Aus Politik und Zeitgeschichte - Bundeszentrale für politische Bildung

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Beilage zur Wochenzeitung

            1. November 2004

Aus Politik
und Zeitgeschichte
3 Jochen Thies Essay
            Partner oder Konkurrent? Die deutsch-
            amerikanischen Beziehungen
6 Josef Braml
            Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat?
            Die Einschrånkung persænlicher Freiheitsrechte
            durch die Bush-Administration

16 Ernst-Otto Czempiel
            Die Auûenpolitik der Regierung George W. Bush
24 Jçrgen Wilzewski
            Die Bush-Doktrin, der Irakkrieg und
            die amerikanische Demokratie
33 Stephan Bierling
            Die US-Wirtschaft unter George W. Bush
40 Sæhnke Schreyer
            Die Sozial- und Gesundheitspolitik
            der Bush-Regierung

                                                             B 45/2004
Editorial                                Mehrheit des UN-Sicherheitsrates
          Herausgegeben von                                                      gegen die US-Plåne, den Irak
          der Bundeszentrale                                                     anzugreifen, die US-Administration
                                        n Die ersten acht Monate der
          fçr politische Bildung                                                 sehr. Was in den USA auf besonde-
                                        Amtszeit von US-Pråsident George
          Adenauerallee 86                                                       res Missfallen stieû, war die Hal-
                                        W. Bush verliefen unspektakulår.
          53113 Bonn.                                                            tung der Bundesregierung. Man
                                        Das ånderte sich durch die schreck-
                                                                                 empfand die deutsche Verweige-
                                        lichen Terroranschlåge des 11. Sep-
Redaktion:                                                                       rung der Teilnahme am geplanten
                                        tember 2001 schlagartig. Seither
Dr. Katharina Belwe                                                              Angriff auf den Irak als undankbar.
                                        verlåuft Bushs Pråsidentschaft tur-
Dr. Hans-Georg Golz                                                              Bis heute sind Irritationen in den
Dr. Ludwig Watzal                       bulent. Die USA befinden sich
                                                                                 deutsch-amerikanischen Beziehun-
(verantwortlich fçr diese Ausgabe)      zusammen mit ihren Verbçndeten
                                                                                 gen nicht vællig ausgeråumt.
Hans G. Bauer                           in einem weltweiten ¹Krieg gegen
Telefon: (0 18 88) 5 15-0               den Terrorismusª. Dieser Antiter-        n Auch innenpolitisch reagierte die
                                        rorkampf wird auch von der Bun-          Bush-Administration energisch auf
Internet:                                                                        die Anschlåge. Der USA Patriot Act
www.bpb.de/publikationen/apuz           desrepublik Deutschland auf den
                                        verschiedensten Ebenen und in vie-       enthålt eine groûe Anzahl von poli-
E-Mail: apuz@bpb.de
                                        len Regionen tatkråftig unterstçtzt.     tischen, administrativen und
Druck:                                                                           gesetzlichen Initiativen, die zu
                                        Zu erheblichen Verstimmungen
Frankfurter Societåts-Druckerei GmbH,                                            erheblichen Einschrånkungen der
                                        zwischen der US-Administration
60268 Frankfurt am Main                                                          Bçrger- und Freiheitsrechte fçhren.
                                        und einigen ihrer europåischen Ver-
Vertrieb und Leserservice:              bçndeten kam es erst, als Bush den       Das Spannungsverhåltnis zwischen
Die Vertriebsabteilung                  Antiterrorkampf auf den Irak aus-        Freiheit und Sicherheit scheint
der Wochenzeitung                  ,                                             sowohl innenpolitisch als auch auf
                                        dehnte. In einer Rede bezeichnete
Frankenallee 71 ± 81,                                                            internationaler Ebene zu Lasten der
                                        er Irak, Iran und Nordkorea als
60327 Frankfurt am Main,                                                         Freiheitsrechte zu gehen. Noch ist
                                        ¹Achse des Bæsenª; eine Klassifi-
Telefon (0 69) 75 01-42 53,                                                      der Widerspruch dagegen verhal-
Telefax (0 69) 75 01-45 02,
                                        zierung, die von den meisten euro-
                                        påischen Staats- und Regierungs-         ten, aber die Stimmen derer sind
E-Mail: parlament@fsd.de,
                                        chefs nicht nachvollzogen wurde.         nicht zu çberhæren, die vor einer
nimmt entgegen:
                                        Eine eschatologische Terminologie        Ûberdehnung der in diesem Geset-
* Nachforderungen der Beilage                                                    zespaket vorgesehenen Schritte
                                        auch in anderen Øuûerungen
Aus Politik und Zeitgeschichte                                                   warnen, da sie das fest verankerte
                                        wurde in Europa mit Befremden
* Abonnementsbestellungen der           aufgenommen. Was die Europåer            Prinzip der checks and balances
Wochenzeitung                           vielleicht zu wenig realisiert hatten,   auszuhebeln drohen.
einschlieûlich Beilage zum Preis        war die tiefe Verletztheit, ja Trau-     n Das Bewundernswerte an der
von Euro 19,15 halbjåhrlich,
                                        matisierung der amerikanischen           amerikanischen Demokratie sind
Jahresvorzugspreis Euro 34,90
                                        Nation durch das, was in den USA         ihre schier unermesslichen Selbst-
einschlieûlich Mehrwertsteuer;
                                        ¹9/11ª heiût. Die USA empfanden          reinigungskråfte. Zwei Beispiele
Kçndigung drei Wochen vor Ablauf
des Berechnungszeitraumes;
                                        die Anschlåge als einen Angriff von      stehen exemplarisch fçr viele: In
                                        auûen, wohingegen er von europå-         zahlreichen Hearings vor dem US-
* Bestellungen von Sammel-              ischer Seite eher als ein schreckli-     Kongress mçssen Mitglieder der
mappen fçr die Beilage
                                        ches Verbrechen angesehen wor-           Bush-Administration zu den Grçn-
zum Preis von Euro 3,58
                                        den ist. Folglich interpretierte die     den fçr den Krieg gegen den Irak
zuzçglich Verpackungskosten,
                                        US-Regierung ihn als Kriegserklå-        Rede und Antwort stehen. Mit glei-
Portokosten und Mehrwertsteuer.
                                        rung.                                    cher Akribie und unerbittlicher
Die Veræffentlichungen                                                           Offenheit werden die abscheuli-
in der Beilage                          n In der Folge wurden auf beiden
                                        Seiten des Atlantiks Entscheidun-        chen Foltervorkommnisse im Abu-
Aus Politik und Zeitgeschichte
                                        gen getroffen, die zu weiteren           Graibh-Gefångnis im Irak und
stellen keine Meinungsåuûerung
                                        diplomatischen Missverståndnissen        anderen US-Gefangenenlagern
des Herausgebers dar;
                                        fçhrten. Die Rede von George W.          untersucht. Das System von checks
sie dienen lediglich der
Unterrichtung und Urteilsbildung.       Bush vor den Vereinten Nationen          and balances, auf das die USA
                                        im Herbst 2002 kann als ein Bei-         besonders stolz sind, scheint hier
Fçr Unterrichtszwecke dçrfen
                                        spiel dafçr gelten: Der US-Pråsident     wieder zu funktionieren. Das dem
Kopien in Klassensatzstårke
                                        drohte der Weltorganisation mit          american mind zugrunde liegende
hergestellt werden.
                                        ¹Irrelevanzª, wenn sie sich wei-         Misstrauen gegen ¹dieª in
                                        gere, den USA auf ihrem Weg zu           Washington hat schon schwerere
ISSN 0479-611 X                         folgen. Auf der anderen Seite ver-       Zeiten çberstanden.
                                        årgerte der heftige Widerstand der       Ludwig Watzal                    n
Jochen Thies

