FEHLERMANAGEMENT ALS CHANCE: FEHLERKULTUR - FEHLANZEIGE? - Center fir Altersfroen
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Januar 2018 Einzelpreis 4,50 Euro – Abonnement/3 Ausgaben 12 Euro #83 Das Luxemburger Fachblatt für Altersfragen FEHLERMANAGEMENT ALS CHANCE: FEHLERKULTUR – FEHLANZEIGE? ala T E G RIERT IN EN BLEIB TROTNZZ! DE M E SCHWERPUNKT Neue Technologien in der Pflege SEMINARKALENDER Fort- und Weiterbildung
Jetzt bestellen! Was ist schon normal? Mit der Sonderausgabe A | NORMAL macht das Magazin angewandte Forschung Mut zum Anderssein und -denken. Anlässlich des Kongresses A | NORMAL gibt die Cellule de Recherche des RBS – Center fir Altersfroen in Zusammenarbeit mit der Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale ein Sonderheft des Magazins angewandte Forschung heraus. Gesundheit ist im Verständnis vieler Menschen etwas Naturgegebenes, Normales. Doch was heißt eigentlich, gesund oder normal zu sein? Sind Gesundheit und Normalität stabile Größen? Oder sind sie nicht vielmehr fehleranfällige und wandelbare Konstrukte? Wer entscheidet darüber, ob jemand geistig krank oder gesund ist? Und was bedeutet letztendlich normal? Wann macht Stress am Arbeitsplatz krank? Ist Psychotherapie im Alter noch sinnvoll? Wieviel Angst ist eigentlich normal? Diese und weitere spannende Fragen, die zum Mitdenken und Umdenken anregen, bilden Gegen- stand der deutsch-französischsprachigen Sonderausgabe. Die Inhalte sind eng angegliedert an die Symposien, interaktiven Workshops und Ateliers, die den Kongress im Oktober 2016 zu einem regelrechten Erlebnis machten. € 4,50ORTO Das Magazin kann bestellt werden unter: .P IN KL recherche@rbs.lu oder 36 04 78-34 Weitere Informationen zu Projekten, Veranstaltungen und Publikationen der CELLULE DE RECHERCHE finden Sie auf: www.cellulederecherche.lu
EDITORIAL ALLTAG HEISST LEBEN Es ist schon erstaunlich. Ständig wollen wir dem Alltag ent- men bekommt, weil man anscheinend nicht mehr in der Lage fliehen, ärgern uns über die vielen kleinen Haushaltspflich- ist, seinen alltäglichen Männerpflichten nachzukommen? ten und sehnen uns nach Entspannung. Doch im Alter wird Menschen oft erst bewusst, welch wichtige Bedeutung die Als ich diesen Mann kennenlernte, entschied ich mich, so mit Alltagsaktivitäten eigentlich haben. Und wie schön es ist, ihm zu trainieren, dass er sich wieder selbst rasieren konnte. wenn man diese noch selbst meistern kann. Nass. Sie können sagen: Was für ein Aufwand! Vier Wochen trainierte ich mit ihm, je eine halbe Stunde pro Tag. Aber Für die professionelle Altenpflege ist das nicht überraschend. jeden Tag konnte er sich besser rasieren. Er begann immer Bereits 1984 veröffentlichte die bekannte deutsche Geron- mehr zu erzählen, obwohl man mir gesagt hatte, er würde tologin und frühere Familienministerin Prof. Dr. Dr. h.c. nicht viel reden. Während des Trainings erwähnte er auch, (mult.) Ursula Lehr einen Artikel mit dem Titel: „Fördern wie das war, als man ihm seinen Rasierer weggenommen hat- und Fordern – Möglichkeiten und Grenzen von Aktivierungs- te. Ja, er habe sich mal geschnitten, aber er sei doch nicht aus maßnahmen in Altenheimen“. Damals wurde erstmalig in der Zucker. professionellen Altenhilfe thematisiert, dass hochbetagte Be- wohner durchaus in der Lage sind, kleine Herausforderungen Es war wirklich ein Genuss zu sehen, wie er immer mehr zu bewältigen und nicht nur ihre Ruhe haben wollen. aufblühte und stolz nach der Rasur über sein glattes Kinn strich. War er zuvor noch ein nerviger, alter Doch geht es dabei vor allem darum, ältere Heimbewohner, so sah ich jetzt einen zufrie- Menschen zu organisierten Aktivitäten zu denen Mann, der sich selbst als kompe- bewegen? Oder ist es nicht ebenso wich- tent erlebte, der sagen konnte: Das kann tig, Pflegebedürftige dabei zu unter- ich noch! Dabei spielte es keine Rolle, stützen, dass sie ihren Alltag wenigs- tens ansatzweise noch selbst gestalten ob er sich immer perfekt rasierte. In können? Hierbei fällt mir unweiger- vielen Studien konnte belegt werden, lich ein 93jähriger Mann ein, der im wie wichtig das Erleben von Selbst- Altenheim regelmäßig zu den Pfle- wirksamkeit und Alltagskompetenz gekräften lief und rief: „Mein Bart ist im Alter ist. Das ist auch bei älteren noch nicht gemacht!“ Die Mitarbeiter Pflegebedürftigen nicht anders. Diese fanden das sehr lästig, schließlich kam dabei zu unterstützen, dass sie einzelne der Mann andauernd. Alltagsaktivitäten noch selbst hinbekom- men, steigert das Selbstbewusstsein und die Nach einigen Gesprächen stellte sich heraus, dass Motivation, am Leben aktiv teilzunehmen. man dem Mann seinen Nassrasierer abgenommen hatte, da er sich einige Male damit geschnitten hatte. Daher wurde Doch das kostet eben auch Zeit. Vielleicht erscheint es deut- er elektrisch rasiert, um eine eventuelle Wunde zu verhin- lich effizienter, zehn Menschen zu einer organisierten Akti- dern. Worüber die Mitarbeiter allerdings nicht nachgedacht vität zu „transportieren“ und ihnen ein wenig Unterhaltung hatten, war die persönliche Wahrnehmung des Mannes. 75 anzubieten. Aber wenn das Ziel einer modernen Altenpflege Jahre hatte er sich nass rasiert, selbstverständlich kann man mehr als Warm-Satt-Sauber 2.0 sein soll, darf man den Stel- das Erleben einer Nassrasur nicht mit einem Elektrorasierer lenwert der Förderung von Alltagsaktivitäten älterer und erreichen. Wenn er mit seiner Hand über das Kinn strich, auch demenzbetroffener Menschen nicht unterschätzen. Die- hatte er einfach nicht das Gefühl wie all die Jahre zuvor. se Kompetenz entscheidet mit darüber, ob sie sich weiterhin als nützlich und wertvoll empfinden. Sie dabei zu unterstüt- Aber was noch viel gravierender ist: Sich selbst rasieren zu zen, ist eine ganz besondere Liga professioneller Pflege. Alles können, ist für einen Mann eine wirklich wichtige Sache. andere nennt man Versorgung. FOTO © WILLY SUYS Wenn man keinen Flaum mehr hinter den Ohren hat, weil man sich selbst rasieren kann, dann ist ein Mann ein Mann. Simon Groß Doch was ist, wenn man plötzlich seinen Rasierer weggenom- Direktor, RBS – Center fir Altersfroen RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 3
