Argentinien - der unaufhaltsame Abstieg eines reichen Landes?

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Wolfgang Muno

Argentinien – der unaufhaltsame Abstieg
 eines reichen Landes?

Einleitung
   Die Entwicklungsforschung beschäftigt sich mit zwei Fragen: 1. Wie schaffen
es Länder, sich zu entwickeln? Und 2. Warum entwickeln sich einige Länder
nicht?
   Die erste Frage wird mit Blick auf Europa und den Westen, aber auch mit
Blick auf Japan und die nachholenden Entwickler Ostasiens untersucht, anhal-
tende Entwicklungsblockaden werden hauptsächlich in Afrika verortet. Nur sel-
ten gerät ein Phänomen ins Blickfeld, das Argentinien geradezu paradigmatisch
verkörpert: das Verspielen von erfolgreicher Entwicklung, der Abstieg eines rei-
chen Landes.
   Argentinien war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der zehn reichsten
Länder der Welt. „Reich wie ein Argentinier“, hieß es damals. Das Land blickte
nicht nach Lateinamerika, Orientierungspunkte und Maßstab für das eigene Da-
sein waren Großbritannien und Frankreich, Buenos Aires wurde in einem Atem-
zug mit London und Paris genannt. Etwa ein Jahrhundert später hat Argentinien
das Image eines typischen, durchschnittlichen lateinamerikanischen Krisenlan-
des. Politisch diskreditiert durch andauernde Militärdiktaturen, ökonomisch rui-
niert durch Verschuldung, Wirtschafts- und Finanzkrisen. Natürlich stellt sich
die Frage, wie es soweit kommen konnte. Wie konnte ein Land, das einmal zu
den reichsten der Welt zählte, so abgewirtschaftet werden?
   Mit Blick auf die politisch-ökonomischen Faktoren soll versucht werden, den
Aufstieg Argentiniens nach zu zeichnen, um dann den anscheinend unaufhalt-
samen Abstieg des einstmals reichen Landes im 20. Jahrhundert zu analysieren.

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Politisch-ökonomische Entwicklung von den Anfängen bis 1983
Argentinien war seit der Gründung von Buenos Aires 1535 Teil des spanischen
Kolonialreichs. Im Gegensatz zu den Kolonialzentren Mexiko, Peru und Boli-
vien war Argentinien ein unbedeutendes, kaum besiedeltes Randgebiet, in dem
nur extensive Viehwirtschaft zur Versorgung der Zentren betrieben wurde (zur
frühen Geschichte vgl. Rock 1987). Die periphere Lage führte zum Entstehen
unabhängiger Großgrundbesitzer und Kaufleute, vor allem in Buenos Aires und
den umliegenden Provinzen, dem Litoral, die sich zunehmend nach Großbritan-
nien hin orientierten. Argentinien wurde schließlich neben Venezuela zu einem
Zentrum der Unabhängigkeitsbewegung. Am 25. Mai 1810 begann die koloniale
Revolution in Argentinien, eine Regierungsjunta trat an Stelle des Gouverneurs,
am 9. Juli 1816 erklärten sich die „Vereinigten Provinzen des Río de la Plata“
für unabhängig (vgl. Halperin Donghi 1994: 104ff.).
   Wie alle Länder Spanisch-Amerikas war auch Argentinien nach der Unab-
hängigkeit politisch durch jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen
Konservativen und Liberalen, Föderalen und Unitariern, geprägt (vgl. Rock
1987a, Halperin Donghi 1994: 221ff.). Dieser Gegensatz wurde 1862 überwun-
den, Buenos Aires und die argentinischen Provinzen vereinigten sich unter der
Präsidentschaft Bartolomé Mitres (1862-1868).
   Ökonomisch expandierte der Export agrarischer Primärgüter, vor allem Ge-
treide, Leder und Vieh. Spanien als Haupthandelspartner wurde im Rahmen ei-
ner neuen, „neokolonialen Ordnung“ durch Großbritannien ersetzt (vgl. Halperin
Donghi 1994: 239ff.). Die Briten hatten es verstanden, das Machtvakuum nach
dem Rückzug Spaniens zu besetzen und nach 1810 eine erfolgreiche „ökonomi-
sche Conquista“ (Halperin Donghi 1994: 322) durchgeführt, die Lateinamerika,
und insbesondere Argentinien, zum informellen Bestandteil des britischen Em-
pire machte (vgl. Mols 1997). In den folgenden Jahrzehnten institutionalisierte
sich ein ökonomisches Entwicklungsmodell, das Wachstum durch Agrarexporte
erreichen wollte (desarrollo hacia afuera).
   Unter der Präsidentschaft Mitres begann die nationale Konsolidierung in poli-
tischer wie ökonomischer Hinsicht, unterbrochen allerdings durch die ungünsti-
gen Auswirkungen des Paraguayischen Krieges (1864-1870), der trotz eines mi-
litärischen Erfolgs hohe politische, ökonomische und soziale Kosten mit sich
gebracht hatte. Die Nachfolger Mitres, Domingo F. Sarmiento (1868-1874) und
Nicolás Avellaneda (1874-1880), setzten die Konsolidierung fort, besonders un-
ter Sarmiento begann auch eine großangelegte Expansion des Bildungssystems
(vgl. Botana 1996).
   Mit Julio A. Roca, Präsident 1880-1886, begann schließlich eine Phase politi-
scher Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität, die bis zur Weltwirtschaftskrise
1930 andauerte (vgl. Halperin Donghi 1994: 374ff.).
   Der damaligen Führungsschicht, der „Generation der 80er“, gelang durch eine
gezielte Entwicklungsstrategie die rapide Modernisierung Argentiniens (vgl.

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Waldmann 1996: 893). Durch die Zurückdrängung und Ausrottung der Indianer
der pampa húmeda (im wesentlichen die „Leistung“ General Rocas, kurz bevor
er Präsident wurde), die Überwindung der Rivalität zwischen Buenos Aires und
den übrigen Provinzen sowie eine ausreichende Konzentration militärischer, po-
litischer und wirtschaftlicher Macht bei der Zentralregierung hatte sie die politi-
schen Voraussetzungen geschaffen und einen handlungsfähigen Staat errichtet.
Mit der Förderung der Einwanderung, forcierter Bildungspolitik, der Öffnung
für ausländisches Kapital, dem Ausbau der Infrastruktur sowie der qualitativen
und quantitativen Verbesserung von Viehzucht und Ackerbau wurden schließ-
lich die Grundsteine für den wirtschaftlichen Aufstieg gelegt (vgl. Vogel
1992b):
    Bis 1914 waren 3 Millionen Menschen nach Argentinien eingewandert, die
Bevölkerung zwischen 1869 und 1914 von 1,5 auf 8 Millionen Einwohner ge-
wachsen;
    die Analphabetenrate sank von 77 Prozent (1869) auf 36 Prozent (1914), 1884
verabschiedete der Kongress das Gesetz Nr. 1420, das die kostenlose allgemeine
Schulpflicht vorsah;
    das Eisenbahnnetz wuchs von 2500 km (1880) über 6000 km (1886) auf
30.000 km (1910);
    das Exportvolumen wuchs zwischen 1875 und 1930 um jährlich ca. 4-5 Pro-
zent;
    1882 wurde die erste Gefrierfleischfabrik gegründet;
    die Saatfläche für Getreide und Futtermittel wurde von 340.000 Hektar (1875)
auf 25 Millionen Hektar (1929) ausgedehnt;
    die Auslandsinvestitionen, vornehmlich britischer Provenienz, stiegen bis
1900 auf umgerechnet 2,5 Milliarden US-Dollar, bis 1913 auf 10,5 Milliarden
US-Dollar.
    Politisch setzten die etwa 12.000 reichen Grundbesitzer, die die argentinische
Politik des 19. Jahrhunderts oligarchisch dominierten, die „konservative Ord-
nung“ (orden conservador) durch (vgl. Botana 1995). Verschiedene Gruppie-
rungen der Oligarchie waren informelle Veto-Akteure, informelle Übereinkünfte
der Oligarchie bestimmten die politischen Entscheidungen trotz formaler Gül-
tigkeit der demokratischen Verfassung. Der größte Teil der Bevölkerung wurde
durch restriktive Wahlgesetze ausgegrenzt.1 Organisierter Wahlbetrug, Ein-
schüchterung, die Kontrolle über die Armee und die einzige echte Partei (den
Partido Autonomista Nacional), sowie ein ausgeprägtes Klientelsystem festigten
die Macht der Oligarchie. Der argentinische Soziologe Juan Carlos Agulla be-
schrieb die Funktionsweise des „orden conservador“:
    „Die repräsentativen Institutionen der herrschenden Schichten partizipierten
informell als authentische ‚pressure groups“ in der existierenden Machtstruktur.