                  Partner oder Konkurrent?
           Die deutsch-amerikanischen Beziehungen

Der Ton in den deutsch-amerikanischen Beziehun-         schiedet. Deutschland wartet ab und reagiert
gen hat sich in den letzten drei Jahren spürbar ver-    allenfalls, wenn in der Außen- und Sicherheitspoli-
ändert. Und man geht nicht fehl in der Annahme,         tik Schritte unvermeidlich werden. Gemessen an
dass die nächsten Wahlen in beiden Ländern dar-         seinem finanziellen Beitrag für den Golfkrieg zu
über entscheiden werden, ob es dabei bleibt oder        Beginn der neunziger Jahre – ein Drittel des
ob noch einmal jene Vertrautheit in das Verhältnis      damaligen Verteidigungshaushaltes –, leistet
zurückkehren wird, wie man sie in den besten Zei-       Deutschland in der Krisenregion im und um den
ten deutsch-amerikanischer Freundschaft kannte.         Irak zur Zeit praktisch nichts, weder militärisch
Die kleine transatlantische Meinungselite in            noch finanziell. Der Verweis, dass es andere auch
Deutschland, ohnehin in die Jahre gekommen, ist         nicht tun, wie Frankreich oder Spanien, das seine
infolge der Entwicklungen seit dem 11. September        Truppen aus dem Irak zurückgezogen hat, hilft
2001 und dem Irakkrieg beiseite geschoben wor-          nicht weiter. Den Franzosen behagt vorläufig ihre
den oder verharrt ungläubig und stumm angesichts        Sonderrolle. Die Staaten Mittel-, Südost- und Ost-
sich überschlagender Entwicklungen. Die Bestsel-        europas, dem Kommunismus und der Militarisie-
ler-Listen der deutschen Sachbücher, aber nicht         rung der Gesellschaften gerade entronnen, enga-
nur sie, verraten, dass kulturell und politisch-ideo-   gieren sich hingegen. Die Spaltung des Kontinents
logisch bedingte antiamerikanische Einstellungen        hinsichtlich der Irakfrage hält also weiter an, sie
neue Nahrung erhalten haben. Selten ist ein Politi-     verschärft die ohnehin vorhandenen Probleme im
ker eines westlichen demokratischen Landes so           europäischen Einigungsprozess und führt zu einer
dämonisiert worden wie George Bush jr., dessen          Renationalisierung. Sie legt offen, dass sich in
Vater zusammen mit Amtsvorgänger Ronald Rea-            einer Art von Wiederholung der Ereignisse vor
gan die Wiedervereinigung möglich machte.               sechzig Jahren die westliche Kriegskoalition des
Gleichzeitig operiert die deutsche Linke, vermeint-     Jahres 1944 im Kampf gegen den Terrorismus
lich frei von alten, lästigen Zwängen, ziemlich         erneut zusammengefunden hat. Bemerkenswert ist
geschichtsvergessen mit neuen Optionen in der           hierbei die übereinstimmende Lagebeurteilung
Außenpolitik. Bei näherem Hinsehen bergen diese         über den Mittleren Osten in der angelsächsischen
das Risiko alter deutscher Irrtümer und Illusionen.     Welt, also nicht nur in den USA, sondern auch in
Ein neuer Kurs für Deutschland ist ausgegeben           Großbritannien – es gibt kein „Sonderproblem“
worden, abgestützt durch den bewährten Partner          Tony Blair – und in Australien sowie Neuseeland.
Frankreich im Westen und den alten, neuen Freund        Japan, zu Beginn der neunziger Jahre noch zöger-
im Osten: Russland. Der Kontakt zu den kleineren        licher als Bonn bei der Rückkehr in die Welt der
europäischen Staaten wird von Berlin aus nur unzu-      militärischen Risiken, zeigt im Mittleren Osten ein
reichend gepflegt. Das könnte sich eines Tages bit-     deutliches Profil. Skandinavische Staaten wie
ter rächen. Denn es geht für Deutschland nicht län-     Dänemark und Norwegen, Zivilgesellschaften
ger um den Irakkrieg und die richtige Bewertung         schlechthin, haben wie die Niederlande und Portu-
seiner Risiken davor und danach, sondern darum,         gal, europäische Vormächte vergangener Jahrhun-
die Herausforderungen an die westliche Zivilisa-        derte, Militärkontingente an den Euphrat ent-
tion in einer immer rauher werdenden Weltpolitik        sandt. Das sollte Deutschland zu denken geben.
anzunehmen, die Risiken mit anderen zu teilen,
ausreichende Risikovorsorge zu betreiben und aus-       Von der Supermacht Amerika einmal abgesehen,
gleichend zu wirken. Denn es droht eine Welt, die       deren Stellung in der Welt unangefochten bleibt,
noch weitaus unruhiger werden könnte. Sie erfor-        verschieben sich gleichzeitig die ökonomischen
dert gewaltige Investitionen in mindestens drei         und politischen Gewichte vom Westen, von
Bereiche: Sicherheit, Stabilisierung von Solidari-      Europa weg in hohem Tempo nach Asien. Die
tärssystemen und Bewahrung der Umwelt.                  Türkei, mehr als ein Jahrhundert lang aus der
                                                        Weltpolitik so gut wie abgemeldet, kommt zurück.
Mit Ausnahme der Briten und Polen haben sich            Der Iran betreibt eine ambitionierte Atompolitik,
die Europäer von dem Gedanken, die Politik              nutzt die momentane Konzentration Amerikas auf
Europas aktiv zu gestalten, weitgehend verab-           andere Schauplätze ähnlich wie Nordkorea zum

