Argentinien - der unaufhaltsame Abstieg eines reichen Landes?
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Wolfgang Muno Argentinien – der unaufhaltsame Abstieg eines reichen Landes? Einleitung Die Entwicklungsforschung beschäftigt sich mit zwei Fragen: 1. Wie schaffen es Länder, sich zu entwickeln? Und 2. Warum entwickeln sich einige Länder nicht? Die erste Frage wird mit Blick auf Europa und den Westen, aber auch mit Blick auf Japan und die nachholenden Entwickler Ostasiens untersucht, anhal- tende Entwicklungsblockaden werden hauptsächlich in Afrika verortet. Nur sel- ten gerät ein Phänomen ins Blickfeld, das Argentinien geradezu paradigmatisch verkörpert: das Verspielen von erfolgreicher Entwicklung, der Abstieg eines rei- chen Landes. Argentinien war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der zehn reichsten Länder der Welt. „Reich wie ein Argentinier“, hieß es damals. Das Land blickte nicht nach Lateinamerika, Orientierungspunkte und Maßstab für das eigene Da- sein waren Großbritannien und Frankreich, Buenos Aires wurde in einem Atem- zug mit London und Paris genannt. Etwa ein Jahrhundert später hat Argentinien das Image eines typischen, durchschnittlichen lateinamerikanischen Krisenlan- des. Politisch diskreditiert durch andauernde Militärdiktaturen, ökonomisch rui- niert durch Verschuldung, Wirtschafts- und Finanzkrisen. Natürlich stellt sich die Frage, wie es soweit kommen konnte. Wie konnte ein Land, das einmal zu den reichsten der Welt zählte, so abgewirtschaftet werden? Mit Blick auf die politisch-ökonomischen Faktoren soll versucht werden, den Aufstieg Argentiniens nach zu zeichnen, um dann den anscheinend unaufhalt- samen Abstieg des einstmals reichen Landes im 20. Jahrhundert zu analysieren. 6
Politisch-ökonomische Entwicklung von den Anfängen bis 1983 Argentinien war seit der Gründung von Buenos Aires 1535 Teil des spanischen Kolonialreichs. Im Gegensatz zu den Kolonialzentren Mexiko, Peru und Boli- vien war Argentinien ein unbedeutendes, kaum besiedeltes Randgebiet, in dem nur extensive Viehwirtschaft zur Versorgung der Zentren betrieben wurde (zur frühen Geschichte vgl. Rock 1987). Die periphere Lage führte zum Entstehen unabhängiger Großgrundbesitzer und Kaufleute, vor allem in Buenos Aires und den umliegenden Provinzen, dem Litoral, die sich zunehmend nach Großbritan- nien hin orientierten. Argentinien wurde schließlich neben Venezuela zu einem Zentrum der Unabhängigkeitsbewegung. Am 25. Mai 1810 begann die koloniale Revolution in Argentinien, eine Regierungsjunta trat an Stelle des Gouverneurs, am 9. Juli 1816 erklärten sich die „Vereinigten Provinzen des Río de la Plata“ für unabhängig (vgl. Halperin Donghi 1994: 104ff.). Wie alle Länder Spanisch-Amerikas war auch Argentinien nach der Unab- hängigkeit politisch durch jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen, Föderalen und Unitariern, geprägt (vgl. Rock 1987a, Halperin Donghi 1994: 221ff.). Dieser Gegensatz wurde 1862 überwun- den, Buenos Aires und die argentinischen Provinzen vereinigten sich unter der Präsidentschaft Bartolomé Mitres (1862-1868). Ökonomisch expandierte der Export agrarischer Primärgüter, vor allem Ge- treide, Leder und Vieh. Spanien als Haupthandelspartner wurde im Rahmen ei- ner neuen, „neokolonialen Ordnung“ durch Großbritannien ersetzt (vgl. Halperin Donghi 1994: 239ff.). Die Briten hatten es verstanden, das Machtvakuum nach dem Rückzug Spaniens zu besetzen und nach 1810 eine erfolgreiche „ökonomi- sche Conquista“ (Halperin Donghi 1994: 322) durchgeführt, die Lateinamerika, und insbesondere Argentinien, zum informellen Bestandteil des britischen Em- pire machte (vgl. Mols 1997). In den folgenden Jahrzehnten institutionalisierte sich ein ökonomisches Entwicklungsmodell, das Wachstum durch Agrarexporte erreichen wollte (desarrollo hacia afuera). Unter der Präsidentschaft Mitres begann die nationale Konsolidierung in poli- tischer wie ökonomischer Hinsicht, unterbrochen allerdings durch die ungünsti- gen Auswirkungen des Paraguayischen Krieges (1864-1870), der trotz eines mi- litärischen Erfolgs hohe politische, ökonomische und soziale Kosten mit sich gebracht hatte. Die Nachfolger Mitres, Domingo F. Sarmiento (1868-1874) und Nicolás Avellaneda (1874-1880), setzten die Konsolidierung fort, besonders un- ter Sarmiento begann auch eine großangelegte Expansion des Bildungssystems (vgl. Botana 1996). Mit Julio A. Roca, Präsident 1880-1886, begann schließlich eine Phase politi- scher Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität, die bis zur Weltwirtschaftskrise 1930 andauerte (vgl. Halperin Donghi 1994: 374ff.). Der damaligen Führungsschicht, der „Generation der 80er“, gelang durch eine gezielte Entwicklungsstrategie die rapide Modernisierung Argentiniens (vgl. 7
Waldmann 1996: 893). Durch die Zurückdrängung und Ausrottung der Indianer der pampa húmeda (im wesentlichen die „Leistung“ General Rocas, kurz bevor er Präsident wurde), die Überwindung der Rivalität zwischen Buenos Aires und den übrigen Provinzen sowie eine ausreichende Konzentration militärischer, po- litischer und wirtschaftlicher Macht bei der Zentralregierung hatte sie die politi- schen Voraussetzungen geschaffen und einen handlungsfähigen Staat errichtet. Mit der Förderung der Einwanderung, forcierter Bildungspolitik, der Öffnung für ausländisches Kapital, dem Ausbau der Infrastruktur sowie der qualitativen und quantitativen Verbesserung von Viehzucht und Ackerbau wurden schließ- lich die Grundsteine für den wirtschaftlichen Aufstieg gelegt (vgl. Vogel 1992b): Bis 1914 waren 3 Millionen Menschen nach Argentinien eingewandert, die Bevölkerung zwischen 1869 und 1914 von 1,5 auf 8 Millionen Einwohner ge- wachsen; die Analphabetenrate sank von 77 Prozent (1869) auf 36 Prozent (1914), 1884 verabschiedete der Kongress das Gesetz Nr. 1420, das die kostenlose allgemeine Schulpflicht vorsah; das Eisenbahnnetz wuchs von 2500 km (1880) über 6000 km (1886) auf 30.000 km (1910); das Exportvolumen wuchs zwischen 1875 und 1930 um jährlich ca. 4-5 Pro- zent; 1882 wurde die erste Gefrierfleischfabrik gegründet; die Saatfläche für Getreide und Futtermittel wurde von 340.000 Hektar (1875) auf 25 Millionen Hektar (1929) ausgedehnt; die Auslandsinvestitionen, vornehmlich britischer Provenienz, stiegen bis 1900 auf umgerechnet 2,5 Milliarden US-Dollar, bis 1913 auf 10,5 Milliarden US-Dollar. Politisch setzten die etwa 12.000 reichen Grundbesitzer, die die argentinische Politik des 19. Jahrhunderts oligarchisch dominierten, die „konservative Ord- nung“ (orden conservador) durch (vgl. Botana 1995). Verschiedene Gruppie- rungen der Oligarchie waren informelle Veto-Akteure, informelle Übereinkünfte der Oligarchie bestimmten die politischen Entscheidungen trotz formaler Gül- tigkeit der demokratischen Verfassung. Der größte Teil der Bevölkerung wurde durch restriktive Wahlgesetze ausgegrenzt.1 Organisierter Wahlbetrug, Ein- schüchterung, die Kontrolle über die Armee und die einzige echte Partei (den Partido Autonomista Nacional), sowie ein ausgeprägtes Klientelsystem festigten die Macht der Oligarchie. Der argentinische Soziologe Juan Carlos Agulla be- schrieb die Funktionsweise des „orden conservador“: „Die repräsentativen Institutionen der herrschenden Schichten partizipierten informell als authentische ‚pressure groups“ in der existierenden Machtstruktur. 1 1910 verfügte weniger als 10 Prozent der Bevölkerung über das Wahlrecht, vgl. Rock 1975: 27. 8