INHALTSVERZEICHNIS FOTO © RBS – CELLULE DE RECHERCHE FOTO © VIBEKE WALTER 06 SCHWERPUNKT 44 06 NEUE TECHNOLOGIEN IN DER PFLEGE Schöne neue Welt? GERONTOLOGISCHE FORSCHUNG 09 Comment sont-ils perçus par les personnes âgées? ROBOTS SOCIAUX D’ASSISTANCE 11 Soziale Assistenzroboter auf dem Prüfstand NOTIZEN AUS DER WISSENSCHAFT 14 Körperliche Aktivität & Demenz GERONTOLOGIE & GERIATRIE DIFFERENZIERTE DEMENZBETREUUNG BEI HPPA 16 Was tun mit „freien Radikalen“? SOZIALES MANAGEMENT FEHLERMANAGEMENT ALS CHANCE 19 Fehlerkultur – Fehlanzeige? 4 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 Inhaltsverzeichnis
FORT- UND WEITERBILDUNG FEEDBACK 23 Wirksam Führen mit Empathie 26 SEMINARKALENDER 36 ABONNEMENT Teilnahmebedingungen für Seminare / Conditions de participation aux séminaires 37 Anmeldeformular / Formulaire d’inscription 39 FÜR SIE NOTIERT GERONTOLOGIE & GERIATRIE 44 30 JAHRE ASSOCIATION LUXEMBOURG ALZHEIMER Integriert bleiben – trotz Demenz! 47 MAGAZIN IMPRESSUM Erscheinungsweise und Abonnement Titelbild Das RBS-BULLETIN erscheint dreimal im © www.shutterstock.com Jahr, jeweils im Januar, Mai und September RBS-BULLETIN zum Einzelpreis von 4,50 Euro. Das Jahres Grafische Umsetzung abonnement kostet 12 Euro inkl. Porto. proFABRIK SARL – www.pro-fabrik.com Das Luxemburger Fachblatt für Altersfragen Auflage: 1.500 Exemplare 6, Rue Kummert – L-6743 Grevenmacher Herausgeber Abo-Service Layout & Kreation Telefon 36 04 78-33 Danyel Michels Fax 36 02 64 Druck E-Mail fortbildung@rbs.lu Imprimerie Centrale www.rbs.lu 15, rue du Commerce – L-1351 Luxembourg RBS – Center fir Altersfroen asbl Fortbildungsinstitut & Seniorenakademie Anschrift der Redaktion 20, rue de Contern – L-5955 Itzig 20, rue de Contern – L-5955 Itzig Telefon 36 04 78-33, Fax 36 02 64 Redaktion IBAN: LU08 0028 1385 2640 0000 Simon Groß, Vibeke Walter, Jacqueline Orlewski BIC: BILLLULL RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 5
SCHWERPUNKT NEUE TECHNOLOGIEN IN DER PFLEGE SCHÖNE NEUE WELT? Text Simon Groß Eine herausragende Fähigkeit des Menschen liegt darin, technische Hilfsmittel zu entwickeln, um in einer unwirtlichen Umgebung und unter schwierigen Bedingungen überleben zu können. Neue Techno logien können den menschlichen Zeit- und Arbeitsaufwand für vieles verringern, auch in der Pflege. Das spart Kosten und kann so die Versorgung von Pflegebedürftigen sichern. Aber ist das wirklich nötig und sinnvoll? Wieviele und welche Technologien braucht die Pflege heute, morgen und übermorgen? Gesellschaft zu erschaffen versucht. Wer sich allerdings nicht in diese in- tegrieren lässt, der lebt als „Wilder“ in Reservaten, darf sogar alt aussehen, wird aber allgemein verachtet und ge- mieden. Was als Zukunftsroman vor vielen Jahren geschrieben wurde, scheint zunehmend Wirklichkeit zu werden. Interessanterweise gerade im Bereich der Pflege von alten Menschen, ein Phänomen, das es in der Vision von Aldous Huxely eigentlich gar nicht gibt. Glücklicherweise wird heute die Kontrolle und Beeinflussung von hochbetagten Pflegebedürftigen nicht Moderne Zeiten – auch in der Pflege? von einer zentralen Weltregierung gesteuert. Stattdessen gibt es eine staatlich subventionierte Hilfsform, Haben Sie auch in Ihrer Schulzeit auf ihre Rolle vorbereitet: Man soll die jedoch zunehmend von Effizienz- den berühmten Roman von Aldous konsumieren, feste Beziehungen sind steigerung, Kostensenkung und auch Huxely gelesen? Vor 85 Jahren er- unerwünscht, Krankheiten und alters- Gewinnmaximierung bestimmt wird. schienen, beschrieb er eine Gesell- bedingte Veränderungen gibt es nicht Betreiber von Einrichtungen der am- schaft der Zukunft im Jahr 2540. In mehr. Allerdings wird für die Bevölke- bulanten und stationären Altenhil- dieser „schönen neuen Welt“ ist es rung der Todeszeitpunkt zwischen 60 fe sowie deren Finanzierungsträger FOTO © ALAMY gelungen, dass fast alles perfekt funk- und 70 programmiert. Eine Welt, die stellen immer häufiger fest, dass ge- tioniert. Menschen werden in einer jeden einzelnen Schritt kontrolliert, rade die Versorgung und Betreuung Art Massenproduktion künstlich ge- Leid von vornherein zu eliminieren von Mensch zu Mensch sehr kosten- züchtet und durch Konditionierung und auf diese Weise eine „glückliche“ intensiv ist. Da ist es nachvollziebar, 6 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 SCHWERPUNKT
dass man nach Lösungen sucht, den urteilen, was da eigentlich passiert. zu Familienangehörigen, Freunden teuren „Faktor Mensch“ einzusparen Noch komplexer werden solche ethi- und Nachbarn aufrecht erhalten. Die und durch den Einsatz von modernen schen Überlegungen, wenn man über negativen Auswirkungen, die der Er- Technologien zu ersetzen. den – vielleicht sogar heimlichen satz von Direktkontakt durch Fern- Einsatz – von „intelligenten“ Klobril- kommunikation auf das psychische Wer jetzt entsprechend moder- len nachdenkt, die automatisch eine Wohlbefinden von (älteren) Men- ner Zukunftsvisionen allerdings vor Reihe von körperbezogenen Daten schen langfristig haben kann, werden allem an knirschende Roboter denkt, erfassen können. Das Ausmaß der allerdings häufig geleugnet oder baga- die Wunden versorgen und Pflegebe- Möglichkeiten, biologische Daten tellisiert. dürftige füttern, übersieht die unbe- von Pflegebedürftigen zu erfassen, grenzten Möglichkeiten vieler bereits ist gerade älteren Menschen über- seit Jahrzehnten bestehenden Tech- haupt nicht bewusst. Im Hinblick auf nologien. Diese automatisieren den den Einsatz neuer Technologien in Kompensation Umgang mit und zwischen Menschen der Pflege darf daher das Grundrecht schon lange, ohne dass dies überhaupt auf Privatsphäre nicht vernachlässigt Schon immer haben Menschen ver- als eine Entmenschlichung angesehen werden. sucht, körperliche Beeinträchtigungen wird. Daher lohnt es sich, die verschie- durch Hilfsmittel zu kompensieren. denen Möglichkeiten durch den Ein- Doch längst ist ein Hörgerät kein satz neuer Technologien einmal ganz Hörrohr mehr und eine Beinprothese wertneutral zu betrachten. Denn diese nicht mehr aus Holz. Heute kann man können im positiven Sinn eine selbst- Kommunikation dank moderner Technologien viele ständige Lebensführung sowie den Defizite teilweise vollständig behe- Kontakt zu nahestehenden Personen Wer im Alter selbstständig zu Hau- ben. Neben Brillen, Hörgeräten und ermöglichen. se oder in einer Seniorenwohnung Prothesen gehören dazu gerade bei äl- lebt, braucht manchmal sehr schnell teren Menschen auch Rollatoren und Hilfe. Ein Sturz oder ein Infarkt kann Rollstühle. Diese können mit Naviga- lebensbedrohlich werden, wenn der tionssystemen ausgestattet werden Überwachung Betroffene zu spät behandelt wird. und ein Design haben, dass eher an Daher gibt es schon seit vielen Jahren klassische