3                                                                  Aus Politik und Zeitgeschichte   B 45 / 2004
Ausbau seiner Machtposition, auch mit Blick auf       che Vorstellungen hat, zum befreienden „sorry“.
Afghanistan. Indien, Pakistan und Indonesien          Das mag damit zusammenhängen, dass viele deut-
betreiben Außen- und Sicherheitspolitik im Stil       sche Spitzenpolitiker die USA nicht oder nur sehr
großer Mächte. Wladimir Putins Russland inves-        unzureichend kennen. In diesem zusätzlichen Wis-
tiert schon heute in seine heruntergekommenen,        sens- und Anschauungsverlust liegt dann wohl
demoralisierten Streitkräfte. Wenn die Risiken        auch die eigentliche Bedeutung des amerikani-
beim Öl bestehen bleiben sollten, wird die Remili-    schen Truppenabzugs aus Deutschland.
tarisierung dieser Großmacht noch schneller als
                                                      Verliebt in das, was einmal war, beeinflusst durch
bislang angenommen voranschreiten. Trifft diese
                                                      eine uneingeschränkte Treue zu Amerika in der
Beobachtung zu, entwickelt sich die Welt in Rich-
                                                      langen Regierungszeit von Helmut Kohl – die sich
tung eines Mächtesystems im Stil des 19. Jahrhun-
                                                      1989 auszahlte –, geht die CDU/CSU heutzutage zu
derts, allerdings mit deutlich mehr Akteuren als
                                                      weit mit ihrer Vorstellung, dass es im deutsch-ame-
die alte Pentarchie. Ob Europa will oder nicht, es
                                                      rikanischen Verhältnis so bleiben könne, wie es bei
wird eine Antwort auf diese Entwicklung finden
                                                      allen Meinungsverschiedenheiten ein halbes Jahr-
müssen, und wenn dies nicht gelingt, werden dies
                                                      hundert lang war. Aber je länger der Irakkrieg
einzelne Staaten tun.
                                                      andauert, umso stiller ist man geworden; den deut-
Natürlich konnte das deutsch-amerikanische Ver-       schen Konservativen scheint zu dämmern, dass
hältnis nicht das bleiben, was es vor allem zu        man weder das manichäische Weltbild des amtie-
Beginn der neunziger Jahre war, ein Miteinander       renden Präsidenten teilen, noch seine Politik befol-
in nicht enden wollender Zeit der Euphorie: hier      gen kann. Groß ist in den Reihen von CDU/CSU
die Supermacht, die den Kalten Krieg am Ende          jedoch die Verunsicherung darüber, dass Jacques
für sich entschieden hatte, dort ein wieder verei-    Chirac mit deutlicher Akzentuierung gegen Ame-
nigtes Land, das sein Glück nicht fassen konnte.      rika einen Schulterschluss mit Bundeskanzler Ger-
Aber seit Beginn des neuen Jahrtausends ist es        hard Schröder praktiziert, auch wenn dieser von
dann in diesem bilateralen Verhältnis zu schnell      Taktik und weniger von Überzeugungen geprägt
voran und auseinander gegangen. Beziehungen           ist. Was den deutschen Gaullisten in den sechziger
wie die deutsch-amerikanischen dürfen sich jedoch     Jahren nicht gelang, bedingungslos auf die Partner-
nur langsam verändern; sonst nehmen sie Schaden.      schaft mit Frankreich zu setzen und damit auf die
                                                      Option der lange Zeit dominierenden Transatlanti-
Noch immer wird in Deutschland verdrängt, dass
                                                      ker „sowohl mit den USA als auch mit Frankreich“
die Anschläge auf das World Trade Center in New
                                                      zu verzichten, könnte nun eingetreten sein.
York und das Pentagon in Washington die Psycho-
logie Amerikas nachhaltig verändert haben. In den     Das Ende des privilegierten deutsch-amerikani-
Amtsstuben von Washington ist nahezu jeder vom        schen Dialogs der „Transatlantiker“ hat ferner
Verlust eines Freundes oder Bekannten durch die       auch damit zu tun, dass der politische Einfluss der
Ereignisse des 11. September 2001 betroffen. Ach-     amerikanischen Ostküste, an der Millionen von
selzuckend nahm Deutschland vor kurzem zur            europäischen Auswanderern und Verfolgten lan-
Kenntnis, dass im Zuge einer veränderten Global-      deten, nachgelassen hat. Die Gewichte in Amerika
strategie nun die beiden letzten US- Kampfdivisio-    haben sich verschoben; dies ist auch daran abzule-
nen aus der Bundesrepublik abgezogen werden.          sen, dass die Hauptkonfliktlinie zwischen weißen
Zwar zeichnete sich eine derartige Möglichkeit        und farbigen US-Amerikanern nicht länger exi-
bereits zu Beginn der neunziger Jahre ab, gewiss      stiert. Auf der anderen Seite des Kontinents, wo
war der schrittweise Abzug der GIs aus Deutsch-       die Hispanics leben und die zweite Generation
land unvermeidlich, nicht zuletzt aufgrund des Per-   asiatischer Einwanderer zur Mittelschicht und zur
sonalengpasses bei den Amerikanern infolge des        akademischen Elite aufgestiegen ist, hat die asiati-
Irakkriegs. Aber von den vor Ort betroffenen          sche Gegenküste auf dramatische Weise an Bedeu-
Menschen in den Standorten einmal abgesehen,          tung gewonnen. Hier befindet sich auch die einzige
scheint die Reaktion des Landes von Gleichgültig-     Macht, die den Amerikanern in absehbarer Zeit
keit geprägt. Man vermisst in Deutschland echtes      die Stirn bieten kann: die Volksrepublik China.
Bedauern über diesen Beschluss, einen Moment          Gleichzeitig haben die Deutschen die ihnen über
der Erinnerung daran, dass seit den Tagen der         Jahrzehnte hinweg vertrauten Gesprächspartner in
Befreiung vom nationalsozialistischen Joch im         den USA verloren. Selbst unter den deutschen
Jahre 1944/45 über zehn Millionen Amerikaner          Amerika-Experten gibt es kaum jemand, der enge
zusammen mit ihren Familienangehörigen im             Verbindungen zum Umfeld von Bush jr. unterhält.
Lande stationiert waren – eine Begegnung des          Kanzler Schröder steht mit seiner weitgehenden
Normalamerikaners mit dem Deutschen, nicht ein        Sprachlosigkeit, was die Kommunikation mit sei-
Elitenaustausch. Man vermisst die Fähigkeit zum       nem texanischen Partner angeht, also nicht allein.
Smalltalk, auch wenn man politisch unterschiedli-     Beide Länder haben ihre Mittler und Ansprech-