Organisationen wie die ‚Sociedad Rural’, der ‚Jockey Club’, der ‚Circulo de las Armas’, die ‚Bolsa de Comercio’, die ‚Unión Industrial’, ‚La Nación’ und ‚La Prensa’ bildeten einen informellen Bestandteil der Machtstruktur und kontrol- lierten das politische Geschehen. Mehr noch: aus diesen Kreisen stammten die regierenden Eliten, und dort wurden politische Positionen definiert“ (zitiert nach Birle 1995: 61). Allerdings unterminierte die erfolgreiche Modernisierung die politische Ord- nung. Die Einwanderung, die sich vor allem auf Buenos Aires konzentrierte und so zu rascher Urbanisierung führte, wirtschaftliche Prosperität und ein ausgebau- tes Bildungswesen führten zum Entstehen einer neuen, auf mehr Partizipation drängenden Mittelschicht. Plattform dieser Mittelschichten wurde die 1890/1891 von Leandro N Alem gegründete Unión Civica Radical (UCR), die wiederholt gewaltsame Versuche unternahm, die „konservative Ordnung“ zu beenden (vgl. zur Entstehungsgeschichte der UCR Birle 1989). Mit einer Wahlrechtsreform, der Ley Saenz-Peña, versuchte die Oligarchie 1912 den Konflikt zu befrieden.2 Dadurch erhielt die UCR die Möglichkeit, die 1916 stattfindenden Wahlen zu gewinnen. Politisch begann nun eine bis 1930 andauernde Phase der Dominanz der UCR. 1916-1922 war der charismatische Parteiführer Hipólito Irigoyen Prä- sident, 1922-1928 Marcelo T. Alvear, 1928-1930 wiederum Irigoyen. Die Auf- wertung der formalen Institutionen, die sich durch die Respektierung freier Wahlen (für Männer) zeigte, bedeutete aber nicht die Schwächung oder gar Ab- schaffung der informalen Institutionen. Die von 1916 bis 1930 andauernde kon- stitutionelle Phase beteiligte zwar die UCR an der Macht, war aber nicht mit großen Veränderungen verbunden. Es kam zu keinerlei Reformen der politi- schen, ökonomischen oder sozialen Strukturen des Landes (vgl. Birle 1995: 62f.). 1930 beendete die Weltwirtschaftskrise die Phase politischer Stabilität und ökonomischer Prosperität. Sie hatte für das außenabhängige Argentinien schwerwiegende Folgen. Absatzverluste der Exportwirtschaft führten zu einer Drosselung von Importen, sinkenden Staatseinnahmen und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das BIP sank rapide, zwischen 1929 und 1932 um 14 Prozent (vgl. Boris/Hiedl 1978: 50). Der zuvor noch so überaus populäre Präsident sah sich durch die ökonomischen Schwierigkeiten zunehmender Unzufriedenheit gegenüber. Die konservative und militärische Opposition nutzte die Gunst der Stunde, am 6. September 1930 setzte das Militär unter Führung von General Jo- sé F. Uriburu den Präsidenten ab. (Vgl. Smith 1978, Waldmann 1996: 910 ff). Das Militär griff mit diesem Putsch zum ersten Mal offen in die Politik ein und 2 Das Saenz-Peña-Gesetz, benannt nach dem damaligen Präsidenten, sah die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für alle argentinischen Männer vor und führte zu einer begrenzten Öffnung des Regimes. Nunmehr hatten 40-45 Prozent der männlichen Bevölkerung das Wahlrecht. Der größte Teil der Männer blieb aufgrund feh- lender Staatsangehörigkeit ebenso davon ausgeschlossen wie die weibliche Bevölkerung (vgl. Smith 1974: 11). 9
etablierte sich als ein weiterer informeller Veto-Spieler. Die Militärs waren zwar meist mit der Oligarchie verbündet, verfolgten aber auch eigene, von den Oli- garchen unabhängige Interessen. Mit dem Militärputsch begann eine Phase der konservativen Restauration (vgl. Waldmann 1996: 912 ff., Halperin Donghi 1994: 437 ff.). Nach einem kur- zen Intermezzo des rechtsnationalistischen Uriburu übernahm General Augustín P. Justo nach Wahlen unter Ausschluss der UCR das Präsidentenamt (1932- 1938). Die Oligarchie war wieder an die Schaltstellen der Macht gelangt. Der formelle Schein wurde gewahrt, aber informelle Mechanismen wie systemati- scher Wahlbetrug, Bestechung und Korruption sicherten wie zuvor in der kon- servativen Ordnung die oligarchische Vorherrschaft. Wirtschaftspolitisch waren die 30er Jahre durch den Versuch der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des vormals erfolgreichen Agrarexportmodells, des „desarrollo hacia afuera“ (Wachstum nach Außen) gekennzeichnet. Allerdings erwies sich ein wirt- schaftsstrategischer Wandel angesichts der geänderten internationalen Rahmen- bedingungen als unumgänglich, das Wachstum nach Außen wurde in zuneh- mendem Maße durch Wachstum nach Innen (desarrollo hacia adentro) abge- löst. Die Regierungen widmeten zwar der industriellen Entwicklung mehr Auf- merksamkeit als zuvor, wie verschiedene Maßnahmen zeigen (Wechselkurskon- trollen, Importbeschränkungen, Zölle, die Gründung einer Zentralbank, Wirt- schaftskommissionen und staatliche Investitionsanreize), insgesamt wurden die- se Maßnahmen aber eher als kurzfristige Provisorien denn als kohärente Ent- wicklungsstrategie gesehen (vgl. Waldmann 1996: 917). So verstärkte sich zu- nächst lediglich eine quasi natürliche Tendenz zur Importsubstitution in der In- dustrie, wie sie bereits in den Jahrzehnten zuvor begonnen hatte: Der Anteil der Industrie am BIP erhöhte sich von 18 Prozent (1929) auf 21 Prozent (1939), die Zahl der Industriearbeiter stieg von 396.000 (1935) auf 733.000 (1941) (vgl. Bo- ris/Hiedl 1978: 65). Das Militär beendete am 4. Juni 1943 die década infame, wie es diese Periode begonnen hatte: mit einem Militärputsch. Mit diesem Putsch begann der politische Aufstieg Juan Domingo Peróns (zur Person Peróns vgl. Sidicaro 1996). Perón, zur damaligen Zeit Oberst, gehörte zum inneren Kreis der Machthaber, war zeitweise sogar Kriegsminister. Im Ok- tober 1943 ließ er sich zum Direktor der nationalen Arbeitsbehörde ernennen, die er am 27. November zum Ministerium für Arbeit und Soziales (Secretaría de Trabajo y Previsión Social) ausbaute. 1944 wurde er zudem Vizepräsident und übernahm den Vorsitz des Nationalen Rats für die Nachkriegszeit (Consejo Na- cional de Posguerra), wodurch er enormen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik ausübte. Im Einklang mit ökonomischen Notwendigkeiten und nationalistischer Ideo- logie forcierten die Militärregierungen die ISI und betrieben eine dirigistische und protektionistische Wirtschaftspolitik. Die einheimische Industrie erhielt durch Zölle und Kredite einen umfassenden Schutz vor ausländischer Konkur- renz. In der Grundstoff- und Schwerindustrie, v.a. in der Stahl-, Chemie- und 10
