Aus der Pädagogik Paulo Freires für die Menschenrechtsbildung lernen: Ingenta Connect
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PR 2020, 74. Jahrgang, S. 305-322 © 2020 Alexandre Magno Tavares da Silva - DOI https://doi.org/10.3726/PR032020.0031 Alexandre Magno Tavares da Silva Aus der Pädagogik Paulo Freires für die Menschenrechtsbildung lernen: Notwendige Akzente für das 21.Jahrhundert Paulo Freires starke Präsenz in der Sie sind Subjekte, die zum Schweigen Geschichte des 20. Jahrhunderts gebracht werden, also daran gehindert kennzeichnete seine liebevolle Zunei- werden, ihre Gedanken auszudrücken, gung und sein politisches Engagement und denen das Recht verweigert wird, au- für Gesellschaft und Welt. thentisch zu handeln. Das hat zur Folge, dass sie sich als “natürlich” minderwertig2 1 Im Jahr 2018 wurde der 50. Jahrestag der ansehen und daher leugnen, dass sie den Veröffentlichung des Buches “Pädagogik sozialpolitischen Kontext der Gesellschaft der Unterdrückten” gefeiert. Dieses Buch in der sie leben, verstehen und an transfor- wurde von dem brasilianischen Denker mativen Handlungen teilnehmen können. Paulo Freire geschrieben, der 1921 in der Von der Militärdiktatur wurde Paulo Frei- Stadt Recife im Bundesstaat Pernambuco re verfolgt und verhaftet, weshalb er sich geboren wurde. angesichts der gefährlichen Situation ent- Dieses Buch wurde 1968 veröffent- schloss, ins Exil nach Chile zu gehen. In die- licht. Brasilien lebte damals im Kontext sem Zusammenhang wurde die Pädagogik der Verhärtung der 1964 errichteten der Unterdrückten als eine Pädagogik kon- Militärdiktatur, die erst 1985 mit Beginn zipiert, die von den Unterdrückten und nicht des Prozesses der Re-Demokratisierung für die Unterdrückten entwickelt wurde. Um zusammenbrach. Die Zeit der Militärdikta- dieses Konzept auszuarbeiten, machte Frei- tur in Brasilien dauerte 54 Jahre und stärkte re eine Übung der Systematisierung3 seiner die “Kultur des Schweigens” (Cultura eigenen Praxis. So betont er, dass: do Silêncio), die Bildung als Instrument der sozialen Kontrolle, Herrschaft, Un- „[...] die Pädagogik der Unterdrückten terdrückung nutzte und somit Menschen- meinen Beobachtungen [entstammt], rechte angriff und soziale Ungleichheiten die aus meiner erzieherischen Tätigkeit und soziale Ungerechtigkeiten verstärkte. in Brasilien erwuchsen und von mei- Für Paulo Freire entsteht die “Kultur nen Reflexionen während der letzten des Schweigens” durch die Unmöglichkeit fünf Jahre politischen Exils bereichert von Frauen, Männern und Kindern, sich zu wurden.“4 Wort zu melden und als Subjekte der Pra- Freire ist ein Denker und Pädagoge, der xis und politische Bürger zu manifestieren. sich dem Leben verschrieben hat: Paulo 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 305 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Freire denkt nicht Ideen, er denkt die Exis- unterstützend zu fühlen, zu denken und tenz5. Sein Gedanke ist einer Pädagogik zu handeln: das Beispiel von MACA; verpflichtet, in der die totalisierende An- 6. Lernen aus Paulo Freires Pädagogik für strengung der menschlichen "Praxis" in Menschenrechtsbildung im 21. Jahr- ihrem Innersten versucht, sich als Praxis hundert: einige Ideen und Vorschläge der Freiheit zu retotalisieren. So wird die Praxis der Freiheit nur in einer Pädagogik angemessen zum Ausdruck kommen, in 1. Meine Annäherung der die Unterdrückten in der Lage sind, sich selbst reflexiv zu entdecken und sich an die Pädagogik von als Subjekt ihrer eigenen historischen Be- Paulo Freire durch die stimmung zu ermächtigen. Reflexion meiner Praxis 2018 war nicht nur der 70te Jahrestag des Erscheinens der Pädagogik der Un- Mein Weg mit Freires pädagogischem terdrückten, sondern auch der Erklärung und sozialem Denken begann in den 80er der Menschenrechte. In diesen 70 Jahren Jahren durch vier Erfahrungen, die mich war es möglich, über die Menschenrechts- zum Fühlen, Denken und Handeln in einer bildung nachzudenken und sie zu festigen, kritischen Pädagogik im Bereich der Men- wobei der Schwerpunkt auf der Struktu- schenrechte führten. Die erste war im Be- rierung einer Kultur der Menschenrechte reich der Sozialpastoral der Erzdiözese lag, die auf den Prinzipien der Demokra- Olinda und Recife angeleitet durch Dom tie, der Bürgerschaft und der sozialen Helder Câmara. Die zweite in meinem Gerechtigkeit basiert. Die Pädagogik von Studium der Sozialwissenschaften an der Paulo Freire wird hier als eine der theo- Bundesuniversität von Pernambuco (Nord- retisch-methodischen Referenzen einer osten Brasiliens). Die dritte, als Mitarbeiter Menschenrechtsbildung verstanden, die in Gemeinschaftsprojekten mit Straßenkin- zum Bruch der sogenannten “Kultur des dern und die vierte in der Fortbildung von Schweigens” beiträgt. In diesem Sinne Erziehern und Erzieherinnen. möchte ich einen Beitrag zur weiteren Diese Erfahrungen waren voller Heraus- Debatte über Menschenrechtsbildung aus forderungen, Perspektiven und Hoffnung dieser Perspektive leisten. Mein Beitrag für den Aufbau einer gerechten, partizi- zur Diskussion ist in diesem Artikel in fol- pativen, demokratischen, neugierigen und gende Teile gegliedert: kritischen Gesellschaft. Sie bilden meine Grundlage für eine kritische Vision und 1. Meine Annäherung an die Pädagogik Annäherung an das freireianische Denken. von Paulo Freire durch die Reflexion Sozialpastoral als Erfahrung einer Theo- meiner Praxis. logie der Befreiung im ständigen Dialog 2. Paulo Freire, ein Junge aus dem mit der Pädagogik. Akademische Bildung Nordosten Brasiliens, der die Welt im als Raum für die kritische Reflexion der Schatten von Mangobäumen liest; sozialen Realität. Gemeinschaftsprojekte 3. Weltanschauen und Menschenrechts- mit Straßenkindern und Ausbildung von Er- bildung: Der Wanderer der Hoffnung; zieherinnen als Raum für die Entwicklung 4. „Sagen und lernen“ und die Welt ge- emanzipatorischer Bildungsprinzipien. stalten in Paulo Freire: Dialog als Lern- Im Rahmen dieser genannten Er- prinzip in der Menschenrechtsbildung; fahrungen konnte ich die Bedeutung der 5. Menschenrechtsbildung als eine Art, Menschenrechtsbildung auf der Grund- in der Realität kritisch, bewusst und lage des pädagogischen und sozialen 306 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Denkens von Freire intensiv erleben, re- und pädagogisches Denken für den la- flektieren und diskutieren. Besonders die teinamerikanischen Kontext eine wichtige Arbeit in Gemeinschaftsprojekten