Aus Politik und Zeitgeschichte   B 45 / 2004                                                            4
partner fürs Erste verloren. American Academy           wird an jener Vertrautheit fehlen, wie sie zwischen
und Aspen Institute in Berlin tun alles, um neue        Amerikanern und Briten herrscht. Dennoch ist
Fäden zu knüpfen und Verbindungen nicht ganz            trotz mancher schriller Töne im letzten Jahr die
abreißen zu lassen. Aber man befindet sich auf          Einsicht gewachsen, dass man zur gleichen Werte-
abschüssigem Gelände.                                   gemeinschaft gehört und dass Interdependenz
                                                        unverzichtbar für das internationale System ist. Es
Unabhängig vom Wahlausgang in den USA werden            liegt auf der Hand, dass eine deutsche Bundesregie-
die fundamentalen Unterschiede in der Bewertung         rung – welcher Couleur auch immer – sich mit einer
des Irakproblems zwischen Washington und Berlin         Kerry-Administration leichter tun würde als mit
fortbestehen. Aber der Konflikt ist nicht mehr so       der amtierenden republikanischen Administration
grundsätzlich wie noch vor Jahresfrist. Deutschland     unter George W. Bush während einer zweiten
hat sich schrittweise an den Kriegsschauplatz her-      Amtszeit. Schröder und Bush haben sich im persön-
angearbeitet. Und wenn die Vereinten Nationen           lichen Verhältnis auf eine bemerkenswerte Weise
während eines sich allmählich abzeichnenden Dis-        auseinander entwickelt, darunter leidt die prakti-
engagements der USA Zug um Zug Aufgaben im              sche Arbeit. Üblich wäre in kritischen Zeiten, dass
Irak übernehmen sollten, wird Berlin nicht abseits      man sich viermal im Jahr zu Vieraugengesprächen
stehen können. Die Spanier denken für diesen Fall       trifft. Aber jeder scheint seit geraumer Zeit auf die
über eine vorübergehende Rückkehr an Euphrat            Abwahl des anderen zu warten.
und Tigris nach. Und die französische Position
scheint aufgrund der massiven Interessen im Lande       Die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit wird
und in der Region durchaus beweglich. Da Ameri-         – auch wenn die Chemie beim Spitzenpersonal
kaner und Russen darüber hinaus die Auffassung          nicht stimmt – sich auf Felder einer pragmatischen
teilen, dass auf Terrorismus mit aller Härte reagiert   Zusammenarbeit konzentrieren. Denn die Irak-
werden muss, ist es ein Gebot der Klugheit für die      Kontroverse verdeckt, dass Deutschland unter
deutsche Außenpolitik, die Kontroverse mit den          Rot-Grün die „Scheckbuchdiplomatie“ aufgegeben
USA nicht soweit zu treiben, dass man eines Tages       hat und sich in anderen Krisenregionen der Welt
isoliert dasteht.                                       engagiert, auf dem Balkan wie am Hindukusch, was
                                                        die Amerikaner anerkennen. Längst ist in den Ber-
Der neue deutsche Gaullismus hat schon jetzt zur        liner Amtsstuben die Einsicht eingekehrt, dass ein
Folge, dass Amerika an einem deutschen Sitz im          abrupter amerikanischer Rückzug aus dem Irak
Weltsicherheitsrat nicht mehr übermäßig interes-        hochgefährlich für Europa wäre. Die Ölversorgung
siert ist. Von „Partnership in Leadership“, die         geriete in Gefahr, die Energiepreise würden weiter
Bush sen. den Deutschen einst anbot, ist nicht län-     steigen – die wachsende Abhängigkeit Deutsch-
ger die Rede. Anders als bei den Briten könnte          lands von russischen Lieferungen noch größer wer-
Washington nicht sicher sein, wie sich Berlin in        den. Gleichzeitig wäre der gerade erst beginnende
schwieriger Lage verhält. Denn die gegenwärtige         Dialog der Europäischen Union mit der Türkei in
Regierung besitzt in sicherheitspolitischen Fragen,     Frage gestellt, und die Bedrohung Israels würde
die rasche Entscheidungen verlangen, keine ei-          zunehmen. Um wachsenden amerikanischen An-
gene Mehrheit. Der Parlamentsvorbehalt ist eine         forderungen zu entgehen und um die Verbindung
Schönwetterangelegenheit. Darüber hinaus ist in         zu Frankreich noch zu stärken, deutet Berlin neuer-
amerikanischer Sicht der deutsche sicherheitspoli-      dings an, sich in Afrika militärisch engagieren zu
tische Beitrag im Augenblick unzureichend. Im           wollen. Die sudanesische Provinz Darfur könnte
Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien              für diese neue Politik der erste Testfall sein.
unternimmt Deutschland zurzeit keinerlei An-
strengungen, etwas daran zu ändern. Machtpoli-          Am Ende sollte für die deutsch-amerikanischen
tisch wird eine derartige Haltung in der Welt –         Beziehungen gelten, dass man zwei Teile von
auch unter so genannten Freunden – dahingehend          etwas Ganzem darstellt, dass man trotz aller
interpretiert, dass man Abschied vom Gedanken           Unterschiede die Gemeinsamkeiten anerkennt,
genommen hat, in der ersten Reihe der mittleren         die weiterhin überwiegen. Da Europa eine militä-
Mächte Europas eine Rolle zu spielen. Zwischen          rische Supermacht weder werden kann noch will,
Regierung und Opposition scheint es in Deutsch-         bleibt der Sicherheitsschirm, den die Supermacht
land darüber einen stillschweigenden Konsens zu         über Europa gespannt hat, nach wie vor lebens-
geben. Denn die Anfänge dieser Politik liegen in        wichtig. Die deutsche Politik muss darauf abzielen,
den besten Jahren von Helmut Kohl und Hans-             den Amerikanern jederzeit ein Gefühl von Solida-
Dietrich Genscher.                                      rität und Risikobereitschaft zu vermitteln. Denn
                                                        amerikanische Nähe trägt in guten wie in schlech-
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen der              ten Zeiten zur Zügelung deutscher Unruhe und
nahen Zukunft werden somit zwar vordergründig           Unrast bei. Die deutsche Automobilindustrie
einem Zustand der Normalität zustreben. Aber es         merkt das bereits.