Fortbewegungsmittel als an Jedes Smartphone bietet heute die den sogenannten Téléalarm, durch den Krücken erinnert. Möglichkeit, verschiedenste Werte zu sich per Knopfdruck ein direkter Kon- erfassen und dank GPS – Funktion takt zu Nothilfediensten herstellen Vielleicht erklärt das auch den au- auch die Wege aufzuzeichnen, die der lässt. Inzwischen ist es auch möglich, ßergewöhnlichen Erfolg von E-Bikes, Inhaber des Geräts zurücklegt. Spe- Handys, Smartphones oder Tablets so die älteren Menschen eine erleichterte zielle Uhren zeichnen auf, wie lange einzurichten, dass sie per Zuruf oder Mobilität ermöglichen. Ebenso lassen man geschlafen und wieviele Schritte per Druck auf irgendeine Taste eben- sich eingeschränkte Kraft in Armen man zurückgelegt hat. falls direkt einen Notruf verschicken. und Beinen durch Muskelkraftver- stärker kompensieren. Insgesamt Kein Wunder, dass dies gerade im Seit einigen Jahren gibt es au- existiert eine Fülle von technischen Umgang mit dementiell erkrankten ßerdem sprachgesteuerte Geräte wie Unterstützungen, die von speziell aus- und lauffreudigen älteren Menschen Alexa von Amazon, die auf Zuruf eine gestatteten Autos bis zu bedienungs- interessante Anwendungen bietet. Anrufverbindung herstellen, Haus- freundlicheren Smartphones reichen, Die Überwachung der Wege von Be- haltsgeräte steuern und sogar Fragen aber natürlich auch immer eine Fra- troffenen reduziert potentielle Risi- beantworten. Solche Entwicklungen ge des Geldes sind. Dank der ständig ken, sodass diese sich deutlich freier können deutlich mehr, als nur einen wachsenden Möglichkeiten, digitale bewegen können. Bleibt allerdings die Notruf zu versenden. Mit ihrer Un- Anwendungen mit mechanischen Lö- Frage, ob Menschen mit Demenz eine terstützung kann man auch mit kör- sungen zu verbinden, werden in den solche Kontrolle eigentlich wollen. In perlichen Beeinträchtigungen noch nächsten Jahren noch viele weitere der Regel können sie ja gar nicht be- selbstständig leben und den Kontakt Entwicklungen entstehen. » RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 7
SCHWERPUNKT Lauftraining beim Reality Walk im CIPA Junglinster Animation Durch die Kombination von Dar- stellungen auf Bildschirmen und kon- kreten Aktivitäten werden heute ganz neue Formen der Unterhaltung und Pflegeroboter des Trainings für ältere Menschen an- Unterstützung geboten. Was vor zehn Jahren noch Den autonomen Pflegeroboter, der die Spielkonsole Wii war, die in Alten- komplexe Handlungen vornehmen im Alltag heimen für Kegelturniere und indivi- kann, gibt es noch nicht. Das Problem Barrierefrei eingerichtete Wohnun- duelle Förderprogramme eingesetzt liegt darin, dass er keine Ausnahmen gen sind nicht nur eine Erleichterung wurde, sind inzwischen aufwendige zulassen kann. Hätte jeder Mensch für ältere Menschen, sie unterstützen Vorrichtungen, in denen etwa Lauf- die gleichen Empfindungen, wäre auch auch den Einsatz von Haushaltsro- bänder mit der Darstellung von rea- eine Wundversorgung technisch durch- botern. Bereits heute haben sich au- len Wegen kombiniert werden. Hier aus möglich. Doch weil gerade das tonom arbeitende Staubsauger oder geht es vor allem darum, die Motiva- Schmerzempfinden ständig individuel- Reinigungsmaschinen im Alltag ver- tion und Freude an der Bewegung zu le Anpassungen benötigt, werden sol- breitet. Zukünftig werden diese durch erhöhen. Aus diesem Grund wurden che Anwendungen aber noch lange um- Serviceroboter ergänzt, die in der Lage auch Roboter entwickelt, die durch stritten sein. Wenn aus Kostengründen sind, Getränke anzureichen, notwen- ihr Verhalten zum Mitmachen moti- die „menschliche“ Behandlung nicht dige Gegenstände zu holen oder Men- vieren sollen. Speziell für Menschen mehr als wichtig erachtet wird, sind zu- schen in ihr Bett zu heben. Man kann mit einer fortgeschrittenen Demenz künftig Pflegeroboter durchaus denk- solche Maschinen auch mit „sozialen wurden lernende Roboter entwickelt, bar. Das müssen nicht menschenähn- Verhaltensweisen“ bzw. einem freund- die als Ersatzobjekt dienen und „ver- liche Maschinen sein, wie man sie aus lichen „Gesicht“ ausstatten, um den sorgt“ werden können. So kann etwa Science Fiction-Filmen kennt. Man anfänglich ungewohnten Gebrauch zu der Robbenroboter Paro dazu beitra- könnte Pflegehandlungen auch in ein- erleichtern. Wer sein Haus entspre- gen, dass sich Pflegebedürftige um ihn zelne Schritte zerlegen und den Pfle- chend ausstattet, kann sehr vieles au- „kümmern“ und eine Art Beziehung gebedürftigen mit Hilfe von Fließbän- tomatisieren, ohne dass ein Roboter entwickeln. Da ein Roboter keinen Fei- dern „bearbeiten“ lassen. Aktuell sind im engeren Sinn überhaupt sichtbar erabend hat, wird er zu einer verläss- das wohl eher Szenarien, die in Europa wird. Türen, Schränke, Küchengeräte, lichen „Bezugsperson“, wodurch sich – anders als in Japan – noch nicht ver- etc.; es gibt heute fast kein Gerät, des- herausforderndes Verhalten spürbar mittelbar sind. Weniger problematisch sen Benutzung man nicht erleichtern reduzieren lässt. erscheinen Imitationsroboter, die das könnte. Bildschirme können in der Verhalten einer Pflegeperson nachah- Wohnungseinrichtung leicht erreich- Diese Wirkung macht es nicht ein- men und Behandlungen ohne Direkt- und bedienbar installiert werden und fach zu beurteilen, ob eine solche fake- kontakt ermöglichen. Entsprechen- können dabei helfen zu kochen, eine Beziehung ethisch vertretbar ist. Oder de Entwicklungen gibt es bereits: Sie Gebrauchsanweisung zu verstehen ist es vielleicht doch denkbar, dass könnten z.B. eine ungefährliche Ver- oder eine virtuelle Besichtigung eines man auch zu einem unbelebten Ob- sorgung von Menschen ermöglichen, FOTO © VIBEKE WALTER Kaufhauses vorzunehmen. Wirklich jekt eine „echte“ Beziehung eingehen die eine hochansteckende Krankheit unbegrenzte Möglichkeiten. Bleibt nur kann? Noch schwieriger wird es, wenn haben. Das mag nicht schön klingen, die Frage, ob da noch für den einzel- über virtuell/augmented Reality-Tech- kann aber sinnvoll sein. Allerdings be- nen Mensch genügend Aufgaben blei- nologien eine Welt simuliert wird, die steht die Gefahr, dass sie auch einge- ben, um Leben und Alltag sinnvoll zu es gar nicht gibt, aber vielleicht ange- setzt werden, um einen unangenehmen gestalten. nehme Gefühle auslösen kann. Umgang generell zu vermeiden. « 8 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 SCHWERPUNKT
