Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...

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Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...
Arbeitsbeziehungen
2030
Vier Szenarien
Herausgegeben von
Michael Stollt
und Sascha Meinert

Übersetzung aus dem Englischen:
Iris Nau und Birgit Kaut

Ein Projekt des
Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI)
in Zusammenarbeit mit dem
Institut für prospektive Analysen e.V. (IPA)
Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...
Willkommen
zu ‚Arbeits­
beziehungen
2030’
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Inhalt
8 Einleitung
11 Arbeitsbeziehungen 2030
   — Vier Szenarien
13 Kurzfassungen der Szenarien
23 Geschichten
33 Szenarien
63 Scenario-building
65 Kurze Einführung in die Entwicklung
   von Szenarien
67 Der Prozess
70 Erste Anregungen zur Arbeit
   mit den Szenarien
72 Projektteam
72 Kontakt
Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...
Einleitung                                              zur Neige gehende fossile Brennstoffe und
                                                        andere nicht erneuerbare Ressourcen, die
                                                        globale Erwärmung, den Verlust der Arten-
                                                        vielfalt oder die zunehmende Trinkwasser-
                                                        knappheit in vielen Regionen. Das Entwickeln
                                                        von Szenarien hat sich in Situationen großer
                                                        Unsicherheit und Brüche als besonders hilf-
                                                        reich erwiesen. Anstatt diese Ungewissheiten
                                                        auszublenden, arbeiten Szenarien sie heraus
                                                        und bieten einen Rahmen, sie mit anderen
                                                        gemeinsam zu erforschen.
                                                              In diesem Sinne verfolgt das Projekt Wor-
                                                        ker Participation 2030 ein dreifaches Ziel:
                                                        1. Sich gemeinsam über langfristige Perspek-
                                                            tiven und sich verändernde Kontexte für
                                                            verschiedene Formen der Arbeitnehmerbe-
                                                            teiligung in Europa auszutauschen.
                                                        2.  Mehrere Szenarien alternativer Zukünf-
                                                             te zu entwickeln, in denen die Strukturen
                                                             und Akteure der Arbeitnehmerbeteiligung
                                                             möglicherweise agieren werden.
                                                        3. Eine Kultur des langfristigen Denkens zu
                                                            stärken, unsere „Erinnerungen an die Zu-
                                                            kunft“ zu erweitern und mögliche Zukunfts-
                                                            strategien für Arbeitnehmerbeteiligung in
Liebe Leserin, lieber Leser,                                Europa aufzuzeigen und zu reflektieren.

In dieser Publikation unternehmen wir einen             Die hier vorgestellten Szenarien wurden von
mutigen Versuch: wir werfen einen Blick in              einer Gruppe von Menschen entwickelt, die
die Zukunft, und zwar in das Jahr 2030. Ist             sich mit Arbeitsbeziehungen befassen, aus
es wirklich möglich vorherzusagen, was 2030             verschiedenen Ländern kommen und aus un-
sein wird? Sicherlich nicht, aber das ist auch          terschiedlichen Perspektiven (Gewerkschaf-
nicht das Ziel unserer Szenarien. Wir geben             ter, Betriebsräte, Personalverantwortliche,
Ihnen vielmehr eine „Landkarte der Zukunft“             Wissenschaftler) auf das Thema schauen.
an die Hand, wie die Zukunft aussehen könn-                 Der Begriff „Arbeitnehmerbeteiligung“
te. Daher gibt es zwangsläufig immer mehr               ist hier in einem breiteren Sinne zu verste-
als nur ein Szenario. Das Entwickeln von                hen und umfasst die verschiedenen Insti-
Szenarien hilft uns, Alternativen zu entwer-            tutionen und Organisationen, Ebenen und
fen, auf mehrere unterschiedliche Zukünfte              Mechanismen, durch die Arbeitnehmer und
vorbereitet zu sein und uns mit den Risiken             ihre Gewerkschaften Einfluss auf die Ar-
und Chancen zu befassen, die vor uns liegen.            beitsbedingungen und die Entscheidungs-
So wie ein Kompass uns dabei hilft, uns im              prozesse im Unternehmen nehmen können.
Raum zu orientieren, so helfen Szenarien, uns           Dieser breite Ansatz berücksichtigt die gro-
in der Zeit zurechtzufinden.                            ßen Unterschiede zwischen den nationalen
    Wir leben in einer Zeit schneller Verände-          Arbeitsbeziehungssystemen im Hinblick auf
rungen, in der die einzige Beständigkeit der            Gewerkschaften, betriebliche Institutionen
ständige Wandel zu sein scheint. Wir wissen             der Arbeitnehmervertretung, Tarifverhand-
nicht, wie die Zukunft sein wird; wir wissen            lungen oder Arbeitnehmervertretung in Auf-
nur, dass sie anders aussehen wird als die              sichtsgremien. Ein wesentlicher Unterschied
Gegenwart. Gleichzeitig steht die Menschheit            zwischen den Mitgliedstaaten ist z.B., ob die
vor erheblichen Herausforderungen mit zum               Interessenvertretung auf betrieblicher Ebene
Teil besorgniserregenden Aussichten, denken             eingleisig (d.h. nur über die Gewerkschaf-
wir nur an die Finanz- und Wirtschaftskrise,            ten) oder zweigleisig über Betriebsräte und

8   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Einleitung
Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...
Gewerkschaften erfolgt.* Wir wollten, dass          jedes der vier Szenarien möglich erscheinen
die Szenarien für viele Länder funktionieren        lassen. Gleichzeitig ist keines von ihnen un-
und Raum zur Anpassung an spezifische nati-         vermeidbar. Das ist eine Schlüsselbotschaft
onale Rahmenbedingungen lassen.                     der Szenarien: wir haben es in der Hand, die
    Die Gewerkschaften stehen heute vor             Zukunft zu gestalten. Szenarien sind ein Mit-
enormen Herausforderungen. Während Un-              tel zur Führung eines konstruktiven Dialogs
ternehmen häufig auf europäischer oder so-          über Alternativen, Ungewissheiten und die
gar weltweiter Ebene tätig sind, müssen die         Frage, in welcher Zukunft wir leben wollen.
Gewerkschaften, trotz erheblicher Fortschrit-       Jedes der vier Szenarien wird auf drei Arten
te in der Zusammenarbeit auf europäischer           dargestellt, die einen unterschiedlichen Zu-
Ebene in jüngster Zeit, weitgehend auf natio­       gang ermöglichen: Szenario-Zusammenfas-
nale Instrumente der Interessenvertretung           sungen, Langfassungen und Kurzgeschich-
der Arbeitnehmer zurückgreifen. Gleichzei-          ten, die eine persönliche Perspektive auf die
tig nimmt der gewerkschaftliche Organisa­           verschiedenen Zukünfte bieten. Am Ende der
tionsgrad in vielen Mitgliedstaaten weiter ab,      Publikation finden sich einige Anregungen,
nicht zuletzt aufgrund von Veränderungen in         wie man mit den Szenarien in seinem eigenen
der Arbeitsgesellschaft, sei es durch den ra-       Umfeld weiterarbeiten kann.
santen Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse,            Wir möchten allen danken, die sich die
den Arbeitsplatzabbau in traditionell stark         Zeit für diese Erkundung der Zukunft ge-
gewerkschaftlich organisierten Branchen             nommen haben (s. Projektteam, S. 72). Wir
oder Arbeitslosigkeit. Heute müssen sich            mussten dazu sicheres Terrain verlassen und
Gewerkschaften sehr grundsätzliche Fragen           etwas machen, was wir normalerweise nicht
stellen: Wen vertreten wir? Wie finanzieren         tun: über mögliche langfristige Perspektiven
wir unsere Dienstleistungen? Wie weit wollen        nachdenken und Veränderungen antizipie-
wir in Entscheidungen einbezogen werden?            ren. Es war eine bereichernde Erfahrung, in
Müssen wir konfrontativer werden oder uns           dieser engagierten, aufgeschlossenen, ver-
kooperativ verhalten? Welche Hebel haben            trauensvollen und kreativen Atmosphäre zu-
wir? Diese Fragen sind nicht neu, aber zahl-        sammenzuarbeiten. Diese Publikation ist nur
reiche Entwicklungen weisen darauf hin, dass        ein Auszug all der Diskussionen und Gedan-
die Gewerkschaften neue Antworten finden            ken, die im Rahmen dieses Projektes entwi-
müssen. Gleichzeitig ist die Arbeitnehmer-          ckelt wurden. Besonderer Dank gebührt den
beteiligung nicht unabhängig von den allge-         Mitgliedern unserer „Szenario-Kerngruppe“,
meinen gesellschaftlichen Entwicklungen.            mit denen wir uns mehrfach zur Feinabstim-
Sie ist sowohl Ausdruck des Willens der Ge-         mung der Roh-Szenarien zusammengesetzt
sellschaft, die Bürger am Arbeitsplatz einzu-       haben. Des Weiteren danken wir Karl-Ludwig
beziehen, als auch ein wichtiges Instrument         Kunze und Stephanie Böhm, die die schwieri-
zur Gestaltung einer sozialen und demokrati-        ge Aufgabe übernommen haben, die Dynamik
schen Gesellschaft.                                 der verschiedenen Szenarien zu illustrieren.
    In dieser Publikation werden vier Zu-               Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim
kunftsszenarien vorgestellt. Sie umfassen           Lesen – und freuen uns auf Ihr Feedback!
allgemeine Entwicklungen auf der Makroe-
bene ebenso wie Strategien und Handlungen           Michael Stollt und Sascha Meinert
von Menschen und Organisationen auf der             April 2010
Mikro­ ebene, in erster Linie von Akteuren
                                                    * Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Systeme der
der Arbeitnehmerbeteiligung. Die Szenarien          Arbeitsbeziehungen in Europa finden Sie unter http://www.
sollen aber weder vorhersagen, wie Gewerk-          worker-participation.eu/National-Industrial-Relations
schaften in einem sich verändernden Umfeld
(re)agieren werden, noch ihnen vorgeben,
was sie zu tun bzw. zu lassen haben.
    Welches Szenario ist nun das „richtige“?
Wir wissen es nicht. Für uns sind sie aus
heutiger Sicht alle vorstellbar und wir sehen
Anzeichen, die eine Entwicklung in Richtung

