter. Wenn du keine Arbeit Ecke trinken. Verflucht! Man sagt, dass die findest, dann liegt es an dir. Du musst aktiver Gewerkschaften für Solidarität eintreten. Das sein! Du musst deine Fähigkeiten weiterentwi- habe ich auch immer gedacht. Gestern habe ich ckeln, um eine neue Stelle zu finden! Du musst ebenso wie einige meiner Kollegen die Mittei- deine Erwartungen zurückschrauben! Und so lung erhalten, dass unsere Verträge zu Beginn weiter und so weiter. des nächsten Jahres auslaufen … und dass es Ohne Paul, der mehr für mich war als nur Zeit sei, dass wir unsere restlichen Urlaubstage ein Mentor, wäre ich aus dem Sumpf nicht nehmen. In den letzten fünf Jahren habe ich herausgekommen. Irgendwann habe ich reali- mich unermüdlich dafür eingesetzt, die Arbeit siert, dass ich etwas besaß, das vielen gestress- der Gewerkschaft zu fördern und gegen den ten Leuten um mich herum offensichtlich Trend sinkender Mitgliederzahlen anzugehen. fehlte: Unabhängigkeit und Zeit – viel Zeit! Und jetzt? „Durch finanzielle Zwänge hat sich Meine erste Initiative, eine gemeinnützige, unser Handlungsspielraum auf ein Minimum von der Gemeinde unterstützte Tageseinrich- reduziert. Wir sehen leider keine andere Mög- tung, stieß auf große Resonanz, nicht nur weil lichkeit. Es ist keine leichte Situation für uns“ der Kaffee kostenlos angeboten wurde. Hier steht in dem Schreiben. Was habe ich jetzt kamen Menschen zusammen, um sich über noch für einen Handlungsspielraum? Und was ihre Probleme und Einzelkämpferstrategien werde ich Anna sagen? auszutauschen. Aus diesen Begegnungen sind schnell neue Ideen und Initiativen hervorge- gangen. 28 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
2030 Gestern habe ich auf einem öffentlichen Bild- schirm eine Sendung gesehen, bei der Promi- nente die Frage diskutierten : „Was kommt nach der Arbeitsgesellschaft?“. Solche Sen- dungen hat es bereits vor 30 Jahren gegeben. Hat sich seitdem wirklich nichts geändert? Der kurze Bericht, der zu Anfang der Sendung ge- zeigt wurde, wies darauf hin, dass erstmals we- niger als die Hälfte der Erwerbsbevölkerung einen Arbeitsvertrag von mehr als 12 Monaten hat. Nur acht Prozent der Erwerbstätigen in Europa sind Mitglied einer Gewerkschaft, die meisten von ihnen gehören zu den privilegier- ten Beschäftigtengruppen. Der Anteil der Selb- ständigen ist hingegen auf mehr als ein Drittel gestiegen. Die gemeinnützige Wirtschaft und soziale Netzwerke spielen eine zunehmend wichtige Rolle für große Teile der Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, dass diese Prominenten über eine Welt reden, die bereits seit über 20 Jahren nicht mehr existiert, zumindest nicht für mich. Und ich war mit Sicherheit nicht der erste … Zum Glück besteht das Leben aus weit mehr als der Frage, welchen Job man hat. Meine Familie, Paul und viele andere, denen ich in meinem Leben begegnet bin, haben mir dies klar gemacht. Es ist wahr: es ist eine gro- ße Herausforderung, nicht zu wissen, was in einem oder zwei Jahren sein wird. Aber ich weiß auch, dass ich nicht allein bin, und darauf vertraue ich. Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten 29