ROBOTS SOCIAUX D’ASSISTANCE COMMENT SONT-ILS PERÇUS PAR LES PERSONNES ÂGÉES? Texte Dr Isabelle Tournier (Université du Luxembourg) L’Université du Luxembourg mène actuellement l’étude pilote ASRIF (Assistive Social Robot Impact on seniors’ Functionning) qui porte sur l’intérêt des personnes de 65 ans et plus pour les robots sociaux d’assistance. Elle est soutenue par le laboratoire AI Robolab et cherche à mieux comprendre comment les robots sociaux d’assistance pourraient aider les personnes âgées dans leur vie de tous les jours. L’étude pilote ASRIF prend place grand risque d’isolement social, moins Les robots sociaux d’assistance dans le cadre du projet FEELSAFE d’aide pour la réalisation des activités pour préserver le bien-être (financé par l’Université du Luxem- quotidiennes et un plus grand senti- bourg) mené par le Dr Mathilde La- ment d’insécurité (ex: chute, vol). La solitude, le sentiment d’insécu- motte et dirigé par le Dr Isabelle Tour- rité et la difficulté à réaliser correcte- nier. Elle est faite en collaboration Ces risques sont alimentés par des ment les activités du quotidien ont un avec le Dr Martine Hoffmann (RBS changements physiques liés à l’âge impact très négatif sur le bien-être et – Center fir Altersfroen) et la société (ex: baisse de la vision et de l’audi- augmentent fortement le risque que LuxAI. Son but principal est d’exami- tion, moins d’endurance physique), la personne âgée doive quitter son ner le rôle des nouvelles technologies ainsi que parfois par des changements domicile pour aller vivre dans un éta- comme une aide au quotidien pour les cognitifs (ex: mémoire, langage), qui blissement spécialisé. personnes âgées. entravent la mobilité et les activités en dehors du domicile. Les amis, ainsi Or, les robots sociaux d’assistance Le vieillissement s’accompagne de que les éventuels frères et sœurs, su- pourraient être utiles à de nom- changements qui peuvent restreindre bissent souvent les mêmes difficultés, breuses personnes, notamment les la qualité de vie, surtout au-delà de 80 ce qui rend les rencontres moins fré- personnes âgées vivant seules, afin ans. Le risque de vivre seul devient plus quentes. Les enfants sont souvent peu de réduire non seulement le senti- important avec l’âge, notamment pour disponibles, notamment parce qu’ils ment d’isolement, mais également les les femmes. Par exemple, chez les 80- travaillent et doivent également s’oc- difficultés lors de certaines activités 84 ans, la moitié des femmes (51.2%) cuper de leurs propres enfants. Rares quotidiennes (se rappeler un rendez- vivent seules contre seulement 20% sont en outre les contacts avec les voi- vous, lancer un appel vidéo avec un des hommes (STATEC, 2013). Une sins, étant souvent limités notamment proche, lire un document écrit trop conséquence directe de cela est un plus dans les régions urbaines. petit, stimuler la mémoire, etc.). » RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 9
SCHWERPUNKT FAMILEO Une application pour renforcer les liens relationnels Depuis le mois d’octobre 2017 le Centre Intégré pour Personnes Agées Grén- gewald connecte les résidents et leurs L’étude pilote ASRIF familles, grâce à Famileo, à un réseau social familial et privé pour favoriser le Cependant, les nouvelles tech- et souhaits des utilisateurs, comme contact intergénérationnel. nologies d’assistance quotidienne, par exemple réduire leur sentiment dont font partie les robots sociaux de solitude, motiver à maintenir une A la veille des vacances d’été, le CIPA d’assistance, sont généralement peu activité physique suffisante ou bien Gréngewald s’est engagé dans ce projet utilisées ou vite abandonnées par encore entraîner les fonctions cogni- innovant en déployant pour son établis- sement cette application sécurisée et les personnes de 65 ans et plus. Ceci tives (ex. la mémoire, le langage). adaptée aux personnes âgées. pourrait s’expliquer par le fait que ces Pour les besoins de cette étude, nous nouveaux outils technologiques sont avons fait appel au robot social QT Fort du constat que les jeunes géné- souvent développés sans inclure les qui est également utilisé dans une rations sont de moins en moins nom- utilisateurs potentiels, c’est-à-dire autre recherche menée au sein d’IN- breuses à utiliser les modes de commu- sans les interroger sur leurs besoins et SIDE (recherche visant à améliorer nication traditionnels tels que les cartes attentes concernant ces technologies. les compétences émotionnelles des postales ou les lettres et que l’essentiel des échanges se fait sur les réseaux enfants présentant un Trouble du sociaux dont les personnes âgées sont L’objectif de notre étude est donc Spectre Autistique). peu familières, le CIPA Gréngewald pro- d’étudier l’intérêt des personnes âgées pose désormais aux résidents et à leurs à utiliser un robot social d’assistance. Dans la cadre de notre étude, nous proches ce nouveau service Famileo. Connaître les attentes des personnes nous intéressons aux opinions, senti- âgées concernant les robots d’assis- ments et attentes des personnes âgées Le principe? Une application ergono- tance permettra de développer des ro- vis-à-vis des robots sociaux, et cela mique et très facile d’utilisation, qui permet aux familles d’envoyer depuis un bots (et plus largement des nouvelles avant et après avoir réalisé quelques smartphone des messages et des photos à technologies) répondant aux besoins exercices physiques et ludiques avec un proche qui réside dans l’établissement. l’aide de QT. Nous cherchons notam- ment à savoir pour quelles activités Deux fois par mois, les différents du quotidien les robots sociaux sont messages envoyés par chaque famille perçus comme potentiellement utiles sont automatiquement mis en page sous et comment les rendre plus adaptés à la forme d’une gazette papier person- nalisée au nom du résident. Elle est leurs attentes. ensuite imprimée par l’établissement avant d’être partagée avec le résident, Une prochaine étape de cette créant un véritable moment d’échange étude va consister à tester l’intérêt et et de bonheur pour le senior plongé dans l’utilité potentielle des robots sociaux l’univers de sa famille! d’assistances pour les personnes âgées présentant des pathologies cogni- Dans les prochains mois, l’application permettra également aux familles de tives (ex: maladie d’Alzheimer) ainsi consulter l’actualité du CIPA et les que pour leurs aidants profession- photos de leur parent publiées par l’éta- nels (ex: aides-soignants, infirmiers). blissement. L’objectif des outils technologiques Famileo contribue ainsi à renforcer les d’assistance en général, et de QT en liens entre les résidents et leur famille et particulier, serait de permettre à la entre les familles et le CIPA. Fort de ce succès, le réseau Famileo a été déployé personne âgée de rester vivre chez elle en 2017, sur l’ensemble des établisse- plus longtemps, dans de meilleures ments gérés par Sodexo Luxembourg au conditions, et pour un coût finan- Grand-duché et proposé à plus de 500 cier plus faible que celui des centres résidents et leurs familles. accueillant les personnes âgées. « Plus d’informations par: e-mail manon.weber@sodexo.com ou 10 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 SCHWERPUNKT Tél. 34 72 70 9098