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Einleitung                                                                 9
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Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...
Arbeits­-
beziehungen
2030
Vier Szenarien

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien   11
Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien - WORKER ...
12   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien
Kurzfassungen
der Szenarien
Szenario

1.
Das Leben
geht weiter ...

Nach einigen sorgenvollen Jahren ist die                      lokaler Ebene in diesen Jahren zweifellos ge-
europäische Wirtschaft (und die Weltwirt-                     stärkt worden. Fast überall stehen betriebli-
schaft) wieder in Gang gekommen. Die Krise                    che Bündnisse auf der Agenda – viele Zuge-
scheint überwunden und Befürchtungen, das                     ständnisse werden erwartet, um im Gegenzug
gesamte System könnte zusammenbrechen,                        zumindest einen Teil der Jobs zu sichern.
haben sich allmählich aufgelöst. Jetzt gilt es,                   Die Gewerkschaften gehen auch ihr dring-
die Scherben zu kitten und die „verlorenen                    lichstes internes Problem an, nämlich den ge-
Jahre“ der Krise aufzuholen. Europa ist nicht                 fährlichen Trend sinkender Mitgliederzahlen
unversehrt aus der Krise hervorgegangen und                   in den meisten EU-Mitgliedstaaten zu stop-
wird im Hinblick auf eine Wirtschaftsbele-                    pen. Viele Gewerkschaften führen Maßnah-
bung einige bittere Pillen schlucken müssen,                  men zur „Professionalisierung“ durch und
um wettbewerbsfähig bleiben und Arbeits-                      bemühen sich, ihren (potenziellen) Kernmit-
plätze erhalten zu können. Vor allem die                      gliedern bessere Dienstleistungen anzubieten.
dynamischen Schwellenländer, wie China,                       Die Strategie, sich zu einem professionellen
Indien und Brasilien, setzen die Europäer zu-                 Dienstanbieter für Arbeitnehmer zu entwi-
nehmend unter Druck. Es ist nicht die Zeit für                ckeln, erweist sich als erfolgreich und vielen
grandiose Visionen oder soziale Wunschträu-                   Gewerkschaften gelingt es sogar, ihre Mitglie-
me: Pragmatismus und Ad-hoc-Lösungen                          derzahl zu erhöhen. Gleichzeitig tauchen viele
für die dringlichsten Probleme beherrschen                    neue, kleine, aber höchst effiziente Gewerk-
die Tagesordnung. Gewerkschaften und Be-                      schaften auf, die Arbeitnehmerinteressen in
triebsräte sind eng an einem nahezu perma-                    spezifischen Berufsgruppen vertreten.
nenten strukturellen Wandel beteiligt. Sie                        Generell kann man sagen, dass die Gesell-
leisten einen konstruktiven Beitrag zur Über-                 schaft insgesamt und auch die Gewerkschaf-
windung der Folgen der Krise und sind daher                   ten recht gut mit den Herausforderungen
begehrte Partner bei der Gestaltung des Wan-                  einer zunehmend volatilen Weltwirtschaft
dels und der Durchführung von Innovationen                    zurechtgekommen sind. Tragisch bei diesem
in den Unternehmen. Insgesamt gesehen sind                    Szenario ist allerdings, dass diejenigen, die
die Kompetenzen der Interessenvertreter auf                   am meisten Unterstützung benötigen – seien

14   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
es Arbeitnehmer in prekären Arbeitsverhält-
nissen, deren Zahl dramatisch zugenommen
hat, oder Langzeitarbeitslose – in der Regel
keinerlei Unterstützung erhalten, auch nicht
von den Gewerkschaften, die doch einst mit
dem Ziel gegründet wurden, für die Rechte
der Schwächsten einzutreten.

Leitfragen:
Sind die Gewerkschaften auf dem Weg zu einem reinen
Dienstleistungsanbieter für den abnehmenden Kreis derer,
die eine sichere Stelle haben und es sich leisten können?
Wie können Gewerkschaften und Betriebsräte den Inter­
essen einer wachsenden Zahl „atypischer Arbeitnehmer“
und Arbeitsloser Rechnung tragen, vor allem angesichts
der Tatsache, dass ihre beitragszahlenden Mitglieder wahr­
scheinlich etwas anderes von ihnen erwarten?

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien   15
Szenario

2.
GRID
Das Netz

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts                     von Allen Bereitschaft zur Veränderung er-
haben sich grundlegende institutionelle Ver-                  wartet wird; in einer zunehmend transparen-
änderungen vollzogen, die zu einem neuen                      ten Welt haben Trittbrettfahrer es schwer. Ge-
Gleichgewicht zwischen Wirtschafts-, Sozial-                  stützt auf bestehende weltweite Institutionen
und Umweltebene geführt haben. Die neue                       und Regulierungssysteme, die in den letzten
Ära der globalen Zusammenarbeit und Regu-                     60 Jahren geschaffen wurden, nehmen viele
lierung stützt sich auf die allgemeine Einsicht,              Akteure an der Gestaltung eines neuen welt-
dass es auf der Erde mit bald acht Milliarden                 weiten politischen Systems teil. Schritt für
Menschen und bereits begrenzten Ressourcen                    Schritt wird so eine kritische Masse an Regu-
schlichtweg keine Alternative gibt. Der wach-                 lierung und gegenseitiger Verantwortung in
sende Druck und die täglichen Erfahrungen                     und zwischen den Gesellschaften der Indus-
unserer gegenseitigen (und wechselseitigen)                   trie- und Entwicklungsländer erreicht. Ein
Abhängigkeit haben den Weg für ein System                     Schlüsselelement des neuen globalen Rechts-
geebnet, das unterschiedliche Interessen aus-                 gefüges ist das GRID, ein eng gesponnenes
gleicht und langfristige Lösungen sicherstellt.               Netz aus Institutionen und Regeln für die
    Ein moderates und stärker auf Qualität                    gerechte Verteilung von Ressourcen, Emis-
beruhendes Wirtschaftswachstum ist nach                       sionsrechten und Finanztransfers. In diesem
wie vor möglich. Die alte Unternehmensstra-                   komplexen System gegenseitiger Kontrollen,
tegie der Externalisierung von Kosten und In-                 an dem transnationale Organisationen und
ternalisierung von Gewinnen ist hingegen in                   Regelwerke, nationale Regierungen, Nichtre-
vielen Fällen nicht mehr möglich. Heute hat                   gierungsorganisationen, Gewerkschaften und
nicht nur Kohlendioxid einen Preis. Dennoch                   Unternehmen beteiligt sind, wird es zuneh-
haben Wirtschaft und Handel es geschafft, im                  mend schwierig zu ermitteln, wo genau die
Spiel zu bleiben, sich anzupassen und zu einer                Zentren der Macht liegen.
treibenden Kraft für den Wandel zu werden.                        Im historischen Vergleich vollzieht sich
In der heutigen Welt unterliegen Firmen mehr                  der Wandel mit einem atemberaubenden
Auflagen als je zuvor. Aber die meisten akzep-                Tempo. Viele Branchen hat es hart getrof-
tieren die notwendigen Einschränkungen, da                    fen. Eine der wichtigsten Prioritäten der