1
    1910 verfügte weniger als 10 Prozent der Bevölkerung über das Wahlrecht, vgl. Rock 1975:
     27.
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Organisationen wie die ‚Sociedad Rural’, der ‚Jockey Club’, der ‚Circulo de las
Armas’, die ‚Bolsa de Comercio’, die ‚Unión Industrial’, ‚La Nación’ und ‚La
Prensa’ bildeten einen informellen Bestandteil der Machtstruktur und kontrol-
lierten das politische Geschehen. Mehr noch: aus diesen Kreisen stammten die
regierenden Eliten, und dort wurden politische Positionen definiert“ (zitiert nach
Birle 1995: 61).
   Allerdings unterminierte die erfolgreiche Modernisierung die politische Ord-
nung. Die Einwanderung, die sich vor allem auf Buenos Aires konzentrierte und
so zu rascher Urbanisierung führte, wirtschaftliche Prosperität und ein ausgebau-
tes Bildungswesen führten zum Entstehen einer neuen, auf mehr Partizipation
drängenden Mittelschicht. Plattform dieser Mittelschichten wurde die 1890/1891
von Leandro N Alem gegründete Unión Civica Radical (UCR), die wiederholt
gewaltsame Versuche unternahm, die „konservative Ordnung“ zu beenden (vgl.
zur Entstehungsgeschichte der UCR Birle 1989). Mit einer Wahlrechtsreform,
der Ley Saenz-Peña, versuchte die Oligarchie 1912 den Konflikt zu befrieden.2
Dadurch erhielt die UCR die Möglichkeit, die 1916 stattfindenden Wahlen zu
gewinnen. Politisch begann nun eine bis 1930 andauernde Phase der Dominanz
der UCR. 1916-1922 war der charismatische Parteiführer Hipólito Irigoyen Prä-
sident, 1922-1928 Marcelo T. Alvear, 1928-1930 wiederum Irigoyen. Die Auf-
wertung der formalen Institutionen, die sich durch die Respektierung freier
Wahlen (für Männer) zeigte, bedeutete aber nicht die Schwächung oder gar Ab-
schaffung der informalen Institutionen. Die von 1916 bis 1930 andauernde kon-
stitutionelle Phase beteiligte zwar die UCR an der Macht, war aber nicht mit
großen Veränderungen verbunden. Es kam zu keinerlei Reformen der politi-
schen, ökonomischen oder sozialen Strukturen des Landes (vgl. Birle 1995:
62f.).
   1930 beendete die Weltwirtschaftskrise die Phase politischer Stabilität und
ökonomischer Prosperität. Sie hatte für das außenabhängige Argentinien
schwerwiegende Folgen. Absatzverluste der Exportwirtschaft führten zu einer
Drosselung von Importen, sinkenden Staatseinnahmen und einem Anstieg der
Arbeitslosigkeit. Das BIP sank rapide, zwischen 1929 und 1932 um 14 Prozent
(vgl. Boris/Hiedl 1978: 50). Der zuvor noch so überaus populäre Präsident sah
sich durch die ökonomischen Schwierigkeiten zunehmender Unzufriedenheit
gegenüber. Die konservative und militärische Opposition nutzte die Gunst der
Stunde, am 6. September 1930 setzte das Militär unter Führung von General Jo-
sé F. Uriburu den Präsidenten ab. (Vgl. Smith 1978, Waldmann 1996: 910 ff).
Das Militär griff mit diesem Putsch zum ersten Mal offen in die Politik ein und

2
    Das Saenz-Peña-Gesetz, benannt nach dem damaligen Präsidenten, sah die Einführung des
     allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für alle argentinischen Männer vor und
     führte zu einer begrenzten Öffnung des Regimes. Nunmehr hatten 40-45 Prozent der
     männlichen Bevölkerung das Wahlrecht. Der größte Teil der Männer blieb aufgrund feh-
     lender Staatsangehörigkeit ebenso davon ausgeschlossen wie die weibliche Bevölkerung
     (vgl. Smith 1974: 11).
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etablierte sich als ein weiterer informeller Veto-Spieler. Die Militärs waren zwar
meist mit der Oligarchie verbündet, verfolgten aber auch eigene, von den Oli-
garchen unabhängige Interessen.
   Mit dem Militärputsch begann eine Phase der konservativen Restauration
(vgl. Waldmann 1996: 912 ff., Halperin Donghi 1994: 437 ff.). Nach einem kur-
zen Intermezzo des rechtsnationalistischen Uriburu übernahm General Augustín
P. Justo nach Wahlen unter Ausschluss der UCR das Präsidentenamt (1932-
1938). Die Oligarchie war wieder an die Schaltstellen der Macht gelangt. Der
formelle Schein wurde gewahrt, aber informelle Mechanismen wie systemati-
scher Wahlbetrug, Bestechung und Korruption sicherten wie zuvor in der kon-
servativen Ordnung die oligarchische Vorherrschaft. Wirtschaftspolitisch waren
die 30er Jahre durch den Versuch der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung
des vormals erfolgreichen Agrarexportmodells, des „desarrollo hacia afuera“
(Wachstum nach Außen) gekennzeichnet. Allerdings erwies sich ein wirt-
schaftsstrategischer Wandel angesichts der geänderten internationalen Rahmen-
bedingungen als unumgänglich, das Wachstum nach Außen wurde in zuneh-
mendem Maße durch Wachstum nach Innen (desarrollo hacia adentro) abge-
löst. Die Regierungen widmeten zwar der industriellen Entwicklung mehr Auf-
merksamkeit als zuvor, wie verschiedene Maßnahmen zeigen (Wechselkurskon-
trollen, Importbeschränkungen, Zölle, die Gründung einer Zentralbank, Wirt-
schaftskommissionen und staatliche Investitionsanreize), insgesamt wurden die-
se Maßnahmen aber eher als kurzfristige Provisorien denn als kohärente Ent-
wicklungsstrategie gesehen (vgl. Waldmann 1996: 917). So verstärkte sich zu-
nächst lediglich eine quasi natürliche Tendenz zur Importsubstitution in der In-
dustrie, wie sie bereits in den Jahrzehnten zuvor begonnen hatte: Der Anteil der
Industrie am BIP erhöhte sich von 18 Prozent (1929) auf 21 Prozent (1939), die
Zahl der Industriearbeiter stieg von 396.000 (1935) auf 733.000 (1941) (vgl. Bo-
ris/Hiedl 1978: 65). Das Militär beendete am 4. Juni 1943 die década infame,
wie es diese Periode begonnen hatte: mit einem Militärputsch.
   Mit diesem Putsch begann der politische Aufstieg Juan Domingo Peróns (zur
Person Peróns vgl. Sidicaro 1996). Perón, zur damaligen Zeit Oberst, gehörte
zum inneren Kreis der Machthaber, war zeitweise sogar Kriegsminister. Im Ok-
tober 1943 ließ er sich zum Direktor der nationalen Arbeitsbehörde ernennen,
die er am 27. November zum Ministerium für Arbeit und Soziales (Secretaría de
Trabajo y Previsión Social) ausbaute. 1944 wurde er zudem Vizepräsident und
übernahm den Vorsitz des Nationalen Rats für die Nachkriegszeit (Consejo Na-
cional de Posguerra), wodurch er enormen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik
ausübte.
   Im Einklang mit ökonomischen Notwendigkeiten und nationalistischer Ideo-
logie forcierten die Militärregierungen die ISI und betrieben eine dirigistische
und protektionistische Wirtschaftspolitik. Die einheimische Industrie erhielt
durch Zölle und Kredite einen umfassenden Schutz vor ausländischer Konkur-
renz. In der Grundstoff- und Schwerindustrie, v.a. in der Stahl-, Chemie- und