GERONTOLOGISCHE FORSCHUNG SOZIALE ASSISTENZROBOTER AUF DEM PRÜFSTAND Text Naida Zaimovic Ende September fand in der RBS – Cellule de Recherche eine zweitägige Pilotstudie in Kooperation mit der Universität Luxemburg statt. Hauptziel war es zu testen, wie Senioren auf soziale Assistenzroboter reagieren, mit ihnen interagieren und was sie von ihnen erwarten. Auf den Teilnahmeaufruf in der Spätestens seit dem Kinofilm Star September-Ausgabe der RBS-Zeit- Wars sind Begriffe wie künstliche In- schrift Aktiv am Liewen meldeten sich telligenz, Drohnen und Roboter, wie zehn Testpersonen, die mit dem von z.B. der tollpatschige R2D2 auch dem der in Luxemburg ansässigen Firma breiten Publikum bekannt. Der theo LuxAI produzierten sozialen Assis- retische Begriff „soziale Assistenzro- Naida Zaimovic tenzroboter QT einige Spiele und boter“ hingegen blieb noch einige Zeit ist Masterstudentin im Fachbereich Bewegungsübungen durchführen eher den entsprechenden Insider- Psychologie an der Universität konnten. Die Rückmeldungen der Teil- Kreisen vorbehalten. Dabei sind diese Trier und absolvierte im Herbst ein Praktikum bei der RBS – Cellule de nehmer waren gemischt. Manche wa- Roboter nichts weiter als Maschinen, Recherche ren der Auffassung, dass solch ein Ro- deren primäre Aufgabe es ist, Men- boter in Zukunft unter verschiedenen schen in verschiedenen Alltagsaufga- Umständen wie etwa Bettlägerigkeit ben bzw. -aktivitäten behilflich zu sein oder Demenz hilfreich sein könnte. und zwar jeweils abhängig von der Art Andere sahen den elektrischen Ge- und Weise ihrer Programmierung und fährten als reine Spielerei an, die eher Konstruktion. Des Weiteren werden unterhaltend als unterstützend ist. soziale Assistenzroboter so program- miert, dass sie auch sozial interagie- Doch was sind eigentlich sozia- ren können, natürlich in Rahmen und le Assistenzroboter und wie können Grenzen ihrer Programmierung und sie alten Menschen im Alltag oder im der technischen Möglichkeiten. Ihre Notfall tatsächlich helfen? Könnte ein soziale Interaktion oder ihre soft skills Zusammenspiel zwischen künstlicher beinhalten z.B. die Simulation emoti- Intelligenz (hier soziale Roboter) und onaler Gesichtsausdrücke – wie etwa älteren Personen möglicherweise von lächeln, traurig sein, fröhlich schauen Nutzen sein? etc. – , das wiederholte Aufsagen von RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 11
SCHWERPUNKT Senioren testeten die interaktiven Fähigkeiten von QT verschiedenen Sätzen und Worten, fühlen sich vergesslicher im Gegensatz dem Reinigen eines kotverschmierten die Anleitung zu einfachen Bewegun- zu früher und nicht fit genug, um sich Bewohners oder Patienten, die neben gen wie z.B. Arme heben oder anderen an Termine oder andere zeitliche Ver- einer gewissen Gelassenheit auch viel körperlichen und kognitiven Aktivi- pflichtungen wie etwa die Einnahme Feingefühl verlangen. täten. Ihr Erscheinungsbild kann je von Medikamenten zu erinnern. Wie- nach Konstruktion menschen-, tier-, der andere geben an, körperlich weni- Theoretisch ist vieles denkbar. Wie maschinen- oder zeichentrickfigu- ger belastbar zu sein. Durch neue weit- diese Überlegungen künftig in die Pra- renähnlich sein. Je detailreicher das reichende Möglichkeiten der Technik xis umgesetzt werden und welche Er- Aussehen und aufwendiger und viel- und Informatik könnten innovative gebnisse bzw. konkreten Nutzen und seitiger die Assistenzaufgaben, desto Methoden zu diesen Zwecken entwi- Sinn sie erbringen, darüber wird noch höher sind auch die Entwicklungskos- ckelt bzw. verwendet werden und so viel geforscht werden müssen. Den- ten solcher Roboter. (kleinere) Alltagsbeeinträchtigungen noch stellt sich bereits jetzt die Frage, kompensiert werden. ob es in Zukunft u.a. vielleicht auch Gegenstand gerontologischer solche sozialen Assistenzroboter sein Forschungen bildet auch die Frage, Doch die gerontologische For- könnten, die die Isolation bei älteren wie das Leben im Seniorenalltag er- schung beschäftigt sich nicht nur Personen reduzieren, ihr Wohlbefin- leichtert werden könnte (s. dazu den mit der Verbesserung der Alltagsge- den erhöhen oder ihren Wunsch nach einführenden Artikel ab S. 6). Viele staltung von Senioren, sondern auch längerer Unabhängigkeit realistischer Senioren berichten, dass sie sich so- damit, wie man Alten- bzw. Kranken- werden lassen könnten. « zial isoliert fühlen und gerne etwas pflegern den Berufsalltag erleichtern Gesellschaft, Abwechslung und Unter- könnte, wenn es zu heiklen oder unan- haltung in ihrem Alltag hätten. Andere genehmen Situationen kommt, so z.B. 12 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 SCHWERPUNKT
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NOTIZEN AUS DER WISSENSCHAFT ERNÜCHTERNDES RESULTAT KÖRPERLICHE AKTIVITÄT & DEMENZ Text Jacqueline Orlewski Demenz wird oft als die Geißel des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Trotz vieler Bemühungen gibt es bis heute kein Heilmittel für die verschiedenen Demenzformen und die Wirkung der Medikamente, die die Entwicklung verzögern sollen, ist nicht immer eindeutig. Umso wichtiger scheint daher die Vorbeugung: Lebensstilfaktoren wie Ernährung und körperliche Aktivität stehen hier an erster Stelle der Diskussionen. FOTO © KZENON – FOTOLIA.COM 14 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 NOTIZEN AUS DER WISSENSCHAFT