Maschinenbaubranche, wurden gezielt „fabricaciones militares“ ausgebaut, Fab- riken, die unter militärischer Leitung standen. (vgl. Birle 1995: 91 f.) In der Ar- beits- und Sozialpolitik setzte Perón eine Reihe zentraler Verbesserungen für die Arbeiterschaft durch, z.B. den Aufbau einer Sozial- und Rentenversicherung, Lohnerhöhungen um ca. 30 Prozent, Wohnungsbauprogramme, bezahlten Ur- laub, gesetzlichen Mindestlohn und den „aguinaldo“, eine Art Weihnachtsgeld. Auch für die Landarbeiter gab es erstmals gesetzliche Bestimmungen über Ar- beitszeit und Lohn.3 Über die Einhaltung dieser Regelungen wachten neuge- schaffene Arbeitsgerichte, die, kontrolliert von Peróns Ministerium, Konflikte oft erstmals zugunsten von Arbeitern entschieden. Flankiert wurden diese mate- riellen Verbesserungen durch die rechtliche Anerkennung und Neugründung von loyalen Gewerkschaften bei gleichzeitigem Verbot oppositioneller Gewerk- schaften und der Verfolgung und Inhaftierung ihrer Funktionäre. Die Loyalität der Gewerkschaften richtete sich dabei an Perón persönlich, dessen Arbeitsmi- nisterium für die Anerkennung (personería gremial), Überwachung und Kon- trolle der Organisationen zuständig war (vgl. Bittner 1982: 161ff., Boris/Hiedl 1978: 72f.). Seine arbeiterfreundliche Politik setzte Perón massiver Kritik aus, die schließlich im Oktober 1945 zu seiner Absetzung und Inhaftierung führte. Gleichzeitig sicherte sie ihm aber auch die Unterstützung der Arbeiterschaft. Die Gewerkschaften kündigten in Folge Generalstreiks an und organisierten die größte Massendemonstration der argentinischen Geschichte. Am 17. Oktober 1945, der als „Tag der Treue“ (Dia de lealtad) noch heute von Peronisten gefei- ert wird, strömten Arbeiter zur Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast und forderten Peróns Freilassung. Die Regierung sah sich angesichts dieser Massen- proteste zum Nachgeben gezwungen. Zudem versprach sie freie Wahlen im kommenden Jahr (vgl. Luna 1986). Perón polarisierte die argentinische Politik. Er kandidierte für die Präsident- schaftswahlen im Februar 1946, unterstützt von der organisierten Arbeiterschaft, die eigens zu diesem Zwecke den Partido Laborista (Arbeiterpartei, PL) ge- gründet hatte, dem Militär, der Kirche und zum Teil auch von lokalen, konserva- tiven Caudillos. Dagegen stand ein heterogenes Bündnis, die Unión Democráti- ca (Demokratische Union, UD), das Kommunisten, Sozialisten, UCR, die tradi- tionellen Unternehmer und Grundbesitzer umfasste. Trat dieses Bündnis, vehe- ment unterstützt durch den US-amerikanischen Botschafter Spruille Braden, of- fiziell als Verteidiger von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auf, so war das einzig einende Band die Ablehnung Peróns (vgl. Birle 1995: 95f., Waldmann 1996: 924). Diese Polarisierung, Peronismus versus Anti- Peronismus, sollte auf Jahrzehnte hinaus die argentinische Politik prägen und 3 Es handelte sich um das Landarbeiterstatut (Estatuto del Peón), das vor willkürlichen Ent- lassungen schützte, feste Arbeitszeiten regelte und einen Mindestlohn garantierte. Die Grundbesitzer wurden zudem verpflichtet, für angemessene Bekleidung, Ernährung, Un- terkunft und medizinische Versorgung ihrer peones zu sorgen (vgl. Boris/Hiedl 1978: 84). 11
dem gängigen Links-Rechts-Schema zur ideologischen Einordnung politischer Parteien eine zweite Dimension hinzufügen. Die Wahl gewann Perón mit 52 Prozent der Stimmen gegen 48 Prozent für den Kandidaten der UD. Damit begann die Ära Perón, die 1946-1955 ein popu- listisches Regime etablierte (vgl. Waldmann 1974). Dies bedeutete die Inkorpo- rierung vor allem der städtischen Industriearbeiterschaft unter der Führung Pe- róns in die Politik, aber auch die Einführung des Frauenwahlrechts 1947. Die Arbeiterschaft wurde so zum Rückgrat des Peronismus. 4 Trotz klarer Mehrhei- ten für die Bewegung bzw. den 1947 gegründeten Partido Peronista zwischen 1946 und 1955 kam es aber nicht zu einer Stabilisierung der Demokratie. Statt- dessen strebte Perón unter dem Schlagwort des Justizialismus, seiner eigenen politischen Doktrin; die korporatistische Reorganisation der argentinischen Ge- sellschaft unter seiner Führung an. Die formalen Institutionen der Verfassung hatte nur begrenzte faktische Gültigkeit, Legislative und Judikative wurden zu Anhängseln der Exekutive.5 Oppositionelle wurden verfolgt, die Presse kontrol- liert, das gesamte politische Leben sollte nach dem autoritären Führerprinzip organisiert, sämtliche Entscheidungsmacht bei Perón persönlich konzentriert werden, der zum individuellen Veto-Akteur der argentinischen Politik wurde. Nach Meinung von Peter Waldmann wies der Peronismus von Anfang an starke autoritäre Züge auf und nahm zunehmend sogar totalitäre Merkmale an, vor al- lem nach 1951/52 (vgl. Waldmann 1974). Wirtschaftspolitisch verfolgte Perón einen expansiven Kurs, der die ISI ver- tiefte und die Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess verstärkte (vgl. Bo- ris/Hiedl 1978: 82ff., Waldmann 1996: 925ff.). Spätestens unter Perón instituti- onalisierte sich endgültig eine „staatszentrierte Matrix“, ökonomisch gekenn- zeichnet durch ISI und einen starken Staatsinterventionsimus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, politisch durch ein populistisch-korporatistisches Modell ge- sellschaftlicher Integration und Interessenvermittlung (vgl. Cavarozzi 1997: 95ff.). Die Reformen des Peronismus in den 40er Jahren fanden im Rahmen 4 Einen wesentlichen Anteil hatte Peróns Frau Evita, die durch ihr Engagement für die Armen zur „Beschützerin der Bedürftigen“ wurde und nach ihrem frühen Tod 1952 eine religiös anmutende Verehrung erfuhr, die teilweise bis heute andauert. 5 Als Beispiel für die Gleichschaltung einer zentralen staatlichen Behörde bietet sich die Ent- machtung der Justiz an. Der Oberste Verfassungsgerichtshof hatte der peronistischen Poli- tik von Anfang an großen Widerstand entgegengesetzt. Perón sah nicht zu Unrecht in die- sem Gremium keine neutrale, sondern eine politische Einrichtung und argumentierte, keine der drei Gewalten dürfe ihre Funktion losgelöst vom Willen des Volkes ausüben. Im Falle des Corte suprema hieße das, das Recht verliere seinen Sinn, wenn es sich zu weit vom Ge- rechtigkeitsempfinden der breiten Bevölkerung entferne. Um sich der ihm unbequemen Richter zu entledigen, ließ Perón von der peronistisch dominierten Abgeordnetenkammer eine Untersuchung gegen sie einleiten, anschließend ließ er sie vom ausschließlich pero- nistisch besetzten Senat als zuständiger Instanz mit einer fadenscheinigen juristischen Be- gründung verurteilen und absetzen. Danach wurden zahlreiche weitere Richter entlassen, die freien Stellen wurden von treuen Gefolgsleuten besetzt (vgl. Waldmann 1974: 92f.). 12