Der verlorene haben die Arbeitgeber den längeren Arm. Bei einer Verlagerung unserer Arbeitsplätze an billigere Standorte sind wir alle die Verlierer. Kuchen Wir müssen alle am Ende des Monats unsere Miete bezahlen und wir tragen die Verant- wortung für unsere Kinder. 2020 Wie ist es möglich, dass die Lage sich der- art verschlechtert hat? In den letzten zehn Jahren sind Milliarden Euro in das gleiche kranke System der Gier, Kurzsichtigkeit und Arroganz gepumpt worden. Die Banken lei- hen Unternehmen kein Geld mehr? Dann überfluten wir eben den Markt mit billigem öffentlichem Geld, dann wissen wir zumin- dest, wo die nächste Blase herkommt. Übri- gens, für welche Risiken lassen Banken ihre Kunden eigentlich zahlen, wenn sie selbst gegen sämtliche Risiken beim Staat vollkas- koversichert sind? Heute reicht es, die Sum- men, mit denen man jongliert, aufzublasen. Man muss schlau sein und klotzen. Wenn man zu den Großen gehört, wird man von den 2010 Politikern als systemrelevant betrachtet und mit frischem Geld versorgt, um eine Game- Heute hatte meine Tochter Ella ihren ersten over-Nachricht zu vermeiden. Unsere jungen Schultag. Leider konnte ich sie nicht selbst dynamischen Investmentbanker sind schnell in die Schule bringen. Nächste Woche orga- zu ihren Cocktailparties zurückgekehrt und nisieren wir eine Demonstration gegen die haben auf ihre jüngsten Boni angestoßen. Die jüngsten Einschränkungen des Kündigungs- Rechnung zahlen natürlich wir – der einfa- schutzes. Und es gibt noch eine Menge Arbeit. che Mann auf der Straße! Du hast kein Konto „Wir werden nicht für eure Krise zahlen!“ auf den Kaimaninseln? Wie schade! Du hast Damit stimme ich voll und ganz überein. Un- deine Arbeit verloren? Tut mir leid, aber wir sere Mitglieder erwarten eine Reaktion von müssen alle den Gürtel enger schnallen in uns. Viele fordern drastischere Aktionen. dieser schwierigen Zeit. Aber ist Konfrontation die richtige Strategie? Das macht mich krank. Wir werden das Sollten wir nicht eher versuchen, durch Ver- nicht länger akzeptieren. Unsere Strategie, handlungen für unsere Mitglieder das Beste ruhig zu bleiben und hart für den Aufschwung aus der katastrophalen Situation herauszu- zu arbeiten, hat uns nicht weitergebracht. Sie holen? In diesen schwierigen Jahren sollten haben uns alles genommen, was wir hatten. wir das Kind nicht mit dem Bade ausschüt- Die Sonne scheint auf die Gerechten und die ten. Und ist das Licht am Ende des Tunnels Ungerechten, aber der Regen fällt nur auf die nicht schon sichtbar? Sobald die Wirtschaft Gerechten, weil die Ungerechten ihnen den wieder in Gang gekommen ist, wird es auch Regenschirm gestohlen haben. für uns besser werden. Ich kann den Zorn Also wenn wir untergehen, dann bitte mit der Leute verstehen, aber wir sollten nichts Champagner! Und solange die Chinesen un- übereilen. Wir müssen uns um die Forderun- sere Atmosphäre verschmutzen und mit üb- gen unserer Mitglieder kümmern, denn nur len Tricks versuchen, ihre Produkte auf unse- zusammen wird es uns gelingen, aus dieser re Märkte zu bringen, lohnt es sich nicht, den Situation herauszukommen. Und eine Sache Weltverbesserer zu spielen. Hilf dir selbst, dürfen wir nicht vergessen: letzten Endes sonst hilft dir keiner. Die meisten unserer 30 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
Politiker sollten nach Hause geschickt wer- den. Wir werden die Dinge nun selbst in die Hand nehmen! 2030 Unser Wohlstand war eine Illusion. Heute wissen wir, dass sich unser Wirtschaftsmodell auf ungedeckte Schecks stützte. Wir waren alle hinter Aufträgen und mehr Umsatz her, um eine höhere Rentabilität unserer Investi- tionen zu erzielen oder zumindest einige Ar- beitsplätze zu retten – um jeden Preis. Bis vor ein paar Jahren dachte ich, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Aber das war ein fataler Irrtum. Es hat keinen Sinn, zu kämp- fen, wenn nichts zu gewinnen ist. Wir müssen anfangen, die Ruinen zu beseitigen, Stein für Stein. Vielleicht werden die Kinder von Ella den Weg in eine neue, bessere Zukunft fin- den. Viele sagen, dass wir von vorn beginnen müssen. Aber das ist nicht wahr. Die junge Generation muss aus unserem Vermächtnis etwas machen. Ich schäme mich aber für das, was wir ihnen hinterlassen haben. Wir sollten jetzt zumindest selbst einen Anfang machen, solange wir noch können. Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten 31