                                       10
Maschinenbaubranche, wurden gezielt „fabricaciones militares“ ausgebaut, Fab-
riken, die unter militärischer Leitung standen. (vgl. Birle 1995: 91 f.) In der Ar-
beits- und Sozialpolitik setzte Perón eine Reihe zentraler Verbesserungen für die
Arbeiterschaft durch, z.B. den Aufbau einer Sozial- und Rentenversicherung,
Lohnerhöhungen um ca. 30 Prozent, Wohnungsbauprogramme, bezahlten Ur-
laub, gesetzlichen Mindestlohn und den „aguinaldo“, eine Art Weihnachtsgeld.
Auch für die Landarbeiter gab es erstmals gesetzliche Bestimmungen über Ar-
beitszeit und Lohn.3 Über die Einhaltung dieser Regelungen wachten neuge-
schaffene Arbeitsgerichte, die, kontrolliert von Peróns Ministerium, Konflikte
oft erstmals zugunsten von Arbeitern entschieden. Flankiert wurden diese mate-
riellen Verbesserungen durch die rechtliche Anerkennung und Neugründung von
loyalen Gewerkschaften bei gleichzeitigem Verbot oppositioneller Gewerk-
schaften und der Verfolgung und Inhaftierung ihrer Funktionäre. Die Loyalität
der Gewerkschaften richtete sich dabei an Perón persönlich, dessen Arbeitsmi-
nisterium für die Anerkennung (personería gremial), Überwachung und Kon-
trolle der Organisationen zuständig war (vgl. Bittner 1982: 161ff., Boris/Hiedl
1978: 72f.). Seine arbeiterfreundliche Politik setzte Perón massiver Kritik aus,
die schließlich im Oktober 1945 zu seiner Absetzung und Inhaftierung führte.
Gleichzeitig sicherte sie ihm aber auch die Unterstützung der Arbeiterschaft. Die
Gewerkschaften kündigten in Folge Generalstreiks an und organisierten die
größte Massendemonstration der argentinischen Geschichte. Am 17. Oktober
1945, der als „Tag der Treue“ (Dia de lealtad) noch heute von Peronisten gefei-
ert wird, strömten Arbeiter zur Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast und
forderten Peróns Freilassung. Die Regierung sah sich angesichts dieser Massen-
proteste zum Nachgeben gezwungen. Zudem versprach sie freie Wahlen im
kommenden Jahr (vgl. Luna 1986).
   Perón polarisierte die argentinische Politik. Er kandidierte für die Präsident-
schaftswahlen im Februar 1946, unterstützt von der organisierten Arbeiterschaft,
die eigens zu diesem Zwecke den Partido Laborista (Arbeiterpartei, PL) ge-
gründet hatte, dem Militär, der Kirche und zum Teil auch von lokalen, konserva-
tiven Caudillos. Dagegen stand ein heterogenes Bündnis, die Unión Democráti-
ca (Demokratische Union, UD), das Kommunisten, Sozialisten, UCR, die tradi-
tionellen Unternehmer und Grundbesitzer umfasste. Trat dieses Bündnis, vehe-
ment unterstützt durch den US-amerikanischen Botschafter Spruille Braden, of-
fiziell als Verteidiger von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auf, so
war das einzig einende Band die Ablehnung Peróns (vgl. Birle 1995: 95f.,
Waldmann 1996: 924). Diese Polarisierung, Peronismus versus Anti-
Peronismus, sollte auf Jahrzehnte hinaus die argentinische Politik prägen und

3
    Es handelte sich um das Landarbeiterstatut (Estatuto del Peón), das vor willkürlichen Ent-
     lassungen schützte, feste Arbeitszeiten regelte und einen Mindestlohn garantierte. Die
     Grundbesitzer wurden zudem verpflichtet, für angemessene Bekleidung, Ernährung, Un-
     terkunft und medizinische Versorgung ihrer peones zu sorgen (vgl. Boris/Hiedl 1978: 84).
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dem gängigen Links-Rechts-Schema zur ideologischen Einordnung politischer
Parteien eine zweite Dimension hinzufügen.
   Die Wahl gewann Perón mit 52 Prozent der Stimmen gegen 48 Prozent für
den Kandidaten der UD. Damit begann die Ära Perón, die 1946-1955 ein popu-
listisches Regime etablierte (vgl. Waldmann 1974). Dies bedeutete die Inkorpo-
rierung vor allem der städtischen Industriearbeiterschaft unter der Führung Pe-
róns in die Politik, aber auch die Einführung des Frauenwahlrechts 1947. Die
Arbeiterschaft wurde so zum Rückgrat des Peronismus. 4 Trotz klarer Mehrhei-
ten für die Bewegung bzw. den 1947 gegründeten Partido Peronista zwischen
1946 und 1955 kam es aber nicht zu einer Stabilisierung der Demokratie. Statt-
dessen strebte Perón unter dem Schlagwort des Justizialismus, seiner eigenen
politischen Doktrin; die korporatistische Reorganisation der argentinischen Ge-
sellschaft unter seiner Führung an. Die formalen Institutionen der Verfassung
hatte nur begrenzte faktische Gültigkeit, Legislative und Judikative wurden zu
Anhängseln der Exekutive.5 Oppositionelle wurden verfolgt, die Presse kontrol-
liert, das gesamte politische Leben sollte nach dem autoritären Führerprinzip
organisiert, sämtliche Entscheidungsmacht bei Perón persönlich konzentriert
werden, der zum individuellen Veto-Akteur der argentinischen Politik wurde.
Nach Meinung von Peter Waldmann wies der Peronismus von Anfang an starke
autoritäre Züge auf und nahm zunehmend sogar totalitäre Merkmale an, vor al-
lem nach 1951/52 (vgl. Waldmann 1974).
   Wirtschaftspolitisch verfolgte Perón einen expansiven Kurs, der die ISI ver-
tiefte und die Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess verstärkte (vgl. Bo-
ris/Hiedl 1978: 82ff., Waldmann 1996: 925ff.). Spätestens unter Perón instituti-
onalisierte sich endgültig eine „staatszentrierte Matrix“, ökonomisch gekenn-
zeichnet durch ISI und einen starken Staatsinterventionsimus in der Wirtschafts-
und Sozialpolitik, politisch durch ein populistisch-korporatistisches Modell ge-
sellschaftlicher Integration und Interessenvermittlung (vgl. Cavarozzi 1997:
95ff.). Die Reformen des Peronismus in den 40er Jahren fanden im Rahmen

4
  Einen wesentlichen Anteil hatte Peróns Frau Evita, die durch ihr Engagement für die Armen
   zur „Beschützerin der Bedürftigen“ wurde und nach ihrem frühen Tod 1952 eine religiös
   anmutende Verehrung erfuhr, die teilweise bis heute andauert.
5
  Als Beispiel für die Gleichschaltung einer zentralen staatlichen Behörde bietet sich die Ent-
   machtung der Justiz an. Der Oberste Verfassungsgerichtshof hatte der peronistischen Poli-
   tik von Anfang an großen Widerstand entgegengesetzt. Perón sah nicht zu Unrecht in die-
   sem Gremium keine neutrale, sondern eine politische Einrichtung und argumentierte, keine
   der drei Gewalten dürfe ihre Funktion losgelöst vom Willen des Volkes ausüben. Im Falle
   des Corte suprema hieße das, das Recht verliere seinen Sinn, wenn es sich zu weit vom Ge-
   rechtigkeitsempfinden der breiten Bevölkerung entferne. Um sich der ihm unbequemen
   Richter zu entledigen, ließ Perón von der peronistisch dominierten Abgeordnetenkammer
   eine Untersuchung gegen sie einleiten, anschließend ließ er sie vom ausschließlich pero-
   nistisch besetzten Senat als zuständiger Instanz mit einer fadenscheinigen juristischen Be-
   gründung verurteilen und absetzen. Danach wurden zahlreiche weitere Richter entlassen,
   die freien Stellen wurden von treuen Gefolgsleuten besetzt (vgl. Waldmann 1974: 92f.).
                                              12
dieser „staatszentrierten Matrix“ statt bzw. ergänzten und erweiterten diese (vgl.
Abbildung).

