Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN

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Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
KLASSIK
                                                        MAGAZIN 2010

              S t i m m e n, T ön e , H a r mon i e n

A l l e s ü b e r d e n E C H o K l a ss i k

     I n t e rv i e w s , H i n t e rg rü n de u n d R e p ortag e n

                                           Ist die Klassik
                                           ein Monster?
                                           Cecil i a Ba rtol i u nd a nder e Sta rs
                                           e r k l ä r e n da s A be n t e u e r M usi k

                                                                                  Sendetermin
                                                                                 17.10.2010
                                                                                  22 Uhr im ZDF

                                                                    w w w. e c h o k l a s s i k . d e
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CH O K LAS S IK M AGAZ IN

HOLEN SIE SICH DIE ECHO-STARS                                                                                   So klug und so schön wie in diesem Jahr
                                                                                                                war die Klassik selten! Der Beruf des Musikers

NACH HAUSE.                                                                                                     hat sich gewandelt. Heute wird nicht mehr nur schön
                                                                                                                gesungen, genial gegeigt und virtuos Klavier gespielt.
                                                                                                                Mit der Technik in der klassischen Musik ist es wie mit
                                                                                                                den Leistungen im Sport: die Interpretationen werden
                                                                                                                immer besser, ausgefeilter und raffinierter. Aber das
                                                                                                                ist noch nicht alles. Heute beherrschen Musiker nicht
                                                                                                                mehr nur ihre Instrumente. Sie sind zu Wissenschaft-
                                                                                                                lern der Musik geworden, zu Abenteurern im Weinberg
                                                                                                                                  des Klanges, zu Philosophen der Klassik:
                                                                                                                                            Ein Dirigent wie Nikolaus Harnon-
                                                                                                                                                  court sucht seit jeher nach den
                                                                                      Vorworte 4 · Das Multimedium 8 · Alice Sara Ott 12             Ursprüngen seiner Musik,
                                                                                    Leif Ove Andsens, Evgey Kissin, Arabella Steinbacher 14            Paavo Järvi oder die Geige-
                                                                                  Murray Perahia 15 · Jonas Kaufmann 16 · Joyce DiDonato 18               rin Isabelle Faust stellen
                                                                       Minguet Quartett, Gautier Capucon, Christina Pluhar 20 · Nikolaus Harnoncourt,       ganz neue Fragen an Be-
                                                                            Isabelle Faust 21 · MDG 22 · Angelika Kirchschlager 24 · Olga Scheps 25
                                                                                                                                                             ethoven, Cecilia Bartoli
                                                                                                                                                              wird zur Historikerin,
                                                                        Tabea Zimmermann, Nils Mönkemeyer 26 · David Garrett 27 · Cecilia Bartoli 28
                                                                                                                                                              wenn sie sich auf die
                                                                       Huelgas Ensemble, Paavo Järvi 30 Mariss Jansons, Ulf Schirmer 31 · Lang Lang 32
                                                                                                                                                              Suche nach der grau-
                                                                     Hannover Chöre 34 · Bryn Terfel 35 · Casal Quartett, Marek Janowsky 36 · Amarcord 37
                                                                                                                                                              samen Geschichte
                                                                          Bruno Weil, Martin Schmieding, Jos van Immerseel 38 · Hélène Grimaud 39
                                                                                                                                                              der Kastraten macht,
                                                                              Vivica Genaux, Karl Amadeus Hartmann, Yannick Nézet-Séguin 40
                                                                                                                                                             und die Geigerin Ta-
                                                                      Lautten Compagney, Mihaela Ursuleasa, Christiane Karg 41 · Juan-Diego Flórez 42
                                                                                                                                                            bea Zimmermann ver-
                                                                              Christian Zacharias, Meta4 44 · Oswaldo Golijow, Janine Jansen 45            schachtelt das Barock
                                                                                     Gerd Schaller, Belcea Quartett 46 · Albrecht Mayer 47              mit der Moderne. Die Mu-
                                                                                   Fura dels Baus, See-Igel 48 · Fauré Quartett 49 · Sting 50         siker werden immer klüger
                                                                                                                                                    und verstehen es dabei, ihr
                                                                                                                                               Publikum auf spannende Reisen
                                                                                                                                        in die universelle Seelenlage des Men-
                                                                                                                schen mitzunehmen. Sie sind auf den Konzertpodien
                                                                                                                inzwischen ebenso zu Hause wie in Fernsehshows oder
                                                    2CD 480 4478                                                in Stadthallen. Die Klassik ist zu einer neuen Populär-
                                                    ET: 15.10.2010
                                                                                                                kultur geworden. Und das im besten Sinne! Sie steht im
                                                                                                                Mittelpunkt der Gesellschaft und nimmt sich Fragen
                                                                                                                vor, die uns alle angehen. Sie spricht über Psychologie,
DIE DOPPEL-CD MIT ALLEN PREISTRÄGERN                                                                            Politik und Gesellschaft. Und das stets mit der Logik
DES ECHO KLASSIK 2010                                                                                           der strengen Form und der Emotionalität des Klanges.
                                                                                                                Einige der klügsten und besten Musiker und ihre Missi-
                                                                                                                onen stellen wir ihnen in diesem Heft vor.
                                                                                                                Die ECHO-Preisträger 2010 sind der Beweis, dass
                                                                                                                die Klassik so munter lebt wie selten zuvor. Viel Vergnü-
                                                                                                                gen bei der Lektüre wünschen Ihnen Daniel Knöll und
                                                                                                                Axel Brüggemann.
                www.klassikakzente.de/echoklassik
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                  4|5

                                                                                                                                           Der ECHO Klassik:
                               Klassik für Millionen: 15. ECHO-Klassik-Verleihung im ZDF
                               Grußwort von ZDF-Programmdirektor Dr. Thomas Bellut                                                         Klimax Klassik

                                        J                                                                                                  I
                                                   ubiläum einer Erfolgsgeschichte:       Essen der Pianist Lang Lang zusammen mit               ch freue mich sehr, dass die Verleihung     Die Bemühungen der gesamten Branche,
                                                   Zum 15. Mal überträgt das ZDF die      seinen jungen Kolleginnen Olga Scheps und              des 17. ECHO Klassik in Essen – also        Klassik einem jüngeren Publikum zugänglich
                                                   Verleihung des ECHO Klassik! 1996      Alice Sara Ott auf der Bühne.                          mitten in der europäischen Kulturhaupt­     zu machen, scheinen Erfolg zu haben. Neue
                                                   war „Ein Echo für Dresden“, wie die    Dabei garantieren auch in diesem Jahr ein mo­          stadt RUHR.2010 – stattfindet. Ich bin      Künstler und ECHO Klassik-Preisträger wie
                                         Sendung damals hieß, eine Benefizgala für        dernes multimediales Bühnenbild sowie inno­      mir sicher, dass die Preisverleihung ein wei­     beispielweise David Garrett, Nils Mönke­
                                         den Wiederaufbau der Frauenkirche, die live      vative Bühnen-, Kamera- und Lichttechnik,        teres Highlight des an kulturellen Höhepunk­      meyer, Meta4., Olga Scheps oder Christiane
                                         zur Mittagszeit aus der Semperoper übertra­      dass die großen Auftritte opulent in Szene       ten ja nicht armen Kulturhauptstadtjahres         Karg sprechen auch eine junge Zielgruppe an
                                         gen wurde. Vom Ergebnis waren alle ebenso        gesetzt werden. Wir bereiten der Klassik und     sein wird. Auch in diesem Jahr werden wieder      und sind Botschafter und Zeugen einer jungen
                                         überrascht wie erfreut: über 14 Prozent          ihren Interpreten die Bühne, damit sich die      Künstler von Weltrang beim ECHO Klassik           und frischen Generation.
                                         Marktanteil. Damit war klar: Das müssen wir      große emotionale Kraft der Musik und das         erwartet, was die hochkarätige Besetzung der      Letztendlich ist dieser Erfolg auch ein Ergeb­
                                         fortsetzen.                                      Talent der Künstler frei entfalten können.       Fernsehgala „ECHO der Stars“ bestätigt.           nis der guten Zusammenarbeit mit dem ZDF,
                                         2001 folgte für „Echo der Stars“ dann ein wei­   In 15 Jahren steter Arbeit haben wir mit         Besonderes erfreulich ist die Rekordbeteili­      das nunmehr seit 15 Jahren gemeinsam mit
                                         terer wichtiger Schritt: der Umzug ins Abend­    „Echo der Stars“ eine Gala etabliert, die für    gung beim ECHO Klassik in diesem Jahr. Rund       uns die klassische Musik einer breiten Öffent­
                                         programm, was die Zahl der Zuschauer ver­        die Klassik­szene zum Branchentreff und für      60 Labels wie zum Beispiel Sony Classical,        lichkeit präsentiert und dieser Musik einen
                                         doppelte. Dieser Erfolg belegt, dass man auch    das ZDF zu einer wichtigen Programmmarke         Universal Classics & Jazz, EMI Classics, Hänss­   besonderen Stellenwert im Rahmen ihres
                                         mit dem vermeintlich schwierigen Kulturgut       geworden ist.                                    ler Classic, cpo, Ars Produktion oder MDG und     Sendekonzeptes einräumt. Besonders freue
                                         Klassik ein Millionenpublikum erreichen kann.    Diese Gala ist seit 15 Jahren ein fixer Termin   viele weitere reichten in diesem Jahr Tonträger   ich mich in diesem Jahr darauf, dass Thomas
                                         Noch dazu, wenn wie dieses Jahr Thomas           für alle Klassikfans unter unseren Zuschauern    ihrer Klassik-Stars und jungen Talente aus al­    Gottschalk die Preisvergabe moderieren wird.
                                         Gottschalk durch „Echo der Stars“ führt.         und die, die es noch werden wollen.              ler Welt für die Teilnahme am bedeutendsten       Er ist gleichsam einer der besten und be­
                                         Unsere Aufgabe als Fernsehmacher ist, un­        Ich danke unserem Partner, dem Bundesver­        Klassikpreis ein. Insgesamt zählte die Deut­      liebtesten Moderatoren des deutschen Fern­
                                         seren Zuschauern in kontinuierlicher Format­     band Musikindustrie, dessen Kulturinstitut,      sche Phono-Akademie, das Kulturinstitut des       sehens und wird dem ECHO Klassik ein neues
                                         arbeit den Zugang zu klassischer Musik zu er­    die Deutsche Phono-Akademie, den ECHO            Bundesverbandes Musikindustrie e. V., in der      Gesicht geben und ihn in der öffentlichen
                                         leichtern und Lust auf Klassik zu wecken. Am     Klassik verleiht, für die gute Zusammenarbeit    siebenwöchigen Nominierungsphase mehr als         Wahrnehmung weiter stärken.
                                         besten gelingt dies, wenn bekannte Künstler      und freue mich, sie in den nächsten Jahren       570 Nominierungen für 248 Tonträger. Diese
                                         beliebte Werke präsentieren. Doch wir suchen     fortzusetzen.                                    beachtliche Zahl belegt einmal mehr, dass         Ihnen allen wünsche ich einen unterhalt­
                                         auch die Stars von morgen. Anna Netrebko,                                                         Klassik auf dem Vormarsch ist. So legte auch      samen und fulminanten ECHO Klassik in der
                                         Rolando Villazón oder Lang Lang beispiels­                                                        das Gesamtangebot von Klassiktonträgern           Philharmonie Essen.
                                         weise, heute weltberühmt, galten noch als                                                         auf dem deutschen Markt im letzen Jahr deut­
                                         Geheimtipp, als sie im ZDF ihren ersten TV-                                                       lich um 14,9 Prozent zu.                          Herzlichst
                                         Auftritt in Deutschland hatten. Und auch bei                                                      In diesem Jahr kommen mehr als die Hälfte
                                                                                          DR. thomas bellut
                                         „Echo der Stars“ treten alljährlich Newcomer     programmdirektor des ZDF                         der ECHO Klassik-Preisträger von kleineren
            Sendertermin                 neben gefeierten Stars auf: 2010 steht in                                                         Labels, die es sich zur besonderen Aufgabe