dieser „staatszentrierten Matrix“ statt bzw. ergänzten und erweiterten diese (vgl. Abbildung). Abbildung: Argentinien, Reformen des Peronismus in den 40er Jahren Aktive staatliche Wirtschafts- und Industrialisierungspolitik • Der Staat als Unternehmer • Verstaatlichung der Dienstleistungsunternehmen (Eisenbahnen, Telefongesell- schaft, u.a.) und der Zentralbank • Gründung von Staat- und gemischten staatlich-privaten Betrieben Förderung des Binnenmarktes • Importsubstitution • Stärkung der Binnennachfrage durch massive Lohnerhöhungen und Erweite- rung der Basis der erwerbstätigen Bevölkerung durch Einbeziehung neuer sozi- aler Schichten der Bevölkerung in den Arbeitsmarkt • Vernachlässigung der Exporte Aktive Inflationspolitik • Finanzierung des Staatsdefizits durch Emission (mit der Folge von Inflation) Aktive Lohn- und Preispolitik • Staatliche Regulierung von Löhnen und Preisen • Einführung von Höchstpreisen • Staatlich verordnete Lohnerhöhungen Aktive Sozialpolitik/Aufbau eines Wohlfahrtsstaates • Einführung einer umfangreichen Sozialgesetzgebung • Einführung bzw. Erweiterung der staatlichen Rentenversicherung • Vielfältige arbeitnehmerfreundliche Maßnahmen (bezahlter Urlaub, 13. Mo- natsgehalt, Arbeitszeit- und Feiertagsregelungen, u.a.) • Erhöhung der Arbeitgeberanteile an Sozialabgaben und Lohnnebenkosten Aktie Gewerkschaftspolitik • Förderung des Gewerkschaftseinflusses • Zerschlagung der unabhängigen und oppositionellen Gewerkschaften • Aufbau der regierungstreuen Gewerkschaften, die zum Rückgrat der peronisti- schen Bewegung avancieren Förderung des Klientelismus • Verhinderung des Aufbaus bzw. Behinderung demokratisch strukturierter, au- tonomer Organisationen • Regierungstreue Gewerkschaften • Bevorzugung von Peronisten bei der Einstellung im Öffentlichen Dienst • Personalistisch-paternalistische Sozialhilfe (organisiert durch Evita Peron) Wahlrechtsreform • Einführung des Frauenwahlrechts Quelle: Muno 2005: 53 Noch unter der letzten Militärregierung waren die Zentralbank verstaatlicht und das IAPI (Instituto Argentino para la Promoción del Intercambio), eine Be- hörde, die das Außenhandelsmonopol für alle wichtigen Agrarprodukte erhielt und so 1949 99 Prozent des Getreideexports kontrollierte, gegründet worden. Günstige Kredite, hohe Importzölle sowie Importbeschränkungen förderten die 13
Entwicklung des industriellen Sektors. Unter dem Schlagwort der „Repatriie- rung“ wurden ausländische Unternehmen wie Eisen- und Straßenbahnen sowie das Telefonnetz verstaatlicht, Auslandsschulden getilgt und die Möglichkeiten für ausländische Investitionen eingeschränkt, stattdessen inländische gefördert. Dieser Kurs war äußerst erfolgreich. Das BIP stieg zwischen 1946 und 1948 um 16 Prozent, die Zahl der Industriebetriebe erhöhte sich zwischen 1946 und 1954 von 85.000 auf 148.000. Der Ausbau der industriellen Produktion (die ver- arbeitende Industrie erhöhte ihren Anteil am BIP von knapp 23 Prozent 1945 auf 29 Prozent 1955) und das Wachstum des Staatssektors (die Staatsquote stieg von 16 Prozent 1946 auf 29 Prozent 1948) wirkte sich sehr positiv auf Peróns treues- te Anhänger, die Arbeiterschaft aus. Die Arbeitslosigkeit sank, ca. 70 Prozent der Gesamtbeschäftigten waren bis 1951 in die Sozialversicherung einbezogen, die Reallöhne stiegen zwischen 1946 und 1949 um fast 30 Prozent (einige Be- rechnungen ergeben zwischen 1945 und 1949 im städtischen Bereich sogar Re- allohnzuwächse von über 60 Prozent), die Lohnquote stieg von 40,9 Prozent (1945) auf 52 Prozent (1950). In den 50er Jahren geriet der expansive Kurs ins Stocken. Die „Repatriierung“ hatte die Devisenreserven der prosperierenden Kriegs- und Nachkriegsjahre auf- gebraucht, eine Dürreperiode in den Jahren 1951/52 verringerte die Agrarexpor- te und damit die Hauptquelle: eigene Erstellung nach staatlicher Einnahmen, die ISI hatte hauptsächlich in der Konsumgüterindustrie gegriffen, so dass kostenin- tensive Vorprodukte und halbfertige Produkte, vor allem Maschinen, nach wie vor importiert werden mussten. Auch die Sozialausgaben sowie das Fehlen eines funktionierenden Steuersystems, das ordentliche Einnahmen ermöglicht hätte, belasteten ein durch permanentes deficit spending strapaziertes Budget. Das BIP sank zwischen 1949 und 1952 um 4,2 Prozent, die Reallöhne sanken im selben Zeitraum um fast 20 Prozent. Der Wandel der ökonomischen Rahmenbedingun- gen zwang Perón zu einer teilweisen Liberalisierung im Rahmen der „staatszent- rierten Matrix“. Die insgesamt sich verschlechternde ökonomische Situation führte zu einer Verringerung des politischen wie wirtschaftspolitischen Spielraums, die Perón, wie bereits erwähnt, durch zunehmende Repression zu kompensieren suchte. Mit seinen Versuchen, alle gesellschaftlichen Bereiche gleichzuschalten, machte sich Perón schließlich zwei der wichtigsten Stützen seiner Herrschaft, das Mili- tär und die Kirche, zu Feinden.6 1955 beendete ein Militärputsch die Ära Perón. Für Perón selbst begann damit ein achtzehnjähriges Exil, das ihn über Paraguay nach Panama, Venezuela, der Dominikanischen Republik und Spanien führte. Gleichwohl spielte er weiterhin eine wichtige Rolle im politischen Leben Argen- tiniens. 6 Aus ungeklärten Gründen begann Perón Ende 1954 massive Angriffe gegen die katholische Kirche, verabschiedete eine Reihe anti-kirchlicher Gesetze (zum Beispiel die Liberalisie- rung des Scheidungsrechts) und kündigte die vollständige Trennung von Kirche und Staat an (vgl. Sidicaro 1996: 42f., Waldmann 1996a: 931f.). 14