    Abbildung: Argentinien, Reformen des Peronismus in den 40er Jahren
    Aktive staatliche Wirtschafts- und Industrialisierungspolitik
       • Der Staat als Unternehmer
       • Verstaatlichung der Dienstleistungsunternehmen (Eisenbahnen, Telefongesell-
           schaft, u.a.) und der Zentralbank
       • Gründung von Staat- und gemischten staatlich-privaten Betrieben
    Förderung des Binnenmarktes
       • Importsubstitution
       • Stärkung der Binnennachfrage durch massive Lohnerhöhungen und Erweite-
           rung der Basis der erwerbstätigen Bevölkerung durch Einbeziehung neuer sozi-
           aler Schichten der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt
       • Vernachlässigung der Exporte
    Aktive Inflationspolitik
       • Finanzierung des Staatsdefizits durch Emission (mit der Folge von Inflation)
    Aktive Lohn- und Preispolitik
       • Staatliche Regulierung von Löhnen und Preisen
       • Einführung von Höchstpreisen
       • Staatlich verordnete Lohnerhöhungen
    Aktive Sozialpolitik/Aufbau eines Wohlfahrtsstaates
       • Einführung einer umfangreichen Sozialgesetzgebung
       • Einführung bzw. Erweiterung der staatlichen Rentenversicherung
       • Vielfältige arbeitnehmerfreundliche Maßnahmen (bezahlter Urlaub, 13. Mo-
           natsgehalt, Arbeitszeit- und Feiertagsregelungen, u.a.)
       • Erhöhung der Arbeitgeberanteile an Sozialabgaben und Lohnnebenkosten
    Aktie Gewerkschaftspolitik
       • Förderung des Gewerkschaftseinflusses
       • Zerschlagung der unabhängigen und oppositionellen Gewerkschaften
       • Aufbau der regierungstreuen Gewerkschaften, die zum Rückgrat der peronisti-
           schen Bewegung avancieren
    Förderung des Klientelismus
       • Verhinderung des Aufbaus bzw. Behinderung demokratisch strukturierter, au-
           tonomer Organisationen
       • Regierungstreue Gewerkschaften
       • Bevorzugung von Peronisten bei der Einstellung im Öffentlichen Dienst
       • Personalistisch-paternalistische Sozialhilfe (organisiert durch Evita Peron)
    Wahlrechtsreform
       • Einführung des Frauenwahlrechts
    Quelle: Muno 2005: 53

  Noch unter der letzten Militärregierung waren die Zentralbank verstaatlicht
und das IAPI (Instituto Argentino para la Promoción del Intercambio), eine Be-
hörde, die das Außenhandelsmonopol für alle wichtigen Agrarprodukte erhielt
und so 1949 99 Prozent des Getreideexports kontrollierte, gegründet worden.
Günstige Kredite, hohe Importzölle sowie Importbeschränkungen förderten die

                                          13
Entwicklung des industriellen Sektors. Unter dem Schlagwort der „Repatriie-
rung“ wurden ausländische Unternehmen wie Eisen- und Straßenbahnen sowie
das Telefonnetz verstaatlicht, Auslandsschulden getilgt und die Möglichkeiten
für ausländische Investitionen eingeschränkt, stattdessen inländische gefördert.
   Dieser Kurs war äußerst erfolgreich. Das BIP stieg zwischen 1946 und 1948
um 16 Prozent, die Zahl der Industriebetriebe erhöhte sich zwischen 1946 und
1954 von 85.000 auf 148.000. Der Ausbau der industriellen Produktion (die ver-
arbeitende Industrie erhöhte ihren Anteil am BIP von knapp 23 Prozent 1945 auf
29 Prozent 1955) und das Wachstum des Staatssektors (die Staatsquote stieg von
16 Prozent 1946 auf 29 Prozent 1948) wirkte sich sehr positiv auf Peróns treues-
te Anhänger, die Arbeiterschaft aus. Die Arbeitslosigkeit sank, ca. 70 Prozent
der Gesamtbeschäftigten waren bis 1951 in die Sozialversicherung einbezogen,
die Reallöhne stiegen zwischen 1946 und 1949 um fast 30 Prozent (einige Be-
rechnungen ergeben zwischen 1945 und 1949 im städtischen Bereich sogar Re-
allohnzuwächse von über 60 Prozent), die Lohnquote stieg von 40,9 Prozent
(1945) auf 52 Prozent (1950).
   In den 50er Jahren geriet der expansive Kurs ins Stocken. Die „Repatriierung“
hatte die Devisenreserven der prosperierenden Kriegs- und Nachkriegsjahre auf-
gebraucht, eine Dürreperiode in den Jahren 1951/52 verringerte die Agrarexpor-
te und damit die Hauptquelle: eigene Erstellung nach staatlicher Einnahmen, die
ISI hatte hauptsächlich in der Konsumgüterindustrie gegriffen, so dass kostenin-
tensive Vorprodukte und halbfertige Produkte, vor allem Maschinen, nach wie
vor importiert werden mussten. Auch die Sozialausgaben sowie das Fehlen eines
funktionierenden Steuersystems, das ordentliche Einnahmen ermöglicht hätte,
belasteten ein durch permanentes deficit spending strapaziertes Budget. Das BIP
sank zwischen 1949 und 1952 um 4,2 Prozent, die Reallöhne sanken im selben
Zeitraum um fast 20 Prozent. Der Wandel der ökonomischen Rahmenbedingun-
gen zwang Perón zu einer teilweisen Liberalisierung im Rahmen der „staatszent-
rierten Matrix“.
   Die insgesamt sich verschlechternde ökonomische Situation führte zu einer
Verringerung des politischen wie wirtschaftspolitischen Spielraums, die Perón,
wie bereits erwähnt, durch zunehmende Repression zu kompensieren suchte.
Mit seinen Versuchen, alle gesellschaftlichen Bereiche gleichzuschalten, machte
sich Perón schließlich zwei der wichtigsten Stützen seiner Herrschaft, das Mili-
tär und die Kirche, zu Feinden.6 1955 beendete ein Militärputsch die Ära Perón.
Für Perón selbst begann damit ein achtzehnjähriges Exil, das ihn über Paraguay
nach Panama, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Spanien führte.
Gleichwohl spielte er weiterhin eine wichtige Rolle im politischen Leben Argen-
tiniens.
6
    Aus ungeklärten Gründen begann Perón Ende 1954 massive Angriffe gegen die katholische
     Kirche, verabschiedete eine Reihe anti-kirchlicher Gesetze (zum Beispiel die Liberalisie-
     rung des Scheidungsrechts) und kündigte die vollständige Trennung von Kirche und Staat
     an (vgl. Sidicaro 1996: 42f., Waldmann 1996a: 931f.).
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Nach dem Sturz Peróns war Argentinien noch stärker durch politische Instabi-
lität gekennzeichnet als in den Jahren zuvor (vgl. Cavarozzi 1986). Bis zur
Rückkehr zur Demokratie 1983 dauerte es 28 Jahre. In dieser Zeit wechselten
sich militärische und zivile Regierungen wie in einer Pendelbewegung ab. 1955
bis 1958 herrschten Militärs, 1958 bis 1966 Zivilregierungen, 1966 bis 1973
wiederum Militärregierungen, 1973 bis 1976 erneut Zivilregierungen und zwi-
schen 1976 und 1983 wieder eine Militärdiktatur. Auch wirtschaftspolitisch wa-
ren diese Jahre durch ein unstetes hin und her zwischen liberaleren und etatisti-
scheren Strategien geprägt, wobei auch innerhalb der jeweiligen zivilen und mi-
litärischen Phasen wirtschaftspolitische Kurswechsel stattfanden. Insgesamt
blieb aber die „staatszentrierte Matrix“ nach wie vor dominant, Reformen fan-
den nur innerhalb des Referenzrahmens der Matrix statt.