           17.10.2010                                                                                                                      gemacht haben, die Vielfalt und Wahrneh­
                                                                                                                                           mung klassischer Musik auch in speziellen
                                                                                                                                                                                             Prof. Dieter Gorny

             22 Uhr im ZDF
                                                                                                                                                                                             Vorstandsvorsitzender Bundesverband
                                                                                                                                                                                             Musikindustrie e.V.
                                                                                                                                           Genrebereichen zu fördern und zu stärken –
                                                                                                                                           das freut mich ganz besonders.
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                              KULTUR IN ESSEN.                                                                                                                                        TUP

                                                                                                                                                                 16. November 2010

                                                                                                                                                                 Cecilia Bartoli
                                                                                                                                                                 & Kammerorchester Basel
                                                                                                                                                                 „Sacrificium – La Scuola dei Castrati“
     WILLKOMMEN IN essen!
                                                                                                                                                                 Gefördert von der NATIONAL-BANK AG.

                                                                                                                                                                                               30. Oktober 2010                                                          2. Dezember 2010
     Sehr geehrte Damen und Herren, der ECHO          Als Generalmusikdirektor der Stadt Essen        Wir freuen uns sehr, dass die Philharmonie
                                                                                                                                                                                               Lied & Lyrik                                                              Martin Stadtfeld
     Klassik gehört ohne Frage zu den bedeu­          freut es mich außerordentlich, dass der Echo    Essen erstmals Gastgeber der ECHO Klassik-
                                                                                                                                                                                               Christian Gerhaher                                                        spielt Mozart
     tendsten Auszeichnungen für Interpreten          Klassik dieses Jahr im Zentrum der Kultur­      Gala sein wird. Dieses Haus ist mit seinem klar                                          Christian Gerhaher, Bariton                                               Martin Stadtfeld, Klavier
     klassischer Musik. Dass die Gala zur Preisver­   hauptstadt RUHR.2010 verliehen wird. Die        formulierten Anspruch ein wirklich passender                                             Gerold Huber, Klavier                                                     Mozarteumorchester Salzburg
     leihung nun erstmals in Essen stattfindet, ist   Stadt und mit ihr die Essener Philharmoniker,   Ort für die Veranstaltung. Schließlich sollen mit                                        Michael Autenrieth, Rezitation                                            Ivor Bolton, Dirigent
                                                                                                                                                                                               Berg · Schönberg · Beethoven ·                                            Gluck · Mozart
     für die Stadt eine besondere Ehre. Ich nehme     die als Orchester die heutige hochkarätige      dem ECHO Klassik nicht nur Weltstars ausge­
                                                                                                                                                                                               Webern · Haydn
     die Wahl nicht zuletzt als Anerkennung für       Konzertveranstaltung mittragen, blicken auf     zeichnet, sondern auch junge Talente gefördert                                                                                                                     18. Dezember 2010
     all das wahr, was Essen in den vergangenen       eine reiche musikalische Tradition bis zu Gu­   werden. Das ist eine Balance, mit der sich die                                           7. November 2010                                                          „Tell it like it is“
     Jahrzehnten zu einer lebendigen Kulturland­      stav Mahler und Richard Strauss zurück, die     Philharmonie identifiziert. Zum einen sind wir                                           Brahms: Requiem                                                           Thomas Quasthoff
     schaft über die Region hinaus beigetragen        in diesem Haus ihre Werke aufgeführt haben.     mit unserem eigenen Programm bestrebt, dem                                               Windsbacher Knabenchor                                                    & Friends
     hat und auch in Zukunft beitragen wird. Ich      Die herausragenden Musiker von heute und        Publikum neben großen Namen auch die inter­                                              Christiane Oelze, Sopran u. a.                                            Anne Sofie von Otter, Mezzosopran
                                                                                                                                                                                               Gefördert von der Philharmonie-Stiftung
     bin überzeugt, dass die Philharmonie als         morgen, die jetzt hier ausgezeichnet werden,    nationalen Nachwuchskünstler zu präsentieren,                                                                                                                      Michael Schade, Tenor
                                                                                                                                                                                               der Sparkasse Essen.
                                                                                                                                                                                                                                                                         Thomas Quasthoff, Bassbariton
     Gastgeber und die Essener Philharmoniker         haben ihr Publikum erreicht. Sie sind Bot­      die uns alle mit ihrem unglaublichen Können,                                                                                                                       Max Raabe, Gesang | Maria João, Gesang
                                                                                                                                                                                               25. November 2010
     der diesjährigen ECHO Klassik-Gala einen         schafter unserer wunderbaren Kunst und mit      ihrer leidenschaftlichen Hingabe zur Musik                                                                                                                         Götz Alsmann und Thomas Quasthoff,
     außergewöhnlichen Glanz verleihen werden.        ihrer Präsenz auf Tonträgern der Beweis, dass   und ihrer musikalischen Neugier begeistern.
                                                                                                                                                                                               Juan Diego Flórez                                                         Moderation u. v. a.
                                                                                                                                                                                               Juan Diego Flórez, Tenor                                                  Mahler Chamber Orchestra &
     Allen Preisträgerinnen und Preisträgern          Musik mitten ins Leben der Menschen ge­         Zum anderen verkörpert das Gebäude selbst                                                Württembergisches Kammerorchester                                         Andrea Marcon
     gratuliere ich ganz herzlich und wünsche den     hört. Damit unterstützen sie uns wirksam in     eine gelungene Synthese aus Alt und Neu, aus                                             Alessandro Vitiello, Dirigent                                             WDR Big Band Köln &
     mitwirkenden Künstlern und Gästen einen          unserer Aufgabe, die Musik der Bürgerschaft     etablierter und moderner Architektur: Der histo­                                         Rossini · Verdi · Cimarosa · Boieldieu u. a.                              Michael Abene
                                                                                                                                                                                               Gefördert von der Kulturstiftung Essen.                                   Gefördert von der DIHAG.
     wunderbaren Abend in der Kulturhauptsstadt       dieser Stadt immer wieder nahe zu bringen.      rische Saalbau, in dem Gustav Mahler einst die
     RUHR.2010!                                       Ich sage allen Teilnehmern ein aufrichtiges     Uraufführung seiner sechsten Sinfonie leitete,                                           29. November 2010
                                                                                                                                                                                                                                              Alle Konzerte der Spiel-   Karten-Telefon:
                                                      Toi-toi-toi und wünsche den Zuhörern einen      erstrahlt seit 2004 in neuem Glanz. Ich heiße                                            In Residence: András Schiff
     Reinhard Paß                                                                                                                                                                                                                             zeit 2010 | 2011 sind      02 01 81 22-200
     Oberbürgermeister der Stadt Essen                inspirierenden, genussreichen Abend.            Sie als Gäste sowie alle auftretenden Künstler                                           Hommage à                                      bereits im Vorverkauf!     01 80 59 59 59 8 (0,14 € /Min.)
                                                      Stefan Soltesz
                                                                                                      in der Philharmonie herzlich willkommen beim                                             Robert Schumann
                                                      Generalmusikdirektor der Stadt Essen            ECHO Klassik 2010!                                                                       András Schiff, Klavier

                                                                                                      Dr. Johannes Bultmann
                                                                                                      Intendant Philharmonie Essen

                                                                                                                                                                                                                                                                          www.philharmonie-essen.de
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                                                         8|9

                               ein Multimedium
                       Musik ist älter als das Fernsehen –
                       dabei scheint sie fürs TV gemacht zu sein