Nach dem Sturz Peróns war Argentinien noch stärker durch politische Instabi- lität gekennzeichnet als in den Jahren zuvor (vgl. Cavarozzi 1986). Bis zur Rückkehr zur Demokratie 1983 dauerte es 28 Jahre. In dieser Zeit wechselten sich militärische und zivile Regierungen wie in einer Pendelbewegung ab. 1955 bis 1958 herrschten Militärs, 1958 bis 1966 Zivilregierungen, 1966 bis 1973 wiederum Militärregierungen, 1973 bis 1976 erneut Zivilregierungen und zwi- schen 1976 und 1983 wieder eine Militärdiktatur. Auch wirtschaftspolitisch wa- ren diese Jahre durch ein unstetes hin und her zwischen liberaleren und etatisti- scheren Strategien geprägt, wobei auch innerhalb der jeweiligen zivilen und mi- litärischen Phasen wirtschaftspolitische Kurswechsel stattfanden. Insgesamt blieb aber die „staatszentrierte Matrix“ nach wie vor dominant, Reformen fan- den nur innerhalb des Referenzrahmens der Matrix statt. Abbildung: Argentinien, Politische Regime und Wirtschaftspolitik 1955-1983 Jahr Politisches Regierung Wirtschaftspolitik Regime 1955- militärisch Lonardi (1955) nationalistisch-populistisch 1958 Aramburu (1955-1958) liberal 1958- zivil Frondizi (1958-1962) etatistisch-desarrollistisch 1966 Guido (1962-1963) liberal Illia (1963-1966) etatistisch-nationalistisch 1966- militärisch Onganía (1966-1970) liberal 1973 Levingston (1970-1971) etatistisch-nationalistisch Lanusse (1971-1973) 1973- zivil Cámpora (1973) etatistisch-populistisch 1976 Lastiri (1973) J.D. Perón (1973-1974) Isabel Perón (1974-1976) 1976- militärisch Videla (1976-1981) liberal 1983 Viola (1981) etatistisch-nationalistisch Galtieri (1981-1982) liberal Bignone (1982-1983) etatistisch Quelle: Muno 2005: 55 Analysen der politischen Entwicklung der Jahre 1955 bis 1983 betonen die Tatsache, dass die politischen Auseinandersetzungen Demokratie in Argentinien zu einem „impossible game“ machten (vgl. O`Donnell 1973). Besonders die Konfliktlinie Peronismus-Antiperonismus erwies sich als unversöhnliche Trenn- linie politischer Kräfte. Das „eherne Gesetz“ argentinischer Politik (die Peronis- ten gewinnen immer bei freien Wahlen) zwang die antiperonistischen Kräfte, den Peronismus zu unterdrücken. Letztlich wurden von beiden Lagern die ver- fassungsmäßigen Organe missachtet und entwertet. Cavarozzi spricht in diesem Zusammenhang vom Entstehen eines dualen poli- tischen Systems: 15
„In diesem System funktionierten auf der einen Seite die nichtperonistischen Parteien und das Parlament. Weder die Parteien noch das Parlament kanalisier- ten jedoch die Interessen und Orientierungen der wesentlichen gesellschaftlichen Akteure. Auf der anderen Seite operierte ein System außerparlamentarischer und außerparteilicher Verhandlungen und Druckausübung; in ihm kam man zu Ü- bereinkünften und man schloss Kompromisse (...) Die verschiedenen Akteure einigten sich in der Regel darauf, Einschränkungen ihrer ursprünglichen Forde- rungen zu akzeptieren. Sie gaben jedoch zu erkennen, dass ihre Präferenzen an- dere seien, dass sie den Übereinkünften über Regeln und Inhalte nur widerwillig und vorläufig zustimmten und dass sie, sobald es ihnen möglich sei, nicht zö- gern würden, diese Übereinkünfte zu brechen – selbst auf Kosten eines Bruchs mit dem institutionellen System. Der Kern des dualen politischen Systems be- stand infolgedessen nicht nur darin, dass der Parlamentarismus und das Partei- ensystem einen widerstreitenden Pol hervorbrachten – da der Peronismus verbo- ten und dazu gezwungen war, ‚von außen’ zu agieren –, sondern auch darin, dass die Teilnehmer an den außerparlamentarischen Verhandlungen und Druck- ausübungen gleichzeitig das Parlament und die Parteien als Waffe zur Erpres- sung brauchten, d.h. als Hilfsmittel ultima ratio benutzten sie die Destabilisie- rung oder den Sturz der jeweils amtierenden, zivilen oder militärischen, Regie- rung.“ (Cavarozzi 1997: 12).7 Für Argentinien brachten die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte letztlich ökonomische Stagnation und einen allmählichen relativen wirtschaftlichen Ab- stieg (vgl. Waldmann 1996: 933ff.). Zahlreiche Wirtschaftsminister (Erro zählt 33 zwischen 1958 und 1983, vgl. Erro 1993: 229f.), wechselhafte Wirtschafts- programme und zahlreiche Konjunkturschwankungen beeinträchtigten die öko- nomische Entwicklung. Vereinfacht lassen sich die „Stop-and-go“-Zyklen wie folgt darstellen: 1955 bis 1958 leichter Aufschwung, 1959 Rezession, 1960 bis 1961 starke Boomphase, 1962 bis 1963 scharfe Rezession, 1964 bis 1965 wieder Aufschwung, 1966 bis 1967 Stagnation, 1968 bis 1969 erneut Aufschwung, 1970 bis 1972 Rezession, 1973 bis 1974 Aufschwung, 1975 bis 1976 Rezession, 1977 Aufschwung, 1978 Rezession, 1979 bis 1980 Aufschwung, schließlich 1981 bis 1983 scharfe Rezession (vgl. Imbusch 1991: 492, Erro 1993: 127). Auch andere ökonomische Indikatoren wie Inflation, Auslandsverschuldung, Einkommensverteilung oder Pro-Kopf-Einkommen vermitteln ein ungünstiges Bild. Argentinien büßte in dieser Phase seinen früheren Modernisierungsvor- sprung weitgehend ein und fiel im Vergleich mit andern lateinamerikanischen Nationen zurück.8 Argentinien wurde zum „Schwellenland auf Dauer“ (Wald- mann 1985). 7 Vgl. auch Birle 1995: 184. 8 Zwischen 1960 und 1980 wuchs das argentinische Sozialprodukt um 92 Prozent, gleichzei- tig erreichte Mexiko ein Wachstum von 240 und Brasilien von 320 Prozent. Der Anteil Argentiniens am lateinamerikanischen Export betrug 1938 ca. 30 Prozent, 1977 nur noch 13 Prozent (vgl. Ehrke 1985: 123). 16
Alfonsín: Hoffnung und Scheitern Die letzte Militärjunta gab nach dem verlorenen Falkland/Malvinas-Krieg die Macht ab, militärisch, politisch wie ökonomisch diskreditiert. Das wirtschaftli- che Erbe der Militärherrschaft war katastrophal: das BIP war 1983 praktisch ge- nauso hoch wie 1975, die Inflation betrug 334%, die Auslandsschulden in Höhe von 46 Mrd. US-$ entsprachen mehr als 60% des BSP, die Zinslast betrug 69% der Exporterlöse, das Haushaltsdefizit hatte 15,6% des BSP erreicht (vgl. Mu- no/Wagner 2000). Die Regierung Alfonsín (1983-1989) versuchte mit kurzfristigem Krisenma- nagement der ökonomischen Krise Herr zu werden. Zunächst erfolgte unter Wirtschaftsminister Grinspun eine kurze Phase nachfrageorientierter, neokeyne- sianischer Wirtschaftspolitik, die allerdings bald scheiterte und die Inflation in die Höhe trieb. Im September 1984 wurde daraufhin vergeblich versucht, mit IWF-inspirierten, orthodox-monetaristischen Maßnahmen (Abwertungen des Peso, Tariferhöhungen, restriktive Geldpolitik), die Wirtschaft zu stabilisieren. Der neue Wirtschaftsminister Sourrouille versuchte im Juni 1985 mit dem Plan Austral eine Phase heterodoxer Austeritätspolitik. Eine neue Währung (der Austral), Lohn- und Preisstops, die Abschaffung von Devisen- und Importkon- trollen sowie das Versprechen der Regierung einer restriktiven Geldpolitik zeig- ten zwar