    Abbildung: Argentinien, Politische Regime und Wirtschaftspolitik 1955-1983

    Jahr   Politisches      Regierung                  Wirtschaftspolitik
           Regime
 1955-     militärisch      Lonardi (1955)             nationalistisch-populistisch
 1958                       Aramburu (1955-1958)       liberal
 1958-     zivil            Frondizi (1958-1962)       etatistisch-desarrollistisch
 1966                       Guido (1962-1963)          liberal
                            Illia (1963-1966)          etatistisch-nationalistisch
 1966-     militärisch      Onganía (1966-1970)        liberal
 1973                       Levingston (1970-1971)     etatistisch-nationalistisch
                            Lanusse (1971-1973)
 1973-     zivil            Cámpora (1973)             etatistisch-populistisch
 1976                       Lastiri (1973)
                            J.D. Perón (1973-1974)
                            Isabel Perón (1974-1976)
 1976-     militärisch      Videla (1976-1981)         liberal
 1983                       Viola (1981)               etatistisch-nationalistisch
                            Galtieri (1981-1982)       liberal
                            Bignone (1982-1983)        etatistisch
    Quelle: Muno 2005: 55

   Analysen der politischen Entwicklung der Jahre 1955 bis 1983 betonen die
Tatsache, dass die politischen Auseinandersetzungen Demokratie in Argentinien
zu einem „impossible game“ machten (vgl. O`Donnell 1973). Besonders die
Konfliktlinie Peronismus-Antiperonismus erwies sich als unversöhnliche Trenn-
linie politischer Kräfte. Das „eherne Gesetz“ argentinischer Politik (die Peronis-
ten gewinnen immer bei freien Wahlen) zwang die antiperonistischen Kräfte,
den Peronismus zu unterdrücken. Letztlich wurden von beiden Lagern die ver-
fassungsmäßigen Organe missachtet und entwertet.
   Cavarozzi spricht in diesem Zusammenhang vom Entstehen eines dualen poli-
tischen Systems:

                                          15
„In diesem System funktionierten auf der einen Seite die nichtperonistischen
Parteien und das Parlament. Weder die Parteien noch das Parlament kanalisier-
ten jedoch die Interessen und Orientierungen der wesentlichen gesellschaftlichen
Akteure. Auf der anderen Seite operierte ein System außerparlamentarischer und
außerparteilicher Verhandlungen und Druckausübung; in ihm kam man zu Ü-
bereinkünften und man schloss Kompromisse (...) Die verschiedenen Akteure
einigten sich in der Regel darauf, Einschränkungen ihrer ursprünglichen Forde-
rungen zu akzeptieren. Sie gaben jedoch zu erkennen, dass ihre Präferenzen an-
dere seien, dass sie den Übereinkünften über Regeln und Inhalte nur widerwillig
und vorläufig zustimmten und dass sie, sobald es ihnen möglich sei, nicht zö-
gern würden, diese Übereinkünfte zu brechen – selbst auf Kosten eines Bruchs
mit dem institutionellen System. Der Kern des dualen politischen Systems be-
stand infolgedessen nicht nur darin, dass der Parlamentarismus und das Partei-
ensystem einen widerstreitenden Pol hervorbrachten – da der Peronismus verbo-
ten und dazu gezwungen war, ‚von außen’ zu agieren –, sondern auch darin,
dass die Teilnehmer an den außerparlamentarischen Verhandlungen und Druck-
ausübungen gleichzeitig das Parlament und die Parteien als Waffe zur Erpres-
sung brauchten, d.h. als Hilfsmittel ultima ratio benutzten sie die Destabilisie-
rung oder den Sturz der jeweils amtierenden, zivilen oder militärischen, Regie-
rung.“ (Cavarozzi 1997: 12).7
   Für Argentinien brachten die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte letztlich
ökonomische Stagnation und einen allmählichen relativen wirtschaftlichen Ab-
stieg (vgl. Waldmann 1996: 933ff.). Zahlreiche Wirtschaftsminister (Erro zählt
33 zwischen 1958 und 1983, vgl. Erro 1993: 229f.), wechselhafte Wirtschafts-
programme und zahlreiche Konjunkturschwankungen beeinträchtigten die öko-
nomische Entwicklung. Vereinfacht lassen sich die „Stop-and-go“-Zyklen wie
folgt darstellen: 1955 bis 1958 leichter Aufschwung, 1959 Rezession, 1960 bis
1961 starke Boomphase, 1962 bis 1963 scharfe Rezession, 1964 bis 1965 wieder
Aufschwung, 1966 bis 1967 Stagnation, 1968 bis 1969 erneut Aufschwung,
1970 bis 1972 Rezession, 1973 bis 1974 Aufschwung, 1975 bis 1976 Rezession,
1977 Aufschwung, 1978 Rezession, 1979 bis 1980 Aufschwung, schließlich
1981 bis 1983 scharfe Rezession (vgl. Imbusch 1991: 492, Erro 1993: 127).
Auch andere ökonomische Indikatoren wie Inflation, Auslandsverschuldung,
Einkommensverteilung oder Pro-Kopf-Einkommen vermitteln ein ungünstiges
Bild. Argentinien büßte in dieser Phase seinen früheren Modernisierungsvor-
sprung weitgehend ein und fiel im Vergleich mit andern lateinamerikanischen
Nationen zurück.8 Argentinien wurde zum „Schwellenland auf Dauer“ (Wald-
mann 1985).
7
    Vgl. auch Birle 1995: 184.
8
    Zwischen 1960 und 1980 wuchs das argentinische Sozialprodukt um 92 Prozent, gleichzei-
     tig erreichte Mexiko ein Wachstum von 240 und Brasilien von 320 Prozent. Der Anteil
     Argentiniens am lateinamerikanischen Export betrug 1938 ca. 30 Prozent, 1977 nur noch
     13 Prozent (vgl. Ehrke 1985: 123).
                                            16
Alfonsín: Hoffnung und Scheitern
   Die letzte Militärjunta gab nach dem verlorenen Falkland/Malvinas-Krieg die
Macht ab, militärisch, politisch wie ökonomisch diskreditiert. Das wirtschaftli-
che Erbe der Militärherrschaft war katastrophal: das BIP war 1983 praktisch ge-
nauso hoch wie 1975, die Inflation betrug 334%, die Auslandsschulden in Höhe
von 46 Mrd. US-$ entsprachen mehr als 60% des BSP, die Zinslast betrug 69%
der Exporterlöse, das Haushaltsdefizit hatte 15,6% des BSP erreicht (vgl. Mu-
no/Wagner 2000).
   Die Regierung Alfonsín (1983-1989) versuchte mit kurzfristigem Krisenma-
nagement der ökonomischen Krise Herr zu werden. Zunächst erfolgte unter
Wirtschaftsminister Grinspun eine kurze Phase nachfrageorientierter, neokeyne-
sianischer Wirtschaftspolitik, die allerdings bald scheiterte und die Inflation in
die Höhe trieb. Im September 1984 wurde daraufhin vergeblich versucht, mit
IWF-inspirierten, orthodox-monetaristischen Maßnahmen (Abwertungen des
Peso, Tariferhöhungen, restriktive Geldpolitik), die Wirtschaft zu stabilisieren.
Der neue Wirtschaftsminister Sourrouille versuchte im Juni 1985 mit dem Plan
Austral eine Phase heterodoxer Austeritätspolitik. Eine neue Währung (der
Austral), Lohn- und Preisstops, die Abschaffung von Devisen- und Importkon-
trollen sowie das Versprechen der Regierung einer restriktiven Geldpolitik zeig-
ten zwar zunächst Erfolg, im Februar 1987 mußte aber bereits mit dem Australi-
to-Plan in Form weiterer Preisstops und Währungsabwertungen nachgebessert
werden. Dennoch misslang die Sanierung der Wirtschaft. Auch die Erneuerung
des Sparkurses durch den Plan Bienal im Oktober 1987 sowie, Ende 1988, ein
erneuter Sparplan, der Plan Primavera als letzter wirtschaftspolitischer Sanie-
rungsversuch, scheiterten (zur Wirtschaftspolitik unter Alfonsín vgl. Acuña
1994, Bodemer 1991, Birle 1995).
Die Bilanz von Alfonsíns Präsidentschaft ist nicht sonderlich positiv. Angetreten
mit großen Erwartungen, erwiesen sich viele Hoffnungen als Illusion. Die
selbstgesteckten Ziele der Regierung waren die Stabilisierung und Reaktivierung
der Wirtschaft und die Konsolidierung der Demokratie. In beiden Bereichen sah
es in Argentinien zum Ende von Alfonsíns Präsidentschaft problematisch aus.
Es gelang letztlich weder, die Wirtschaft zu stabilisieren noch die Dualität des
politischen Systems zu überwinden. Die ökonomische Bilanz seiner sechsjähri-
gen Regierungszeit ergab eine kumulierte Inflationsrate von 650.000 Prozent,
einen Rückgang der Realeinkommen auf weniger als ein Drittel und einen An-
stieg der Arbeitslosigkeit. 10 Millionen Argentinier - ein Drittel der Bevölke-
rung - lebte unterhalb der Armutsgrenze, davon waren 70 Prozent „neue Arme“
(Bodemer 1991: 243). Die „zig-zag-Wirtschaftspolitiken“ (Messner 1998: 52)
der verschiedenen Wirtschaftspläne und ihrer Anpassungen und Modifikationen
verfehlten deutlich das Ziel einer Stabilisierung und Revitalisierung der argenti-
                                       17
nischen Wirtschaft. Alfonsín hinterließ eine leere Staatskasse, über 60 Milliar-
den US-Dollar Auslandsschulden, 6 Milliarden US-Dollar Inlandsschulden, eine
monatliche Inflationsrate von fast 200 Prozent und eine schwere Rezession. Es
gelang Alfonsín nicht, notwendige und anvisierte Reformen durchzuführen. Die
staatszentrierte Matrix erwies sich als äußerst beharrlich. Weder die Unterneh-
mer noch die Gewerkschaften als wichtigste informelle Veto-Akteure der Wirt-
schaftspolitik hatten Interesse an großen Veränderungen. Die Akteurskonstella-
tion war so ungünstig, dass Alfonsín keine Reformkoalition zusammen bekam.
Die Regierung war letztlich der einzige Akteur, der marktwirtschaftliche Refor-
men verfocht, Teile der Regierungspartei waren ebenso kritisch wie die Opposi-
tion, die Unternehmer und die Gewerkschaften. Die angestammten Interessen
der alten Interessenkonfigurationen der staatszentrierten Matrix stellten sich für
Alfonsín als nicht überwindliches historisches Legat dar. Dabei sah sich Alfon-
sín einer Vielzahl von Veto-Akteuren gegenüber. Zum einen konstituierte die
Verfassung Vetogates. In einem symmetrischen Zweikammernsystem wie Ar-
gentinien resultiert die Zustimmungspflicht des Senats in einem Vetogate. Bes-
tes Beispiel hierfür war die im Senat gescheiterte Gewerkschaftsreform. Zwar
hatte Alfonsín zunächst eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus, aber die Peronis-
ten stellten die Mehrheit im Senat. Auch die mehrheitlich peronistischen Pro-
vinzregierungen waren Vetospieler. Durch den verfassungsrechtlich kodifizier-
ten Föderalismus ergab sich für die Provinzen mit der Möglichkeit, anpassungs-
politische Vorgaben der Zentralregierung zu blockieren oder zu unterlaufen, ein
Vetogate. Die Regierungspartei kontrollierte von 1983 bis 1987 nur sieben, 1987
bis 1989 nur zwei von 22 Provinzen. Bei den Wahlen 1987 verlor die Regierung
auch die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Zusätzlich konnte Alfonsín ebenso
wenig die Unternehmer wie die Gewerkschaften zu Kooperation bewegen. Für
die Gewerkschaften entscheidend war die Tatsache, dass die Regierung als anti-
peronistisch eingestuft wurde. Die Gewerkschafter gingen von einer grundsätz-
lichen Inkongruenz mit der radikalen Regierung aus. Die Gewerkschaftsbewe-
gung agierte deshalb als peronistische Ersatzopposition gegen die Regierung,
wie die eindrucksvolle Anzahl von 13 Generalstreiks zeigt.
   Ein weiterer wesentlicher Erklärungsfaktor für die Erfolglosigkeit der Regie-
rung Alfonsín bei der Suche nach Koalitionspartnern war die inkonsistente und
wechselhafte Strategie zwischen konfrontativem und kooperativem Politikstil
bei wechselnden Bündnispartnern. Die Regierung erschien daher unzuverlässig
und isolierte sich selbst. Eine Rolle spielte dabei der institutionelle Kontext des
präsidentiellen Regierungssystems. Die verfassungsrechtliche Dominanz des
Präsidenten dürfte angesichts fehlender Mehrheit im Kongress ein „incentive“
für Alfonsín gewesen sein, Maßnahmen wie beispielsweise den Austral-Plan
durch Dekret zu implementieren. Da es Alfonsín aber nicht gelang, Veto-Spieler
zu neutralisieren oder in eine Reformkoalition zu holen, scheiterte die Regierung
letztlich mit ihrer Politik (vgl. Muno 2005: 64ff.).