                                  M
                                                                    usik ist – wenn man so will – eines der ersten Multimedien. Sie
                                                                    ist ein Gefühlsverwandler, eine Weltsprache und eines der ersten
                                                                                                                                         gesprengt, ebenso wie sich die Regeln des Staates verändert haben. Musik ist ein Abbild
                                                                                                                                         unserer Gesellschaft. Komponisten haben neue Instrumente entdeckt: Bach das Ham­                 Vir Politicus
                                                                    Kommunikationsmittel der Menschen! Schon in der Steinzeit­           merklavier, Strauss die Kuhglocke, Stockhausen den Computer. Doch neben der dauernden            Kurt Masur wird für sein
                                                                    höhle wurde auf Knochenflöten geblasen, im alten Ägypten             Erneuerung wurden stets die alten Klassiker in die aktuelle Zeit übersetzt: ein Mozart unter     Lebenswerk geehrt
                                                                    hat die Harfe den Kontakt zu den Göttern hergestellt, Indianer       Karajan klingt nach 1970, einer unter Harnoncourt nach 2010!
                                                                    haben bei Gefahr getrommelt, im Mittelalter haben die Mönche         Die Mediengesellschaft hat erkannt, dass die Inzest-, Hass- und Liebesüberschriften der          Er ist der Dirigent der Einheit. Kurt
                                                                    ihren Gott im Chor angerufen, und nebenbei wurde vom Volk zu         „BILD“ in den Opern von Mozart, Verdi und Wagner längst vorgedacht waren und dass der
                                                                                                                                                                                                                                          Masur hat das Musikleben der DDR
                                                                    Fiedelklängen getanzt. Heute hat sich die Musik problemlos in        Systemiker Bach auch die Grundlagen für den Pop gelegt hat: Egal, ob Götz Alsmann in
                                   die modernen Multimedien eingegliedert: Klassik macht Radio, und im Internet wird sogar Bach          seiner „Nachtmusik“ Mozart mit Ukulele begleitet und als Herzblutmusiker keine Probleme          geprägt und die Freiheit der Klassik
                                   legal „gedownloaded“. Die Schallplatte wurde von der DVD ersetzt, auf der man Dirigenten,             damit hat, Jazzer wie Jamie Cullum neben der Cellistin Sol Gabetta auftreten zu lassen. Oder     hochgehalten. Er hat in New York und
                                   Sänger und Musiker nicht nur hören, sondern auch sehen kann. Selbst im Kino hält die Oper             ob Thomas Gottschalk stets einen Platz auf seinem „Wetten dass …“-Sofa für Anna Ne­              in London am Klang getüftelt – und ist
                                   Einzug. Natürlich sind Mozart und Puccini auch im Fernsehen angekommen. So modern wie in              trebko, Rolando Villazón oder Lang Lang reserviert.
                                                                                                                                                                                                                                                                doch immer in der
                                   den letzten Jahren war die klassische Musik selten.                                                   Dieses Jahr übernimmt Gottschalk die ECHO-Präsentation von Götz Alsmann. Für Gott­
                                   Kein Wunder also, dass sie viele neue Fürsprecher gefunden hat: Popmusiker wie Sting (siehe           schalk gehören Besuche in Bayreuth und Salzburg zur Abwechslung vom Showgeschäft.                                      Musik zu Hause.
                                   letzte Seite) erklären den Rock längst für tot und suchen neue Inspiration bei Stravinsky. Natür­     Vielleicht, weil er weiß, dass seine Lieblingsgäste, die Scorpions und einst Michael Jackson,                          Egal, welchen
                                   lich auch, weil Klassik-Stars wie Thomas Quasthoff oder Renée Fleming die Grenzen ihres Gen­          die legitimen Erben von Mozart und Wagner sind. Die Klassik ist im Fernsehen zu Hause.                                 Komponisten
                                                  res längst brillant überspringen, ihre Stimmen drosseln, mit dem Mikrofon flirten      Und das ist nur der Anfang: Live-Opernübertragungen von Originalschauplätzen begeistern
                                                                                                                                                                                                                                                                sich Kurt Masur
                                                          und besten Jazz und Pop machen. Das sind keine Pseudo-Crossover mehr           das Publikum, Konzerte werden durch Künstlergespräche bereichert. Irgendwann wird die
                                                              wie früher, sondern ernste Ausflüge in die aktuelle Musik mit den          Klassik sicherlich auch eine eigene Sendung bekommen, in der über Politik und Psychologie,                             vorknöpft: für ihn
                                                                   Mitteln des klassischen Handwerkzeugs. Und auch die Klassik­          über Macht und Mode, über Krieg und Frieden geredet wird. Denn um all das geht es in der         ist die Musik eine Frage von Herz und
                                                                      künstler selbst sind inzwischen keine Elfenbeinturm-Musiker        Musik. Sie ist das einzige Medium, das das Unerklärliche erklären kann. Man muss die Musik       Verstand, von Logos und Emotion.
                                                                         mehr, sondern bedienen Facebook (siehe Sara Ott oder das        nur lassen!
                                                                                                                                                                                                                                          Beethoven und Co. sind für ihn Mah-
                                                                           Fauré Quartett) ebenso selbstverständlich wie einen alten     Der ECHO Klassik ist eines der (viel zu seltenen) Musik-Fernsehhighlights des Jahres. Die
                                                                            Steinway. Es ist nicht mehr klar, wer eigentlich moderner    Möglichkeiten der Musik im Fernsehen sind längst nicht ausgeschöpft. Beim ECHO können            ner, Visionäre und Menschen aus
                                                                              ist: Lady Gaga oder Bach! Auf jeden Fall stehen sie sich   die Stars, die sich täglich um Neudeutungen, um historische Zusammenhänge, um die Tech­          unserer Gegenwart. In ihren Klängen
                                                                               nicht mehr im Weg.                                        nik und die Fragen der Interpretation kümmern, ihre Ergebnisse vorstellen. Plötzlich steht       stöbert Masur die epische Geschichte
                                                                                Die Klassik scheint unserer bewegten Zeit etwas zu       die Musik im Rampenlicht. Die Klassik wird zur Show, ohne sich dabei selbst aufzugeben.
                                                                                                                                                                                                                                          des Humanismus auf. Ebenso wie sie
                                                                                geben, das wir zunehmend vermissen: Beständigkeit,       Für eine Stunde zeigt sie, dass sie mehr ist als schöne Klänge, dass sie der Pulsschlag un­
                                                                                Tradition und wahrhafte Gefühle. Aber gleichzeitig ist   serer Vergangenheit und unserer Gegenwart ist. Dass sie Dinge aussprechen kann, die mit          verkörpert er die Tradition, die Erfah-
                                                                                sie auch das Medium des ständigen Wandels: von einer     Worten nicht auszudrücken sind. Dass sie das Multimedium Fernsehen vorgedacht hat und            rung und die ewige Wandelbarkeit in
                                                                               Epoche zur nächsten wurden die Regeln der Harmonie        es noch heute in neue Dimensionen führen könnte.                              Axel Brüggemann
                                                                                                                                                                                                                                          eine neue Epoche. Dafür wird er nun
                                                                                                                                         Von Axel Brüggemann ist gerade das Buch „Wie Krach zu Musik wird – die etwas                     mit dem ECHO-Klassik für sein Lebens-
                                                                                                                                         andere Musik­g eschichte“ bei Beltz und Gelberg erschienen. Unter anderem mit Beiträgen
                                                                                                                                         der ECHO-Klassik-Preisträger Cecilia Bartoli und Nikolaus Harnoncourt
                                                                                                                                                                                                                                          werk ausgezeichnet.
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
WIR GRATULIEREN!
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN

                                                                                                                                                                      DEN ECHO KLASSIK-PREISTRÄGERN 2010
                                                                                                                                                                      UND FREUEN UNS AUF DIE GEMEINSAMEN NEUEN KONZERTE
             Der Echo hat sie alle!
                         Schauspieler, Medienmenschen und Prominente zu Gast beim ECHO Klassik 2009
                                                                                                                                        JONAS                                                                            JOYCE
                                                                                                                                        KAUFMANN                                                                         DIDONATO
                                                                                                                                        SÄNGER                                                                           SÄNGERIN
                                                                                                                                        DES JAHRES                                                                       DES JAHRES

                                                                                                                                        IN PLANUNG 2011                                                                  19.10.10 HAMBURG

                                                                                                                            2

                                                                                                                                                            KLASSIK 2010                                                                                          KLASSIK 2010
                 1                                                                                                                                                                                                          OICES

                                                                                                                                        VIVICA                                                                           LANG LANG
             3

                                      4                                                                                                 GENAUX
                                                                                                                                                                                                                         INSTRUMENTALIST
                                                                                                                                6
                                                                                                                                                                                                                         DES JAHRES
                                                                                            t nur auf der                               OPERNEINSPIELUNG
                                                                     ik 2009 war nich
                                                  Der ECHO-Klass                              er den Kulissen                           DES JAHRES
                                                       e eine  rie se n   Gala. Auch hint
                                                  Bühn                                   gefeiert. Dieter
                                                                    sik prominent                                                                                                                                        IN PLANUNG
                                                  wurde die Klas                                  brille von den                                                                                                         DEUTSCHLAND UND
                                                              w  ar tr ot   z dunkler Sonnen
                                                   Wedel  1                                                                             12.04.11 HAMBURG                                                                 SCHWEIZ 2012
                                                                                          s geblendet.
                                                                     der Klassikstar
                                                   Geheimnissen                            -Preisträgerin
                                                                     go führ te ECHO
                                                   Placido Domin                                roten Teppich.
                                                            op hi e M  ut   ter 2 über den                      m
                                                   Anne  -S                                     islaw Tillich ka
                                                         se ns M  in is te  rpräsident Stan
                                                    Sach                                      vier de
                                                                       Der Harfenist Xa
                                                    mit Gattin 3 .                          . talia
                                                                                              Na
                                                                       Semperoper 4
                                                    Maistre in der
                                                                                                                                                            KLASSIK 2010

                                                                                             führ ten                                    OICES
                                                                         tz Alsmann 5                                                                                                                                                                             KLASSIK 2010

                                                     Wörner und Gö
                                                                                        assik-Paar
                                                                 als flirtendes Kl                                                                                                                                        The Classical Company
                                                                                                                                                                                                                                Switzerland

                                                                                               d.
                     5                                                      durch den Aben
                                                                  7                            r Prof.
                                                                            Die ZDF-Männe
                                                                                              ter und
                                                                          Markus Schäch
                                                                                                                                                                                                                                                  DIE NEUE LIVE-DVD

                                                                                                                                        DAVID
                                                                                                                                                                                                                                              „ROCK SYMPHONIES“
                                                                                              fachsim­
                                                                         Claus Kleber 6                                                                                                                                                           JETZT IM HANDEL!
                                                                                             Musik im
                                                                        pelten über die
                                                                                            Crossover-
                                                                                                                        8
                                                                                                                                        GARRETT                            TOURNEE MIT                          ROCK SYMPHONIES TOUR
                                                                       Fernsehen. Die
                                                                                          sica Cubana 7                                                                    DER RUSSISCHEN                       18.05.11 HANNOVER
                                                                      Gewinner Clas
                                                                                          ch dem Auftrit
                                                                                                            t                           BESTSELLER                         NATIONALPHILHARMONIE                 20.05.11 BAD SEGEBERG
                                                                     haben auch na                       ndes verband                   DES JAHRES
                                                                                                  m   Bu
                                                              La  un  e.  D
                                                                          ­  ie ter Gorny 8 vo                     .
                                                                                                                                                                           01.05.11 LEIPZIG                     08.06.11 BREMEN
                                                        gu te                                       annende Show
                                                             ik in du  st  rie  er war tet eine sp                                                                         02.05.11 BERLIN                      10.06.11 BERLIN
                                                        ­Mus
                                                                                                                                                                           03.05.11 HAMBURG                     12.06.11 STUTTGART
                                                                                                                                                                           06.05.11 BADEN-BADEN                 13.06.11 KÖLN
                                                                                                                                                                           08.05.11 FRANKFURT/M.                14.06.11 WIESBADEN
                                                                                                                                                                           09.05.11 MÜNCHEN                     17.06.11 LUDWIGSLUST
                                                                                                                                                            KLASSIK 2010                                        22.06.11 MÜNCHEN
                                                                                                                                                                                                                25.06.11 ERFURT
                                                                                                                                                                                                                26.06.11 DRESDEN

                                                                                                                                        AUF GROSSER TOURNEE       • OKTOBER – NOVEMBER 2010                     28.06.11 HALLE (WESTF.)