5                                                                  Aus Politik und Zeitgeschichte   B 45 / 2004
Josef Braml

                Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat?
                         Die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte
                                 durch die Bush-Administration

Die Terroranschläge des 11. September 2001 er-                   schoben. Insofern kommt dem Kongress eine be-
schütterten das Fundament der freiheitlich demo-                 sondere Verantwortung zu – zumal, wie die bis-
kratischen Grundordnung der Vereinigten Staaten:                 herige Erfahrung gezeigt hat, die richterliche
das Grundvertrauen der Amerikaner in die eigene                  Kontrolle in Kriegszeiten eher schwach ausgeprägt
Stärke. In der Folge wurde dem Staat eine beson-                 ist. Indem die Legislative ihre Kommunikations-
dere Schutzfunktion und damit die Aufgabe zuge-                  und Kontrollfunktionen wahrnimmt, kann sie
wiesen, das „Heimatland“ zu schützen – auch um                   dafür sorgen, dass auch in Zeiten nationaler Unsi-
den Preis der Einschränkung individueller Frei-                  cherheit individuelle Freiheiten nicht unter Be-
heitsrechte, der so genannten „civil liberties“1.                rufung auf das kollektive Schutzbedürfnis über
                                                                 Gebühr eingeschränkt werden.
Im Folgenden soll verdeutlicht werden, wie sehr
die Anschläge des 11. September 2001 die Gesell-
schaft der Vereinigten Staaten traumatisiert und
verändert haben. Erst vor diesem Hintergrund –                            Der 11. September
diesem Verständnis für das Gefühl der Verwund-                    und die amerikanische Gesellschaft
barkeit und der nationalen Bedrohung – kann man
das Zutrauen der Amerikaner in die Schutzfunk-
tion ihrer Regierung, vor allem in die Amtsgewalt                Anders als in Europa wurden in den Vereinigten
des Präsidenten als Oberster Befehlshaber nach-                  Staaten die Anschläge des 11. September nicht
vollziehen. Nach Auffassung des Präsidenten                      als terroristische, sondern als kriegerische Akte
George W. Bush verschaffen nur energisches Han-                  verstanden. Amerika befindet sich nach dieser
deln im Ausland und erhöhte Wachsamkeit im                       Auffassung im Kriegszustand. Diese kollektive
Innern Sicherheit vor weiteren Angriffen auf das                 amerikanische Wahrnehmung hat nicht nur funda-
amerikanische „Homeland“.                                        mentale Auswirkungen auf die Verfassung der ein-
                                                                 zelnen Bürger, sondern auch auf die der Gesell-
Dieser „Krieg gegen den Terrorismus“ zeitigt auch                schaft insgesamt. Im „Krieg für eine gerechte
innenpolitische „Kollateralschäden“. Die Präven-                 Sache“ ist die Bevölkerung, sind auch die Intellek-
tion künftiger Terroranschläge geht oft auf Kosten               tuellen eher bereit, materielle und ideelle Opfer zu
individueller Freiheit. Mehr noch: Die so genannte               bringen. Darüber hinaus eröffnet ein derartiges
„Ashcroft-Doktrin“ der Prävention droht die                      Szenario dem Präsidenten als Oberstem Befehls-
grundlegende Sicherung persönlicher Freiheits-                   haber und der in seinem Namen handelnden Exe-
rechte durch das System sich gegenseitig kontrol-                kutive einen umfangreichen Gestaltungsspielraum.
lierender Gewalten auszuhebeln.                                  In diesem Kontext werden unter anderem die
                                                                 grundlegenden Verfassungsprinzipien der staatli-
Einmal mehr in der amerikanischen Geschichte                     chen Sicherheit und der individuellen Freiheit in
hat sich aufgrund äußerer Bedrohung die Macht-                   einem kriegsrechtlichen Rahmen neu bewertet.
balance dieser konkurrierenden „branches of
government“ zugunsten der Exekutivgewalt ver-                    Der 11. September 2001 verschaffte dem Präsi-
                                                                 denten nicht nur einen Vertrauensvorschuss, er
1 Die wichtigsten – im weiteren synonym als individuelle         veränderte auch die Ausgangslage und Dynamik
oder persönliche Freiheitsrechte bezeichneten – „civil liber-    der Wahlen. Obschon das Amt des Präsidenten
ties“ werden durch die ersten zehn Verfassungszusätze            nicht zur Wahl stand, gilt George W. Bush als der
(amendments) garantiert. Diese auch unter den Begriff der        Sieger der Zwischenwahlen 2002.2 Diese machten
„Bill of Rights“ subsumierten Grundsätze wurden am 15. 12.
1791 en bloc als integraler Bestandteil in die Verfassung auf-   deutlich, dass die nationale Sicherheitsbedrohung
genommen. Nach dem Bürgerkrieg kamen weitere „amend-
ments“ hinzu, wobei das vierzehnte wegen seiner „due pro-        2 Vgl. Josef Braml, Freie Hand für Bush? Auswirkungen der
cess“- bzw. „equal protection“-Bestimmungen besonders            Kongresswahlen auf das innenpolitische Machtgefüge und
signifikant für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte     die Außenpolitik der USA, Berlin 2002 (SWP-Aktuell 55/02),
„jeder Person“ ungeachtet der Staatsbürgerschaft ist.            http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=406.