                                        18
Menem: Reformen im Zeichen der Konvertibilität
   Angesichts dieser Situation sah sich Alfonsín zu einer vorzeitigen Amtsüber-
gabe an Carlos Menem gezwungen, den bei den Wahlen vom 14. Mai 1989 sieg-
reichen Kandidaten des peronistischen Partido Justicialista. Am 8. Juli 1989 trat
Menem sechs Monate früher als verfassungsmäßig vorgesehen das Amt des Prä-
sidenten an.
   Während er im Wahlkampf als traditionalistischer peronistischer Caudillo
aufgetreten war, führte Menem in Anbetracht der kritischen ökonomischen Situ-
ation im Amt eine radikale, neoliberal inspirierte Anpassungspolitik durch. Der
Kongreß erteilte mit der Verabschiedung zweier Ermächtigungsgesetze im Au-
gust und September 1989, die Ley de Emergencia Administrativa (Gesetz
23.696) und die Ley de Emergencia Económica (Gesetz 23.697), der Exekutive
weitreichende Vollmachten. Die Regierung erhielt damit einen Blankoscheck, in
den Wirtschaftsprozeß, die öffentliche Verwaltung und die Privatisierung von
Staatsunternehmen zu intervenieren. Diese Befugnisse ermöglichten Menem,
auch ohne direkte Beteiligung des Parlaments eine rigorose Anpassungspolitik
durchzusetzen. Kernstück der Reformen war das Ende März 1991 dem argenti-
nischen Parlament vorgelegte Konvertibilitätsgesetz, das mit Hilfe eines Curren-
cy boards primär der Inflationsbekämpfung diente. Zuvor hatte die Regierung
Menem mit insgesamt zehn verschiedenen Wirtschaftsplänen vergeblich ver-
sucht, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Dem im Januar 1991 ernannten
Wirtschaftsminister Domingo Cavallo gelang es schließlich, mit der bis heute
gültigen, gesetzlich garantierten vollen Konvertierbarkeit der argentinischen
Landeswährung die Hyperinflation zu stoppen. Die neue Währung, der Peso,
wurde im Verhältnis 1:1 an den Dollar gebunden und die Zentralbank verpflich-
tet, die monetäre Basis Argentiniens (Geldumlauf, Kassenbestände, Einlagen bei
der Zentralbank) durch frei verfügbare Währungs- und Goldreserven zu decken.
Neuemissionen mussten durch neue Reserven gedeckt sein, Abwertungen des
Peso wurden nur noch nach Zustimmung des Parlaments qua Gesetz erlaubt.
Strukturreformen, die der Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung
dienten, flankierten die Stabilisierung der argentinischen Ökonomie. So wurde
der Handel nahezu vollständig dereguliert, Kontrollbehörden sowie zahlreiche
Steuern und Abgaben abgeschafft, das Wettbewerbs- und das Investitionsrecht
liberalisiert, Subventionen und Zollvorteile abgebaut sowie der Transportsektor
und das Versicherungswesen dereguliert. Das in Angriff genommene Privatisie-
rungsprogramm übertraf an Umfang und Tempo vergleichbare Programme in
den meisten anderen Ländern der Region. Innerhalb weniger Jahre wurden weit-
gehend alle Staatsbetriebe veräußert, darunter die Fluggesellschaft Aerolineas
Argentinas, die Telefongesellschaft ENTEL sowie weitere Dienstleistungs- und
Industriebetriebe. Zwischen 1991 und 1994 wurden Staatsunternehmen im Wert
von 24 Mrd. US-$ verkauft.

                                       19
Regionale Integrationsbestrebungen ergänzten die wirtschaftliche Öffnung
und Liberalisierung. Mit dem 1991 von den Präsidenten Argentiniens, Brasi-
liens, Paraguays und Uruguays unterzeichneten Tratado de Asunción wurde die
Einrichtung eines gemeinsamen Marktes Mercado Común del Sur (MERCO-
SUR) bis zum 31. Dezember 1994 vereinbart. Die Vereinbarung beinhaltete
auch einen schrittweisen, automatischen und progressiven Abbau der Zolltarife.
In Argentinien wie in den anderen beteiligten Ländern zielten die Integrations-
bestrebungen nicht auf eine Abschottung nach außen. Im Gegenteil, die regiona-
le Integration sollte helfen, im internationalen Wettbewerb als gemeinsam auf-
tretender Wirtschaftsblock eine stärkere Position zu gewinnen.
   Menems Wirtschaftspolitik galt zunächst als äußerst erfolgreich (zur Wirt-
schaftspolitik unter Menem vgl. Messner 1998, Pastor/Wise 1999). Es gelang,
die Inflationsrate, die in den achtziger Jahren durchschnittlich 400% betrug, bis
1998 auf unter 1% zu reduzieren, ein durchschnittliches Wachstum des BIP um
5% zu erreichen und die Kapitalflucht der achtziger Jahre, die auf 50 Mrd. US-$
geschätzt wird, in einen Kapitalzustrom in Höhe von gut 30 Mrd. US-$ umzu-
wandeln.
   Höhepunkt des Menemismus’ war die Verfassungsänderung, die Menem eine
zweite Amtszeit ermöglichte. In der zweiten Amtsperiode Menems ließ die Re-
formpolitik aber nach, politisch zeigten sich Erosionserscheinungen, denn den
Erfolgen der menemistischen Wirtschaftspolitik standen verschiedene Probleme
gegenüber. Die Überbewertung des Peso (schätzungsweise 30%) belebte zwar
den Import (von 1990 bis 1994 ist ein Anstieg von 6,4 Mrd. US-$ auf 23,4 Mrd.
US-$ zu verzeichnen), beeinträchtigte aber die Wettbewerbsfähigkeit argentini-
scher Exporte (die im selben Zeitraum nur leicht von 14 Mrd. US-$ auf 17 Mrd.
US-$ anstiegen). Schattenseiten zeigen sich auch im sozialen Bereich. Trotz
leichter Verbesserungen im Vergleich zur Situation im Jahr 1989 erreichte Ar-
gentinien Mitte der 90er nicht das sozio-ökonomische Niveau der 70er. Das BIP
pro Kopf lag 1995 12,7% unter dem Niveau von 1974. Der durchschnittliche
Reallohn sank im gleichen Zeitraum um über 50%, die Einkommensverteilung
verschlechterte sich nachhaltig zwischen 1975 und 1995. Der Anteil der unteren
40% der Einkommenspyramide sank um 28%, der der untersten 10% gar um
42%, der Anteil der oberen 20% stieg um 24,4%. Der Anteil der offiziell Armen
an der Gesamtbevölkerung stieg von 1974 bis 1993 von 4% auf 20%. Nicht zu-
letzt ist auf den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verweisen. Die Arbeitslosenquo-
te stieg von 1974 bis 1995 von 3,4% auf 17,4%, wobei sich allein 1994 trotz ei-
ner ökonomischen Boomphase die Quote verdoppelte und 1995 mit offiziell
20,2% im Großraum Buenos Aires ein historisches Hoch erreichte (vgl. Messner
1998, Pastor/Wise 1999). Auch der Privatisierungsprozess verlief nicht unprob-
lematisch, Barrios (1999) bezeichnete Argentinien als ein Paradebeispiel dafür,
dass der Privatisierungsprozess von Günstlingswirtschaft, Seilschaftsverhalten
und mangelnder Transparenz beherrscht wurde (vgl. Messner 1998, Schvar-
zer/Sidicaro/Töpper 1994, Azpiazu/Vispo 1994). Menems Politik insgesamt war

                                       20
nicht von Effizienzkriterien geleitet, sondern das Ergebnis intransparenter Ent-
scheidungsprozesse von peronistischen Faktionen in Partei und Gewerkschaften
sowie der Großunternehmer, der grupos económicos, die Menem politisch un-
terstützten und sich ihre Unterstützung mit Vorteilen und Privilegien bezahlen
ließen (vgl. Muno 2005: 86ff.).

Die Argentinienkrise
   Am 10. Dezember 1999 endete die über zehnjährige Präsidentschaft Menems,
neuer Präsident wurde Fernando De la Rúa von der Alianza, einem Bündnis der
UCR mit Linken und abtrünnigen Peronisten. De la Rúa hielt, vom IFW eisern
unterstützt, konsequent am Currency board fest, galt doch die Stabilitätspolitik
als oberste Maxime der argentinischen Wirtschaftspolitik seit dem Trauma der
Hyperinflation. Doch die Wirtschaft steckte in einer andauernden Rezession und
die Währungskrise in Brasilien, dem wichtigsten Handelspartner, setzte das
Wechselkursregime durch die Abwertung des brasilianischen Real stark unter
Druck. Im Dezember 2001 kam es zur Explosion (vgl. Wolff 2003). Die Regie-
rung hatte Konten eingefroren, um einen Run auf die Banken und massive Kapi-
talflucht zu stoppen. Ab dem 12. Dezember kam es zunehmend zu gewaltsamen
Protesten, Straßensperren, Plünderungen von Supermärkten und cacerolazos,
Demonstrationen, bei denen die Mittelschicht durch Kochtopfschlagen ihre Wut
zeigte. Am 19. Dezember wurde die Plaza de Mayo vor dem Regierungssitz zum
Schauplatz von regelrechten Straßenschlachten, die 30 Tote und Hunderte von
Verletzten forderten. De la Rúa floh mit dem Hubschrauber aus der Casa rosada,
dem Präsidentenpalast und trat zurück. Argentinien stürzte nun aus einer öko-
nomischen zusätzlich in eine politischen Krise. Am Neujahrstag des Jahres 2002
wird mit Eduardo Duhalde von der PJ der vierte Interimspräsident nach De la
Rúa gewählt. Mit einer dirigistischen Wirtschaftspolitik, die unter anderem
Preiskontrollen, ein Schuldenmoratorium, die Aufgabe der Konvertibilität und
eine Pesifizierung der Wirtschaft, aber auch gezielte staatliche Sozialprogramme
beinhaltet, gelingt – im Kontext der schwersten Wirtschaftkrise der argentini-
schen Krise, sinkender Reallöhne und steigender Armut- eine makroökonomi-
sche Stabilisierung. Anfang des 21. Jahrhunderts gingen Schätzungen von 80%
der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze aus. Mit der Wahl des Peronisten
Néstor Kirchner zum neuen argentinischen Präsidenten im Mai 2003 hat sich die
Situation vorerst beruhigt (vgl. Levitsky/Murillo 2003). Obwohl die ökonomi-
schen Probleme noch lange nicht überwunden sind, hat sich politisch das Szena-
rio rasch gewandelt. Kirchner setzte mit erfolgreichen Verhandlungen mit dem
IWF und dem Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit Akzente, die hohe
Zustimmung in der argentinischen Bevölkerung bekamen.