                                                                                                                                    Tickethotline:   01805 - 696 000 555*           (*14 Ct./Min. - Mobilfunkpreise können abweichen)         www.deag.de und an allen bekannten VVK-Stellen
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                                                                          12 | 13

                                                           Eine Romanfigur                                                                       Aber Ott beherrscht natürlich auch die Umkehrung der Verkehrung der Welt. Dann
                                                                                                                                                 ist sie plötzlich eine unglaublich ernsthafte, ganz unträumerische, disziplinierte
                                                                                                                                                                                                                                                       Die Sonne ist
                                                                                                                                                                                                                                                       eine Frau
                                                           am Klavier
                                                                                                                                                 Arbeiterin an den Tasten. Anders wäre es auch gar möglich gewesen, dass sie
                                                                                                                                                 zunächst bei „Jugend musiziert“ und dann bei mehr als 17 internationalen Wett­
                                                                                                                                                 bewerben mit dem ersten Preis nach Hause gegangen ist und dass sie zu einer der
                                                                                                                                                 renommiertesten Klavierspielerinnen unserer Zeit geworden ist, deren Karriere                              Was bin ich? Ein Produkt internatio-
                                                                                                                                                 gerade erst begonnen hat.                                                                                  naler Kommunikation, das versucht,
                                        Alice Sara Ott stellt die Welt gern auf den Kopf.
                                                                                                                                                 Fleiß, Ordnung, Klugheit sind die Grundlage. Auf dieser Basis erlaubt sich die Mu­                         eine Orientierung zwischen Illusion und
                                        In ihrer Musik vereint sie selbst den Gegensatz von Leben und Tod

                                                           E
                                                                                                                                                 sikerin, die Welt ein wenig auf den Kopf zu stellen und zu fragen, ob das, was wir                         Wirklichkeit zu finden und davon über-
                                                                                                                                                 sehen, immer wahr sein muss, oder ob das, was wir phantasieren, nicht wirklicher                           zeugt ist, dass die Sonne weiblich und
                                                                           iner der besten japanischen Autoren ist Haruki Murakami: ein Zaube­   sein kann. Die dauernde Überblendung von wahrhaftigen Träumereien und von                                  der Mond männlich ist. Mir geht’s gut.
                                                                           rer zwischen Wirklichkeit und Phantasie und ein Erfinder merkwür­     traumwandlerischem Realitätssinn durchströmt auch ihre Musik. Ganz besonders
                                                                           dig transzendenter Frauengestalten, die mit geschlossenen Augen       ist das in den Walzern von Frédéric Chopin zu hören. Für sie weit mehr als nur schö­
                                                                           durch die Welt wandern und anderen so die Augen öffnen. Alice Sara    ne Musik der Romantik!
                                                                           Ott könnte aus einem Roman von Haruki Murakami kommen.                Ott gelingt es mühelos, in diesen Werken den Spagat von aktueller Politik zu tran­
                                                           Die junge Pianistin ist schräg, sie verdreht die Standards unserer Welt, taucht in    szendenten Träumereien zu spinnen. So hat sie sich etwa gewünscht, die Chopin-
                                                           psychologische Bücher ab und lebt, wenn sie wieder aufgetaucht ist, ihre ureigene     Walzer auf der Danziger Werft zu spielen. Dort, wo einst die Solidarność geboren
                                                           Wirklichkeit. Die Schwerkraft der Welt scheint für sie nicht immer zu gelten. Ott     wurde, wo Polens Befreiung begann und die Einigung des Landes. „Das war zeitle­
                                                                                                                                                                                                                                                            Lieblingszitat: „neeeeeeem!“ — von
                                                           bewegt sich durch ihr Leben und durch die Klassik-Szene wie es ihr gefällt, mal       bens der Traum von Chopin“, sagt Ott, „leider hat er ihn nicht erlebt. Deshalb ist mir
                                                                                                                                                                                                                                                            einem mysteriösen Fremden.
                                                           zutiefst ernsthaft, dann ausgelassen fröhlich, zuweilen albern — und immer: ganz      diese Sache so wichtig.“ Wenn sie dann an ihrem Instrument mitten im Hafen sitzt
                                                           sie selbst. Wenn ein Mensch Musik sein könnte, wäre er wahrscheinlich so wie Alice    und Walzer spielt, wird das musikalische Spektakel zu einem intimen Moment. Und
                                                           Sara Ott. Ein Aggregatzustand, eine Laune, ein Hauch, der kommt, verschwindet —       man kann sich vorstellen, dass der Komponist ihr aus dem Himmel zuhört.
                                                           und ganz anders wieder auftaucht. Ein sehr seltenes Phänomen.                         Alice Sara Ott scheint daran zu glauben, dass Musik selbst unüberwindbare Gren­
                                                           Die Deutsch-Japanerin wurde in München geboren (das Aussehen hat sie von der          zen überschreiten kann. Grenzen, vor denen unsere Körper und die rationalen Ge­
                                                           Mutter, die großen Hände vom Vater). Sie ging zur japanischen Schule und begreift     danken kapitulieren. Etwa die Grenze vom Diesseits zum Jenseits, vom Leben zum
                                                           sich selbst etwas ironisch als „Produkt des internationalen Verständnisses“. Doch     Tod. Wenn sie den a-Moll-Walzer von Chopin spielt, tut sie das immer auch für ihre
                                                                                                                                                                                                                                                            Lieblingsmusik: Pink Floyd,
                                                           so eine Formulierung ist — wie immer bei ihr — doppeldeutig. Sie ist nicht konkret    verstorbene japanische Großmutter. Sie hat mit ihr telefoniert, ihr das Stück vor­
                                                                                                                                                                                                                                                            Guns N’ Roses, Hiroschi Itsuki,
                                                           politisch gemeint, sondern eher zutiefst menschlich. Selten gibt es eine Musikerin,   gespielt — dabei ist die Oma an Lungenkrebs gestorben, übergegangen ins Jenseits.
                                                                                                                                                                                                                                                            Fall Out Boy, Metallica, Depeche Mode,
                                                           die so offen für alles ist, die jeden Zustand in dem sie sich bewegt, einzusaugen     Hört man Ott nun dabei zu, beginnt die Musik zu transzendieren, uns in eine andere
                                                                                                                                                                                                                                                            Schubert Lieder, Abba.
                                                           scheint, um ihn irgendwie zu verarbeiten.                                             Welt mitzunehmen, in ein Reich der schwerelosen Gedanken. In Otts Interpretation
                                                           Alice Sara Ott scheint eine eigene Lebensphilosophie etabliert zu haben. Die          wird der Klang zu einer Liebeserklärung, zu einer sinnlichen Erfahrung, in der für
                                                           Wirklichkeit ist für sie so etwas wie ein Traum, der Traum immer auch ein bisschen    einen Augenblick in Gedanken tatsächlich alles möglich wird, selbst der Dialog mit
                                                           Wirklichkeit. Manchmal, sagt sie, wacht sie auf, hat von der Donau geträumt und       den Toten. Auf Japanisch bedeutet Musik übrigens: „Klang-Spaß“. Genau das hört
                                                           stellt erschrocken fest, dass sie in Hamburg ist. In solchen Momenten dauert es       man bei Ott, wenn sie die Tasten streichelt.
                                                           einige Zeit, bis die Wirklichkeit und Phantasie sich in den Gedanken von Alice Sara   Dabei ist die Klavierspielerin in ihrer Freizeit ein durchaus konkreter, irdischer
                                                           Ott wieder trennen.                                                                   Mensch. Mit ihrer ebenfalls Klavier spielenden Schwester streitet sie schon mal
                                                                                                                                                                                                                                                            Das mag ich nicht: Den Klingelton
                                                                                                                                                 über die Farbe der Konzertkleider, über die Probezeiten am Steinway, der im Eltern­
                                                                                                                                                                                                                                                            meines Weckers. Sicherheitskontrollen
                                                                                                                                                 haus steht oder darüber, wer für die Unordnung im gemeinsamen Zimmer verant­
                                                                                                                                                                                                                                                            am Flughafen — weil meine Schuhe da
                                                                                                                                                 wortlich ist. Ott führt längst das Leben eines Jet-Set-Stars, aufgekratzt, ewig auf
                                                                                                                                                                                                                                                            immer piepen!
                                                                                                                                                 Tour, rastlos reisend, stets im Dienste der Musik. „Um so wichtiger sind die Mo­
                                                                                                                                                 mente, in denen ich zur Ruhe komme“, sagt sie, „denn erst in der absoluten Stille
                                                                                                                                                 beginne ich den Klang der Musik in mir selbst zu hören.“ Vielleicht ist das eines der
                                                                                                                                                 Geheimnisse der Pianistin: die ewige Dialektik aus Stille und Klang, aus Leben und
                                                                                                                                                 Tod, aus Traum und Wirklichkeit. In ihrer Musik scheinen all diese Gegensätze zu
                                                                                                                                                 einem märchenhaften Kosmos zu verschmelzen.