Dass durch körperliche Aktivität in der 2015 publizierten LIFE-Studie 15 Jahren“, erklären die Wissenschaft- kardiovaskulär protektive Wirkungen keinerlei Verbesserungen bei globalen ler. Egal ob wenig, moderat oder viel erreicht werden können, gilt als erwie- oder spezifischen kognitiven Funkti- Sport getrieben worden war, dies än- sen. Doch wie ist es mit der Demenz? onen. Ähnliche Ergebnisse waren bei derte nichts am durchschnittlichen Er- Ist der fitte Senior wirklich weniger verschiedenen 36-monatigen Lebens- krankungsalter von 75 Jahren. demenzgefährdet als sein stubenho- stil-Interventionen im Multidomain ckender Nachbar? Eine französisch- Alzheimer Preventive Trial herausge- Was aber auffiel, war, dass im Vor- britische Megastudie erbrachte nun kommen. Dies nährte Zweifel an der feld einer Demenz die körperliche keinerlei Nachweis für einen Schutz- Kausalität des Zusammenhangs. Aktivität signifikant abnahm – ein Effekt: „Körperliche Aktivität schützt Vorgang, der bis zu neun Jahre vor nicht vor kognitivem Leistungsabfall Sabia und ihre Kollegen liefern nun Diagnosestellung begann und der be- und senkt nicht das Demenzrisiko“, Ergebnisse einer prospektiven Kohor- sonders ausgeprägt ist bei Patienten teilen Dr. Séverine Sabia, Epidemio- ten-Studie mit 10 308 Menschen im mit kardiovaskulären Erkrankungen. login an der Universität Paris-Saclay Alter zwischen 35 und 55 Jahren, die Schaute man dann bei Demenzkranken und ihre Kollegen im British Medical im Durchschnitt 27 Jahre beobachtet und Nicht-Demenzpatienten zehn und Journal mit. worden waren. Es handelt sich um die 28 Jahre in die Vergangenheit, ließ sich laufende Whitehall-II-Studie, in die in kein Unterschied in der körperlichen Dabei war in den vergangenen den 1980er Jahren britische Staats Aktivität feststellen. Deutlich abneh- Jahren doch immer wieder genau das angestellte aufgenommen worden wa- mende körperliche Aktivität könnte Gegenteil in der Publikums- und Fach- ren. Zwischen 1985 und 2013 wurden demnach in der präklinischen Phase ei- presse zu lesen: Wer in seinem Le- per Fragebogen siebenmal Angaben ner Demenz neben weiteren Hinweisen ben viel in Bewegung sei, aktiv Sport zur körperlichen Aktivität erhoben. auf die sich entwickelnde Gedächtnis- treibe, hieß es, könne unter anderem und kognitive Störung hinweisen. auch das Demenzrisiko im Alter sen- Zwischen 1997 und 2013 wurden ken. Dafür sprachen die Ergebnisse ei- die Teilnehmer bis zu viermal validier- Die Resultate dieser Studie werden ner ganzen Reihe von Beobachtungs ten Testbatterien zur Prüfung der ko- die Diskussion zur Prävention von De- studien. Selbst Interventionsstudien gnitiven Leistungen unterzogen. Über menzerkrankungen wieder neu bele- schienen in diese Richtung zu deuten, elektronische Krankenakten hat das ben. Und eines wird klar: Eigentlich wie z.B. in einem 2008 veröffentlich- Forscherteam die Demenz-Erkrankun- wissen wir nicht wirklich, was vorbeugt. ten Review der Cochrane Collaboration gen im Laufe der Zeit ermittelt und bei Körperliche Aktivität allein zu stimu- über elf Versuchsstudien. Das World seinen Berechnungen soziodemografi- lieren, scheint nicht den gewünschten Dementia Council (WDC) hielt sogar sche Faktoren, Komorbiditäten sowie Effekt zu haben und die Frage, ob eine im Juni 2015 fest, es liege eine ausrei- das Gesundheitsverhalten wie Rauchen Kombination aus körperlicher und ko- chende Evidenz dafür vor, dass unter und Alkoholkonsum berücksichtigt. gnitiver Stimulation eine Demenz hin- anderem regelmäßige körperliche Ak- auszögern kann, steht im Raum. Hier tivität das Risiko kognitiven Abbaus Insgesamt 329 Demenzerkran- wird in letzter Zeit oft das Tanzen als und einer Demenz mindern könne. kungen ermittelte die Arbeitsgruppe. optimale Maßnahme gepriesen, da es Hauptrisikofaktoren waren zunehmen- differenzielle, konditionelle, koordinati- Andererseits waren solche Ergeb- des Alter, weibliches Geschlecht und ve und kognitive Aspekte anspricht und nisse nicht konsistent reproduzierbar. geringe Schulbildung. „Wir fanden kei- verbindet. Insgesamt bestehen jedoch So erbrachte ein moderates Trainings- ne Assoziation zwischen körperlicher noch erhebliche Erkenntnislücken, und programm bei 70- bis 89jährigen US- Aktivität, beurteilt in den Jahren 1997 so hat die Forschung in den nächsten Amerikanern im Vergleich zu einer bis 1999, und der Abnahme des globa- Jahren zum Thema Demenzprävention allgemeinen Gesundheitsberatung len Kognitionsscores in den folgenden noch einiges zu leisten. « Literaturhinweise: Sabia S, Dugravot A, Dartigues J-F, et al. Physical activity, cognitive decline, and risk of dementia: 28 year follow-up of Whitehall II cohort study. BMJ 2017;357:j2709. Angevaren M, Aufdemkampe G, Verhaar HJ et al. Physical activity and enhanced fitness to improve cognitive function in older people without known cognitive impairment. Cochrane Database Syst Rev. 2008;(3):CD005381. Sink KM, Espeland MA, Castro CM et al. Effect of a 24-month physical activity intervention vs health education on cognitive outcomes in sedentary older adults: The LIFE randomized trial. JAMA 2015;314(8):781-790. Andrieu S, Guyonnet S, Coley N et al. Effect of long-term omega 3 polyunsaturated fatty acid supplementation with or without multidomain intervention on cognitive function in elderly adults with memory complaints (MAPT): a randomised, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2017;16(5):377-389. Müller P, Schmicker M, Müller NG. Präventionsstrategien gegen Demenz. Z Gerontol Geriat 2017; 50(Suppl 2):S89-S95. RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 15
GERONTOLOGIE & GERIATRIE DIFFERENZIERTE DEMENZBETREUUNG BEI HPPA WAS TUN MIT „FREIEN RADIKALEN“? Text Vibeke Walter & Simon Groß Es gibt sie in vielen Einrichtungen: Unauffällig dementiell veränderte Bewohner, die aus den gewohnten Betreuungssettings fallen und für die es das passende Angebot nicht zu geben scheint. Vibeke Walter und Simon Groß (RBS-Bulletin) haben Patrick Franzen, Chargé de missions, beim Träger Homes Pour Personnes Agées de la Congrégation des Franciscaines de la Miséricorde (HPPA), über den möglichen Umgang mit diesen „freien Radikalen“ befragt. V.W.: Wie ist man in den HPPA- Häusern konkret auf die Proble- matik aufmerksam geworden? P.F.: Wir haben bei HPPA eine be- stimmte Einteilung. Zum einen den Club R, sprich club rencontre, für die fitten Bewohner. Zum anderen gibt es für Demenzbetroffene, die bei uns nach dem Psychobiografischen Pflegemodell von Prof. Erwin Böhm betreut werden, je nach Interaktionsstufen verschiedene Gruppen. Für mittelschwere Demenzen sind das die Stufen 3 bis 5, für die wei- ter fortgeschrittenen gibt es die geron- tologische Intensivbetreuung (GIB) in den Stufen 6 bis 7. Das sind Bewohner, die oft nicht nur dementielle Störungen, FOTO © DE VISU – FOTOLIA.COM sondern auch erhebliche körperliche Pro- bleme und Defizite aufweisen, z.B. nicht mehr alleine gehen oder essen können. Für die bereits erwähnten, oft eher un- auffälligen „freien Radikalen“ hat sich dagegen niemand so richtig zuständig gefühlt. Für eine der Dementen-Gruppen waren sie in einer noch zu guten Ver- fassung, für den Club R dagegen schon 16 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 GERONTOLOGIE & GERIATRIE