Aus Politik und Zeitgeschichte       B 45 / 2004                                                                         6
dem Präsidenten in seiner Rolle als Oberster                 Supermacht wich dem Bewusstsein der Verwund-
Befehlshaber eine historische Gelegenheit bot,               barkeit im „Heimatland“7: Nicht zuletzt wurden
auch bei Wahlkämpfen erfolgreich für die Unter-              mit den Angriffen auf das World Trade Center
stützung seiner Politik gegen den Terrorismus zu             und das Pentagon auch Symbole der wirtschaftli-
werben.                                                      chen und militärischen Macht der Vereinigten
                                                             Staaten zerstört. Die Wahrnehmung eigener Ver-
Für Präsident Bush bleibt es im Wahlkampf 2004               wundbarkeit rief ein immenses Sicherheits-,
oberste Priorität, sich seiner Stammwähler zu ver-           Schutz- und Handlungsbedürfnis hervor. Entspre-
sichern – indem er im Kampf gegen den Terroris-              chend forderte der amerikanische Präsident auch
mus weiterhin die nötige Härte zeigt und in seiner           eine neue, aktive Strategie: „Amerika ist nicht
Irakpolitik standhaft bleibt. Tatsächlich hat Bush           mehr durch die großen Ozeane geschützt. Nur
vielen seiner Landsleute glaubhaft machen kön-               energisches Handeln im Ausland und erhöhte
nen, dass der Waffengang im Irak nur eine weitere            Wachsamkeit im Innern verschaffen uns Sicher-
Schlacht im langwierigen Krieg gegen den Terro-              heit vor Angriffen.“8
rismus sei.3 Bush assoziierte in seiner kriegsvorbe-
reitenden Ansprache vom 28. Januar 2003 einmal
mehr die Lage im Irak mit der existenziellen                 Vertrauen in die Regierung
Bedrohung Amerikas durch Massenvernichtungs-
waffen in den Händen von Terroristen: „Stellen               Obschon der Begriff „government“ über Jahr-
Sie sich diese 19 Luftpiraten mit anderen Waffen             zehnte in den Köpfen der meisten Amerikaner
und anderen Plänen vor – dieses Mal von Saddam               negative Vorstellungen hervorgerufen hatte,
Hussein bewaffnet. Eine Phiole, ein Kanister, eine           wurde die amerikanische Regierung von ihren
in dieses Land geschmuggelte Kiste würde ausrei-             Bürgern nunmehr merklich positiver wahrgenom-
chen, einen Tag des Grauens zu veranstalten, wie             men. Eine seit den sechziger Jahren nicht mehr
wir ihn noch nie erlebt haben.“4 Nach Auffassung             registrierte Vertrauensmarke von 60 Prozent
des Präsidenten war diese reale Gefahr nur durch             brach mit dem seit damals vorherrschenden
präventives Handeln abzuwehren: „Wir werden                  Muster eines „confidence gap“9. Auch die Ergeb-
alles in unserer Macht Stehende tun, um sicherzu-            nisse einer von der Brookings Institution in Auf-
stellen, dass dieser Tag niemals kommt.“5 Der Prä-           trag gegebenen nationalen Umfrage bestätigen
sident erteilte der bisherigen Sicherheitsstrategie          diesen signifikanten Umschwung in der öffentli-
der Eindämmung eine eindeutige Absage: „Ließen               chen Meinung. Ein genauer Blick zeigt jedoch,
wir zu, dass diese Bedrohung ungehindert und                 dass dieses überschwengliche Vertrauen in die
plötzlich auftritt, kämen alle Taten, alle Worte und         eigene Regierung in erster Linie als unmittelbar
alle Beschuldigungen zu spät. Dem gesunden                   emotionale Reaktion auf die Terroranschläge zu
Menschenverstand und der Zurückhaltung Sad-                  interpretieren ist (vgl. Tabelle 1).10 Ausgehend
dam Husseins zu vertrauen, ist weder eine Strate-            von 29 Prozent im Juli 2001 schlug das Vertrau-
gie noch eine Option.“6                                      ensbarometer kurz nach den Terrorangriffen auf
                                                             eine Höhe von 57 Prozent aus und pendelte sich
Das Ergebnis der Zwischenwahlen 2002, die                    im Mai 2002 wieder auf 40 Prozent ein. Gemessen
Kommunikation und Legitimation des Waffen-                   an den Umfrageergebnissen vor den Terrorangrif-
gangs im Irak 2003 sowie der sicherheitspolitische           fen wurde der amerikanischen Regierung jedoch
Rahmen bei den Auseinandersetzungen im aktu-                 immer noch ein deutlich höheres Vertrauen entge-
ellen Wahlkampf verdeutlichen, dass die                      gengebracht.
Anschläge vom 11. September die Wahrnehmung
und das Selbstverständnis der amerikanischen                 7 Vgl. Sydney J. Freedberg, Jr./Siobhan Gorman, National
Gesellschaft verändert haben. Das Grundver-                  Security: Are We Safer?, in: National Journal vom 10. 8. 2002.
                                                             8     George W. Bush, Address before a Joint Session of
trauen in die eigene Stärke als einzig verbliebene           the Congress on the State of the Union, 29. 1. 2002, http://
                                                             www.whitehouse.gov/news/releases/2002/01/print/20020129–
3    Vgl. Josef Braml, Amerika vor dem Krieg. Welchen        11.html.
Rückhalt genießt die Bush-Administration in der eige-        9 Gemäß den Daten der National Election Studies (NES)
nen Bevölkerung?, Berlin 2003 (SWP-Aktuell 8/03), http://    des Center for Political Studies, University of Michigan (bis
www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=113.           2000); entsprechende Umfrage für 2001 (5.–6. 10.) durch
4    George W. Bush, Bericht zur Lage der Nation,            Gallup/CNN/USA Today, zit. in: AEI Studies in Public Opi-
28. 1. 2003, http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/   nion, American Public Opinion on the War on Terrorism,
01/20030128 –19.html; Übersetzung der amerikanischen Bot-    Washington, DC, American Enterprise Institute, 10. 1. 2003,
schaft in Berlin, USINFO-B-DE.                               S. 40.
5    Ebd.                                                    10 Vgl. G. Calvin Mackenzie/Judith Labiner, Opportunity
6    Ebd. Ausführlicher zur Vorbereitung des Irakkrieges     Lost: The Rise and Fall of Trust and Confidence in Gov-
und zur Präventivkriegdebatte vgl. Peter Rudolf, „Präven-    ernment After September 11, Washington, D.C., Center for
tivkrieg“ als Ausweg? Die USA und der Irak, Berlin 2002      Public Policy Service at the Brookings Institution, 30. 5. 2002,
(SWP-Studie).                                                S. 3.