                                                                                                                                                      Nachwuchskünstlerin des Jahres (Klavier) Alice Sara Ott.
                                                                                                                                                      Frédéric Chopin: Sämtliche Walzer (Deutsche Grammophon/ Universal Music)

                               Sängerin des Jahres                                                 Sänger des Jahres                                             Instrumentalist des Jahres                                      Instrumentalist des Jahres
                               Joyce DiDonato                                                      Jonas Kaufmann                                                Siegbert Rampe                                                  Lang Lang
                               Colbran, The Muse                                                   Sehnsucht                                                     Wilhelm Friedemann Bach: Klavierwerke                           Tschaikowsky/Rachmaninoff: Klaviertrios
                               Virgin Classics/EMI Music                                           Decca/Universal Music                                         MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm                     Deutsche Grammophon/Universal Music
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                                                                              14 | 15

                                                                                                                                                                         Musik für die Musik
                                                                                                                                                               Murray Perahia glaubt nicht an Worte — für ihn ist Musik eine Blume,
                                                                                                                                                               die von ganz allein und nur für sich selbst wächst

                                                                                                                                                                         A
                                                                                                                                                                                         m Anfang war: die Musik. Eine Sprache, die       Besondere seiner Interpretationen. Perahia behauptet
                                                                                                                                                                                         nicht übersetzt werden kann und dennoch          nichts anderes als die Musik selbst. Sein Klavierspiel hat
                                                            Zum Weinen                                                                                                                   allgemein verständlich ist. Davon ist jeden­     nie eine konkrete Botschaft, sondern dient allein der Mu­
     Spray it Baby!                                         schön                                            Bestens in Form!                                                            falls der Pianist Murray Perahia überzeugt,      sik, ihrer Reinheit und ihrer Form, ihrer Emotionalität und
     Leif Ove Andsnes und Robin Rhode                                                                        Arabella Steinbacher geigt die                               der einmal den wundervollen Satz gesagt hat: „Musik wird        ihrer Strenge. Hört man sein Spiel, ist man aufgehoben in
                                                            Evgeny Kissin ist mehr als ein
     haben Mussorgskys Bilder einer                                                                          Meisterwerke der Klassik stets an                            aus Musik gemacht, nicht aus Worten.“                           einer Welt, die in sich stimmig ist.
                                                            Klavierspieler. Er lebt die Musik
     Ausstellung neu gerahmt                                                                                 der Grenze des Wahnsinns                                     Gemeint hat er damit, dass Musik ein eigener Kosmos ist,        Kein Wunder, dass ein Pianist wie er die Deformationen
                                                            als eigene Welt
                                                                                                                                                                          der sich selbst entwickelt und selbst zum Blühen bringt         der Klassik mit Skepsis beäugt. „Viele Zuhörer verlangen
     Die beiden haben die Programmmusik selbst              Evgeny Igorewitsch Kissin ist ein Unikum.        Um die gefühlsbeladenen Werke von Dvorak                     ,ein Kommunikationssystem, das                                                danach, immerzu etwas ‚Neues’ zu hören“,
     zum Programm erhoben: der Pianist Leif Ove             Ein Musiker, der kompromisslos für die Mu­       und Szymanowsky aufzuführen, muss man                        sich selbst erfindet. Als Beweis für                                          beklagt er, „und merken dabei nicht, dass
     Andsnes und der südafrikanische Streetart­             sik lebt. Er wurde 1971 in Moskau geboren,       zunächst einmal eine innere Ordnung in die                   seine These hat Perahia gegenüber                                             diese Sucht nach ‚Neuem’ eine Reaktion auf
     künstler Robin Rhode. Angefangen hat alles             seine Finger suchten die Tasten des hei­         Noten bringen. Musik braucht Form, nur sie                   einem Interviewer von „Klassik Heu­                                           ihre eigen Langeweile ist.“ Er selbst bedient
     damit, dass sie sich einen weißen Raum                 mischen Klaviers, sobald er stehen konnte.       bewahrt die Emotionen davor, willkürlich und                 te“ den Urvater der Form ins Feld                                             diese Langeweile nicht. In seinem Bach (wie
     gesucht haben, in dem ein Flügel stand. An­            Wenn seine Mutter den Deckel schloss, be­        wahnsinnig zu werden. Arabella Steinbacher                   gebracht: Johann Sebastian Bach.                                              in all seinen anderen Auseinandersetzungen
     dsnes hat sich hingesetzt und Mussorgskys              gann Evgeny zu weinen, und als er zwei Jahre     ist eine Meisterin der Form! Sie geigt stets an              „Vergessen Sie nicht“, erklärte der                                           mit großen Komponisten auch) zieht er es
     „Bilder einer Ausstellung“ gespielt. Rhode             alt war, spielte er Bach-Sonanten aus dem        der Grenze der Ordnung, balanciert ständig                   Klavierspieler, „dass die zugrunde­                                           vor, zum Kern der Reinheit vorzudringen. Den
     hat die Spraydose in die Hand genommen und             Kopf, die er bei seiner größeren Schwester       auf dem schmalen Grat von maximaler Emoti­                   liegende Idee einer Bach-Suite der                                            findet er nicht unbedingt in der Perfektion
     ebenfalls losgelegt: ein Klavier, Verzierungen,        abhörte. Als der Vierjährige dem greisen Diri­   on und dem Absturz ins Nirgendwo. Das Label                  Choral ist! Nehmen Sie seine Generalbass-Übungen — die          des Kontrapunktes, sondern in der mindestens gleichbe­
     ein Monster gemalt. Als den beiden nichts              genten Herbert von Karajan Chopins f-Moll-       Pentatone hat Geigerinnen wie Julia Fischer                  sind als Übungen gemeint, und ich bin sicher, dass er sie       deutenden Melodieführung bei Bach, die er fast eupho­
     mehr eingefallen ist, sind sie nach draußen            Prelude vorspielte, kamen dem Maestro die        entdeckt und gefördert — Arabella Steinba­                   selbst geschrieben hat. Da sind diese Akkorde, Akkord­          risch zelebriert. So ist Perahias Interpretation am Ende
     gegangen und haben Tischtennis gespielt.               Tränen. Noch heute erinnert sich die Tochter     cher ist der nächste Klassik-Star des Labels,                folgen, Modulationen. Aus diesen Akkorden gewann er             eben doch ganz neu und gerade deshalb so glaubhaft, weil
     Denn die wichtigste Regel ihres Projekts war,          des Dirigenten, dass dieses der einzige          einer der aufregendsten.                                     die lineare Entwicklung. Und aus solchen Modulationen           sie es nicht sein will.
     dass alles erlaubt sein muss.                          Moment war, in dem ihr Vater weinte. Und         Privat ist sie eher formlos: „Ich fühle mich                 wachsen auch die Klaviersuiten hervor. Es wird so viel über     Kaum ein anderer Klavierspieler dringt so tief in die Parti­
     Andsnes und Rhode wollten herausfinden,                bis heute berührt Kissin jeden, der ihn hört.    wohler, wenn alles herumliegt, dann muss ich                 Rhetorik in der Musik gesprochen. Für mich ist das Unsinn.      turen ein wie er, und kaum ein anderer taucht mit so ver­
     wie die Klänge, die Mussorgsky einst zu einer          Kaum ein anderer Pianist verschmilzt so sehr     nicht lange suchen. Auch Kochen muss bei                     Der Akkord, der Zusammenklang spricht sich aus, wird            blüffenden und logischen Argumenten für seine Interpre­
     Ausstellung seines Freundes eingefallen sind,          mit der Musik wie er, für niemanden ist der      mir schnell gehen: meist Pasta oder Reis.“                   hinausprojiziert, atmet, entfaltet Leben. Wie eine Blume.“      tation wieder auf, um sie sinnlich und jenseits aller Besser­
     heute wieder auf die Kunst wirken können.              Klang ein derart wahrhaftiger Kosmos.            Aber in der Musik ist alles ganz anders. Vor                 Ähnliches könnte auch für die Bach-Partitas gelten, mit         wisserei, ganz ohne Worte, nur in Musik zu behaupten.
     So ist „Pictures Reframed“ entstanden. Ein             „Natürlich muss ich verzichten“, sagt Kissin     großen Konzerten ist sie aufgeregt. „Ich                     denen Perahia dieses Jahr den ECHO gewinnt. Johann Se­
                                                                                                                                                                                                                                                Solisitische Einspielung des Jahres
     Versuch, wie der Klang die Malerei inspirie­           selbst, „seit ich den ersten Ton auf einem       versuche, die Anspannung in den Griff zu                     bastian Bach führt den Pianisten zurück zur Urwurzel der              (17./ 18. Jahrhundert) Murray Perahia.
                                                                                                                                                                                                                                                J.S. Bach: Partitas 1, 5, & 6 (Sony Classical)
     ren kann. Das Ergebnis, von dem die beiden             Klavier gespielt habe, verzichte ich. Jeder,     bekommen, indem ich meditiere, ganz in mich                  Musik, zur strengen musikalischen Form, zur sich selbst
     Künstler nicht wussten, wie es aussehen                der ernsthaft Musik macht, muss mit dem          gehe. Aber sobald ich den ersten Fuß auf die                 konstruierenden Sprache. Vielleicht liegt genau darin das
     würde, ist in einem opulenten Bildband zu              Verzicht leben. Die Verantwortung gegen­         Bühne setze, fällt die Aufregung von mir ab.
     sehen und auf Andsnes’ Konzerten. Er spielt            über der Musik fordert das.“ Und dann sagt       Wenn ich zu spielen beginne und in der Musik
     vor Videoinstallationen, in denen Menschen             er noch: „Wenn jemand eine C-Dur-Tonleiter       bin, schließe ich die Augen, um von nichts
     über gemalte Eisblöcke gehen, zu jeder mu­             spielen kann, hat er die technischen Vo­         anderem abgelenkt zu werden.“ In diesen
     sikalischen Stimmung entwickeln sich neue              raussetzungen zum Klavierspiel. Wenn er          Momenten ist Arabella Steinbacher vollkom­
     Bilder. Die Programmmusik wurde auf den                die C-Dur Tonleitern in Beethovens Opus          men „in Form“ — sowohl auf ihrer ECHO-CD
     Kopf gestellt — und funktioniert auch mit              111 spielen kann, ist er auch in der Lage, die   als auch in der genialischen Nachfolgeaufnah­
     neuem Rahmen!                                          Rückschläge des Lebens zu bewältigen.“           me mit den beiden Violinkonzerten von Béla
                                                            Wer solche Sätze sagt, der weiß mehr über        Bartók.
          Editorische Leistung des Jahres.                 die Musik als die meisten von uns. Und viel­
          Mussorgsky: Pictures Reframed (Buch
          Edition), Leif Ove Andsnes (EMI Classics)         leicht ist das der Grund, warum Kissins Spiel         Konzerteinspielung des Jahres
                                                                                                                  (19. Jahrhundert): Arabella Steinbacher.
                                                            uns so berührt.                                       A.Dvorak/k.Szymanowski: Violinkonzert
                                                                                                                  Op53/Romanze/Violinkonzert Op.35
                                                                                                                  (Pentatone)
                                                                   Konzerteinspielung des Jahres (20./21.
                                                                   Jahrhundert): Evgeny Kissin. Sergej
                                                                   Prokofiev: Klavierkonzerte 2&3 (EMI)