16   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
Gewerkschaften und Betriebsräte besteht da-                   nicht leicht gewesen und hat sie dazu gezwun-
rin, für einen sozialverträglichen Übergang                   gen, die Frage der Interessenvertretung aus
zu einer „grünen Wirtschaft“ einzutreten, ei-                 einer umfassenderen Perspektive anzugehen
nen fairen Ausgleich auszuhandeln und neue                    und ihre Organisationsstruktur grundlegend
Perspektiven für die Verlierer des Wandels zu                 zu ändern. Im Jahr 2030 sehen die Gewerk-
finden. Daher spielen sie eine wichtige Rolle                 schaften in der Tat anders aus als heute.
für den sozialen Zusammenhalt in einer tur-
bulenten Zeit.                                                Leitfragen:
    Viele Gewerkschaften und Betriebsräte                     Sind Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter vorberei­
                                                              tet, um als Schlüsselakteure an der proaktiven Gestaltung
sind im Laufe der Jahre zu Schlüsselakteuren
                                                              der Veränderungen, die für eine nachhaltige Zukunft
geworden. Sie haben die notwendigen Verän-                    notwendig sind, mitzuwirken? Sind sie bereit, ein breiteres
derungen proaktiv gefördert und sich als ein                  Konzept der Interessenvertretung zu verwirklichen? Welche
Pfeiler der neuen weltweiten Governance-                      organisatorischen Veränderungen wären erforderlich?
Strukturen erwiesen. Dabei haben sie dies
anfänglich nicht unbedingt aus Überzeugung
getan, sondern angesichts der dringend not-
wendigen Erneuerung der Gewerkschaften,
die mit einem kontinuierlichen Rückgang ih-
rer Mitgliederzahlen konfrontiert waren und
nicht als diejenigen gesehen werden wollten,
die den notwendigen Wandel aufhalten.
    Sie spielen beispielsweise eine Schlüs-
selrolle, wenn es darum geht, Menschen
miteinander zu verbinden, etwa bei der Zu-
sammenführung der Stimmen betroffener
Stakeholder, und sie haben wichtige Über-
wachungsfunktionen der Regierungen über-
nommen. Der Übergang ist mit Sicherheit

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien                                                    17
Szenario

3.
Allein /
Alles eins

Die zahlreichen Krisen unserer Zeit wirken                    zeigen sich in der Art und Weise, wie die Men-
als Katalysator für individuellen Wandel. Im-                 schen miteinander umgehen. Sie kreieren neue
mer mehr Menschen verlassen die traditio-                     Formen der Interaktion und schaffen Gemein-
nellen Wege und Paradigmen der Erwerbsar-                     schaften, um Lösungen für ihre Probleme zu
beitsgesellschaft. Sie bilden keine homogene                  finden und ihrem Leben einen Sinn zu geben
Gruppe, sondern werden durch unterschied-                     in einer Welt, in der ein simples mehr Haben-
liche Motive geleitet und schlagen verschie-                  wollen entweder nicht mehr zufriedenstellend
dene Wege ein. Eines aber haben z.B. ein                      ist oder schlichtweg nicht realisierbar scheint.
überarbeiteter Manager und ein frustrierter                   Das Leben findet immer mehr in Gruppen und
Langzeitarbeitsloser gemeinsam: So weiter-                    Netzwerken statt, die auf gemeinsamen Werten
machen wie bisher bietet nicht gerade eine                    und vertrauensvollen Beziehungen beruhen.
verlockende Aussicht. Viele ändern ihr Leben                  Dabei entstehen sehr unterschiedliche Teilnah-
grundlegend, aber dieser Wandel findet meist                  meformen und -praktiken, wenngleich die Mit-
ohne die Gewerkschaften statt                                 gliedschaft in diesen Gruppen und Netzwerken
    Immer mehr Menschen wenden sich von den                   eher fluid und unbeständig sein kann. Im Jahr
widersprüchlichen Anforderungen einer zerris-                 2030 leben die meisten noch in den vertrauten
senen Welt ab und versuchen ihrem Leben wie-                  Mustern und Paradigmen, aber eine beträchtli-
der eine Richtung zu geben. Viele wollen oder                 che Gruppe innerhalb der Gesellschaft hat be-
können schlichtweg nicht mehr darauf warten,                  gonnen, die Spielregeln zu verändern. Und je
dass die Institutionen sich ändern. Immer öfter               mehr Möglichkeiten sie zur Verfügung stellen,
nehmen sie die Herausforderungen, die sich                    desto leichter wird es für andere, sich ihnen an-
aus den epochalen Veränderungen der Lebens-                   zuschließen.
und Arbeitsbedingungen ergeben, selbst in die                     Die meisten Gewerkschaften in Europa
Hand. Da sie aber auch um ihre wechselseitige                 sind in diesen Jahren beinahe unbemerkt und
Abhängigkeit voneinander wissen, schließen                    wie ein ausklingendes Lied still und leise ver-
sie sich Netzwerken an, in denen sie das, was                 schwunden. Dies ist vor allem auf den konti-
sie benötigen, entwickeln und austauschen                     nuierlichen Verlust von Arbeitsplätzen in tra-
können. (Er)neue(rte) Formen der Solidarität                  ditionell stark gewerkschaftlich organisierten

18   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
Branchen zurückzuführen und auf die Tatsa-
che, dass bei ehemaligen oder potenziellen Ge-
werkschaftsmitgliedern einfach kein Interesse
(mehr) an einer Mitgliedschaft vorhanden ist.
Die neue Welt ist geprägt durch individuelle
Beziehungen, während traditionell kollekti-
vistisch ausgerichtete Gewerkschaften dahin-
schwinden. Für viele ist Erwerbstätigkeit nicht
mehr das Wichtigste, und außerhalb des Ar-
beitsplatzes haben die Gewerkschaften häufig
nur wenig zu bieten. Die Gewerkschaftsstruk-
turen als solches sind vielfach zusammenge-
brochen. Aber viele der Menschen, die einst
in den Gewerkschaften aktiv waren, bemühen
sich nun, andere Netzwerke und Initiativen zu
gründen oder schließen sich solchen an.

Leitfragen:
Wie können die Gewerkschaften auf die zunehmende
Vielfalt ihrer (potenziellen) Mitglieder und auf ihre
sich ändernden Einstellungen reagieren? Sind die
Gewerkschaften in der Lage, Menschen in schwierigen
Verhältnissen die Unterstützung zu geben, die sie wirklich
brauchen? Gibt es eine Zukunft für Gewerkschaften, wenn
Erwerbstätigkeit für viele nicht mehr der wichtigste Identi­
tätsanker oder nicht einmal mehr eine Realität darstellen
sollte? Was könnten sie anbieten, um den Menschen zu
helfen, ihr Potenzial zu entfalten und ihren Wunsch nach
einem sinnvollen Leben zu erfüllen?