mit Rolle in den partizipativen Prozessen der Straßenkindern und die Herausforderung Wissens- und Erfahrungsproduktion und in einer selbstgesteuerten Fortbildungsini- der emanzipatorischen öffentlichen Politik tiative von Erzieherinnen bildeten für mich der Menschenrechtsbildung gespielt. großartige Räume zur Reflexion und zum Als Menschen müssen wir unsere Bil- Lernen über und mit dieser Pädagogik. Mit dungserfahrungen in sozialen Praktiken den Kindern und Jugendlichen lernte ich, reflektieren. Heute besteht ein großer Be- Ziegen zu melken, Brot zu backen, Kleider darf, über die Vision des Menschen, der zu nähen, einen Holztisch herzustellen, Welt und der Gesellschaft nachzudenken. Eis am Stiel zu machen und vieles mehr. Schließlich brauchen wir eine Konzeption Durch dieses Lernen war es möglich, des pädagogischen Handelns, die sich durch Übung die Realität zu reflektieren. aus den Lesarten der Welt der sozialen In der pädagogischen Arbeit mit den Subjekte nährt. Wir müssen die Welt durch Kindern, Jugendlichen und Erzieherinnen unsere sozialen Erfahrungen in einer dialo- konnten wichtige Aspekte identifiziert und gischen Beziehung mit Menschen reflektie- festgehalten werden, wie z.B. die Notwen- ren und vor allem, auf die zum Schweigen digkeit einer kritischen Bildungsperspekti- gebrachte Welt der Unterdrückten in Form ve in der Sozialarbeit mit Straßenkindern; von Migranten, Flüchtlingen, Gefangenen, alle am Bildungsprozess Beteiligten neh- Obdachlosen, Landlosen, Ausgeschlosse- men sich als aktive soziale Subjekte an; nen und Ausgeschlossenen, kurz gesagt, Dialog wird verstanden als wichtigste zum Diskurs und zur Analyse zu kommen. Grundlage des Lernens. Diese und ande- Das Interesse von Freire galt nicht nur der re Aspekte haben meine Aufmerksamkeit Figur der Unterdrückten, sondern auch erregt. Dabei wurde mir deutlich, dass dem Verständnis der Lektüre der von den es um die Pädagogik von Paulo Freire im Unterdrückten geschaffenen Welt. sozialpädagogischen Handeln zu reflektie- Heute blicke ich auf eine 40-jährige ren, notwendig ist, die Kinder und Jugend- Geschichte meiner Arbeit als Sozialpäda- lichen als soziale Subjekte anzusehen. goge, die aufgrund der unzähligen und Das pädagogische Miteinander mit den vielfältigen Bildungserfahrungen schwer Straßenkindern und das tägliche Denken zu systematisieren ist, aber hier will ich die über die Praxis führte mich zu Freire und Gelegenheit nutzen, mit den Lesern, die seinem erkenntnistheoretischen Denken. Systematisierung eines der Teile dieser Somit ist sozialpädagogische Arbeit mit Erfahrung (die ich heute als pädagogisch Straßenkindern, aus der die sozialen Be- empfinde) zu teilen. wegungen der Straßenkinder entstanden sind, nicht isoliert von anderen sozialen Be- wegungen zu sehen. Viele Möglichkeiten, 2. Paulo Freire, ein Junge aus soziale Ungerechtigkeiten in Lateinamerika zu verstehen und zu bekämpfen, wurden in dem Nordosten Brasiliens, der lateinamerikanischen Geschichte zum der die Welt im Schatten Schweigen gebracht. Dies geschah, weil von Mangobäumen liest sie zum Ziel hatten, die Wirklichkeit demo- kratisch zu interpretieren und zu versuchen, Als ich über eine Möglichkeit nachdachte, soziale Ungleichheiten in Lateinamerika zu Freire den Lesern und Leserinnen dieses überwinden. Daher hat Freires soziales Artikels zu präsentieren, beschloss ich, 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 307 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
von dem Bild des Jungen auszugehen, der Und wir, die Älteren, müssen diesen unter und auf dem Mangobaum6 im Garten Mädchen und Jungen helfen, Brasilien seines Hauses die Welt las und zu verste- wiederaufzubauen.“ 8 hen suchte. Wie Vera Barreto betont: Die Welt zu lesen bedeutet, die Fragen und Probleme zu verstehen, die sich aus "Die Schwierigkeiten haben Paulo Frei- dem Leben ergeben. In diesem Sinne warf re dazu veranlasst, zu erkennen, dass die Armutssituation des Freire als Kind in einer Welt, in der einige Menschen viele Fragen für ihn auf. Sie hinterließ star- so vielen Bedürfnissen ausgesetzt ke Spuren in seinem pädagogischen Den- waren, etwas nicht stimmte und dass ken. In vielen Situationen seines Lebens, diese Ungerechtigkeiten geändert insbesondere in der Stadt Jaboatão dos werden konnten [...] Diese Haltung Guararapes, sah er sich in den Lebens- des Glaubens an die Möglichkeiten bedingungen dieser Jungen und Mädchen des Wandels, die er später "kritischer wieder. In der Stadt Jaboatão dos Guara- Optimismus" (otimismo crítico) nannte, rapes verlor er seinen Vater und erkannte ist zu einem der Markenzeichen seiner die Bedeutung von Armut. Pädagogik geworden: Empörung über die ungerechte Realität, aber auch der "In Jaboatão wurde ich ein Mann, Kampf um ihre Transformation“.9 dank des Schmerzes und des Lei- dens, das mich nicht in den Schatten Derart bereitete er sich in Jaboatão dos der Verzweiflung stürzte […] Die Teil- Guararapes in der Koexistenz mit der nahme an der Welt derer, die aßen, Armut auf das Engagement für die Un- auch wenn wir wenig aßen, wir nah- terdrückten vor. men auch an der Welt derer teil, die "Einer der grundlegenden Unterschie- nicht aßen, auch wenn wir mehr aßen de zwischen mir und fatalistischen In- als sie - die Welt der Jungen und Mäd- tellektuellen, die nicht träumen, nicht an chen der Bäche, der Mocambos, der Utopien glauben, ist der kritische Op- Hügel. Zum einen waren wir durch timismus und nichts Naives, das mich unsere Position als Klasse verbunden, belebt [...] Die Hoffnung ist eine onto- zum anderen durch unseren Hunger". logische Forderung des Menschen".10 Diese Situation veranlasste Paulo Freire, Dieser kritische Optimismus steht auf sich selbst als den "konnektiven Jungen"7 den Titelseiten seines Buches Pädagogik zu benennen. Es gibt viele Geschichten, der Unterdrückten. Konkret in den Zeilen die sich auf diese Zeit des Leidens be- eines Briefes an Jean Ziegler in Chile, im ziehen, aber auch auf das Lachen des Frühjahr 1968. In diesem Brief übergibt er Lernens. Eine handelt von einer Episode, die Manuskripte und sagt: die an einem Sonntagmorgen geschah. Es wird in Barretos Buch über Freire für "... Die Pädagogik der Unterdrückten Pädagogen beschrieben: verkörpert den tiefen Glauben, den ich an den Menschen habe“ 11. "Ich denke an die hungrigen Jungen, Am Ende des veröffentlichten Buches die verratenen Jungen, die verun- führt er diese Rede fort: glimpften Mädchen auf den Straßen dieses