zunächst Erfolg, im Februar 1987 mußte aber bereits mit dem Australi- to-Plan in Form weiterer Preisstops und Währungsabwertungen nachgebessert werden. Dennoch misslang die Sanierung der Wirtschaft. Auch die Erneuerung des Sparkurses durch den Plan Bienal im Oktober 1987 sowie, Ende 1988, ein erneuter Sparplan, der Plan Primavera als letzter wirtschaftspolitischer Sanie- rungsversuch, scheiterten (zur Wirtschaftspolitik unter Alfonsín vgl. Acuña 1994, Bodemer 1991, Birle 1995). Die Bilanz von Alfonsíns Präsidentschaft ist nicht sonderlich positiv. Angetreten mit großen Erwartungen, erwiesen sich viele Hoffnungen als Illusion. Die selbstgesteckten Ziele der Regierung waren die Stabilisierung und Reaktivierung der Wirtschaft und die Konsolidierung der Demokratie. In beiden Bereichen sah es in Argentinien zum Ende von Alfonsíns Präsidentschaft problematisch aus. Es gelang letztlich weder, die Wirtschaft zu stabilisieren noch die Dualität des politischen Systems zu überwinden. Die ökonomische Bilanz seiner sechsjähri- gen Regierungszeit ergab eine kumulierte Inflationsrate von 650.000 Prozent, einen Rückgang der Realeinkommen auf weniger als ein Drittel und einen An- stieg der Arbeitslosigkeit. 10 Millionen Argentinier - ein Drittel der Bevölke- rung - lebte unterhalb der Armutsgrenze, davon waren 70 Prozent „neue Arme“ (Bodemer 1991: 243). Die „zig-zag-Wirtschaftspolitiken“ (Messner 1998: 52) der verschiedenen Wirtschaftspläne und ihrer Anpassungen und Modifikationen verfehlten deutlich das Ziel einer Stabilisierung und Revitalisierung der argenti- 17
nischen Wirtschaft. Alfonsín hinterließ eine leere Staatskasse, über 60 Milliar- den US-Dollar Auslandsschulden, 6 Milliarden US-Dollar Inlandsschulden, eine monatliche Inflationsrate von fast 200 Prozent und eine schwere Rezession. Es gelang Alfonsín nicht, notwendige und anvisierte Reformen durchzuführen. Die staatszentrierte Matrix erwies sich als äußerst beharrlich. Weder die Unterneh- mer noch die Gewerkschaften als wichtigste informelle Veto-Akteure der Wirt- schaftspolitik hatten Interesse an großen Veränderungen. Die Akteurskonstella- tion war so ungünstig, dass Alfonsín keine Reformkoalition zusammen bekam. Die Regierung war letztlich der einzige Akteur, der marktwirtschaftliche Refor- men verfocht, Teile der Regierungspartei waren ebenso kritisch wie die Opposi- tion, die Unternehmer und die Gewerkschaften. Die angestammten Interessen der alten Interessenkonfigurationen der staatszentrierten Matrix stellten sich für Alfonsín als nicht überwindliches historisches Legat dar. Dabei sah sich Alfon- sín einer Vielzahl von Veto-Akteuren gegenüber. Zum einen konstituierte die Verfassung Vetogates. In einem symmetrischen Zweikammernsystem wie Ar- gentinien resultiert die Zustimmungspflicht des Senats in einem Vetogate. Bes- tes Beispiel hierfür war die im Senat gescheiterte Gewerkschaftsreform. Zwar hatte Alfonsín zunächst eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus, aber die Peronis- ten stellten die Mehrheit im Senat. Auch die mehrheitlich peronistischen Pro- vinzregierungen waren Vetospieler. Durch den verfassungsrechtlich kodifizier- ten Föderalismus ergab sich für die Provinzen mit der Möglichkeit, anpassungs- politische Vorgaben der Zentralregierung zu blockieren oder zu unterlaufen, ein Vetogate. Die Regierungspartei kontrollierte von 1983 bis 1987 nur sieben, 1987 bis 1989 nur zwei von 22 Provinzen. Bei den Wahlen 1987 verlor die Regierung auch die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Zusätzlich konnte Alfonsín ebenso wenig die Unternehmer wie die Gewerkschaften zu Kooperation bewegen. Für die Gewerkschaften entscheidend war die Tatsache, dass die Regierung als anti- peronistisch eingestuft wurde. Die Gewerkschafter gingen von einer grundsätz- lichen Inkongruenz mit der radikalen Regierung aus. Die Gewerkschaftsbewe- gung agierte deshalb als peronistische Ersatzopposition gegen die Regierung, wie die eindrucksvolle Anzahl von 13 Generalstreiks zeigt. Ein weiterer wesentlicher Erklärungsfaktor für die Erfolglosigkeit der Regie- rung Alfonsín bei der Suche nach Koalitionspartnern war die inkonsistente und wechselhafte Strategie zwischen konfrontativem und kooperativem Politikstil bei wechselnden Bündnispartnern. Die Regierung erschien daher unzuverlässig und isolierte sich selbst. Eine Rolle spielte dabei der institutionelle Kontext des präsidentiellen Regierungssystems. Die verfassungsrechtliche Dominanz des Präsidenten dürfte angesichts fehlender Mehrheit im Kongress ein „incentive“ für Alfonsín gewesen sein, Maßnahmen wie beispielsweise den Austral-Plan durch Dekret zu implementieren. Da es Alfonsín aber nicht gelang, Veto-Spieler zu neutralisieren oder in eine Reformkoalition zu holen, scheiterte die Regierung letztlich mit ihrer Politik (vgl. Muno 2005: 64ff.). 18
Menem: Reformen im Zeichen der Konvertibilität Angesichts dieser Situation sah sich Alfonsín zu einer vorzeitigen Amtsüber- gabe an Carlos Menem gezwungen, den bei den Wahlen vom 14. Mai 1989 sieg- reichen Kandidaten des peronistischen Partido Justicialista. Am 8. Juli 1989 trat Menem sechs Monate früher als verfassungsmäßig vorgesehen das Amt des Prä- sidenten an. Während er im Wahlkampf als traditionalistischer peronistischer Caudillo aufgetreten war, führte Menem in Anbetracht der kritischen ökonomischen Situ- ation im Amt eine radikale, neoliberal inspirierte Anpassungspolitik durch. Der Kongreß erteilte mit der Verabschiedung zweier Ermächtigungsgesetze im Au- gust und September 1989, die Ley de Emergencia Administrativa (Gesetz 23.696) und die Ley de Emergencia Económica (Gesetz 23.697), der Exekutive weitreichende Vollmachten. Die Regierung erhielt damit einen Blankoscheck, in den Wirtschaftsprozeß, die öffentliche Verwaltung und die Privatisierung von Staatsunternehmen zu intervenieren. Diese Befugnisse ermöglichten Menem, auch ohne direkte Beteiligung des Parlaments eine rigorose Anpassungspolitik durchzusetzen. Kernstück der Reformen war das Ende März 1991 dem argenti- nischen Parlament vorgelegte Konvertibilitätsgesetz, das mit Hilfe eines Curren- cy boards primär der Inflationsbekämpfung diente. Zuvor hatte die Regierung Menem mit insgesamt zehn verschiedenen Wirtschaftsplänen vergeblich ver- sucht, der Wirtschaftskrise Herr zu werden. Dem im Januar 1991 ernannten Wirtschaftsminister Domingo Cavallo gelang es schließlich, mit der bis heute gültigen, gesetzlich garantierten vollen Konvertierbarkeit der argentinischen Landeswährung die Hyperinflation zu stoppen. Die neue Währung, der Peso, wurde im Verhältnis 1:1 