                                                                                                                Instrumentalist des Jahres
                                                 Instrumentalist des Jahres                                                                                    Instrumentalistin des Jahres                                    Dirigent des Jahres
                                                                                                                Martin Schmeding
                                                 Albrecht Mayer                                                                                                Tabea Zimmermann                                                Paavo Järvi
                                                                                                                J. S. Bach: Goldberg-Variationen
                                                 Bach-Werke für Oboe, Orchester und Chor                                                                       M. Reger/J. S. Bach: Suiten für Viola                           L. v. Beethoven: Sinfonien 2 & 6 „Pastorale“
                                                                                                                (Fassung für Orgel)
                                                 Decca/Universal Music                                                                                         Myrios Classics                                                 Sony Classical
                                                                                                                Cybele Records
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                                                       16 | 17

                                                                    R
                                                                                     ené Kollo war einer der besten   Jonas Kaufmann hat den Lohengrin in                      Neulich ist Jonas Kaufmann an der Mailänder      reißen, nur weil es so schön ist. In meinen
                                                                                     Lohengrin-Interpreten. Inzwi­    Bayreuth gesungen, mit einem ganz indi­                  Scala aufgetreten, als Don José in George        Aufnahmen versuche ich in jeder Arie klar
                                                                                     schen ist er ein älterer Herr,   viduellen Ton: kein aufgeblasener Wagner-                Bizets „Carmen“. Er hat die Rolle schon einige   zu machen, woher ein Charakter kommt und
                                                                                     der gern über die gute alte      Held, sondern ein gebrochener Mensch. Kein               Male gesungen, und im ersten Akt dachte          wohin er geht. Und all das, wenn möglich, in
                                                                                     Zeit spricht, der die Meister­   schmetternder Macho, sondern ein leisetö­                man: „Komisch, so habe ich das noch nie          wenigen Minuten.“
                                                                    dirigenten Karajan, Bernstein und Solti lobt      nender, sich nach Liebe sehnender Jüngling.              gehört. Was für ein Weichei ist dieser Kerl!“    In der Pause der „Carmen“-Aufführung sitzt
                                                                    und die Gesangskultur der goldenen 70er und       Keine Hau-Drauf-Stimme, die dem                                                                           Daniel Barenboim im Dirigentenzimmer der
                                                                    80er Jahre. Von modernen Stimmen hält er          Publikum die hohen Töne um die        „Er ist einer der Besten. Ich habe                                 Mailänder Scala. „Wissen Sie“, sagt er, „ich
                                                                    nicht so viel. Neulich stand René Kollo in der    Ohren schmettert, sondern eine         schon lange keine so besondere                                     habe eine ganz eigene Theorie über Kauf­
                                                                    Pause des „Lohengrin“ auf dem Grünen Hügel
                                                                    in Bayreuth und trank ein Bier. Ein Opernlieb­
                                                                                                                      kluge, jede Phrase mit Bedeutung
                                                                                                                      aufladende Stimme.
                                                                                                                                                              Stimme mehr gehört.“ René Kollo                                   manns Stimme.“ Dann setzt er zu einem
                                                                                                                                                                                                                                Vergleich mit einem anderen Weltklasse-Te­
                                                                    haber kam auf ihn zu und wollte dem Sänger        Das wirklich Merkwürdige an Jonas Kaufmann               Doch, als Jonas Kaufmann am Ende der Oper        nor an: „Rolando Villazón ist ein dionysischer
                                                                    schmeicheln: „Na, ja“, sagte er. „Was meinen      ist, dass er immer ein bisschen dieses und ein           seine Geliebte erstochen hatte, am Boden         Sänger, der vor Kraft und Lebenslust nur so
                                                                    Sie?“, fragte Kollo. „Der Kaufmann, also,         bisschen das ist — und damit in jedem seiner             lag und die letzten verzweifelten Töne ge­       strotzt, der ohne Rücksicht auf Verluste auf
                                                                    wenn man den mit Ihnen vergleicht …“ Der Te­      Auftritte auch immer alles. Kaum ein anderer             sungen hatte, war klar, dass er Oper nicht als   der Bühne stirbt und dessen Markenzeichen
                                                                    nor unterbrach den Fremden und antwortete:        Sänger verbindet so viele Widersprüche wie               Aneinanderreihung                                                                die Leidenschaft
                                                                    „Er ist einer der Besten, ich habe schon lange    er. Er formt seine Arien wie aus der alten               von Arien begreift, „Jonas Kaufmann ist ein Apollon                            ist.“ Barenboim
                                                                    keine so besondere Stimme mehr gehört.“ Der       Schule: klug, wortverständlich, theatral.                sondern als epische  der Oper: klug, erzählerisch                               macht eine
                                                                                                                      Gleichzeitig ist er modern, deckt durch seine            Erzählung, in der
                                                                    Opernliebhaber staunte und zog von dannen.
                                                                                                                      Interpretation die Knackpunkte der Rollen                ein Charakter auf­
                                                                                                                                                                                                    und nachdenklich.“                 Daniel Barenboim
                                                                                                                                                                                                                                                                Pause. „Bei
                                                                                                                                                                                                                                                                Jonas Kaufmann

     Hören
                                                                                                                      auf, kümmert sich nicht um die effektvollen              gebaut, zum Höhepunkt (und so wie im Falle       ist das genau anders. Er verkörpert für mich
                                                                                                                      Stellen, sondern um die psychologische Ebene             von Don José) schließlich wieder zum Men­        den apollinischen Sänger, eine Stimme, die
                                                                                                                      unter ihnen. Und wahrscheinlich liegt in die­            schen demontiert wird.                           alles analysiert, die zu Gebieten vordringt, die
                                                                                                                      sem „sowohl als auch“ die Begeisterung für               „Ich finde diesen Gedanken auch auf Arien-       unter der Oberfläche schlummern, der Ge­
                                                                                                                      Kaufmanns Stimme. Er ist ein Sänger, der die             CDs wichtig“, sagt der Tenor selbst, „man        schichten als Analyse einer Entwicklung der
                                                                                                                      Tradition kennt und sie in die Moderne führt.            kann ein Stück nicht aus dem Zusammenhang        Charaktere erzählt.“ Tatsächlich lassen sich

                                                                                 und
                                                                                                                      Nicht nur das Publikum, sondern auch die                                                                  die beiden größten Tenor-Stimmen unserer
                                                                                                                      Sänger-Kollegen und Dirigenten hören ihn und                                                              Zeit wahrscheinlich genau so erklären: als

                               staunen
                                                                                                                      staunen.                                                                                                  Dionysos und Apollo.
                                                                                                                                                                                                                                Jonas Kaufmann schenkt der Klassik, was
                                                                                                                                                                                                                                sie lange Zeit verloren hat: Tiefe. Um so
                                                                                                                                                                                                                                amüsanter ist es, dass auch in diesem Fall
                                                                                                                                                                                                                                bei ihm, das „sowohl als auch“-Prinzip greift.
                                                                                                                                                                                                                                Während er der Klugheit auf der Bühne eine

             Kann eine Stimme klug sein?                                                                                                                                                                                        Stimme gibt, ist er jenseits der Theater zu
                                                                                                                                                                                                                                einem der größten Hochglanz-Stars der Klas­
                                                                                                                                                                                                                                sik geworden. Er sieht gut aus und zeigt das
             Und ob! Die von Jonas Kaufmann                                                                                                                                                                                     auch. In Berlin werden Großformatposter von
                                                                                                                                                                                                                                ihm aufgehängt, die Klatschpresse reißt sich
             ist auch noch schön dazu                                                                                                                                                                                           um den Tenor, er ist der schillerndste Opern­
                                                                                                                                                                                                                                star nach Netrebko und Villazón. Aber er ist
                                                                                                                                                                                                                                und bleibt dabei immer: Jonas Kaufmann. Ein
                                                                                                                                                                                                                                Sänger, der die Oberfläche der schönen neuen
                                                                                                                                                                                                                                Opernwelt nutzt, um ein noch größeres Publi­
                                                                                                                                                                                                                                kum für seine eigentliche Botschaft zu gewin­
                                                                                                                                                                                                                                nen, die Klugheit, die Tiefe und die Schönheit
                                                                                                                                                                                                                                der Musik.

                                                                                                                                                                                                                                      änger des Jahres: Jonas Kaufmann.
                                                                                                                                                                                                                                     S
                                                                                                                                                                                                                                     Sehnsucht (Decca/ Universal Music).