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien   19
Szenario

4.
Der verlorene
Kuchen

Nach einigen Jahren relativer Erholung ist                    Krise zahlen“ – so das Motto der zunehmen-
die weltweite Wirtschaftskrise zurückgekehrt,                 den Proteste. Jeder versucht, aus der Situation
verursacht unter anderem durch überlastete                    das Beste für seine Gruppe und letztendlich
Staatshaushalte, eine Verknappung von Öl,                     für sich selbst herauszuholen. Dadurch wird
Gas und anderen wichtigen Ressourcen und                      es sehr schwer, Unterstützung für langfristige
die wachsenden Umweltprobleme. Die kos-                       Projekte und Strategien zu finden, die struktu-
metischen Reformen, die Ende des ersten                       relle Lösungen zur Verbesserung der schwie-
Jahrzehnts eingeleitet wurden, haben letzt-                   rigen Situation bieten. Große Institutionen
endlich nicht ausgereicht, um den Weg in eine                 im Allgemeinen und der europäische Inte­
nachhaltige Zukunft zu ebnen, sondern haben                   grationsprozess im Besonderen werden aus-
teilweise sogar die Probleme noch verschärft.                 gehöhlt, da sie auf längere Zeiträume angelegt
    Soziale Ausgrenzung und sogar regelrechte                 sind und Strukturen des sozialen Vertrauens
Armut nehmen in Europa stark zu – auch im                     erfordern. Für derartige Projekte bleibt keine
ehemals sicheren Mittelstand – und vergrö-                    Zeit, zumal die Früchte dieser Arbeit zu weit
ßern die Kluft zwischen Besitzenden und Be-                   entfernt scheinen. Die verbliebenen Ressour-
sitzlosen enorm. Das Vertrauen in die etablier-               cen der Erde, die bereits knapp waren, werden
ten Institutionen und in das Marktsystem ist                  rapide aufgebraucht, da jeder versucht, sich
weitgehend verschwunden. Es gibt nur wenig                    die letzten wertvollen Reste zu sichern.
Hoffnung und immer mehr Menschen fühlen                           Eine der großen Herausforderungen für
sich isoliert und als Opfer. Die meisten han-                 Gewerkschaften, Betriebsräte und die meis-
deln aus Furcht vor einer Mangelsituation und                 ten anderen Institutionen besteht darin, nach
kümmern sich nur um Dinge, die sie direkt                     einer Zeit des relativen Wohlstands und der
beeinflussen können. Der wachsende Unmut                      Stabilität nunmehr mit Mangel und Unbe-
in der Bevölkerung führt zu starken Spannun-                  ständigkeit zurechtkommen zu müssen. Die
gen und richtet sich gegen diejenigen, die als                Gewerkschaften haben auf unterschiedliche
Verantwortliche und Gewinner der Krise ge-                    Weise und entsprechend ihren besonderen Vo-
sehen werden, aber auch gegen die ineffekti-                  raussetzungen auf die neue Situation reagiert.
ve politische Elite. „Wir werden nicht für eure               Manche von ihnen haben versucht, beruhigend

20   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien
einzuwirken und sich in die Debatte zur Frage,
wie gerettet werden kann, was noch zu retten
ist, eingebracht. Manche kämpfen gegen die
offensichtlichsten und unmittelbaren Folgen
des Zusammenbruchs und versuchen, in einem
Klima der Hoffnungslosigkeit Solidarität und
Teilen durch konkrete Projekte für die beson-
ders Betroffenen zu organisieren. Bei anderen
Gewerkschaften und Betriebsräten ist es durch
die anhaltende Verschlechterung der Lage zu
einer Radikalisierung oder zur Entstehung von
Splittergruppen gekommen, gegründet von
Mitgliedern, die mit den zögerlichen und hilf-
losen Strategien ihrer Anführer unzufrieden
waren und nun mit zunehmend radikalen Akti-
onen die Führung selbst übernehmen.

Leitfragen:
Sind wir auf ein mögliches „Kollaps-Szenario“ vorbereitet,
haben wir dafür einen Notfallplan vorbereitet? Welche
Risiken stellen sich im schlimmsten Fall für uns und wel­
che Folgen hätten sie? Gibt es zum Beispiel einen Plan für
eine Zeit, in der billige fossile Energieträger nicht mehr zur
Verfügung stehen? Welche Kenntnisse und Kompetenzen
sind in einer solchen Situation hilfreich? Wie würden Ge­
werkschaften und betriebliche Arbeitnehmervertreter auf
eine zunehmende Radikalisierung der Gesellschaft (und
möglicherweise ihrer Mitglieder) reagieren?

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Kurzfassungen der Szenarien   21
Geschichten
Das Leben                                                 Menschen – wir verkaufen keine Handy-Klin-
                                                          geltöne an Kinder, wie ein Kollege letzte Wo-
                                                          che bemerkte. Ich kann in den Spiegel gucken,

geht weiter ...                                           ohne mich zu schämen.
                                                              Gerade sind die neuesten Mitgliederzahlen
                                                          erschienen: Jeden Monat sind es weniger. Wie
                                                          kommen wir aus dem Teufelskreis heraus?
                                                          Weniger Mitglieder heißt weniger Einfluss und
                                                          Mittel ... und damit weniger gute Ergebnisse
                                                          für unsere Mitglieder. Dies führt wiederum
                                                          dazu, dass mehr Mitglieder die Gewerkschaf-
                                                          ten verlassen, und so weiter. Offensichtlich
                                                          entsprechen wir nicht mehr den Erwartungen
                                                          und Realitäten vieler Arbeitnehmer.
                                                              Kürzlich erzählte mir eine Freundin, dass
                                                          sie etwa ein Jahr lang Mitglied einer Gewerk-
                                                          schaft gewesen sei. Sie war der Gewerkschaft
                                                          beigetreten, da sie Rat in einer spezifischen
                                                          juristischen Frage im Zusammenhang mit ih-
                                                          rer Arbeit brauchte. Da die Gewerkschaft ihr
                                                          nicht helfen konnte, trat sie nach einem Jahr
                                                          wieder aus. Wir müssen unseren Mitglie-
                                                          dern zuhören. Wir müssen unser Konzept von
                                                          Grund auf überdenken, um attraktiver zu wer-
                                                          den. Es darf nicht soweit kommen, dass junge
2010                                                      Menschen uns als einen Rentnerverein sehen.
                                                          Wenn wir nicht innovativ sind, werden wir
Heute hatte meine Tochter Clara ihren ersten              langsam aber sicher untergehen. Europa zählt
Schultag. Es war nicht ganz einfach, aber ich             mehr als 200 Millionen Arbeitnehmer – wir
habe es dann doch geschafft, sie rechtzeitig              müssen für sie sprechen und etwas bewegen.
zur Schule zu bringen. In ihrer Begrüßungs-
rede hat die Schulleiterin über den neuen                 2020
Lebensabschnitt gesprochen, der nun für die
Kleinen beginnt. Auf dem Weg zum Flugha-                  Es sind arbeitsreiche Jahre! Wir führen eine
fen denke ich an die Ideale, die ich hatte, als           Reihe von wertvollen Projekten durch, von
ich jung war. Ich wollte etwas bewegen. Ich               denen unsere Mitglieder wirklich profitieren.
arbeite seit acht Jahren für die Gewerkschaft.            Wir haben in den letzten Jahren Terrain zu-
    Das Leben ist kein Ponyhof, und in der ge-            rückgewonnen und beobachten nun sogar ei-
genwärtigen Krise stellen sich gewaltige He-              nen bescheidenen aber doch stetigen Anstieg
rausforderungen. Wir können die Welt wohl                 unserer Mitgliederzahlen. Wir sind wieder auf
nicht ändern, aber wir versuchen, im Spiel                dem richtigen Weg! Dennoch hat der Druck
zu bleiben und das Beste aus der Situation zu             weiter zugenommen, nicht zuletzt durch die
machen. Ich kann nicht klagen, ich habe eine              drastischen Kürzungen bei den öffentlichen
interessante Arbeit und ein gutes Einkom-                 Ausgaben. Und der weltweite Wettbewerb ist
men für mich und meine Familie. Jeden Mo-                 wahrscheinlich härter als je zuvor. Man muss
nat bezahlen wir das Schulgeld für Clara (und             zu den Besten gehören und die Herausforde-
wir haben ein Konto eröffnet, auf das wir re-             rungen proaktiv angehen.
gelmäßig Geld für ihr Studium überweisen).                   Die Beschäftigungslage hat sich weiter di-
Auch die monatlichen Hypothekenzahlungen                  versifiziert. Als Reaktion darauf haben wir in-
belasten unser Budget.                                    dividualisierte Formen der Mitgliedschaft und
    Natürlich gibt es Jobs, die besser bezahlt            maßgeschneiderte Dienstleistungspakete ent-
sind, Zuschläge und sogar mehr finanziel-                 wickelt. Intern mussten einige Kämpfe ausge-
le Sicherheit bieten. Aber meine Arbeit hilft             tragen werden. Es ist nicht mehr wie früher,