                                      21
Die Argentinienkrise, Thema vieler Publikationen9, kann als trauriger Höhe-
punkt einer seit Jahrzehnten sich ankündigenden, durch Menems Politik letztlich
ausgelösten strukturellen Krise interpretiert werden.

Fazit
   Der bemerkenswerte Abstieg Argentiniens ist ein Phänomen. Eine Reihe ex-
terner Faktoren, die außerhalb argentinischen Einflusses hat dazu beigetragen.
So traf die Weltwirtschaftskrise von 1930 Argentinien hart, das Agrarexport-
Modell verlor binnen kurzer Zeit den wichtigsten Absatzmarkt, da sich Großbri-
tannien stärker an seine ehemaligen Kolonien Kanada und Australien band und
zunehmender Protektionismus alternative Absatzmärkte verschloss. Der Zweite
Weltkrieg und der Korea-Krieg sorgten für ein Zwischenhoch, da die Nachfrage
nach argentinischen Exportprodukten auf dem Weltmarkt boomte, danach aber
rasch wieder abflaute. Die Agrarpolitiken der USA und der EG implizierten ei-
nen bis heute andauernden hochgradigen Protektionismus, der es Exporteuren
von Agrarprodukten nicht einfach macht. Es gelang den argentinischen Regie-
rungen und der politischen Elite schlicht nicht, angemessen auf Veränderungen
zu reagieren. Wichtiger als eine sinnvolle und nachhaltige Entwicklungsstrategie
waren die politischen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Staatsappara-
tes, der als zentrales Organ der Ressourcenverteilung von enormer Bedeutung
war. In einer Analyse der Jahre 1956 bis 1976 meinte O’Donnell:
   „Die Momente des politischen Sieges und der Umkehrung – in welche Rich-
tung auch immer – des wirtschaftlichen Zyklus waren der Zeitpunkt, zu dem die
Akteure, in diesem Moment Sieger, den Staat ausraubten. Sie bemühten sich,
dort institutionelle Positionen zu stärken, von denen aus sie sich – wie sie aus
eigener Erfahrung wussten – im Falle zukünftiger Kämpfe retten konnten.“
(O’Donnell 1997: 63.) Birle spricht in diesem Zusammenhang vom argentini-
schen Staat nach 1955 als „Beuteobjekt konkurrierender gesellschaftlicher
Machtgruppen“ (Birle 1995: 181).
   Diese Auseinandersetzungen konkurrierender gesellschaftlicher Machtgrup-
pen fand im Kontext des dualen politischen Systems weitgehend im informellen
Raum statt, wobei dieses nicht auf die von O’Donnell oder Birle angeführten
Jahre beschränkt war. Bis heute liegt das zentrale Streben zivilgesellschaftlicher
Akteure im rent-seeking. Der vermeintlich starke Staat in Lateinamerika, der
leviatán crillo, war schon immer ein nur aufgeblähter, aber nie starker Staat. Die
neoliberalen Reformen der 80er und 90er Jahre ließen etwas Luft ab, waren aber
weit davon entfernet, einen effektiven Staat zu schaffen, der ein ordnungspoli-
tisch sinnvoller Regulator sein könnte (und müsste!, vgl. Thiery 1992). Wie die

9
    Vgl. Fritz/Llanos 2002, Nolte 2002, Garzón Valdés 2002, Rubiolo González 2006, Schamis
     2002, Wolff 2003.
                                            22
Ausführungen von Agulla belegten, existierte spätestens seit der „konservativen
Ordnung“ ein duales politisches System mit dem formalen Institutionensystem
auf der einen Seite und informellen Veto-Akteuren auf der anderen Seite. Rou-
qié verortete in seiner Analyse der politischen Rolle der Streitkräfte in Argenti-
nien zu Recht die politische Instabilität in den Kontext der Dualität des politi-
schen Systems, den er als Ausdruck einer langanhaltenden politischen Krise sah:
   „Es existiert eine nahezu vollständige Trennung zwischen dem formalen Insti-
tutionensystem und dem Machtsystem. Hinter dem Schattentheater des ‚legalen
Landes’ treffen diejenigen ‚Machtfaktoren’, die das wirkliche Land konstituie-
ren, die Entscheidungen. Die Armee ist nicht die einzige gesellschaftliche Grup-
pe, die auf verfassungswidrige Art und Weise in das politische Leben interve-
niert und sich ein ständiges Vetorecht bei Entscheidungsprozessen vorbehält.
Alle Interessengruppen bemühen sich mit mehr oder weniger Erfolg darum, die-
sen Status zu erlangen“ (Rouqié 1978: 653ff.). Bis heute fehlt dem Staat eine
gewisse Autonomie gegenüber den mächtigen Einflussgruppen, den Vetospie-
lern, um den verschiedenen Versuchen des state capturing zu widerstehen oder
diese wenigstens auszubalancieren.
   Im historischen Verlauf entwickelten sich neben der Oligarchie bzw. den Un-
ternehmern und Großgrundbesitzern das Militär und die peronistische Bewe-
gung bzw. als deren schlagkräftigster Arm die peronistisch dominierte Gewerk-
schaftsbewegung zu weiteren Veto-Akteuren. Auch nach der Redemokratisie-
rung 1983 litt das politische System unter diesem Dualismus. Es war gerade die
peronistisch dominierte Gewerkschaftsbewegung, die wesentlich zum wirt-
schaftspolitischen Scheitern Alfonsíns beitrug, im Politischen setzte ihm das Mi-
litär so lange zu, bis die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen stark
eingeschränkt wurde. Auch unter Menem wurden wesentliche politische Ent-
scheidungen von einem Klüngel informeller Vetomächte getroffen. Alfonsíns
Abkehr von der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen führte er fort
und stellte damit die Militärs ruhig. Wirtschaftspolitisch waren es die Großun-
ternehmer, die grupos económicos, die mit peronistischen Faktionen in Partei
und Gewerkschaften kooperierten. Auch unter Kirchner setzen Akteure wie die
Piqueteros eher auf informellen Einfluss denn auf den Marsch durch die Institu-
tionen.
   Die politischen Auseinandersetzungen zwischen diesen Akteuren machten
Demokratie in Argentinien zeitweise zu einem „impossible game“ (vgl.
O’Donnell 1973), sorgten aber mindestens in ihrer Konsequenz für eine hoch-
gradige politische Intransparenz und Instabilität, in der die verschiedenen infor-
mellen Veto-Akteure die formellen Staatsorgane in ihrem Sinne zu beeinflussen
versuchten oder schlicht die Regierungen destabilisierten bzw. ablösten. Öko-
nomische Konsequenz solcher Verteilungskämpfe war ein wirtschaftlicher Nie-
dergang.

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