Landes, dieses Kontinents und "[...] wenn von diesen Seiten nichts anderer Kontinente. Jungen und Mäd- mehr übrigbleibt, etwas, von dem wir chen, die ein anderes Land erfinden. zumindest hoffen, dass es bleiben wird: 308 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ist unser Vertrauen in das Volk. Unser jedem von uns als Pädagogen, Lehrern, Glaube an die Menschen, an die Schülern, Aktivisten sozialer Bewegungen Schaffung einer Welt, in der es weni- die Stärkung eines kritischen Verständnis- ger schwierig ist zu lieben12. ses dessen, was im Alltag von Kindern, Ju- gendlichen und Erwachsenen geschieht. Während der meisten Jahre der Militär- Wie Freire betont: diktatur in Brasilien (1964-1985) wurden seine Bücher verboten, seine Ideen als “[...] ist es für Pädagogen nicht gefährlich eingestuft und sein Name möglich, nur an didaktische Verfahren durfte nicht in Schulen und Universitäten und Inhalte zu denken, die den Volks- ausgesprochen werden. Als Denker des gruppen vermittelt werden sollen. Was Zustands13 der Menschheit und dessen, in den Peripherien der Städte oder was Bildung für den Aufbau eines eman- auf dem Land passiert – das Treffen zipatorischen Prozesses (im Kampf um die zwischen städtischen und ländlichen Menschenrechte) tun kann, dachte er auch Arbeitern, um zu beten oder über ihre an eine neue Ethik, eine neue Erkenntnis- Rechte zu diskutieren, nichts kann der theorie und sogar an eine neue Ästhetik, Neugierde der Erzieher an der Praxis denn in seinen Ideen waren Wissen, Tu- einer emanzipatorischen Bildung un- gend, Freiheit, Solidarität, Schönheit und wichtig sein16. die menschliche Berufung zu Liebe und Glück Momente des gleichen Ganzen. Ich glaube, dass es notwendig ist, einen Seine ganze Lebenserfahrung wurde interkulturellen Dialog aus freireani- in einer bestimmten Realität geschmiedet: scher Sicht aufzubauen und gemeinsam in Lateinamerika, in Brasilien, im brasilia- in einer humanistischen, solidarischen, nischen Nordosten, in der Stadt Recife, dialogischen, emanzipatorischen und kri- in der Nachbarschaft des Stadtteils Casa tischen Perspektive in den Bildungswis- Amarela, in der Straße do Encanamento, senschaften zu forschen. Eine von Freires Nr. 21, im Hinterhof seines Hauses, im Hauptpositionen in der Pädagogik ist, dass Schatten des Mangobaums. der Prozess des Wissens in der Bezie- Das wird deutlich unter anderem in hung zwischen den Subjekten stattfindet. seinem Buch: „A Importância do Ato de So ist die Geschichte des Jungen Paulo Ler“ (Die Bedeutung des Lesens), dort Freire die Geschichte so vieler Jungen und schreibt er: Mädchen aus ländlichen und städtischen Gebieten, die auch die Welt im Kontext „Die Wiederherstellung der fernen ihrer Beziehungen als historische Subjekt Kindheit, auf der Suche nach dem lesen wollen. Verständnis für die Handlung des “Lesens” meiner Welt, in der ich mich bewegte [...], ist für mich von absoluter 3. Weltanschauen und Bedeutung14. [...] In diesem Bemühen, Menschenrechtsbildung: dem ich mich selbst hingebe, wieder- erschaffe und wiederbelebe ich in dem Der Wanderer der Hoffnung; Text, den ich schreibe, die Erfahrung, die ich zu der Zeit gemacht habe, als Paulo Freires Schriften sind voll von un- ich das Wort noch nicht lesen konnte.15 nachgiebiger und radikaler Verteidigung der Menschenrechte. Sie sind es, die das Das Fühlen, Denken und Handeln eman- Verständnis des Bildungsaktes zu dem zipatorischer Pädagogik verlangt von Punkt leiten, dass das in seinem Werk 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 309 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
“Pädagogik der Unterdrückten” dargestell- In Lateinamerika (hauptsächlich im te Prinzip der Befreiung als der eigentliche Jahr 2004 mit der Schaffung des Interna- Grund für die Bildung angesehen wird und tionalen Menschenrechtsbildungsplans), der dazu beiträgt, dass er maßgeblich an hat sich die Menschenrechtsbildung so- den Grundlagen der Erziehung zu Men- wohl im Rahmen der öffentlichen Politik schenrechten, insbesondere in Latein- als auch im Rahmen zivilgesellschaftlicher amerika, mitwirkt. Im lateinamerikanischen Organisationen durchgesetzt. Obwohl der Kontext der Menschenrechtsbildung wird Putsch in Brasilien im Gange ist (mit dem pädagogisches Handeln als eine Möglich- Abbau der öffentlichen Ordnung und dem keit verstanden, ein Engagement mit dem Angriff auf die Sozial- und Bürgerrechte konkreten Menschen, mit der Ursache vervielfachen sich die Initiativen), finden in seiner Humanisierung, seiner Befreiung, den verschiedenen Regionen des Landes zu fördern, die es ihm erlaubt, die ihn un- Seminare, Kurse, Vorträge, Foren usw. terdrückende Ordnung zu verurteilen. statt, die von Universitäten, Verbänden, In diesem Zusammenhang wird das sozialen Bewegungen und NGOs ge- Prinzip des Dialogs als das Wesen der fördert werden. Menschenrechtsbildung Bildung verstanden, ebenso wie die Praxis kann dabei nicht auf die Vermittlung von der Freiheit, das zwingende, mithin etwas, aktuellem Wissen über Menschenrechte das rational notwendig ist, Prinzip der Hu- reduziert werden. manisierung der Bildung. Sie sollte eine Möglichkeit sein, Es ist anzumerken, dass die Erfahrung Wissen auszutauschen und Alternativen und Wahrnehmung der Menschenrechts- zur Qualifizierung von Denunziationen bildung als Raum für politisch-pädagogi- und Ankündigungen eines neuen Gesell- sches Handeln durch eine anthropologische schaftsprojekts zu testen, in dem Respekt Dimension der Fürsorge um den Anderen und der Kampf für die Menschenwürde im Prozess der Humanisierung geprägt ist. die wichtigsten Bezugspunkte sind, wes- Es ist daher die Rolle der Menschenrechts- halb wir die Pädagogik der Befreiung als bildung, kollektive sozialpädagogische Ak- eine der wichtigsten Bezugspunkte in die- tionen zu systematisieren und zu fördern, ser theoretischen und methodischen Dis- die auf die Verwirklichung solcher Werte kussion betrachten. abzielen und die Lebenserfahrungen der am In Lateinamerika werden Freires Prozess Beteiligten in das tägliche Leben Beiträge zum sozialen und pädagogischen der Bildungspraktiken einbeziehen, um die Denken als besonders wichtig für den Auf- Entwicklung einer universellen Rechtskultur bau einer kritischen Perspektive in der Bil- zu ermöglichen. dung anerkannt. Man kann diese kritische Die obigen Ideen orientieren sich am Perspektive der Bildung als Befreiungs- hoffnungsvollen Weg von Freire in seiner pädagogik (Pedagogia da Libertação) Weltsicht zusammen mit der Erziehung zu bezeichnen. Es ist eine Vision von Bildung, Menschenrechten. Auf diesem Weg ist die die sich aus einer kritischen Lesart der Begegnung mit den Menschen eine stän- Welt ergibt, in der Bildung als selbstbe- dige und intensive Erfahrung. Mit diesen stimmte Erfahrung von Subjekten kollektiv Menschen, die hier als soziale Subjekte17 verstanden wird. Die lateinamerikanische verstanden werden, verwebt er seinen Ge- Literatur zur Volksbildung (Educación danken, die Welt aus den Lesungen der Popular) hat sich intensiv mit der Debat- Welten des Anderen zu lesen, in seinen te über die Rolle der Volksbildung bei der Wahrnehmungen über den notwendigen Konstruktion emanzipatorischer Paradig- Widerstand, um zu wissen, wie man lebt. men beschäftigt. 