7                                                                          Aus Politik und Zeitgeschichte        B 45 / 2004
Tabelle 1: Anstieg und Rückgang des Vertrauens                einen immensen Machtgewinn und Vertrauensvor-
in die Regierung nach dem 11. September 2001                  sprung für den Präsidenten und die Exekutive.
(in Prozent)                                                  Nicht zuletzt symbolisiert das Präsidentenamt die
 Vertrauen, dass die Regie- Juli       Oktober Mai            nationale Einheit, gilt das Weiße Haus als Ort der
 rung richtig handelt       2001       2001    2002           Orientierung, an dem in Krisenzeiten die Stan-
 immer                         4       15          8
                                                              darte hochgehalten wird.
 meistens                     25       42         32
                                                              Das schlägt sich auch im Selbstverständnis des
 nur manchmal                 66       39         53          Weißen Hauses nieder, denn, so der damalige
 nie                           4        2          4          Pressesprecher Ari Fleischer: „Aufgrund der Art
Quelle: Center for Public Service der Brookings Institu-      und Weise, wie unsere Nation konstituiert und
        tion vom 30. 5. 2002.                                 unsere Verfassung geschrieben ist, liegt die politi-
                                                              sche Macht in Kriegszeiten hauptsächlich in den
Konventionelle Erklärungsmuster unterstellen                  Händen der Exekutive.“12 Um jeglichen Missver-
eine kausale Beziehung zwischen der Einschät-                 ständnissen vorzubeugen, wurde Justizminister
zung der bisher erbrachten Leistung der Regie-                John Ashcroft im Kongress noch deutlicher: „Ich
rungsvertreter und dem in sie gesetzten Vertrauen.            hoffe auch, dass der Kongress die Amtsgewalt des
Danach ist Vertrauen Resultat von Erfahrungen.                Präsidenten respektiert, den Krieg gegen den Ter-
Da jedoch der 11. September den Erfahrungs-                   rorismus zu führen und unsere Nation und ihre
horizont auch der amerikanischen Bevölkerung                  Bürger mit der ganzen ihm von der Verfassung
sprengte, dürfte der enorme Vertrauensvorschuss               zugedachten und vom amerikanischen Volk anver-
unmittelbar nach den Anschlägen nicht allein auf              trauten Machtfülle zu verteidigen.“13
eine Ex-post-Bewertung des Regierungsverhaltens
zurückzuführen sein. Vielmehr brachten die Bürger             In der Tat legt eine differenziertere Untersuchung
damit vermutlich vor allem ihre Erwartung zum                 offen, wie sehr die Bevölkerung ihrem Präsidenten
Ausdruck, dass die Regierung sie schützen werde.              nach den Terroranschlägen vertraute (vgl. Tabel-
Insofern trägt es zum Verständnis dieses Phäno-               le 2). Neben ihm konnte nur seine unmittelbare
mens bei, wenn man zwischen spezifischer und dif-             Umgebung von Amtsträgern der Exekutive auch
fuser Unterstützung differenziert. Erstere gründet            nach einem zeitlichen Abstand zu den Anschlägen
auf der Zufriedenheit der Bürger mit konkreten                diesen immensen Vertrauensbonus noch auf sich
Politikinhalten bzw. mit der spezifischen Leistung            konzentrieren, während die übrigen Volksvertreter
von Regierungsvertretern; Letztere reflektiert eine           und Staatsangestellten in der Gunst der Bevölke-
allgemeine Einstellung der Bevölkerung gegenüber              rung nach einem kurzen Ausschlag wieder ihre
den politischen Institutionen.11 Umfrageergebnisse            gewohnten Positionen einnahmen.
der Washington Post/ABC News legen eine solche
Differenzierung ebenfalls nahe.                               Tabelle 2: Beliebtheit öffentlicher Amtsträger,
                                                              Juli 2001– Mai 2002 (in Prozent)
Sowohl der erste als auch der zweite terroristische
Anschlag auf das World Trade Center ließen                     Steht bzw. stehen in           Juli      Oktober Mai
jeweils das Vertrauen der Bevölkerung in die                   (besonderer) Gunst –           2001      2001    2002
Schutzmacht ihrer Regierung wachsen. Hatte                     Very/somewhat favorable
schon der erste Anschlag auf das World Trade                   President Bush                 57        83          75
Center vom 26. Februar 1993 einen Vertrauens-                  Vice President Cheney          57        74          69
schub bei der Bevölkerung bewirkt, trauten nach                Presidential Appointees        60        79          69
den Terrorangriffen vom 11. September fast dop-                Elected officials              58        71          62
pelt so viele Menschen ihrer Regierung zu, das                 Federal workers                69        76          69
Land vor weiteren Terrorangriffen wirksam schüt-
zen zu können.                                                Quelle: Center for Public Service der Brookings Institu-
                                                                      tion vom 30. 5. 2002.