24   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
als man quasi automatisch einer Gewerkschaft         dem festen Anteil liegen. Ich bin froh, dass
beitrat, weil der Vater Gewerkschaftsmitglied        unser Haus in zwei Jahren abbezahlt sein
war. Heutzutage müssen Ge­werk­schaften spe-         wird. Vor einem Jahr hat Clara das Auswahl-
zifische und direkte Vorteile bieten, um neue        verfahren der Europäischen Kommission be-
Mitglieder zu gewinnen. Berufstätige sind            standen. Sie hat eine Stelle in der Abteilung
auch wesentlich mehr mit ihrer Karriere be-          für Umwelt, Gesundheitsschutz und Sicher-
schäftigt. Sie wollen nicht ehrenamtlich Zeit        heit angetreten, die sich mit Emissionen und
für gewerkschaftliches Engagement aufwen-            gefährlichen Stoffen befasst. Sie klagt jetzt
den. Dies sind unbequeme Wahrheiten für die          schon über das Arbeitspensum und die vielen
Gewerkschaften.                                      Reisen. Aber zumindest hat sie einen sicheren
    Wir bieten nun eine breite Palette an Pro-       Arbeitsplatz.
grammen, darunter auch eine dreimonatige
kostenlose Probemitgliedschaft. Haben Sie
ein Problem? Sie sind noch nicht Mitglied der
Gewerkschaft? Keine Sorge, registrieren Sie
sich jetzt und wir werden Ihnen helfen! Die
meisten bleiben in der Gewerkschaft, nach-
dem sie uns kennengelernt haben. Für man-
che Beratungsleistungen ist es nicht einmal
nötig, Mitglied zu sein. So geben wir ihnen
die Möglichkeit, zu begreifen, wie nützlich die
Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist. Kürz-
lich hat mein Team ein komplett ausgestatte-
tes Premium-Mitgliederprogramm konzipiert,
das unter anderem eine Zusatzrente und Ver-
sicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit bietet.
    Aber die Konkurrenz schläft auch nicht.
In den letzten Jahren sind kommerzielle
Jobservice-Anbieter wie Pilze aus dem Boden
geschossen und in vielen Unternehmen arbei-
tet die Geschäftsleitung eng mit nicht-organi-
sierten betrieblichen Arbeitnehmervertretern
zusammen, um für ihre Mitarbeiter ähnliche
Dienstleistungen anzubieten und so die Ge-
werkschaften fernzuhalten.

2030

Die Zahl unserer Mitglieder stagniert seit
Jahren. Aber es geht uns besser als vielen
anderen. Schließlich schrumpft der reguläre
Arbeitsmarkt kontinuierlich. Die unkontrol-
lierte Zunahme prekärer Beschäftigungsver-
hältnisse und die Tatsache, dass mittlerwei-
le 35 Prozent der Erwerbstätigen Freelancer
oder Selbständige sind, macht es uns nicht
einfach. In den letzten Jahren mussten wir
uns mehr denn je auf die Kernarbeitnehmer-
schaft in den größeren Unternehmen unserer
Branche konzentrieren. Es ist schlichtweg zu
schwierig, die anderen zu organisieren.
    In diesem Jahr werden die variablen
Komponenten unserer Gehälter weit unter

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten                                             25
GRID                                                      Scheideweg. Entweder fahren wir fort als
                                                          Zahnrad in einer erodierenden Maschine,
                                                          bis wir selbst auseinanderfallen und bedeu-

Das Netz                                                  tungslos werden. Oder wir entwickeln uns
                                                          zu einer Pioniergruppe unserer Gesellschaft,
                                                          um etwas Neues aufzubauen. Wir wissen, was
                                                          zu tun ist, also lasst es uns versuchen! Ist es
                                                          nicht eine unserer Stärken, Menschen zu or-
                                                          ganisieren und sie für einen grundlegenden
                                                          Wandel zu mobilisieren, einen Wandel, der
                                                          heute fast unerreichbar scheint? Dies setzt al-
                                                          lerdings voraus, dass wir über den Tellerrand
                                                          hinausblicken und akzeptieren, dass unsere
                                                          Aufgabe weit mehr umfasst als über Löhne
                                                          und Arbeitsbedingungen für einen schrump-
                                                          fenden Teil der Bevölkerung zu verhandeln.
                                                          Und ist mehr Wirtschaftswachstum, sei es
                                                          auch ein umweltorientiertes Wachstum,
                                                          wirklich die Lösung für unsere Probleme? Ei-
                                                          nige Jahrzehnte lang ist es den Gewerkschaf-
                                                          ten gelungen, Teile der enormen Überschüsse
                                                          auf den „kleinen Mann“ umzuverteilen. So
                                                          haben die Menschen einen kleinen Teil eines
                                                          rasch wachsenden Kuchens erhalten. Für im-
                                                          mer mehr von uns ist dies einfach nicht mehr
2010                                                      möglich, und ein paar wenige akkumulieren
                                                          die Gewinne. Der Teufel sch… immer auf den
Heute hatte meine Tochter Sara ihren ersten               größten Haufen! Wir sollten aufhören, über
Schultag. Was für ein Anblick! Zweiunddrei-               die Krise zu reden. Heute geht es um viele
ßig aufgeregte Menschlein, alle mit weit auf-             systemische Krisen, und schnelle Lösungen
gerissenen Augen und bereit, eine neue Welt               sind verlockend aber werden die Probleme
zu entdecken. Aber was steht ihnen bevor?                 nicht beheben. Sara muss in einer anderen
    Wir haben einen blühenden weltweiten                  Welt aufwachsen!
Markt geschaffen, in dem gleichzeitig mehr
als eine Milliarde Menschen hungern und                   2020
mehr als drei Milliarden in Armut leben. Wir
geben riesige Geldsummen für unsere Al-                   In diesen Jahren gilt es, Partei zu ergreifen.
tersversorgung und für unsere Gesundheits-                Die enorme Herausforderung, quasi spontan
systeme aus, während die Armut bei alten                  eine Wirtschaft aufzubauen, die völlig an-
Menschen zunimmt und die Gesundheitsver-                  ders funktioniert, hat auch tatsächlich eine
sorgung schlechter wird. Der Klimawandel                  Lawine in den europäischen Gewerkschaften
zeigt uns eindringlich, dass wir die Probleme             ins Rollen gebracht. Es geht dabei um keine
mit dem System, das sie geschaffen hat, nicht             geringere Aufgabe als die Schaffung eines
lösen können. Die Wirtschaftskrise, die durch             neuen Modells menschlicher Zivilisation, das
das Scheitern der Finanzmärkte und unsere                 auch weltweit funktioniert. Manchmal habe
unverantwortlichen Hypotheken verursacht                  ich das Gefühl, dass dies einer Sisyphusarbeit
wurde, hat viel Vertrauen zerstört, nicht nur             gleichkommt, mit endlosen Diskussionen
in das System, sondern auch in seine Insti-               und aufwendigen Bemühungen, um die Leu-
tutionen. Und trotzdem machen wir einfach                 te zu überzeugen. Welche Position vertreten
weiter wie gewohnt.                                       die Gewerkschaften in Bezug auf den Über-
    Ich habe bereits bei vielen Podiumsdis-               gang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft?
kussionen darauf hingewiesen: Als Gewerk-                 Ist die Aussicht auf Millionen neuer grüner
schaften stehen wir an einem historischen                 Arbeitsplätze nur eine Illusion? Wer wird in