310 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Nach Carrillo (2013) • die Zentralität der erzeugenden The- men, die aus der Lebenserfahrung der “geht diese Sorge von der Anerken- Studierenden stammen, für die Ent- nung des kritischen, alternativen und wicklung von Bildungsmaßnahmen; transformierenden Charakters dieser • die Anerkennung der soziokulturel- pädagogischen Strömung in ihrer his- len Universen und des Wissens der torischen Entwicklung aus und von der Studierenden; Notwendigkeit, ihre Grundlagen und • die Bekräftigung der epistemologi- Perspektiven angesichts der jüngsten schen, ethischen und politischen Re- Veränderungen in der Welt und im kon- levanz von Dialog und partizipativen tinentalen Kontext zu überprüfen und Praktiken; zu aktualisieren, insbesondere der to- • die Notwendigkeit, Prozesse zu för- talen Hegemonie des Neoliberalismus dern, die es uns ermöglichen, vom als einem einzigen Gedanken“18. naiven Bewusstsein zum kritischen Der Ausgangspunkt der Volksbildung er- Bewusstsein der Realitäten und fordert, dass wir nach Freire (1997) die der Gesellschaft, in der wir leben, Kultur, das Wissen, die gelebte Welt der überzugehen. Menschen berücksichtigen, nicht nur um sie zu erlösen, sondern auch um ihre Ausgehend von diesem Kontext, mit dem Grundlagen, ihre Unterstützungsgrundla- wir uns den Grundlagen der kritischen Pä- gen zu problematisieren. dagogik und Pädagogik Paulo Freire im Be- Dieser Weg muss beschritten wer- reich der Menschenrechtsbildung nähern, den, damit die Menschen ein kritisches kann Magdenzo (2015) auf einige Prinzipi- Verständnis ihrer eigenen Existenz erlan- en verweisen, die die Praktiken der Men- gen und die Welt, in der sie leben, be- schenrechtsbildung leiten sollen, die von trachten und anders projizieren können als diesen beiden pädagogischen Gedanken die einfache Wiederholung ihres Alltags. inspiriert sind, die immer im Dialog stehen. Unter uns Lateinamerikanern hatte und Sie sind es: hat Freires Denken einen starken Einfluss, insbesondere im Bereich der Volksbildung • Das Prinzip der Integration (die The- (Educación Popular), und dient seit den men und Fragen im Zusammenhang ersten Erfahrungen, die in der zweiten mit den Menschenrechten müssen in Hälfte der 80er Jahre gemacht wurden, die Entwicklung der verschiedenen als Grundlage für die Menschenrechtsbil- Lehrpläne integriert werden); dung. Und genau in diesem Jahrzehnt fand • Das Prinzip der Wiederholung (das Ler- eine starke und anregende Debatte über nen der Menschenrechte wird ständig die kritischen Pädagogiken statt, in denen bearbeitet und wieder aufgenommen); sich das freireanische Denken befindet. • Das Prinzip der Kohärenz (zwischen Wir können einige Aspekte seines dem, was gesagt wird und was getan Denkens hervorheben, die für die Men- wird) ist grundlegend; schenrechtsbildung, die den Dialog mit • Das Prinzip des täglichen Lebens (es der kritischen Pädagogik sucht, beson- geht darum, die Menschenrechts- ders relevant sind: fragen, in die wir eingetaucht sind, aufzudecken, sie anzuerkennen und • die Kritik an einer Bankausbildung und zu analysieren, so sehr sie sich auf die Verteidigung einer problematisie- Rechtsverletzungen beziehen, wie renden Bildungsperspektive; auch auf ihre Bestätigung); 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 311 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
• Das Prinzip der kollektiven Konstruk- “Das Lesen und Schreiben von Men- tion von Wissen (es geht um Nahpro- schenrechtsbildung als Lernprozess, zesse der kollektiven Konstruktion von der eine kritischere Neuinterpretation Wissen, die Solidarität und gemeinsa- der Welt impliziert, als Weg, sie neu mes Handeln fördern; zu schreiben, d.h. zu transformieren.”21 • Das Prinzip der Aneignung (das Die oben beschriebenen Prinzipien Erlernen der Menschenrechte [....] ist (Interpretation, Wiederholung, Kohärenz, aufgerufen, tiefe Prozesse der Ver- Alltag, kollektive Konstruktion von Wis- innerlichung zu fördern, die zu einer sen, Aneignung) verstärken die kritischen Bedeutungszuweisung und einem Strategien der Neuinterpretation der Welt. aktiven Engagement für die Bekräfti- Sie sind auch Richtlinien für die Praxis der gung der Menschenrechte in der Systematisierung von Erfahrungen in der Gesellschaft, wie dem unseren, auf Menschenrechtsbildung. der Grundlage einer kontinuierlichen Verweigerung führen). • Diese Prinzipien haben mit der Ge- 4. „Sagen und lernen“ und die schichte der Menschenrechtsbildung in Lateinamerika zu tun, die sich in den Welt gestalten in Paulo Freire: 1980er Jahren zu entwickeln begann, Dialog als Lernprinzip in der und zwar von sozialen Bewegun- Menschenrechtsbildung; gen wie: Volksbildungsbewegungen, Friedensbewegungen, feministische Welche Bedeutung hat das Lernen von der Bewegungen, Arbeiterbewegungen, Paulo-Freire-Pädagogik für die Menschen- Minderheitenrechtsbewegungen usw. rechtsbildung? In Zeiten des Rückschritts und der Verweigerung von Menschen- Diese Wege, so Magdenzo19, basieren rechten in der gegenwärtigen Situation ist auf dem Gedanken von Freire, der mit diese Frage sehr wichtig im Sinne der De- dem Prinzip der kritischen Lektüre der finition von “epistemologischen Bezügen” Welt arbeitete und sich durch den Dialog (referenciais epistemológicos), um über bewusst wurde, dass sie Gegenstand die Bildung in Menschenrechten aus der von Rechten sei und ihr Prozess der “Be- freireanischen Perspektive im 21. Jahrhun- freiung” beginne. In dieser Perspektive dert zu diskutieren. Dieses Thema führt wurde die Menschenrechtsbildung als uns vor allem dazu, über das Konzept des ethisch-politische Bildung positioniert. Es "Lernens" nachzudenken, bei dem Erzie- ist eine Zeit, in der sich die Menschen her und Kinder, Lehrer und Schüler, Do- treffen, um über ihre Realität so nachzu- zenten und Studenten "mediatisiert durch denken, wie sie es tun, und sie neu zu die Welt", gegenseitig involviert sind. gestalten. Für Paulo Freire meint dies, Diese Vorstellung vom Lernen kann je- „indem wir gemeinsam über das nach- doch nicht ohne Dialog verwirklicht werden, denken, was wir wissen und was wir nicht denn für Freire ist es unmöglich, Inhalte zu wissen, können wir dann kritisch handeln, vermitteln, ohne zu wissen, wie die Schü- um die Realität zu verändern“. 