Szenarien
Das Leben geht weiter ... „Man bekommt im Leben nichts geschenkt.“ Redensart Am Ende der Nullerjahre des neuen Jahr- Anstieg der Arbeitslosigkeit. Auch waren die tausends, als Europa unter der weltweiten folgenden Jahre von fortlaufenden Umstruk- Finanz- und Wirtschaftskrise zu leiden hatte, turierungswellen gekennzeichnet, die nach war die Stimmung trübe. Weltweit investier- Ansicht der Unternehmensleitungen notwen- ten die Regierungen – zumindest diejenigen, dig waren, um wieder in Gang zu kommen die finanziell in der Lage dazu waren – Milli- und die in zahlreichen Branchen im Laufe der arden Euro- und Dollarbeträge in ihre schwer letzten Jahrzehnte aufgebauten Überkapazi- angeschlagene Wirtschaft. Gewiss, die Men- täten abzubauen. Flexible Arbeitszeitmodelle schen hatten ein ungutes Gefühl dabei, soviel und Leiharbeit hatten sich für die Unterneh- Geld in genau das System zu pumpen, das men während der Krise als Instrument zur An- maßgeblich die Probleme verursacht hatte. passung an sich schnell verändernde Marktsi- Aber gab es eine Alternative? tuationen bewährt und nahmen weiter zu. Die europäische Wirtschaft erholte sich – Den Menschen war bewusst, dass sich das langsam aber sicher – von der Krise. Bis Mitte System noch nicht wieder vollständig erholt der 2010er Jahre verzeichneten die meisten hatte, und sie akzeptierten, dass zumindest in EU-Mitgliedstaaten einen leichten Anstieg den ersten Jahren Zugeständnisse notwendig ihres Bruttoinlandsprodukts. Die Optimisten sein würden, um den nach den schwierigen sollten Recht behalten: das Weltwirtschafts- Jahren einsetzenden Miniboom nicht zu ge- system stellte sich als stabiler heraus als viele fährden. Lohnerhöhungen fielen in dieser Zeit gedacht hatten und die politischen Maßnah- eher bescheiden aus, glichen aber zumindest men zur Regulierung der Finanzmärkte tru- zum Teil die Inflation aus. Außerdem nährten gen dazu bei, ein gewisses Maß an Vertrauen die steigenden Gewinne vieler Unternehmen wieder herzustellen. die Hoffnung, dass auch für die Arbeitnehmer Das Schlimmste schien vorüber zu sein das Ende der „Dürreperiode“ nahte. und es war an der Zeit, die Scherben zu kitten. Doch Europas Konkurrenten schliefen Die Krise hatte einige Narben hinterlassen, nicht. Die Belebung der Weltwirtschaft brach- wie eine enorme Erhöhung der Staatsschul- te auch die dynamischen Schwellenländer in den und in vielen Ländern einen erheblichen Asien und Südamerika wieder in Schwung und Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Szenarien Szenario 1 35
viele neue, höchst wettbewerbsfähige globale Notwendigkeit weiterer staatlicher Beihilfen; Konkurrenten forderten ihre Mitbewerber in oder einer gemeinsamen Erklärung zur Be- den traditionellen Industrieländern heraus. schleunigung der Gesetzgebungsverfahren zur Hinzu kam, dass die Unternehmen die hohen Zulassung neuer Produkte – Management und Schulden zurückzahlen mussten, die sie vor Arbeitnehmer sprachen oft mit einer Stimme. allem im letzten Jahrzehnt angehäuft hatten. Im Laufe der Jahre verlagerte sich die Auch die öffentlichen Ausgaben standen Macht immer mehr auf die lokale Ebene. 