26   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
dieser Wirtschaft arbeiten und unter welchen         Innovationen zu überleben. Die Geschwin-
Bedingungen? Was erwarten unsere Mitglie-            digkeit, mit der sich die Entwicklung in den
der – vor allem in den traditionellen Bran-          letzten zwei Jahrzehnten vollzogen hat, und
chen – von uns oder von der Gesellschaft in          die Institutionen und der gemeinsame Rah-
ihrer Gesamtheit? Werden die Gewerkschaf-            men, der in diesem Zeitraum geschaffen
ten eine Vorreiterrolle bei der Bewältigung          wurden, sind einzigartig in der Geschichte.
dieser gewaltigen Herausforderung spielen            Die Begeisterung für diese Veränderungen
oder die Handlanger für andere sein und              ist noch begrenzt. Aber insgesamt gesehen
ihr eigenes Grab schaufeln? Sollte es nicht          besteht dennoch Vertrauen in das System,
Aufgabe der hochbezahlten Manager und                nicht zuletzt deswegen, weil die Regeln für
Politiker sein, Lösungen zu finden? Mit sol-         alle verbindlich sind. Rückblickend können
chen Fragen haben sich Gewerkschaften und            wir sagen, dass die Menschheit wohl mit ei-
Betriebsräte bei ihrer kontroversen und zu-          nem blauen Auge davon gekommen ist.
weilen ermüdenden Suche nach einem neuen                 Auch unsere Arbeit hat sich grundlegend
Selbstverständnis auseinandergesetzt.                verändert. Heute sehen Gewerkschaften an-
    Zum Glück gibt es in zahlreichen Ins-            ders aus als noch zu Beginn des Jahrhun-
titutionen innerhalb aber auch außerhalb             derts. Wir sind zu einem wichtigen Akteur
der Gewerkschaften viele, die nicht länger           geworden, wenn es darum geht, den Konflikt
warten wollen, bis der Wandel sich vollzieht         zwischen Wirtschaftswachstum und öko-
oder andere tätig werden. Alte Trennungsli-          logischem Kapital zu begrenzen. Wir sind
nien verlieren in dieser Hinsicht zunehmend          Teil der GRID und tragen dazu bei, dass sie
an Bedeutung. Jetzt organisieren wir unsere          funktioniert, gleichzeitig werden auch wir
eigene Boston Tea Party, um die Koloniali-           stärker kontrolliert. Wir müssen ein brei-
sierung durch ein Wirtschaftswachstumsmo-            tes Spektrum von Interessen berücksichti-
dell zu überwinden, das einfach nicht mehr           gen, nicht nur die unserer Mitglieder. Und
funktioniert. Viele beharren jedoch auf den          das ist für viele kein leichter Übergang. Wie
Privilegien, von denen sie abhängig geworden         könnte es auch anders sein, wenn so viel auf
sind. Nicht selten haben wir die Macht und           dem Spiel steht, die Herausforderungen so
Entschlossenheit derjenigen zu spüren be-            groß sind und die Zeit für Veränderungen so
kommen, die kurzsichtige Interessen und alte         knapp ist? Die Gewerkschaften haben sich
Gewohnheiten verteidigen.                            ihrer Verantwortung gestellt. Wir haben los-
                                                     gelegt und uns an die Arbeit gemacht. Wie
2030                                                 ein Schneepflug macht die Maschine des
                                                     Übergangs den Weg zu einer nachhaltigen
Allmählich zeichnen sich klare Konturen              Zukunft frei. Wir versuchen zu helfen, wo
einer nachhaltigen Entwicklung ab. 2026              wir können, um neue Perspektiven für Ar-
ist es nach langen und konfliktreichen Ver-          beitnehmer zu eröffnen, deren Arbeitsplatz
handlungen endlich zur Gründung der GRID             in Gefahr ist. Ich muss allerdings zugeben,
– Organisation für globale Ressourcen- und           dass das Schlagwort eines „gerechten Über-
Einkommensverteilung (Organisation for               gangs“ für viele zynisch klingen muss, wenn
Global Resources and Income Distribution)            man an ihre persönliche Situation denkt.
gekommen. Natürlich ist sie nicht einfach            Nicht wenige unserer Mitglieder sind ausge-
vom Himmel gefallen. Die GRID hat zahlrei-           treten, da die Gewerkschaft aus ihrer Sicht
che internationale Übereinkommen und In-             einige ihrer ehemals wichtigsten Werte mit
stitutionen zu einem dichten System gegen-           Füßen getreten habe.
seitiger Kontrollen und Regelungen für den               Kürzlich hat Sara bei meiner 60. Geburts-
Ausgleich unterschiedlicher Interessen ver-          tagsfeier eine Rede gehalten. Sie sagte, dass
flochten. Die größten und mächtigsten Un-            sie sehr stolz darauf sei, was die Generation
ternehmen haben schnell verstanden, dass             ihrer Eltern für ihre eigene Zukunft und die
sie gut daran tun, die neuen Regeln zu akzep-        ihrer Kinder getan habe, und dass diese Zu-
tieren – nicht nur um ihre Betriebslizenzen          kunft wenig gemein habe mit den düsteren
nicht zu gefährden, sondern auch um den              Aussichten, die noch vor zwei Jahrzehnten
Wettbewerb auf der Grundlage nachhaltiger            Anlass zur Sorge gegeben hatten.

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten                                             27
Allein /                                                  2020

                                                          Durch die Inflation haben sich unsere Schul-

Alles eins                                                den zumindest teilweise verringert. Wir kön-
                                                          nen zwar nicht alle Wünsche unserer Tochter
                                                          erfüllen, aber insgesamt gesehen geht es uns
                                                          nicht so schlecht. Es gefällt mir, mit Menschen
                                                          zu arbeiten. Als ich 2010 meine Arbeit verloren
                                                          hatte, waren die Aussichten auf eine neue Stel-
                                                          le äußerst schlecht. Ende 2011 habe ich mich
                                                          selbständig gemacht. Immer noch besser als
                                                          das Angebot meines Jobmanagers, als Nacht-
                                                          wächter auf einer Baustelle zu arbeiten. Was
                                                          die Krise bedeutet, ist einem nicht bewusst,
                                                          bis man seine Arbeit verliert. Dann ist man
                                                          plötzlich selbst Teil von ihr. Der Abstieg geht
                                                          schnell. Die meisten Stellen, die einem ange-
                                                          boten werden, sind prekäre Beschäftigungs-
                                                          verhältnisse. Allerdings muss man sich fragen,
                                                          wie man dies als atypische Arbeitsverhältnisse
                                                          bezeichnen kann, wo so viele davon betroffen
                                                          sind?
                                                              Meine Familie und ein paar gute Freunde
                                                          haben mir in dieser schweren Zeit Halt gege-
                                                          ben. Der Anfang verlief wie so oft in diesen Fäl-
2010                                                      len: Mein Selbstwertgefühl sank, ich war oft
                                                          ungehalten, blieb zu Hause vor dem Fernseher
Heute hatte meine Tochter Anna ihren ersten               und öffnete um elf Uhr die erste Bierdose, um
Schultag. Natürlich haben wir sie zur Schule              den langen Tag zu überstehen. Ohne Arbeit
gebracht. Und jetzt? Jo ist zur Arbeit gefahren.          ist man nichts in unserer Gesellschaft, eine
Ich werde einen Kaffee im neuen Café auf der              Art fauler Außenseiter. Wenn du keine Arbeit
Ecke trinken. Verflucht! Man sagt, dass die               findest, dann liegt es an dir. Du musst aktiver
Gewerkschaften für Solidarität eintreten. Das             sein! Du musst deine Fähigkeiten weiterentwi-
habe ich auch immer gedacht. Gestern habe ich             ckeln, um eine neue Stelle zu finden! Du musst
ebenso wie einige meiner Kollegen die Mittei-             deine Erwartungen zurückschrauben! Und so
lung erhalten, dass unsere Verträge zu Beginn             weiter und so weiter.
des nächsten Jahres auslaufen … und dass es                   Ohne Paul, der mehr für mich war als nur
Zeit sei, dass wir unsere restlichen Urlaubstage          ein Mentor, wäre ich aus dem Sumpf nicht
nehmen. In den letzten fünf Jahren habe ich               herausgekommen. Irgendwann habe ich reali-
mich unermüdlich dafür eingesetzt, die Arbeit             siert, dass ich etwas besaß, das vielen gestress-
der Gewerkschaft zu fördern und gegen den                 ten Leuten um mich herum offensichtlich
Trend sinkender Mitgliederzahlen anzugehen.               fehlte: Unabhängigkeit und Zeit ­­– viel Zeit!
Und jetzt? „Durch finanzielle Zwänge hat sich             Meine erste Initiative, eine gemeinnützige,
unser Handlungsspielraum auf ein Minimum                  von der Gemeinde unterstützte Tageseinrich-
reduziert. Wir sehen leider keine andere Mög-             tung, stieß auf große Resonanz, nicht nur weil
lichkeit. Es ist keine leichte Situation für uns“         der Kaffee kostenlos angeboten wurde. Hier
steht in dem Schreiben. Was habe ich jetzt                kamen Menschen zusammen, um sich über
noch für einen Handlungsspielraum? Und was                ihre Probleme und Einzelkämpferstrategien
werde ich Anna sagen?                                     auszutauschen. Aus diesen Begegnungen sind
                                                          schnell neue Ideen und Initiativen hervorge-
                                                          gangen.