20 ler und Studenten in ihrem realen sozialen In diesem Sinne weisen wir darauf hin, Kontext, in ihrem täglichen Leben denken.22 dass der grundlegenden Frage des Lesens Was können wir in diesem Sinne aus des Wortes in der Menschenrechtsbildung der Lektüre von Paulo Freire lernen? immer das Lesen der Welt der Menschen- Eines der wichtigsten Elemente ist, rechtsbildung vorausgehen muss. dass das Konzept des Lernens aus der 312 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
alltäglichen Erfahrung konzipiert wird, die erarbeitet. Dialog ist die Kraft, die kritisch- der Ausgangspunkt für die Theoretisierung problematisierendes Denken in Bezug auf ist. Wie Ernani Maria Fiori im Vorwort der den menschlichen Zustand in der Welt an- Pädagogik der Unterdrückten sagte, ist treibt und gleichzeitig eine soziale Praxis Freire ein dem Leben verpflichteter Den- (Prática Social) impliziert, die Wege öffnet, ker: Er denkt nicht an Ideen, sondern an das Leben in der Gesellschaft zu überden- die menschliche Existenz in einer Übung ken, über unser sozialpädagogisch-poli- der reinen Kuriosität23 und gründet so die tisch-kulturelles Ethos und die Möglichkeit, Bildung als eine Praxis der Freiheit24. Die anders zu handeln, zu diskutieren, die die Welt in diesem Sinne zu lernen, bedeu- Welt um uns herum verändert. tet, die Erfahrung als einen Bildungspro- Der Dialog in dieser Perspektive sollte zess zu verstehen. Erfahrung ist das, was mit der “Suche nach programmatischen an uns vorbeigeht, was mit uns tangiert, Inhalten” beginnen. Es kann auf die Men- was uns berührt. Das ist eines ihrer An- schenrechtsbildung angewendet werden. liegen. Deshalb sind es für ihn die erfüllen- In diesem Sinne ist es ein Akt der kritischen den Situationen, die Welt zu benennen und hoffnungsvollen Kommunikation über und zu lernen, gerade in Momenten des unseren Zustand in der Welt. Es ist zu be- Erfahrungsaustausches. denken, dass die Diskussion über die Men- Und es sind diese Momente, die schenrechtsbildung für das 21. Jahrhundert beim Bruch der sogenannten "Kultur des es erforderlich gemacht hat, dass sich die Schweigens" (Cultura do Silêncio) mitwir- Pädagogen der Rolle des Menschen im ken. Wie Pater Antonio Vieira immer wie- Bildungsprozess bewusst sind. Das Feh- der sagte: ".... der schlimmste Unfall, den len dieser Reflexion öffnet ein unsicheres Brasilien in seiner Schwäche hatte, war, Fenster in Bezug auf die Richtung der Men- seine Rede zu ertragen"25. schenrechtsbildung im 21. Jahrhundert. Der Umgang mit dem Wissen, das aus Derselbe Mensch des 21. Jahrhunderts der Erfahrung kommt, ist eine Anforderung (in der Situation der sozialen, politischen, an Paulo Freires Pädagogik. Denn ohne kulturellen und wirtschaftlichen Unterdrü- das Verständnis der Seele der Menschen, ckung) versucht, sich einiger Fragen be- die sich in ihrer Kultur ausdrückt und in wusst zu werden, wie zum Beispiel: Wer bin konkrete Lebensbedingungen eingetaucht ich? Wo komme ich her? Wo kann ich sein? ist, ist eine wirklich befreiende Bildung Wie Paulo Freire über den Prozess nicht möglich. des Gewahrseins (conscientização) sagt Frauen, Männer, Kinder und Jugend- "[...] der Mensch kann an sich selbst den- liche sind sich ihrer Aktivitäten und der ken und sich in einen bestimmten Moment, Welt, in der sie leben, bewusst. Sie han- in eine bestimmte Realität versetzen"26. deln in Abhängigkeit von der Erreichung Dieser kritische Sensibilisierungsprozess der Ziele, die sie sich selbst und anderen entsteht durch den Dialog aus "Grenzsitu- vorschlagen. Hier spielt der Dialog als eine ationen" (situações-limites), die zu "grenz- der zentralen Kategorien einer humanis- wertigen Aktionen" (ações-limites) unter tisch-liberalen Bildung eine wichtige Rolle Einbeziehung der Erfahrungen der Sub- beim Erzählen und Lernen der Welt (Dizer jekte im gesellschaftlichen Alltag führen. e Aprender o Mundo). In der Pädagogik Menschenrechtsbildungsaktionen, die als der Unterdrückten wird eine theoretisch- theoretische und methodische Werkzeuge philosophische Grundlage für die Bedin- für den sozialen Wandel konzipiert sind, gungen eines echten Dialogs und seine werden zunehmend aus der Perspektive zentrale Rolle für eine befreiende Bildung der Pädagogik von Paulo Freire gesehen. 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 313 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Ausgehend von der Inspiration von allem bei Arbeitstätigkeiten, geben sie ihre Freires Befreiungspädagogik haben einige armutsbedingten Verhältnisse zu erken- Theoretiker bereits über die Notwendigkeit nen, aber auch einige Möglichkeiten, sie nachgedacht, eine kritische Konzeption zu bewältigen. der Menschenrechtsbildung zu entwickeln. Indem sie dies zu erkennen geben, Zum Beispiel, die Betonung der Reflexion machen sie in wachsendem Maß die auf einige freireanische theoretische Kon- Anforderung bewusst, mehr über sie zu zepte, wie im Falle des Ausdrucks Dialog erfahren: Wer sind sie? Wo sind sie? Wie (Dialog). leben sie? Was tun sie? Warum tun sie es? Wonach streben sie? Soziale Initiativen, Forschungsgruppen 5. Menschenrechtsbildung etc. haben in den letzten zehn Jahren ein als eine Art, in der Realität großes Interesse entwickelt, diese sozialen Subjekte im Rahmen ihrer Interessen an kritisch, bewusst und den sozio-politisch-pädagogisch-kulturel- unterstützend zu fühlen, len Dimensionen der Lebensbedingungen zu denken und zu handeln: verstehend zu vereinnahmen. das Beispiel von MACA Wie in der Einleitung zu dieser Artikel angeführt, hat die Mitarbeit bei Initiativen In der Fortbildung von Pädagogen im zur sozialerzieherischen Arbeit mit Straßen- Bereich der Menschenrechtsbildung aus kinder in mir das Bedürfnis entstehen las- der freireianischen Perspektive betrachten sen, das pädagogische Konzept, das die wir Kinder und Jugendliche nicht als iso- Praxis der