                               Ensemble/Orchester des Jahres
                                                                       Ensemble/Orchester des Jahres                                 Ensemble/Orchester des Jahres
                               Symphonieorchester des Bayerischen                                                                                                                                          Würdigung des Lebenswerkes
                                                                       Lautten Compagney / Wolfgang Katschner                        Norddeutscher Figuralchor / Jörg Straube
                               Rundfunks / Mariss Jansons                                                                                                                                                  Kurt Masur
                                                                       Timeless – Music by Merula and Glass                          Francis Poulenc: Weltliche Chorwerke
                               Anton Bruckner: Sinfonie 7
                                                                       DHM/Sony Music                                                MDG — Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
                               BR-Klassik
Ist die klassik ein Monster? - KLASSIK MAGAZIN
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                                     18 | 19

                Frau DiDonato, wie geht es Ihnen?                                    ken. Geht es in der Oper nicht meistens um die ganz alltäglichen   und zeigen, was sie können. Das macht sie zu
                Wunderbar!                                                           Gefühle? Um Liebe und Hass, Eifersucht und Rache? So gesehen       Supermännern und Superfrauen. Ungreifbar.
                Würden Sie denn zugeben, wenn es Ihnen schlecht ginge?               ist die Oper vielleicht gar nicht so opernhaft wie wir tun. Und    Unantastbar. Bei uns ist das anders: wir haben
                Aber natürlich! Warum denn nicht?                                    wenn ich mein Leben mit all seinen Höhen und Tiefen betrachte,     die Stimmhöhe der normalen Menschen. Mez­
                Weil Sie perfekt darin sind, die Zähne zusammenzubeißen. Sie         meinen Liebeskummer, meinen Mittleren-Westen-Alltag, dann          zos singen in einem geerdeten, meist unhyste­
                haben sich immerhin schon einmal ein Bein während der Auf-           denke ich, dass der Yankee-Teil von mir wahrscheinlich opern­      rischen Ton. Vielleicht macht sie das so irdisch.
                führung gebrochen und trotzdem weitergesungen.                       tauglicher ist.                                                    … und ein bisschen dreckig?
                Ah, das ist natürlich etwas Anders. Aber vielleicht haben Sie        Es ist erstaunlich, wie nahe Sie auf der Bühne an der Psyche       Ich wünsche mir immer ein bisschen Dreck! Übrigens
                Recht. Nun, wo Sie es sagen, fällt mir ein, dass ich ein echtes      ihrer Charaktere kratzen…                                          auch in der Stimme. Die Gebrochenheit und das Unfer­
                Kind des mittleren Westens der USA bin. Ich bin ein Yankee.          Vielen Dank für dieses Kompliment. Wenn das wirklich so ist,       tige sind ja Stilmittel, um Echtheit in der falschen Kunst
                Und wir Yankees haben eigene Regeln: 1. Vermeide Konflikte.          habe ich erreicht, was ich will! Denn nur darum geht es. Wir       zu erzeugen. Ich kann Ihnen verraten, dass der mensch­
                2. Lächle immer und verbirg dein Leiden. 3. Sei nicht anders als     Sänger müssen durch Töne in die Seelen der Menschen tauchen.       liche Dreck meist schwieriger zu erzeugen ist als der
                die Anderen. Aber ich glaube, dass mich das Theater inzwischen       Dort findet meist keine Party mit Diamanten und Champagner         schillernde Hochglanz. Weil man sich einlassen muss.
                etwas offener und transparenter gemacht hat.                         statt. Wir schauen in Abgründe, in Seelentiefen, in menschliche    Weil man sich schmutzig machen muss. In Ariodante
                Weil die Bühne das Extrem der Gefühle erwartet?                      und kreatürliche Gefühlswelten. Und diese raue Nacktheit ist       gibt es viele Arien, die von vielen Menschen abfällig ein­
                Es könnte etwas damit zu tun haben. Auf der Bühne geht es            für mich das eigentliche Wunder der Oper. Sie rechtfertigt über­   geschätzt werden. Aber für mich liegt in der Einfachheit
                ja darum, jene Grenzen einzureißen, die eine Gesellschaft vor        haupt erst, dass wir singen. Es macht nur Sinn zu singen, wenn     die Kunst. Nur hier habe ich mit der eigenen Stimme die
                lauter Konventionen aufbaut. Auf der Bühne geht es immer um          es um Gefühle geht, die Worte allein nicht ausdrücken können.      Möglichkeit, dem Charakter eine Farbe zu geben. Das

         Mezzos sind die                                                                                                                                Das behauptet jedenfalls Joyce DiDonato.
                                                                                                                                                        Und die Yankee-Sängerin ist selbst
   spannenderen Frauen
                das Ganze: um die Freude, das Leid, das Leben und den Tod. Und       Dafür stehen wir auf der Bühne.
                                                                                                                                                        der beste Beweis für diese These.
                                                                                                                                                        ist ein echter Luxus, den Soprane
                alles steht im Scheinwerferlicht. Eben ganz anders als im mitt­      Mit anderen Worten: die Oper ist eine Kunst des Scheins, die       in ihren halsbrecherischen Arien
                leren Westen.                                                        wahrer ist als die oberflächliche Wirklichkeit?                    kaum haben. Und vergessen Sie
                Haben Sie diese Offenheit der Gefühle auch für Ihr Leben über-       Das klingt etwas philosophisch, aber ich denke, dass es genau      nicht: Wir Mezzos singen auch
                nommen?                                                              so ist. Erst wenn wir die Masken abnehmen und die natürlichen      viele Hosenrollen! Es ist un­
                Auf jeden Fall gebe ich nicht mehr so viel vor wie sonst. Ich bin    Grenzen, die wir als Mensch haben als Sänger überschreiten,        glaublich, was für eine Kraft
                freier und ehrlicher geworden und habe in der Oper gelernt, dass     machen wir wirklich Kunst. Natürlich gibt es viele Leute, die      man da verstrahlen kann. Wir
                offene Gefühle auch offene Ohren finden.                             immer noch in die Oper kommen, um sich an der Schönheit zu         Frauen haben ja sonst nicht
                Sie führen einen Internetblog unter dem Pseudonym Yankee-            berauschen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, Türen zu      die Möglichkeit dazu.
                Diva. Wie passen diese beiden Worte zusammen?                        öffnen. Unsere eigenen und die der Zuschauer. Und es ist eine
                                                                                                                                                              ängerin des jahres:
                                                                                                                                                             s
                In mir schlummern beide Seelen. Auf der einen Seite die harte        Erfüllung, wenn Leute, die sich unterhalten wollten nachdenk­           joyce didonato. colbran,
                                                                                                                                                             the muse (virgin classics/emi
                Arbeit meiner Heimat. Die Regel, dass niemand etwas Beson­           lich aus der Vorstellung kommen.                                        music)

                deres ist, dass alles im Team erledigt wird. Meine Mutter hat        Kommt es Ihnen dabei entgegen, dass Sie Mezzosopran sind?
                in einem Interview geantwortet, als sie gefragt wurde, ob sie        Immerhin müssen Sie nicht nur die sterbenden, lieben Frauen
                keine Angst hätte, dass ich abheben würde: „Ach, die kriegen         singen, sondern sind die dreckigen, verführerischen, aufmüp-
                wir schon wieder auf den Boden.“ Das ist die Yankee-Mentalität!      figen Weiber.
                Und die Hochglanzoper habe ich erst in Europa kennen gelernt.        Und ob! Ich möchte um keinen Preis der Welt in ein anderes Fach
                Plötzlich stiegen der Druck und die Erwartungen. Ich habe an­        wechseln. Mezzos sind tatsächlich die interessanten Charaktere:
                gefangen, eine Diva zu sein und diese Rolle zu genießen. Heute       Ariodante sowieso und selbst La Cenerentola ist anders als die
                liebe ich es, Diva und Yankee gleichzeitig zu sein. Es dauerte ein   Soprane. Ich versuche stets, die Wahrhaftigkeit in den Charakte­
                bisschen, bis man die Balance findet. Aber inzwischen bin ich        ren zu finden. Denn ich glaube, dass gerade Mezzos die wahren
                ganz zufrieden damit.                                                und echten Menschen in der Oper sind.
                Welches Leben ist denn opernhafter? Das der Diva oder das des        Woran liegt das?
                Yankee-Girls?                                                        Tenöre und Soprane tendieren dazu, übernatürlich schöne Ari­
                Das der Diva natürlich! Obwohl: lassen Sie mich mal nachden­         en singen zu müssen. Sie müssen in künstliche Höhen steigen

                                            Nachwuchs-Künstlerin des Jahres                               Nachwuchs-Künstlerin des Jahres                               Nachwuchs-Künstlerin des Jahres              Nachwuchs-Künstler des Jahres
                                            Christiane Karg                                               Alice Sara Ott                                                Olga Scheps                                  Meta4
                                            Verwandlung – Lieder eines Jahres                             Frédéric Chopin: Sämtliche Walzer                             Frédéric Chopin: Klavierwerke                Joseph Haydn: Streichquartette op.55, 1-3
                                            Berlin Classics                                               Deutsche Grammophon/Universal Music                           RCA Red Seal/Sony Music                      hänssler CLASSIC
E CHO KLA S S IK M AG A Z IN                                                                                                                                                                                                                                                                                       20 | 21

                                                                                                                                                                                                                                       Zuhören!
                                                                                                                                                                                                                                       Isabelle Faust und Alexander Melnikov
                                                                                                                                                                „wir sind                                                              stellen Beethoven auf den Kopf
                                                                                                                                                                geschichtenerzähler“

                                                                                                                                                                                                                                       E
                                                                                                                                                                Nikolaus Harnoncourt hat die historische Auffüh-
                                                                                                                                                                                                                                                       s gibt nur wenige Musikstücke, in denen die Geige eine so
                                                                                                                                                                rungspraxis mitbegründet — hier zieht er Bilanz                                        große und farbenprächtige Bühne bekommt wie in den
                                                                                                                                                                                                                                                       Sonaten Beethovens. Doch was mag sich Ludwig van
                                                                                                                                                                Sie haben dieHistorische Aufführungspraxis mitbegründet.                               Beethoven gedacht haben, als er seine Geigensonaten
                                                                                                                                                                Hat sie sich gewandelt?                                                                nicht wie üblich „Sonaten für Violine“ sondern „Sonaten
                                                                                                                                                                Ich glaube, wir waren sehr offen, was das Musizieren betraf. Ich       für Klavier und Violine“ nannte?
                                                                                                                                                                habe allerdings festgestellt, dass schon die zweite Generation         Erstaunlich, dass bislang kaum ein Geiger auf die Idee gekommen ist,

     So klingt                                                                                                  Schönheit                                       dogmatischer wurde. Plötzlich wurden aus den Erkenntnissen der         den Komponisten beim Wort zu nehmen und sich zu fragen, warum er

     das Heute                                                                                                  und Schmerz                                     Forschung Regeln aufgestellt, die alle Musiker zu erfüllen hatten.
                                                                                                                                                                Dabei ist es in der Musik wie überall anders auch: die zweite Gene­
                                                                                                                                                                                                                                       das Klavier in seiner Titelangabe vor die Geige gestellt hat. Vielleicht
                                                                                                                                                                                                                                       hat das etwas mit musikalischer Eitelkeit der Geiger zu tun. Doch
     Das Minguet Quartett hat zum                              Purer Wahnsinn                                   Die Passion Christi hat viele Mu-
                                                                                                                siker bewegt. Christina Pluhar
                                                                                                                                                                ration liest schon nicht mehr so viele Quellen wie die erste. Es ist   Eitelkeit liegt der klugen Isabelle Faust zum Glück fern. Und so ist ihr
     ­ersten Mal alle Streichquartette                         Gautier Capuçon wirbelt durch die                                                                                                  ein ganz normaler Vorgang, dass      Beethoven kein Bravourkomponist, durch den sie sich profilieren will,
                                                                                                                holt die Erlösung ins Heute                                                       sie sich eher darauf konzentriert,   sondern ein Meister der Zwischentöne. Sie nimmt ihn ernst – und das
      von Peter Ruzicka eingespielt                            russische Seele