28   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
2030

Gestern habe ich auf einem öffentlichen Bild-
schirm eine Sendung gesehen, bei der Promi-
nente die Frage diskutierten : „Was kommt
nach der Arbeitsgesellschaft?“. Solche Sen-
dungen hat es bereits vor 30 Jahren gegeben.
Hat sich seitdem wirklich nichts geändert? Der
kurze Bericht, der zu Anfang der Sendung ge-
zeigt wurde, wies darauf hin, dass erstmals we-
niger als die Hälfte der Erwerbsbevölkerung
einen Arbeitsvertrag von mehr als 12 Monaten
hat. Nur acht Prozent der Erwerbstätigen in
Europa sind Mitglied einer Gewerkschaft, die
meisten von ihnen gehören zu den privilegier-
ten Beschäftigtengruppen. Der Anteil der Selb-
ständigen ist hingegen auf mehr als ein Drittel
gestiegen. Die gemeinnützige Wirtschaft und
soziale Netzwerke spielen eine zunehmend
wichtige Rolle für große Teile der Gesellschaft.
Ich habe das Gefühl, dass diese Prominenten
über eine Welt reden, die bereits seit über 20
Jahren nicht mehr existiert, zumindest nicht
für mich. Und ich war mit Sicherheit nicht der
erste …
    Zum Glück besteht das Leben aus weit
mehr als der Frage, welchen Job man hat.
Meine Familie, Paul und viele andere, denen
ich in meinem Leben begegnet bin, haben mir
dies klar gemacht. Es ist wahr: es ist eine gro-
ße Herausforderung, nicht zu wissen, was in
einem oder zwei Jahren sein wird. Aber ich
weiß auch, dass ich nicht allein bin, und darauf
vertraue ich.

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten   29
Der verlorene                                             haben die Arbeitgeber den längeren Arm. Bei
                                                          einer Verlagerung unserer Arbeitsplätze an
                                                          billigere Standorte sind wir alle die Verlierer.

Kuchen                                                    Wir müssen alle am Ende des Monats unsere
                                                          Miete bezahlen und wir tragen die Verant-
                                                          wortung für unsere Kinder.

                                                          2020

                                                          Wie ist es möglich, dass die Lage sich der-
                                                          art verschlechtert hat? In den letzten zehn
                                                          Jahren sind Milliarden Euro in das gleiche
                                                          kranke System der Gier, Kurzsichtigkeit und
                                                          Arroganz gepumpt worden. Die Banken lei-
                                                          hen Unternehmen kein Geld mehr? Dann
                                                          überfluten wir eben den Markt mit billigem
                                                          öffentlichem Geld, dann wissen wir zumin-
                                                          dest, wo die nächste Blase herkommt. Übri-
                                                          gens, für welche Risiken lassen Banken ihre
                                                          Kunden eigentlich zahlen, wenn sie selbst
                                                          gegen sämtliche Risiken beim Staat vollkas-
                                                          koversichert sind? Heute reicht es, die Sum-
                                                          men, mit denen man jongliert, aufzublasen.
                                                          Man muss schlau sein und klotzen. Wenn
                                                          man zu den Großen gehört, wird man von den
2010                                                      Politikern als systemrelevant betrachtet und
                                                          mit frischem Geld versorgt, um eine Game-
Heute hatte meine Tochter Ella ihren ersten               over-Nachricht zu vermeiden. Unsere jungen
Schultag. Leider konnte ich sie nicht selbst              dynamischen Investmentbanker sind schnell
in die Schule bringen. Nächste Woche orga-                zu ihren Cocktailparties zurückgekehrt und
nisieren wir eine Demonstration gegen die                 haben auf ihre jüngsten Boni angestoßen. Die
jüngsten Einschränkungen des Kündigungs-                  Rechnung zahlen natürlich wir – der einfa-
schutzes. Und es gibt noch eine Menge Arbeit.             che Mann auf der Straße! Du hast kein Konto
    „Wir werden nicht für eure Krise zahlen!“             auf den Kaimaninseln? Wie schade! Du hast
Damit stimme ich voll und ganz überein. Un-               deine Arbeit verloren? Tut mir leid, aber wir
sere Mitglieder erwarten eine Reaktion von                müssen alle den Gürtel enger schnallen in
uns. Viele fordern drastischere Aktionen.                 dieser schwierigen Zeit.
Aber ist Konfrontation die richtige Strategie?                Das macht mich krank. Wir werden das
Sollten wir nicht eher versuchen, durch Ver-              nicht länger akzeptieren. Unsere Strategie,
handlungen für unsere Mitglieder das Beste                ruhig zu bleiben und hart für den Aufschwung
aus der katastrophalen Situation herauszu-                zu arbeiten, hat uns nicht weitergebracht. Sie
holen? In diesen schwierigen Jahren sollten               haben uns alles genommen, was wir hatten.
wir das Kind nicht mit dem Bade ausschüt-                 Die Sonne scheint auf die Gerechten und die
ten. Und ist das Licht am Ende des Tunnels                Ungerechten, aber der Regen fällt nur auf die
nicht schon sichtbar? Sobald die Wirtschaft               Gerechten, weil die Ungerechten ihnen den
wieder in Gang gekommen ist, wird es auch                 Regenschirm gestohlen haben.
für uns besser werden. Ich kann den Zorn                      Also wenn wir untergehen, dann bitte mit
der Leute verstehen, aber wir sollten nichts              Champagner! Und solange die Chinesen un-
übereilen. Wir müssen uns um die Forderun-                sere Atmosphäre verschmutzen und mit üb-
gen unserer Mitglieder kümmern, denn nur                  len Tricks versuchen, ihre Produkte auf unse-
zusammen wird es uns gelingen, aus dieser                 re Märkte zu bringen, lohnt es sich nicht, den
Situation herauszukommen. Und eine Sache                  Weltverbesserer zu spielen. Hilf dir selbst,
dürfen wir nicht vergessen: letzten Endes                 sonst hilft dir keiner. Die meisten unserer

30   Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten
Politiker sollten nach Hause geschickt wer-
den. Wir werden die Dinge nun selbst in die
Hand nehmen!

2030

Unser Wohlstand war eine Illusion. Heute
wissen wir, dass sich unser Wirtschaftsmodell
auf ungedeckte Schecks stützte. Wir waren
alle hinter Aufträgen und mehr Umsatz her,
um eine höhere Rentabilität unserer Investi-
tionen zu erzielen oder zumindest einige Ar-
beitsplätze zu retten – um jeden Preis. Bis vor
ein paar Jahren dachte ich, es könnte nicht
mehr schlimmer werden. Aber das war ein
fataler Irrtum. Es hat keinen Sinn, zu kämp-
fen, wenn nichts zu gewinnen ist. Wir müssen
anfangen, die Ruinen zu beseitigen, Stein für
Stein. Vielleicht werden die Kinder von Ella
den Weg in eine neue, bessere Zukunft fin-
den. Viele sagen, dass wir von vorn beginnen
müssen. Aber das ist nicht wahr. Die junge
Generation muss aus unserem Vermächtnis
etwas machen. Ich schäme mich aber für das,
was wir ihnen hinterlassen haben. Wir sollten
jetzt zumindest selbst einen Anfang machen,
solange wir noch können.