sozialen und besonders der Bil- lierte und passive Individuen innerhalb der dung- und Sozialprojekte leitet, besser zu sozialen Realität, sondern als soziale Sub- verstehen und diskutieren zu können. jekte, deren Einstellungen eine aktive Rolle Als einen der Hauptanlässe hierfür im gesellschaftlichen Alltag spielen. Durch können wir die Reflexion hervorheben, die die Art und Weise, wie sie sich durch ihre im Zuge von Bildungsprojekten (Semina- konkreten sozialen Positionen, Beziehun- ren, Kursen, Kongressen, Ausbildungs- gen und Umgangsformen persönlich in die tagungen für Straßenerzieher etc.) über Gemeinschaft einfügen, nehmen sie nicht die geleistete sozialerzieherische Arbeit nur aktiv am kulturellen, sozialen und poli- hinsichtlich der Lebensbedingungen und tischen Geschehen teil, sondern gestalten -erfahrungen der Straßenkinder in Gang diese auch mit und gestalten sie neu. gesetzt wurde. Betrachtet man die Kinder und Ju- Durch die Art und Weise, wie diese gendlichen als soziale Subjekte im All- Reflexionen erfolgten (ein Reflektieren tagsgeschehen, so eröffnen sich auch über den Alltag der Arbeit mit den Kindern Möglichkeiten zur Diskussion der Rolle, und über ihre Wechselwirkungen mit so- die ihnen im historischen Prozess, in der zialen Milieu), lässt sich sagen, dass dies Gesellschaftsstruktur und in deren innerer eine Erfahrung darstellte, die Praxis zu Entwicklung zukommt, d.h. in ihrer Rolle denken, die nach Paulo Freire auch lehrt, als Protagonisten. Auf diese Weise, ent- dass die individuelle Weise, wie wir prak- wickeln die Kinder und Jugendlichen als tisch handeln, wie wir die Dinge tun und im Alltag aktive soziale Subjekte verschie- verstehen, eingebettet ist in den größeren dene Anschauungen ihrer selbst und der Kontext, den der sozialen Praxis. sie umgebenden Welt. Durch ihre Art zu Ausgehend von dem gemeinsa- reden, ihre Gesten und Gebärden, vor men Austausch der Erfahrungen bei der 314 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen der gesellschaftspolitischen und kulturel- (Menschenrechts perspektiv) und vom len Realität der Erzieherinnen, Erzieher Denken Freires hat sich in ganz Brasilien und Kindern basiert und zu einer Einmi- eine Bewegung formiert, die die Ausbildung schung in die Instrumente führt, die Mar- von pädagogischen Sozialarbeitern durch ginalisierung erzeugen. die Organisation verschiedener Gruppen In diesem Sinne wurden zwischen betreibt. Von diesen Gruppen sei hier das 1989 und 2006 mehrere MACA Forma- vom MACA (Movimento de Apoio a Cri- tionstreffen gefördert, zu deren Merkmalen ança e ao Adolescente) entwickelte Projekt gehörten: als Beispiel angeführt. Die Bildung von Erzieherinnen und • Die Notwendigkeit, Räume für den Erzieher in den sozialpädagogischen Pro- Austausch der Lebenserfahrung von jekten, damals noch als Alternative Projekte Pädagogen aus der Perspektive der zur Betreuung marginalisierter Kinder und Menschenrechte zu schaffen; Jugendlicher bezeichnet, ist aus dem An- • Anwesenheit von Sozialpädagogen liegen von Koordinatoren und Sozialpäda- verschiedener Altersgruppen (16 bis gogen dieser Projekte entstanden, bessere 58 Jahre), die gemeinsam die Lebens- Bedingungen für die Durchführung der so- erfahrung reflektieren; zialpädagogischen Aktion zu schaffen. • Die Suche nach einem Anreiz, Sozial- Die Reflexion dieser Ziele, Inhalte und pädagogen in den Kampf für Rechte Methoden und Ergebnisse des sozial- innerhalb sozialer Bewegungen pädagogischen Handelns im Leben von einzubinden; Erzieherinnen und Kinder fand in einer • Bildungsthemen, die von den Bedürf- konkreten Realität statt: in den entwickel- nissen der Erzieher selbst ausgehen ten Aktivitäten, in denen diese historischen (Bildung durch Arbeit, Sozialpolitik, Themen damals in ständiger Beziehung psychosoziale Aspekte des mar- standen. In diesem Sinne, unter den ginalisierten Kindes, Erziehung zu Aktivitäten, die in den prägenden Tref- Menschenrechten, Befreiung von fen zu berücksichtigen sind, hatten wir: Evangelisierung, u.a.); Gesundheitsversorgung, Essen, Frei- • Die Beratung der Treffen wurde von zeit und Sport, Kunst, Musikalität, Tanz den Sozialpädagogen selbst durchge- und Theater, Alphabetisierung, Evangeli- führt, ausgehend von der Erfahrung, sierung, Schule, Familienpflege, Hand- die jeder Einzelne hat (die sogenann- werk, Einleitung zur Professionalisierung, ten Erfahrungskenntnisse, von denen Produktions- und Kommerzialisierungs- Paulo Freire spricht); gruppen, landwirtschaftliche Aktivitäten • Anreiz für eine politische Artikulation und Produkte. alternativer Gemeinschaftsprojekte Die Tatsache, dass Sozialpädagogen mit anderen sozialen Bewegungen, erkennen, dass die Lebensrealität mar- die soziale Verbesserungen in der ginalisierter Kinder und Jugendlicher mit öffentlichen Politik in den Bereichen der brasilianischen sozialpolitischen, poli- Menschenrechte, Bildung, Gesund- tischen, wirtschaftlichen und sozialen Si- heit, Wohnen, Ernährung, Arbeit usw. tuation zusammenhängt, hat dazu geführt, fordern; dass sie (in ihren Zielen, Inhalten und Me- • Die Produktion von Wissen, das in thoden) einen politischen Charakter und Berichte übersetzt wurde, die aus ein- eine Ausbildung in den Menschenrechten fachen Sitzungsberichten Instrumente haben. Das heißt, eine Formation, die auf zur Aufzeichnung der von Erziehern 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 315 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
und Mittel zur Weiterbildung in der dieses Lernen in Zukunft wieder in eine Menschenrechtsbildung wurden; Ausbildung übergehen. • Vorhandensein einer kritischen Wir nehmen wahr, dass der Beitrag Ausbildung, die auf dem Gedanken der MACA vor allem in ihrem Charakter von Paulo Freire basiert. besteht, Sozialpädagogen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben auszudrücken, eine Bei einigen der Treffen haben die Pädago- Reflexion über das erzieherische Handeln gen unter den Prinzipien, die wir erwähnen aus der Perspektive der Menschenrechts- können, Prinzipien im Bereich der Erzie- bildung mit Kindern und Jugendlichen in hung zu Menschenrechten aufgelistet, um Konfrontation mit der sozialen Realität. die Ausbildung zu leiten: In diesem Sinne können wir einige der Beiträge auflisten, die MACA zur • Eine kritische Interpretation der ge- Ausbildung von Pädagogen, Pädagogen, sellschaftspolitischen, wirtschaftli- Studenten und Studenten aus der Sicht chen, kulturellen und pädagogischen der Menschenrechtsbildung