zu schlecht. Manchmal wurden sie me- V.W.: Aber es handelt sich um Fall zu tun? Sie sollen ruhig weiterhin als dikamentös behandelt, entweder weil Demenzbetroffene? „freie Radikale“ unterwegs sein dürfen. sie sehr unruhig und antriebsgesteuert Nur wenn wir uns ihnen zu spät wid- waren oder weil sie sich in ihre Zimmer P.F.: Ja, mit dem Unterschied, dass men, ist die Gefahr groß, dass sie quasi zurückzogen und man eine Depression bei ihnen die Scheinanpassung eben noch unbemerkt in eine verstärkte Demenz vermutete. sehr gut funktioniert. Oft haben sie noch abgerutscht sind bzw. massiv abgebaut genügend Ressourcen bzw. coping-Stra- haben. Um diese Verschlechterung zu Seit mehreren Jahren bin ich in allen tegien, um ihre Erkrankung zu überspie- verhindern, ist es wichtig, prophylaktisch HPPA-Häusern als Demenz-Ratgeber len. Oder sie ziehen sich im Zweifelsfall vorzugehen. aktiv und spreche regelmäßig mit den so sehr zurück, dass sie den Mitarbeitern Verantwortlichen vor Ort. Ich werde gar nicht mehr auffallen. aber auch dann tätig, wenn bei anderen Bewohnern Probleme auftauchen und S.G.: Wie lange bleiben die sich keine Lösungsansätze finden lassen. „freien Radikalen“ Ihrer Erfah- In diesen Gesprächen wurden die soge- V.W.: Ist das eine Beobachtung, rung nach in diesem besonderen nannten „freien Radikalen“ zunehmend die in allen sechs HPPA-Einrich- Stadium? thematisiert, bis ich feststellte, dass es tungen gemacht wurde? sich hier eigentlich um eine vierte Be- P.F.: Das hängt vom Verlauf der wohnergruppe handelt, die gar keinen P.F.: Ja, auf jeden Fall. Bei rund 120 Demenzerkrankung ab und davon, wie spezifischen Raum hat und nur wenig Bewohnern pro Haus, ist etwa ein Viertel schnell wir dieses Stadium erkennen. Ist Aufmerksamkeit erfährt. dement. Von diesen 30 Betroffenen fallen letzteres der Fall, können wir vorbeugend bis zu 10 in dieses Schema. arbeiten, d.h. wir ändern nicht die Situ- ation, aber wir haben genug Informati- onen, um einer Verschlechterung entge- S.G.: Wie findet man heraus, genzuwirken. Dieses Wissen ist wichtig, dass sie in keines der Angebote V.W.: Wurde für diese Gruppe um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, hineinpassen? Wird da vorher inzwischen ein bestimmtes Ange- diese Bewohner so dabei zu unterstützen, schon eine Art Diagnose gestellt bot geschaffen? dass sie ihre noch vorhandene Autonomie oder ergibt sich das während der möglichst lange wahren können. Aktivitäten? P.F.: Nicht direkt. Zunächst einmal ist für diese Bewohnergruppe eine enge P.F.: Am Anfang sind sie nicht auffäl- Zusammenarbeit zwischen der regulären lig, weil die Scheinanpassung noch sehr Pflege und der spezifischen Demenzbe- V.W.: Welche ganz konkreten gut funktioniert, das heißt, die kleinen treuung ganz besonders wichtig gewor- Maßnahmen im Umgang mit den Ausfälle werden von den Mitarbeitern den. Jeder Mitarbeiter hat seit jeher „freien Radikalen“ kann man sich oft über einen längeren Zeitraum gar hausintern jeweils einige Bewohner-Dos- noch vorstellen? nicht bemerkt. Wenn man sie jedoch ge- siers, um die er sich vorrangig kümmert, nauer beobachtet, fällt einem auf, dass up to date hält und bei den Pflegevisiten P.F.: Nehmen wir an, eine Bewohne- diese Bewohner entweder in ihrem Zim- präsentiert. Mittlerweile ist es so, dass rin läuft den ganzen Tag durchs Alters mer bleiben, wo man nicht richtig mit- für diese Dossiers sowohl ein Mitarbeiter heim. Sie findet sich irgendwie noch bekommt, was dort eigentlich passiert. aus der Pflege als auch einer aus der Be- zurecht, dank unserer Beobachtung und Oder sie wandern durchs Haus und stel- treuung zuständig ist, also ein doppelter Wahrnehmung wissen wir aber, dass der len demjenigen Mitarbeiter, der ihnen ge- Blick darauf geworfen wird. Es geht gar Moment kommt, wo sie – vielleicht weil rade über den Weg läuft, ständig Fragen, nicht so sehr darum, die Betroffenen so sie müde oder erschöpft ist – irgendwo wie „wo bin ich?“, oder „wo soll ich jetzt schnell wie möglich in einer bestimmten sitzt und nicht mehr weiter weiß. Genau hin?“. Dieses Verhalten darf nicht im Gruppe unterzubringen, sondern darum zu diesem Zeitpunkt können wir gezielt Alltag untergehen, sondern muss durch herauszufinden, wo sind die Knackpunk- eingreifen, ihr eine Orientierungshilfe geschulte Beobachtungskompetenz wahr- te, zu welchem Zeitpunkt am Tag häufen anbieten und ihr so wieder die nötige genommen werden. sich die Probleme und was ist in diesem Sicherheit vermitteln, damit sie weiter RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 17
GERONTOLOGIE & GERIATRIE V.W.: Sie sagen, Sie haben es mit vier verschiedenen Katego- rien von Bewohnern zu tun. Wie durchlässig handhaben Sie dies im Heimalltag? P.F.: Es gibt immer punktuelle Migrationsmöglichkeiten, je nach Ver- fassung und Interessen. Auch Bewohner aus einer GIB können zu einem Konzert zusammen mit dem Club R gehen oder sind bei Geburtstagsfeiern dabei. Wir informieren die anderen Bewohner na- türlich über gewisse mögliche Verhaltens auffälligkeiten und meistens wird das gut toleriert und akzeptiert. Die Türen sind je nach Situation und individueller Patrick Franzen Belastungsfähigkeit immer offen. Wir ist u.a. als Demenz-Ratgeber in den HPPA-Einrichtungen aktiv versuchen, die Bewohner, ob dement oder nicht, so lange wie möglich in „ihrer Spur“ zu halten. Manchmal besteht die Gefahr, dass unsere Gesellschaft zu vieles „verdiagnostizieren“ will, dabei sind wir frei im Haus unterwegs sein kann. Dies gewisse Regressionsgefahr gemindert doch letztlich alle nicht ganz „normal“, wird z.B. auch in den chronologischen werden. Die Bewohner dürfen dann al- will sagen, wir alle fallen für kurze Mo- Ablaufplänen festgehalten, mit denen lerdings noch immer selbst entscheiden, mente aus der Normalität heraus. wir versuchen, uns einen Überblick über ob sie mitkommen wollen oder nicht. Tagesgewohnheiten und -strukturen der Wichtig ist: Sie sind nicht vergessen Zum Abschluss möchte ich aber noch Bewohner zu verschaffen. worden und haben ein Gespräch bzw. betonen, dass unsere Vision der