an den Dollar gebunden und die Zentralbank verpflich- tet, die monetäre Basis Argentiniens (Geldumlauf, Kassenbestände, Einlagen bei der Zentralbank) durch frei verfügbare Währungs- und Goldreserven zu decken. Neuemissionen mussten durch neue Reserven gedeckt sein, Abwertungen des Peso wurden nur noch nach Zustimmung des Parlaments qua Gesetz erlaubt. Strukturreformen, die der Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung dienten, flankierten die Stabilisierung der argentinischen Ökonomie. So wurde der Handel nahezu vollständig dereguliert, Kontrollbehörden sowie zahlreiche Steuern und Abgaben abgeschafft, das Wettbewerbs- und das Investitionsrecht liberalisiert, Subventionen und Zollvorteile abgebaut sowie der Transportsektor und das Versicherungswesen dereguliert. Das in Angriff genommene Privatisie- rungsprogramm übertraf an Umfang und Tempo vergleichbare Programme in den meisten anderen Ländern der Region. Innerhalb weniger Jahre wurden weit- gehend alle Staatsbetriebe veräußert, darunter die Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas, die Telefongesellschaft ENTEL sowie weitere Dienstleistungs- und Industriebetriebe. Zwischen 1991 und 1994 wurden Staatsunternehmen im Wert von 24 Mrd. US-$ verkauft. 19
Regionale Integrationsbestrebungen ergänzten die wirtschaftliche Öffnung und Liberalisierung. Mit dem 1991 von den Präsidenten Argentiniens, Brasi- liens, Paraguays und Uruguays unterzeichneten Tratado de Asunción wurde die Einrichtung eines gemeinsamen Marktes Mercado Común del Sur (MERCO- SUR) bis zum 31. Dezember 1994 vereinbart. Die Vereinbarung beinhaltete auch einen schrittweisen, automatischen und progressiven Abbau der Zolltarife. In Argentinien wie in den anderen beteiligten Ländern zielten die Integrations- bestrebungen nicht auf eine Abschottung nach außen. Im Gegenteil, die regiona- le Integration sollte helfen, im internationalen Wettbewerb als gemeinsam auf- tretender Wirtschaftsblock eine stärkere Position zu gewinnen. Menems Wirtschaftspolitik galt zunächst als äußerst erfolgreich (zur Wirt- schaftspolitik unter Menem vgl. Messner 1998, Pastor/Wise 1999). Es gelang, die Inflationsrate, die in den achtziger Jahren durchschnittlich 400% betrug, bis 1998 auf unter 1% zu reduzieren, ein durchschnittliches Wachstum des BIP um 5% zu erreichen und die Kapitalflucht der achtziger Jahre, die auf 50 Mrd. US-$ geschätzt wird, in einen Kapitalzustrom in Höhe von gut 30 Mrd. US-$ umzu- wandeln. Höhepunkt des Menemismus’ war die Verfassungsänderung, die Menem eine zweite Amtszeit ermöglichte. In der zweiten Amtsperiode Menems ließ die Re- formpolitik aber nach, politisch zeigten sich Erosionserscheinungen, denn den Erfolgen der menemistischen Wirtschaftspolitik standen verschiedene Probleme gegenüber. Die Überbewertung des Peso (schätzungsweise 30%) belebte zwar den Import (von 1990 bis 1994 ist ein Anstieg von 6,4 Mrd. US-$ auf 23,4 Mrd. US-$ zu verzeichnen), beeinträchtigte aber die Wettbewerbsfähigkeit argentini- scher Exporte (die im selben Zeitraum nur leicht von 14 Mrd. US-$ auf 17 Mrd. US-$ anstiegen). Schattenseiten zeigen sich auch im sozialen Bereich. Trotz leichter Verbesserungen im Vergleich zur Situation im Jahr 1989 erreichte Ar- gentinien Mitte der 90er nicht das sozio-ökonomische Niveau der 70er. Das BIP pro Kopf lag 1995 12,7% unter dem Niveau von 1974. Der durchschnittliche Reallohn sank im gleichen Zeitraum um über 50%, die Einkommensverteilung verschlechterte sich nachhaltig zwischen 1975 und 1995. Der Anteil der unteren 40% der Einkommenspyramide sank um 28%, der der untersten 10% gar um 42%, der Anteil der oberen 20% stieg um 24,4%. Der Anteil der offiziell Armen an der Gesamtbevölkerung stieg von 1974 bis 1993 von 4% auf 20%. Nicht zu- letzt ist auf den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verweisen. Die Arbeitslosenquo- te stieg von 1974 bis 1995 von 3,4% auf 17,4%, wobei sich allein 1994 trotz ei- ner ökonomischen Boomphase die Quote verdoppelte und 1995 mit offiziell 20,2% im Großraum Buenos Aires ein historisches Hoch erreichte (vgl. Messner 1998, Pastor/Wise 1999). Auch der Privatisierungsprozess verlief nicht unprob- lematisch, Barrios (1999) bezeichnete Argentinien als ein Paradebeispiel dafür, dass der Privatisierungsprozess von Günstlingswirtschaft, Seilschaftsverhalten und mangelnder Transparenz beherrscht wurde (vgl. Messner 1998, Schvar- zer/Sidicaro/Töpper 1994, Azpiazu/Vispo 1994). Menems Politik insgesamt war 20
nicht von Effizienzkriterien geleitet, sondern das Ergebnis intransparenter Ent- scheidungsprozesse von peronistischen Faktionen in Partei und Gewerkschaften sowie der Großunternehmer, der grupos económicos, die Menem politisch un- terstützten und sich ihre Unterstützung mit Vorteilen und Privilegien bezahlen ließen (vgl. Muno 2005: 86ff.). Die Argentinienkrise Am 10. Dezember 1999 endete die über zehnjährige Präsidentschaft Menems, neuer Präsident wurde Fernando De la Rúa von der Alianza, einem Bündnis der UCR mit Linken und abtrünnigen Peronisten. De la Rúa hielt, vom IFW eisern unterstützt, konsequent am Currency board fest, galt doch die Stabilitätspolitik als oberste Maxime der argentinischen Wirtschaftspolitik seit dem Trauma der Hyperinflation. Doch die Wirtschaft steckte in einer andauernden Rezession und die Währungskrise in Brasilien, dem wichtigsten Handelspartner, setzte das Wechselkursregime durch die Abwertung des brasilianischen Real stark unter Druck. Im Dezember 2001 kam es zur Explosion (vgl. Wolff 2003). Die Regie- rung hatte Konten eingefroren, um einen Run auf die Banken und massive Kapi- talflucht zu stoppen. Ab dem 12. Dezember kam es zunehmend zu gewaltsamen Protesten, Straßensperren, Plünderungen von Supermärkten und cacerolazos, Demonstrationen, bei denen die Mittelschicht durch Kochtopfschlagen ihre Wut zeigte. Am 19. Dezember wurde die Plaza de Mayo vor dem Regierungssitz zum Schauplatz von regelrechten Straßenschlachten, die 30 Tote und Hunderte von Verletzten forderten. De la Rúa floh mit dem Hubschrauber aus der Casa rosada, dem Präsidentenpalast und trat zurück. Argentinien stürzte nun aus einer öko- nomischen zusätzlich in eine politischen Krise. Am Neujahrstag des Jahres 2002 wird mit Eduardo Duhalde von der PJ der vierte Interimspräsident nach De la Rúa gewählt. Mit einer dirigistischen Wirtschaftspolitik, die unter anderem Preiskontrollen, ein Schuldenmoratorium, die Aufgabe der Konvertibilität und eine Pesifizierung der Wirtschaft, aber auch gezielte staatliche Sozialprogramme beinhaltet, gelingt – im Kontext der schwersten Wirtschaftkrise der argentini- schen Krise, sinkender Reallöhne und steigender Armut- eine makroökonomi- sche Stabilisierung. Anfang des 21. Jahrhunderts gingen Schätzungen von 80% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze aus. Mit der Wahl des Peronisten Néstor Kirchner zum neuen argentinischen Präsidenten im Mai 2003 hat sich die Situation vorerst beruhigt (vgl. Levitsky/Murillo 2003). Obwohl die ökonomi- schen Probleme noch lange nicht überwunden sind, hat sich politisch das Szena- rio rasch gewandelt. Kirchner setzte mit erfolgreichen Verhandlungen mit dem IWF und dem Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit Akzente, die hohe Zustimmung in der argentinischen Bevölkerung bekamen. 21