geleistet hat. Realität zu haben (Denken über die Praxis in einem Prozess der Aktions- • Erzieherinnen, die beginnen, den Bil- Reflexion-Aktion); dungsprozess innerhalb ihrer eigenen • Ein Werk der politischen Bildung zu Dienstprojekte zu beteiligen und zu entwickeln; analysieren (eine Aufgabe, die bisher • Die Erzieher greifen in die Realität ein, auf Projektkoordinatoren beschränkt um sie zu verändern; war, eine Zentralisierung brechen und • Der Inhalt der Ausbildung muss von sich auf eine kollegiale Aktion zube- der Realität des Lebens des Lehrers, wegen (Studenten, Pädagogen und des Lehrers, des Schülers und des Koordinatoren); Entchens ausgehen; • Die Bewertung einer kritischen Bildung • Der Lehrer und der Erzieher müssen in der Perspektive der Menschen- lernen, die Ausdrucksformen des rechtsbildung konzentrierte sich auf die Lebens des Schülers zu interpretieren; Interessen der marginalisierten Klasse; • Den Erzieher aus den Bedürfnissen der • Entwicklung des Selbstwertgefühls unterdrückten Klasse bilden; bei Pädagogen; • Die politische Option durch politisches • Die Notwendigkeit des Wissens Handeln zu klären; austauschs; • Die Arbeit des Pädagogen ist ein • Erwachen zu einem Umdenken des pä- Werkzeug zur sozialen Transformation. dagogischen Vorschlags innerhalb der Projekte der Bildungsgemeinschaft aus Die Organisation der Themen der der Wertschätzung der Populärkultur; Ausbildung wurde von den Bedürfnissen • Stärkung einer mystischen, religiösen der Erzieher und Kinder bestimmt. Die und ökumenischen Dimension für das Methodik basierte auf konkreten Erfah- Engagement für die Marginalisier- rungen, die berichtet, diskutiert und ver- ten im Vorschlag des Reiches Got- tieft wurden. Nach den Debatten wurden tes in Jesus Christus im Kontext der Vorschläge formuliert, um die Reflexion Befreiungstheologie. fortzusetzen. Einige Bildungsprinzipien wurden von Pädagogen in ihre Projekte Rückblickend auf diese dreißig Jahre seit in den Herkunftsstädten übernommen, der Gründung der Bewegung zur Unter- um das Lernen zu erleben. Später sollte stützung von Straßenkindern (MACA) 316 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
zeigt die Erfahrung neue Formen der Men- • Das Thema Kommunikation, digitale schenrechtsbildung, sobald wir erkennen, Medien; dass wir nur Hoffnung im Kampf gegen • Die sozialen und ländliche Fragen; die Hoffnung haben können. Und dass wir • Die religiösen Themen; nur dann eine neue Geschichte für dieses • Die sozialen Fragen der Globalität, neue Jahrtausend gemeinsam aufbauen • Die Fragen zur Bildung, etc. können, wenn wir unsere Geschichte wie- dererlangen und uns als Erzieher, Kinder In Lateinamerika spiegeln diese themati- und Jugendliche als historische Subjekte schen Achsen auch die Handlungsfelder einstufen. der sozialen Bewegungen wider. Durch die internationale Dimension von Semi- naren, Kongressen, Forschungen usw. 6. Lernen aus Paulo teilen soziale Bewegungen (durch einen interkulturellen Dialog) ihre Erfahrungen in Freires Pädagogik für den thematischen Achsen und stärken die Menschenrechtsbildung theoretischen und methodischen Grundla- im 21. Jahrhundert: einige gen von Aktionen. Ideen und Vorschläge So ist es möglich, die Art und Weise, wie die teilnehmenden Subjekte (Kinder, Das 21. Jahrhundert hat in den ersten Jugendliche, Jugendliche und Erwachse- zwanzig Jahren eine Reihe von Heraus- ne) angesichts von Herausforderungen forderungen und vielfältigen Aufgaben mit fühlen, denken und handeln, sowie die sich gebracht. Diese Herausforderungen klare Definition von Aufgaben zu qualifi- und Aufgaben durchlaufen einige themati- zieren, die die Konstruktion von pädagogi- sche Achsen des gesellschaftspolitischen schen Prozessen ermöglichen, die mit Handelns der sozialen Subjekte in der einer humanistischen, kritischen, partizipa- Gesellschaft. Hier sind einige Beispiele für tiven, emanzipatorischen, demokratischen, thematische Achsen: solidarischen und kreativen Bildung identi- fiziert sind. • Die städtische Frage, Wohnen, Ge- Die Paulo Freire-Pädagogik in La- walt, Gesundheit; teinamerika speist die Bedeutung dieser • Die Frage der Menschenrechtsbil Aufgaben für das Verständnis und die dung, Alphabetisierung, Hochschul - Bewältigung der Herausforderungen im bildung; Bereich der Menschenrechtsbildung des • Das Problem der Umwelt, der Was- 21. Jahrhunderts. Aus diesem Grund serressourcen, der Verteidigung von sollen in diesem letzten Teil einige Ideen Tieren; und Vorschläge zu den Aufgaben vor- • Das Problem der Identitätsgrup- gestellt werden. Davor muss eine Frage pen, Kultur, Geschlecht, Ethnizität, gestellt werden. Diese Frage hat mit der Generationen; Notwendigkeit zu tun, sich des Kontex- • Die Frage der Menschenrechte, die tes der gegenwärtigen sozialen Situation Erziehung zu Menschenrechten; in ihren sozioökonomischen, politischen • Das Thema Migration und Flüchtlinge; und kulturellen Spannungen bewusst zu • Das Thema Hunger, Nahrung und sein, die neue Lesarten der Welt aus dem Ernährung; pädagogischen Lernen von Paulo Freire • Das Thema Arbeit, Gewerkschaftsbe- für die Erziehung zu Menschenrechten wegungen, Arbeitslosigkeit; erfordern. 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 317 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Ich möchte einige Ideen und Aktivitäten der Menschenrechtsbildung an Vorschläge vorstellen, die im Rahmen der der Universität einzubeziehen und zu stär- Paulo-Freire-Pädagogik dazu beitragen ken. Als Beispiel können wir die Gründung können, die Herausforderungen und Auf- der Disziplin Pädagogik Paulo Freire in den bauaufgaben der Menschenrechtsbildung Studiengängen Pädagogik, Sozialpädago- im 21. Jahrhundert zu bewältigen: gik und anderen Abschlüssen nennen. Die erste Idee bezieht sich auf eine Unter den Themen, die aufgenom- rigorose Identifizierung, Charakterisierung men werden könnten, sind die folgenden und Analyse der aktuellen Situation einer Themen: komplexen und vielfältigen Gesellschaft. Diese Übung sollte in Zusammenarbeit mit • Wissen: gnosiologischer Zyklus und den sozialen Subjekten durchgeführt wer- Prozesse der Wissensproduktion in den, die im sozialen Kontext handeln. Zum Paulo Freire Pädagogik; Beispiel der Austausch von Weltlesungen • Dialog: theoretisches methodisches mit den sozialen Akteuren, die an den Konstrukt; Aktionen teilnehmen, die in den oben ge- • Thematische Zuordnung: Lesen, Erfor- nannten thematischen Achsen vorgestellt