Demen- Angebot bekommen. So wird versucht, tenbetreuung, so wie es auch das Nor- rechtzeitig eine Problementwicklung zu malitätsprinzip nach Böhm vorsieht, vermeiden, damit Bewohner nicht an- darin besteht, dass es gar keine spezifi- S.G.: Sie setzen also gezielte, fangen, Verhaltensauffälligkeiten zu zei- schen Wohnbereiche mehr gibt. In den „chirurgische“ Eingriffe ein, an- gen, nur weil wir die Ursache dafür nicht Altersheimen sind so viele verschiedene statt gleich einen ganzen Betreu- kennen. Gezieltes Wahrnehmen und Be- Berufsgruppen vertreten, Hauswirt- ungsmechanismus anzukurbeln. obachten sowie ressourcenförderndes Ar- schaft, Küche, Verwaltung, Technik etc., beiten sind das A und O. Diese Sensibili- da wäre es doch vorstellbar, dass Bewoh- P.F.: Ja, wir gehen minimal invasiv tät sowie die stete Aufmerksamkeit für ner, die zeitlebens einer dieser Tätigkei- vor, und der Betroffene hat nicht das Ge- den Blick aufs Detail rufe ich den Mit- ten nachgegangen sind, dort bestimmte fühl, inkompetent oder verloren zu sein arbeitern immer wieder in Erinnerung. Aufgaben oder Funktionen übernehmen. und keine Ahnung zu haben. Ähnlich ist Das ist meiner Meinung nach wichtiger Je nach ihren Kapazitäten zeitlich be- es, wenn wir bemerken, dass Menschen als der oft weit verbreitete hektische grenzt und begleitet von einem in punkto FOTO © SIMON GROSS sich oft zu bestimmten Zeiten zurück- Aktivismus, mit dem man die Bewohner Demenz geschultem Personal. Die Beto- ziehen. Dann kann man ins Zimmer ge- u.U. nur noch mehr verwirrt. Die prä- nung der Ich-Wichtigkeit und das Gefühl, hen und Bescheid sagen, dass sich jetzt zise Beobachtung und Dokumentation gebraucht und wertgeschätzt zu werden, z.B. die anderen Mitbewohner im Café sind anfangs vielleicht etwas aufwendig, ist eine der wirkungsvollsten Aktivitäten treffen oder eine Aktivität auf dem Pro- letztlich ersparen sie uns jedoch viel Zeit überhaupt. Es bleibt also noch manches gramm steht. Damit kann proaktiv eine und Probleme. zu tun. « 18 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 GERONTOLOGIE & GERIATRIE
SOZIALES MANAGEMENT FEHLERMANAGEMENT ALS CHANCE FEHLERKULTUR – FEHLANZEIGE? Text Yannick Hoffmann* Fehler sind in den meisten Fällen eine ärgerliche Angelegenheit. Besonders dann, wenn uns ein Fehler nicht unterläuft, sondern widerfährt. Doch wie gehen wir mit Fehlern um, wenn sie uns passieren? Stehen wir offen dazu oder sind wir dazu geneigt, diese zu vertuschen? Wie sieht es aus, wenn wir Fehler begehen bei denen Menschen unmittelbar zu Schaden kommen? Denn auch Mitarbeitern aus dem medizinisch-pflegerischen Bereich unterlaufen Fehler. Ein kluges Fehlermanagement kann daher zu einer Optimierung der Patientensicherheit beitragen. FOTO © FPIC – FOTOLIA.COM Widmet man sich der doch recht thematisieren. „Errare humanum wir eigentlich unter dem Begriff „Feh- komplexen und weitreichenden The- est – Irren ist menschlich“ 1. Menschen ler“? So werden etwa Messfehler in der matik des Fehlermanagements und machen Fehler, dies erkannte bereits Physik anders definiert als Rechtsfeh- der Fehlerkultur, kommt man in ers- vor rund 2000 Jahren der römische ler in den Rechtswissenschaften. Pro- ter Instanz nicht umhin, den gemein- Philosoph und Naturforscher Lucius duktionsfehler, die durch Mängel in samen Nenner der beiden Worte zu Annaeus Seneca. Doch was verstehen der Herstellung eines Produktes ent- 1 Lautenbach, E. (2002). Latein-Deutsch: Zitaten-Lexikon. LIT-Verlag: Münster. RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 19
SOZIALES MANAGEMENT stehen, werden anders definiert als auf druck, einer Umarmung oder in man- Handlungstheorien basierende Denk-, chen Fällen mit einem Wangenkuss Planungs- oder Handlungsfehler aus begrüßt. Würden Sie ihnen jedoch die dem Bereich der Psychologie. Zunge zur Begrüßung herausstrecken, könnte man Ihr Verhalten als Fehlver- Eine über diese unterschiedlichs- halten interpretieren. Umgekehrt ist ten Arten und Spezifitäten hinweg an- in manchen Regionen in Tibet das He- wendbare, allgemeingültige Begriffs- rausstrecken der Zunge die traditionell definition stammt aus dem Bereich erlernte und somit unausgesprochene des Qualitätmanagements. Ein Fehler Anforderung an eine gelungene Begrü- wird hierbei als „Nichterfüllung einer ßung.3 Anforderung“ definiert2. Diese augen- scheinlich triviale Begriffsdefinition Die Nichterfüllung einer explizi- setzt zwei Grundbedingungen voraus: ten Anforderung zieht eine explizite Einerseits muss eine Anforderung an Konsequenz nach sich. Wenn Sie bei- eine Person vorliegen und andererseits spielsweise dabei erwischt werden, *Yannick Hoffmann muss diese Person nicht in der Lage wie Sie mit 90km/h durch eine Ort- ist Psychologe sein, die an sie gerichtete Anforderung schaft rasen, wo nur 50km/h erlaubt (Master in psychological zu erfüllen. sind, müssen Sie mit einer Geldstrafe intervention – focus on clinical und einem Punkteverlust beim Füh- domain, Universität Luxemburg) und in dieser Funktion bei rerschein rechnen. Kommen Sie stän- Autisme a.s.b.l tätig. dig zu spät zur Arbeit, müssen Sie Fehler als nichterfüllte sich auf eine Abmahnung vom Chef Anforderungen gefasst machen. Die Nichterfüllung einer impliziten Anforderung hinge- Anforderungen werden dabei so- gen, zieht eine implizite Konsequenz wohl im privaten als auch im berufli- nach sich. Beim Beispiel der „Zungen- chen Kontext an Menschen gestellt. Begrüßung“ könnte die implizite Kon- Man kann in beiden Bereichen zwi- sequenz sein, eine generelle Abwehr- schen expliziten und impliziten An- haltung der betroffenen Personen forderungen unterscheiden. Explizite hervorzurufen. Folglich könnten Ihre Anforderungen können in Gesetzes- Mitmenschen sich zukünftig scheuen, texten oder in Arbeitsverträgen fest- Sie zu begrüßen. gehalten werden und sind somit ver- schriftlicht und unmissverständlich. Implizite Anforderungen sind dage- gen nicht verschriftlicht und werden größtenteils durch soziale Normen und Werte bestimmt. Beispielsweise werden Menschen in unserem west- lichen Kulturkreis mit einem Hände- FOTO © YANNICK HOFFMANN 2 DIN EN ISO 9000:2005 „Qualitätsmanagement – Grundlagen und Begriffe“ 3 Stocker, M. (2015). Die 8 exotischsten Begrüßungen. Blick am Abend. Zugriff unter: https://www. blickamabend.ch/news/rituale-aus-fremden-kulturen-die-8-exotischsten-begruessungen-id3136429. html 20 RBS-BULLETIN | #83 | Januar 2018 SOZIALES MANAGEMENT
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