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Geschichten   31
Szenarien
Das Leben geht weiter ...
„Man bekommt im Leben nichts geschenkt.“ Redensart

Am Ende der Nullerjahre des neuen Jahr-                       Anstieg der Arbeitslosigkeit. Auch waren die
tausends, als Europa unter der weltweiten                     folgenden Jahre von fortlaufenden Umstruk-
Finanz- und Wirtschaftskrise zu leiden hatte,                 turierungswellen gekennzeichnet, die nach
war die Stimmung trübe. Weltweit investier-                   Ansicht der Unternehmensleitungen notwen-
ten die Regierungen – zumindest diejenigen,                   dig waren, um wieder in Gang zu kommen
die finanziell in der Lage dazu waren – Milli-                und die in zahlreichen Branchen im Laufe der
arden Euro- und Dollarbeträge in ihre schwer                  letzten Jahrzehnte aufgebauten Überkapazi-
angeschlagene Wirtschaft. Gewiss, die Men-                    täten abzubauen. Flexible Arbeitszeitmodelle
schen hatten ein ungutes Gefühl dabei, soviel                 und Leiharbeit hatten sich für die Unterneh-
Geld in genau das System zu pumpen, das                       men während der Krise als Instrument zur An-
maßgeblich die Probleme verursacht hatte.                     passung an sich schnell verändernde Marktsi-
Aber gab es eine Alternative?                                 tuationen bewährt und nahmen weiter zu.
    Die europäische Wirtschaft erholte sich –                     Den Menschen war bewusst, dass sich das
langsam aber sicher – von der Krise. Bis Mitte                System noch nicht wieder vollständig erholt
der 2010er Jahre verzeichneten die meisten                    hatte, und sie akzeptierten, dass zumindest in
EU-Mitgliedstaaten einen leichten Anstieg                     den ersten Jahren Zugeständnisse notwendig
ihres Bruttoinlandsprodukts. Die Optimisten                   sein würden, um den nach den schwierigen
sollten Recht behalten: das Weltwirtschafts-                  Jahren einsetzenden Miniboom nicht zu ge-
system stellte sich als stabiler heraus als viele             fährden. Lohnerhöhungen fielen in dieser Zeit
gedacht hatten und die politischen Maßnah-                    eher bescheiden aus, glichen aber zumindest
men zur Regulierung der Finanzmärkte tru-                     zum Teil die Inflation aus. Außerdem nährten
gen dazu bei, ein gewisses Maß an Vertrauen                   die steigenden Gewinne vieler Unternehmen
wieder herzustellen.                                          die Hoffnung, dass auch für die Arbeitnehmer
    Das Schlimmste schien vorüber zu sein                     das Ende der „Dürreperiode“ nahte.
und es war an der Zeit, die Scherben zu kitten.                   Doch Europas Konkurrenten schliefen
Die Krise hatte einige Narben hinterlassen,                   nicht. Die Belebung der Weltwirtschaft brach-
wie eine enorme Erhöhung der Staatsschul-                     te auch die dynamischen Schwellenländer in
den und in vielen Ländern einen erheblichen                   Asien und Südamerika wieder in Schwung und

Arbeitsbeziehungen 2030 Vier Szenarien Szenarien Szenario 1                                              35
viele neue, höchst wettbewerbsfähige globale                 Notwendigkeit weiterer staatlicher Beihilfen;
Konkurrenten forderten ihre Mitbewerber in                   oder einer gemeinsamen Erklärung zur Be-
den traditionellen Industrieländern heraus.                  schleunigung der Gesetzgebungsverfahren zur
Hinzu kam, dass die Unternehmen die hohen                    Zulassung neuer Produkte – Management und
Schulden zurückzahlen mussten, die sie vor                   Arbeitnehmer sprachen oft mit einer Stimme.
allem im letzten Jahrzehnt angehäuft hatten.                     Im Laufe der Jahre verlagerte sich die
    Auch die öffentlichen Ausgaben standen                   Macht immer mehr auf die lokale Ebene. 2020
unter dem Druck, das enorme Defizit der                      war die Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher
letzten zehn Jahre wieder auszugleichen. We-                 Ebene wesentlich wichtiger geworden, wäh-
nigstens erleichterte die relativ hohe Inflation             rend z.B. Tarifverhandlungen auf Branchene-
dieser Jahre die Rückzahlung von Anleihen,                   bene in den meisten EU-Mitgliedstaaten an
Krediten und Hypotheken. Es kam nicht zu                     Bedeutung verloren hatten. Die größere Ver-
Massenprotesten gegen die Lohnkürzungen                      antwortung der lokalen Betriebsräte und Ge-
im öffentlichen Dienst, die Verringerung der                 werkschaften wurde allgemein begrüßt und
Sozialausgaben und den zunehmenden Druck                     von der Unternehmensleitung unterstützt.
auf Arbeitslose, auch schlechter bezahlte Ar-                Das Potential der Beschäftigten zur weiteren
beit anzunehmen. Diese Maßnahmen wurden                      Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und als
weitgehend als notwendig akzeptiert, um die                  treibende Kraft für Innovationen wurde allge-
Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu                       mein anerkannt, nicht zuletzt auch, um dem
bringen. Aus dem gleichen Grund wurde in                     eigenen Handeln einen „grünen“ Anstrich zu
mehreren Ländern der Kündigungsschutz ge-                    verpassen. In vielen Ländern erfuhren auch
lockert. „Wir müssen die Wettbewerbsfähig-                   Modelle der finanziellen Beteiligung der Ar-
keit unserer Unternehmen auch in der neuen                   beitnehmer einen neuen Aufschwung. Sie
globalen Realität gewährleisten,“ begründe-                  bildeten zum Teil einen Ausgleich für die zu-
ten die Regierungen die Notwendigkeit dieser                 rückhaltende Lohnentwicklung der vergange-
Maßnahmen für gewöhnlich.                                    nen Jahre.
    Die 2010er Jahre waren sicher nicht die                      Für viele Manager war es normal gewor-
Zeit für grandiose gesellschaftliche Visionen                den, freiwillige Beiträge zu den lokalen Struk-
und Gedanken über einen grundlegenden                        turen der Arbeitsbeziehungen zu leisten. Sie
Wandel. Es war die Zeit zu handeln! Betriebs-                betrachteten sie als gute Investition in die
räte und Gewerkschaften waren aktiv in die                   Produktivität und den „Arbeitsfrieden“. Es
Gestaltung der Arbeitswelt nach der Krise                    war nicht immer ganz eindeutig, wer die ver-
eingebunden. Es gelang ihnen zum Teil, lang-                 schiedenen Gruppen von Arbeitnehmerver-
fristige Arbeitsplatzgarantien für die Arbeit-               tretern finanzierte und wen sie letztendlich
nehmer durchzusetzen und, wenn es unver-                     vertraten. Manche nannten sie „Pseudo-Ge-
meidlich war, Sozialpläne auszuhandeln, um                   werkschaften“. Sie selbst sahen sich als „prag-
die Auswirkungen des Arbeitsplatzverlustes                   matische, nicht ideologische Alternative“ und
für den Einzelnen zu mildern.                                manche von ihnen konnten den Beschäftigten
    Das Bild der Arbeitnehmerbeteiligung in                  ihre Erfolge ganz gut verkaufen.
den Medien verbesserte sich zusehends. Die                       Die Gewerkschaften standen vor der gro-
konstruktive Rolle der Betriebsräte und zahl-                ßen Herausforderung, den Sinkflug ihrer Mit-
reicher Gewerkschaften während und nach der                  gliederzahlen aufzuhalten. Die umfassende
Krise überzeugte auch einige ihrer ursprüng-                 wirtschaftliche Umstrukturierung während
lichen Gegner. Vor allem auf Betriebsebene                   und nach der Krise und der damit einherge-
arbeiteten die Arbeitnehmervertreter enger                   hende Verlust von Arbeitsplätzen in traditi-
mit dem Management zusammen als je zuvor.                    onell gut organisierten Branchen hatten den
Diese alltägliche Zusammenarbeit bei der Su-                 Mitgliederschwund sogar noch beschleunigt.
che nach Lösungen für bestehende Heraus-                     Die zunehmende Individualisierung, größe-
forderungen führte dazu, dass beide Seiten                   re (berufliche) Mobilität und der Rückgang
der Wirtschaft enger zusammenrückten: ob                     freiwilligen Engagements trugen zu dieser
bei einem Aktionstag für zusätzliche kosten-                 bedrohlichen Entwicklung bei. Der demo-
lose CO2-Emissionszertifikate für das Unter-                 graphische Wandel übte zusätzlichen Druck
nehmen; einer Internet-Kampagne über die                     auf den gesamten sozialen Bereich aus und

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