schen, Systematisierung, Synthese; werden. Das Lesen der Welt ist eine Vor- • Teilnehmerforschung: Objekt, Themen, aussetzung für die Erziehung zu Menschen- Wissensproduktionsprozess; rechten. Es ist nicht nur ein akademisches • Thematische Forschungsmethode. Studium, sondern auch ein Austausch da- rüber, inwieweit das Lernen aus unseren Die vierte Aufgabe betrifft die Stärkung Lebenserfahrungen uns helfen kann, die von Initiativen zur Menschenrechtsbildung Gesellschaft in ihren Herausforderungen in öffentlichen Schulen. Dazu ist es not- und Perspektiven zu analysieren. wendig, von den sozialen Erfahrungen der Das zweite wäre die Stärkung einer Schüler, Lehrer und der gesamten Schul- Menschenrechtsbildung, die von den klei- gemeinschaft auszugehen. Die Stärkung nen erfolgreichen Praktiken ausgeht, in der Initiativen hat zwei Aspekte: a) die denen soziale Subjekte die Hauptakteure bereits in der Schulplanung programmier- sind. Diese erfolgreichen Praktiken ver- ten Aktivitäten mit dem Thema Menschen- bergen sich manchmal in Gemeinschafts- rechtsbildung, b) die Identifizierung von erfahrungen, die nur dann identifiziert und Anzeichen einer Menschenrechtsbildung, analysiert werden, wenn wissenschaftli- die in den vielen Aktivitäten der Schule den che Erkenntnisse aus einer anderen theo- Schülern angeboten werden. retisch-methodischen Perspektive genutzt Dieser zweite Aspekt ist sehr wichtig, werden, um die Gesellschaft politisch und da die Menschenrechtsbildung bereits engagiert zu betrachten. im Schulalltag vorhanden ist. Die Auf- Das bedeutet die Visualisierung von gabe des Lehrers wäre es, diese Hin- Praktiken, die neue Möglichkeiten der weise in Form von Themen zu erheben. Humanisierung ankündigen, durch die Diese Arbeit kann durch die "Thematische Menschen ständig suchen, wagen, neu- Forschung" durchgeführt werden, die den gierig werden und sich selbst und die Welt Forschungsvorschlag auf der Grundlage historisch bewusst werden. Gleichzeitig der Pädagogik von Paulo Freire darstellt. kämpft der Mensch damit für die Bestätig- Andere Ideen und Vorschläge können ung und Eroberung seiner Freiheit. eingebracht werden. Die Paulo-Freire- Die dritte Aufgabe besteht darin, Pädagogik ist ein Konstrukt, das sich mit die Pädagogik von Paulo Freire in die einer befreienden Bildung in Solidarität 318 Pädagogische Rundschau 3 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
identifiziert. Ich denke, es ist notwendig, 2 Die Kultur des Schweigens entsteht daher in dass Kinder und Jugendliche ein kritische- repressiven Strukturen, in denen sich Männer und Frauen den Konditionierungskräften unter- res Weltverständnis haben, damit sie sich werfen, die sie dazu bringen, sich selbst als über die Zeit von Schule und Universität hi- "Quasi-Dinge" zu erleben. Osowski, Cecília naus als Menschen verwirklichen können. Irene: Cultura do silêncio, in: Streck, Dani- Die affektive und solidarische Be- lo Romeu; Redin, Euclides; Zitkoski, Jaime ziehung, die in einer kritischen Lesart José. (Hrsg.) Belo Horizonte 2008, S. 110. der Realität zusammenarbeitet, nennt 3 “Systematisierung von Erfahrungen ist eine Paulo Freire liebevoll, präsent in seiner partizipative Methode, die es erlaubt, ge- meinsam über Erfahrungen zu reflektieren Lebens- und Literaturtrajektorie, die von und voneinander zu lernen. Ganz im Sinne Zuneigung, ethischem Engagement, So- von Paulo Freire wird Lernen dabei als Pro- lidarität, Demut und Dialog mit anderen zess der Bewusstwerdung der eigenen geprägt ist, insbesondere mit denen, die Geschichte, der eigenen Erfahrungen, der sich in Situationen des Risikos und der eigenen Persönlichkeit verstanden. Ziel sozialen Verwundbarkeit befinden. Paulo der Systematisierung ist, durch Reflexion Freire bekräftigte, dass die im Dialog im- über die eigene Praxis neue Erkenntnisse zu gewinnen und aktiv an Verbesserungen plizite Eroberung die der Welt durch die zu arbeiten. Systematisierung von Erfahrun- dialogischen Subjekte ist, nicht die der gen ist in Lateinamerika in den 1970er und einen nach der anderen. Eroberung der 1980er Jahren im Umfeld der "educación Welt durch die Befreiung der Menschen. popular" mit dem Ziel entstanden, die eige- Die Schule ist ein lebendiger Organismus, ne Praxis aus dem eigenen Kontext heraus also ein Raum des Kampfes um Leben und zu verstehen. Es galt dabei, sich von den Strategien der Entwicklungspolitik, die durch soziale Gerechtigkeit. Dies ist die große die Geberländer implementiert wurden, abzu- Herausforderung und Aufgabe der Men- grenzen und zu verstehen, warum viele die- schenrechtsbildung im 21. Jahrhundert. ser Strategien nicht zum gewünschten Erfolg Schlussworte führten” Schmid, Elisabeth. Systematisierung In unseren letzten Worten möchten wir von Erfahrungen – Vortrag ¨Über das Buch darauf hinweisen, dass Menschenrechtsbil- „Systematisierung als Methode des Wissens- dung ein Projekt von Gesellschaft ist. Von managements“ (18.11.2013) online unter https://www.meinbezirk.at/mariahilf/c-loka- Paulo Freire zu lernen bedeutet vor allem, les/tun-was-wir-wissen-und-wissen-was-wir- die Neugierde zu haben, von den Weltlesen tun_a760731: letzter Zugriff: 01.12.2019. der Menschen im Dialog zu lernen. 4 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der Freiheit: Stuttgart "[...] wenn von diesen Seiten nichts 1971, S. 25. mehr übrigbleibt, etwas, von dem wir 5 Paulo Freire não pensa ideias, ele pensa a zumindest hoffen, dass es bleiben existência wird: ist unser Vertrauen in das Volk. 6 Alphabetisierung unter dem Mangobaum – Unser Glaube an die Menschen, an die „Im dritten Brief beschreibt Freire, der durch Schaffung einer Welt, in der es weni- seine Alphabetisierungskampagnen interna- ger schwierig ist zu lieben.“27 tional bekannt geworden war, seine eigene Alphabetisierung. Die Eltern brachten ihm Lesen und Schreiben im Garten, im Schatten eines Mangobaumes, bei. Mit einem Stock Anmerkungen schrieben sie Buchstaben in die Erde und sprachen über Wörter aus der Lebenswelt 1 Vieira, Adriano: Cartas pedagógicas. In: des kindlichen Paulos. Auch seine politische Streck, Danilo R.; Rendín; Euclides; Zitkoski; Alphabetisierung fand unter dem Mangobaum Jaime: (Hrsg.). Dicionario. Paulo Freire. Lima: statt“. - Blumenthal, Sara. “Briefe an Cristina – CEAAL. 2015. S. 82. Paulo Freire über sein Leben und seine 3 / 2020 Pädagogische Rundschau 319 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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