    F                                                     W                                                     S
                                                                                                                                                                                                  die Erkenntnisse neu zu interpre­    bedeutet, dass sie selbst sich zurücknimmt. En passant stellt sie dabei
              ür viele ist Klassik die ewige Neu­                             enn Sie zwei Wahnsinnige er­               ie ist so etwas wie die Mutter                                           tieren. Dabei wäre es gar nicht      die Aufnahmegeschichte der Violinsonaten auf den Kopf, in der nor­
              deutung des Alten. Beim Minguet                                 leben wollen, hören wollen, wie            der Alten Musik. Wenn Christina                                          wichtig, die Regeln dogmatisch       malerweise die Geige im Rampenlicht steht und das Klavier zur Beglei­
              Quartett liegt die Sache etwas anders.                          das Herz der Musik schlägt und             Pluhar ruft, sagt niemand „Nein“.                                        zu erfüllen, sondern zu verstehen,   tung in der zweiten Reihe sitzt.
     Klassik ist für die vier Musiker immer auch der           wenn Sie in die Seele Russlands hinabtau­        Für Star-Countertenor Philippe Jaroussky                                          was sie bedeuten. Die alleinige      Wir hören Beethovens bekannten Sonaten wie die Früh­
     Klang unserer Gegenwart. Kaum ein anderes                 chen möchten, müssen Sie Valéry Gergiev          ist sie eine „Meisterin der Musik“. Und                                           Erfüllung der Regeln kann näm­       lingssonate und die Kreuzersonate plötzlich
     Ensemble kümmert sich so intensiv und be­                 und Gautier Capuçon hören! Der Dirigent und      es war keine Frage, dass er alles dafür                                           lich auch dazu führen, dass man      mit ganz neuen Ohren. Auf einmal rückt das
     geistert um die Kompositionen unserer Zeit.               der Cellist sind Heiligabend in St.Petersburg    tun wird, um an ihrem bislang span­                                               eigentlich alles falsch macht. Was   Dialogische in den Vordergrund. Plötzlich
     „Gute Musik ist einfach da, und deshalb spie­             aufeinander gestoßen. Vor ihnen lag die Par­     nendsten Projekt teilzunehmen. Selbst           ist denn eine „historische Wahrheit“ überhaupt? Ich glaube, dass       hören wir, dass Beethoven mehr Fragen als
     len wir sie“, ist die einfache Begründung des             titur von Tschaikowskis Rokoko-Variationen,      auf den leidvollen Kreuzweg ist er seiner       ein guter Historiker immer auch ein guter Geschichtenerzähler sein     Antworten komponiert hat. Zum Beispiel,
     Ensembles für die Wahl seines Repertoires.                eines der berühmtesten konzertanten Cello­       Lieblingsdirigentin gefolgt. Herausge­          muss. Und dieses Wissen habe ich von Egon Fridell, dessen Ver­         ob die Instrumente einander auch immer
     Nachdem eine Uraufführung stattgefunden                   werke! Der Dirigent, der die russische Seele     kommen ist ein innerliches Album rund           ständnis von Geschichte ich absolut teile. In diesem Sinne wäre die    folgen werden. Denn beide haben einen
     hat, ist die Partitur von Neuer Musik meist               mit Löffeln gefressen hat und der Cellist,       um die Schönheit und den Schmerz. Auf           „historische Aufführungspraxis“ als Terminus auch nur unter der        eigenen, sehr dicken Kopf. Wenn Faust
     ein Stapel mit stummem Papier. Das Minguet                der selbst den bekanntesten Werken des           der CD „Via Crucis“ werden die einzelnen        Voraussetzung denkbar, dass das „historische“ als offener Begriff      das bekannte Frühlingssonaten-Thema
     Quartett hat es sich zur Aufgabe gemacht,                 Repertoires frischen Wind einhaucht, wurden      Stationen der biblischen Geschichte er­         verstanden wird. Da kommt auch wieder meine Ureigenschaft des          anstimmt, hört sich das zögerlicher an als
     sie nachhaltig Klingen zu lassen. Es hat einen            zu Hochspannungsmusikern. Es ist selten in       zählt. Spannend wird all das, weil Pluhar,      Zweifels zum Tragen. Ich glaube nicht, dass man reale Geschichte       sonst, abwartend, ob der Mann am Klavier
     Großteil der Werke Wolfgang Rihms aufge­                  der klassischen Musik, dass an einem Abend       eine der engagiertesten Musikforsche­           erfahren kann. Man erfährt nur, was man darin sieht.                   ihr bei diesen Läufen auch wirklich folgen
     nommen und nun auch eine weitere Lücke                    so viel Energie freigesetzt wird wie in dieser   rinnen der Alten Musik, unterschiedliche        Es gibt Kollegen von Ihnen, die noch immer mit dem gebetsmüh-          wird. Und Alexander Mlenikov
     geschlossen. Gemeinsam mit der Sopranistin                Aufführung, die live mitgeschnitten und          Komponisten ausgegraben hat, die diese          lenhaften Spruch „Kein Vibrato! Kein Vibrato!“ herumziehen.            lässt seine Mitspielerin tat­
     Mojca Erdmann hat es sämtliche Werke für                  auf CD veröffentlicht wurde. Tschaikowskys       Themen behandelt haben: Tarquinio Me­           Das ist doch absoluter Quatsch! Das Vibrato ist so alt wie die         sächlich warten. An seinem
     Streichquartette von Peter Ruzicka aufge­                 Komposition, die sich mit dem Stil Mozarts       rula, Giovanni Legrenzi und viele andere        Geige — ja, wie die Musik selbst. Es gibt sogar Gedichte über das      Steinway spielt er mit den
     nommen — als Sprecher sind der Komponist                  auseinandersetzt, gerät zum Ausbruch purer       südeuropäische Barockmeister.                   Vibrato aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts. Und bei jeder Orgel       vielen Überraschungen,
     selbst und Christoph Banzer zu hören.                     Emotionen. Nicht minder radikal geht es auf      Aber selbst das ist natürlich nicht genug,      gibt es ein Register „Vox Humana“, das ein Vibrato von vier Bewe­      die Beethoven in seine
     Das Minguet Quartett stellt Ruzickas Mu­                  diesem russischen Album bei Prokofievs           wenn Pluhar ein neues Werk plant. Ihre          gungen pro Sekunde hat. Jede Instrumentenbeschreibung besagt           Sonaten eingebaut
     sik als traditionsbewussten Klang unserer                 „Sinfonia concertante“ zu, in der ebenfalls      Art der Interpretation ist so freigeistig,      die größtmögliche Annäherung an die menschliche Stimme, und in         hat und macht klar,
     Zeit vor: zuweilen leichtfüßig schwelgend,                mit unterschiedlichen Stilen und Zeitebenen      so offen und gerade deshalb so modern,          der ist ein Virbrato natürlich angelegt. Die Frage des Dauervibratos   dass Stimmungen von
     manchmal atemberaubend still, aber auch                   gespielt wird. So wie zuvor auf seiner CD,       dass es uns vorkommt, als würden wir im         wird immer aktuell bleiben, aber dass man bestimmte Teile auch         einem Takt zum näch­
     psychologisch zerrissen. Die Musiker legen                in der Gautier Capuçon Antonín Dvorák und        Heute durch die Geschichte des Leides           früher schon mit Vibrato gespielt hat, davon bin ich überzeugt.        sten wechseln können,
     damit den Grundstein aller weiteren Ruzicka-              Victor Herbert gegenüberstellt hat, gelingt      und der Erlösung wandeln. Wenn Pluhar           Auch wenn man weder das eine noch das andere beweisen kann.            dass Geige und Klavier
     Deutungen.                                                es auch jetzt wieder, das Bekannte mit dem       ihr Ensemble „L’Arpeggiata“ dirigiert,          Grundsätzlich glaube ich, dass man alle Ausdrucksmöglichkeiten         zwei gleichberechtigte In­
          Kammermusik-Einspielung des Jahres                  Unbekannten zu paaren.                           hört sich die Alte Musik so frisch an, als      nutzen muss — und da spielt es nur eine sekundäre Rolle, ob das        dividuen sind und nur gemeinsam
          (20./21. Jahrhundert: Minguet Quartett.
          Peter Ruzicka: Sämtliche Werke für                                                                    würde sie bei MTV spielen. All das macht        früher auch so war oder nicht.                                         ins Ziel kommen können.
          Streichquartett (Neos Music)                              Konzerteinspielung des Jahres
                                                                    (10./21. Jahrhundert): Gautier Capuçon.     vor allen Dingen Spaß!                               Chorwerk-Einspielung des Jahres (18./ 19.Jahrhundert) Nikolaus
                                                                    Tschaikowsky/ Prokofiev: Rokoko-                                                                 Harnoncourt / Arnold Schönberg Chor /Concentus Musicus.                Kammermusik-Einspielung des Jahres (19. Jahrhundert)
                                                                    Variationen, Sinfonia Concertante                Klassik ohne Grenzen: Christina                Joseph Haydn: Die Jahreszeiten (DHM/ Sony Music)                       Isabelle Faust / Alexander Melnikov. Beethoven:
                                                                    (Virgin/EMI)                                     Pluhar. L’Arpeggiata: „Via Crucis“ (EMI)                                                                               Sonaten für Klavier und Violine (harmonia mundi)

                                                Nachwuchs-Künstler des Jahres                                      Klassik ohne Grenzen                                         Klassik ohne Grenzen                                      Klassik ohne Grenzen
                                                Yannick Nézet-Séguin                                               Fauré Quartett                                               Christina Pluhar / L’Arpeggiata                           Selmer Saxharmonic / Milan Turković
                                                Rotterdam Philharmonic Orchestra: Maurice Ravel                    Popsongs                                                     Via Crucis                                                Flying Saxophone Circus
                                                EMI Classics                                                       Deutsche Grammophon/Universal Music                          Virgin Classics/EMI Music                                 MDG – Musikproduktion Dabringhaus und Grimm
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