Die Argentinienkrise, Thema vieler Publikationen9, kann als trauriger Höhe- punkt einer seit Jahrzehnten sich ankündigenden, durch Menems Politik letztlich ausgelösten strukturellen Krise interpretiert werden. Fazit Der bemerkenswerte Abstieg Argentiniens ist ein Phänomen. Eine Reihe ex- terner Faktoren, die außerhalb argentinischen Einflusses hat dazu beigetragen. So traf die Weltwirtschaftskrise von 1930 Argentinien hart, das Agrarexport- Modell verlor binnen kurzer Zeit den wichtigsten Absatzmarkt, da sich Großbri- tannien stärker an seine ehemaligen Kolonien Kanada und Australien band und zunehmender Protektionismus alternative Absatzmärkte verschloss. Der Zweite Weltkrieg und der Korea-Krieg sorgten für ein Zwischenhoch, da die Nachfrage nach argentinischen Exportprodukten auf dem Weltmarkt boomte, danach aber rasch wieder abflaute. Die Agrarpolitiken der USA und der EG implizierten ei- nen bis heute andauernden hochgradigen Protektionismus, der es Exporteuren von Agrarprodukten nicht einfach macht. Es gelang den argentinischen Regie- rungen und der politischen Elite schlicht nicht, angemessen auf Veränderungen zu reagieren. Wichtiger als eine sinnvolle und nachhaltige Entwicklungsstrategie waren die politischen Auseinandersetzungen um die Kontrolle des Staatsappara- tes, der als zentrales Organ der Ressourcenverteilung von enormer Bedeutung war. In einer Analyse der Jahre 1956 bis 1976 meinte O’Donnell: „Die Momente des politischen Sieges und der Umkehrung – in welche Rich- tung auch immer – des wirtschaftlichen Zyklus waren der Zeitpunkt, zu dem die Akteure, in diesem Moment Sieger, den Staat ausraubten. Sie bemühten sich, dort institutionelle Positionen zu stärken, von denen aus sie sich – wie sie aus eigener Erfahrung wussten – im Falle zukünftiger Kämpfe retten konnten.“ (O’Donnell 1997: 63.) Birle spricht in diesem Zusammenhang vom argentini- schen Staat nach 1955 als „Beuteobjekt konkurrierender gesellschaftlicher Machtgruppen“ (Birle 1995: 181). Diese Auseinandersetzungen konkurrierender gesellschaftlicher Machtgrup- pen fand im Kontext des dualen politischen Systems weitgehend im informellen Raum statt, wobei dieses nicht auf die von O’Donnell oder Birle angeführten Jahre beschränkt war. Bis heute liegt das zentrale Streben zivilgesellschaftlicher Akteure im rent-seeking. Der vermeintlich starke Staat in Lateinamerika, der leviatán crillo, war schon immer ein nur aufgeblähter, aber nie starker Staat. Die neoliberalen Reformen der 80er und 90er Jahre ließen etwas Luft ab, waren aber weit davon entfernet, einen effektiven Staat zu schaffen, der ein ordnungspoli- tisch sinnvoller Regulator sein könnte (und müsste!, vgl. Thiery 1992). Wie die 9 Vgl. Fritz/Llanos 2002, Nolte 2002, Garzón Valdés 2002, Rubiolo González 2006, Schamis 2002, Wolff 2003. 22
Ausführungen von Agulla belegten, existierte spätestens seit der „konservativen Ordnung“ ein duales politisches System mit dem formalen Institutionensystem auf der einen Seite und informellen Veto-Akteuren auf der anderen Seite. Rou- qié verortete in seiner Analyse der politischen Rolle der Streitkräfte in Argenti- nien zu Recht die politische Instabilität in den Kontext der Dualität des politi- schen Systems, den er als Ausdruck einer langanhaltenden politischen Krise sah: „Es existiert eine nahezu vollständige Trennung zwischen dem formalen Insti- tutionensystem und dem Machtsystem. Hinter dem Schattentheater des ‚legalen Landes’ treffen diejenigen ‚Machtfaktoren’, die das wirkliche Land konstituie- ren, die Entscheidungen. Die Armee ist nicht die einzige gesellschaftliche Grup- pe, die auf verfassungswidrige Art und Weise in das politische Leben interve- niert und sich ein ständiges Vetorecht bei Entscheidungsprozessen vorbehält. Alle Interessengruppen bemühen sich mit mehr oder weniger Erfolg darum, die- sen Status zu erlangen“ (Rouqié 1978: 653ff.). Bis heute fehlt dem Staat eine gewisse Autonomie gegenüber den mächtigen Einflussgruppen, den Vetospie- lern, um den verschiedenen Versuchen des state capturing zu widerstehen oder diese wenigstens auszubalancieren. Im historischen Verlauf entwickelten sich neben der Oligarchie bzw. den Un- ternehmern und Großgrundbesitzern das Militär und die peronistische Bewe- gung bzw. als deren schlagkräftigster Arm die peronistisch dominierte Gewerk- schaftsbewegung zu weiteren Veto-Akteuren. Auch nach der Redemokratisie- rung 1983 litt das politische System unter diesem Dualismus. Es war gerade die peronistisch dominierte Gewerkschaftsbewegung, die wesentlich zum wirt- schaftspolitischen Scheitern Alfonsíns beitrug, im Politischen setzte ihm das Mi- litär so lange zu, bis die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen stark eingeschränkt wurde. Auch unter Menem wurden wesentliche politische Ent- scheidungen von einem Klüngel informeller Vetomächte getroffen. Alfonsíns Abkehr von der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen führte er fort und stellte damit die Militärs ruhig. Wirtschaftspolitisch waren es die Großun- ternehmer, die grupos económicos, die mit peronistischen Faktionen in Partei und Gewerkschaften kooperierten. Auch unter Kirchner setzen Akteure wie die Piqueteros eher auf informellen Einfluss denn auf den Marsch durch die Institu- tionen. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen diesen Akteuren machten Demokratie in Argentinien zeitweise zu einem „impossible game“ (vgl. O’Donnell 1973), sorgten aber mindestens in ihrer Konsequenz für eine hoch- gradige politische Intransparenz und Instabilität, in der die verschiedenen infor- mellen Veto-Akteure die formellen Staatsorgane in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchten oder schlicht die Regierungen destabilisierten bzw. ablösten. Öko- nomische Konsequenz solcher Verteilungskämpfe war ein wirtschaftlicher Nie- dergang. 23
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