2020 unter dem Druck, das enorme Defizit der war die Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher letzten zehn Jahre wieder auszugleichen. We- Ebene wesentlich wichtiger geworden, wäh- nigstens erleichterte die relativ hohe Inflation rend z.B. Tarifverhandlungen auf Branchene- dieser Jahre die Rückzahlung von Anleihen, bene in den meisten EU-Mitgliedstaaten an Krediten und Hypotheken. Es kam nicht zu Bedeutung verloren hatten. Die größere Ver- Massenprotesten gegen die Lohnkürzungen antwortung der lokalen Betriebsräte und Ge- im öffentlichen Dienst, die Verringerung der werkschaften wurde allgemein begrüßt und Sozialausgaben und den zunehmenden Druck von der Unternehmensleitung unterstützt. auf Arbeitslose, auch schlechter bezahlte Ar- Das Potential der Beschäftigten zur weiteren beit anzunehmen. Diese Maßnahmen wurden Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und als weitgehend als notwendig akzeptiert, um die treibende Kraft für Innovationen wurde allge- Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu mein anerkannt, nicht zuletzt auch, um dem bringen. Aus dem gleichen Grund wurde in eigenen Handeln einen „grünen“ Anstrich zu mehreren Ländern der Kündigungsschutz ge- verpassen. In vielen Ländern erfuhren auch lockert. „Wir müssen die Wettbewerbsfähig- Modelle der finanziellen Beteiligung der Ar- keit unserer Unternehmen auch in der neuen beitnehmer einen neuen Aufschwung. Sie globalen Realität gewährleisten,“ begründe- bildeten zum Teil einen Ausgleich für die zu- ten die Regierungen die Notwendigkeit dieser rückhaltende Lohnentwicklung der vergange- Maßnahmen für gewöhnlich. nen Jahre. Die 2010er Jahre waren sicher nicht die Für viele Manager war es normal gewor- Zeit für grandiose gesellschaftliche Visionen den, freiwillige Beiträge zu den lokalen Struk- und Gedanken über einen grundlegenden turen der Arbeitsbeziehungen zu leisten. Sie Wandel. Es war die Zeit zu handeln! Betriebs- betrachteten sie als gute Investition in die räte und Gewerkschaften waren aktiv in die Produktivität und den „Arbeitsfrieden“. Es Gestaltung der Arbeitswelt nach der Krise war nicht immer ganz eindeutig, wer die ver- eingebunden. Es gelang ihnen zum Teil, lang- schiedenen Gruppen von Arbeitnehmerver- fristige Arbeitsplatzgarantien für die Arbeit- tretern finanzierte und wen sie letztendlich nehmer durchzusetzen und, wenn es unver- vertraten. Manche nannten sie „Pseudo-Ge- meidlich war, Sozialpläne auszuhandeln, um werkschaften“. Sie selbst sahen sich als „prag- die Auswirkungen des Arbeitsplatzverlustes matische, nicht ideologische Alternative“ und für den Einzelnen zu mildern. manche von ihnen konnten den Beschäftigten Das Bild der Arbeitnehmerbeteiligung in ihre Erfolge ganz gut verkaufen. den Medien verbesserte sich zusehends. Die Die Gewerkschaften standen vor der gro- konstruktive Rolle der Betriebsräte und zahl- ßen Herausforderung, den Sinkflug ihrer Mit- reicher Gewerkschaften während und nach der gliederzahlen aufzuhalten. Die umfassende Krise überzeugte auch einige ihrer ursprüng- wirtschaftliche Umstrukturierung während lichen Gegner. Vor allem auf Betriebsebene und nach der Krise und der damit einherge- arbeiteten die Arbeitnehmervertreter enger hende Verlust von Arbeitsplätzen in traditi- mit dem Management zusammen als je zuvor. onell gut organisierten Branchen hatten den Diese alltägliche Zusammenarbeit bei der Su- Mitgliederschwund sogar noch beschleunigt. che nach Lösungen für bestehende Heraus- Die zunehmende Individualisierung, größe- forderungen führte dazu, dass beide Seiten re (berufliche) Mobilität und der Rückgang der Wirtschaft enger zusammenrückten: ob freiwilligen Engagements trugen zu dieser bei einem Aktionstag für zusätzliche kosten- bedrohlichen Entwicklung bei. Der demo- lose CO2-Emissionszertifikate für das Unter- graphische Wandel übte zusätzlichen Druck nehmen; einer Internet-Kampagne über die auf den gesamten sozialen Bereich aus und 36 Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Szenarien Szenario 1
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