Präsidentielle Regierung                                      Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, wenn
In Zeiten äußerster Bedrohung kommt dem Prä-                  man sich vergegenwärtigt, wie schwach die Legi-
sidenten die Rolle des Schutzpatrons zu. Als                  timation des Präsidenten durch den Wahlakt im
Oberster Befehlshaber steht er im Mittelpunkt
der Aufmerksamkeit. Der patriotische Samm-                    12 Dana Milbank, In War, It‘s Power to the President, in:
                                                              Washington Post vom 20. 11. 2001, S. A1.
lungseffekt des „rally around the flag“ bedeutet              13 Testimony of Attorney General John Ashcroft, Senate
                                                              Committee on the Judiciary, 6. 12. 2001, http://www.justice.gov/
11 Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life,   ag/testimony/2001/1206transcriptsenatejudiciary committee.
New York 1965.                                                htm.

Aus Politik und Zeitgeschichte     B 45 / 2004                                                                              8
November 2000 gewesen ist. Obwohl es Bush bei                   rechte beeinträchtigten. Nur einer von fünf Ameri-
den Präsidentschaftswahlen nicht gelang, die                    kanern sprach sich dagegen aus, dass der Kongress
Mehrheit der abgegebenen Wählerstimmen (po-                     der Exekutive einen Freibrief ausstellt.18 Der kon-
pular vote) zu erreichen, und obwohl auch seine                 servative Republikaner Bob Barr, ehemaliges Mit-
Amtsführung in der Bevölkerung auf geteilte und                 glied des Justizausschusses im Repräsentantenhaus
zunehmend negative Beurteilungen stieß, konnte                  und einer der prominentesten Verfechter der „civil
sich der Präsident seit den Anschlägen auf ein gro-             liberties“, zeigte auf, wie eng der Handlungsspiel-
ßes – wenn auch tendenziell wieder abnehmendes –                raum des Kongresses war: „Es ist sehr schwierig,
Zutrauen seiner Landsleute stützen.                             Kongressabgeordnete dazu zu bewegen, etwas
                                                                zu tun, was für den Laien den Anschein haben
Differenziertere Meinungsumfragen lassen darauf                 könnte, (. . .) als würden die Terroristen nicht rich-
schließen, dass der Vertrauensbonus des Präsiden-               tig ins Visier genommen. (. . .) Viele der Abgeord-
ten überwiegend auf den Erwartungen an seine                    neten denken, die Leute zu Hause im Wahlkreis
institutionelle Rolle als Oberster Befehlshaber im              hätten den Eindruck, dass wir nicht die nötige
Krieg gegen den Terrorismus beruhte.14 Auch                     Härte zeigen.“19 In der Tat gaben eben jene „folks
15 Monate nach den Anschlägen vom 11. Septem-                   back home“ bei den letzten Kongresswahlen
ber 2001 sahen drei von vier Amerikanern in                     2002 ein deutliches Votum darüber ab, wer sich
ihrem Präsidenten einen „starken Führer“15 – eine               ihrer Ängste und Sorgen um ihr „Heimatland“ in
Charakterisierung, auf die sich der amtierende                  Washington annehmen und für ihre Sicherheit sor-
Präsident auch weiterhin, vor allem im aktuellen                gen werde.
Wahlkampf 2004, stützen kann.16

In dieser Lage wäre die Legislative schlecht bera-
ten, ihr institutionelles Gegengewicht17 in die poli-           Schutzbedürfnis der Amerikaner
tische Waagschale zu werfen, um eine starke und
                                                                In den Umfragen direkt nach den Anschlägen vom
markante Oppositionsrolle zu spielen. Der Kon-
                                                                11. September artikulierte sich das emotionale
gress hat in einer solchen Ausnahmesituation nicht
                                                                Schutzbedürfnis einer terrorisierten amerikani-
das politische Gewicht, einen derartig populären
                                                                schen Öffentlichkeit, das auch in der Nachfrage
Präsidenten im Kampf gegen den Terrorismus he-
                                                                nach größerer Sicherheit – auch um den Preis indi-
rauszufordern, würde er doch damit den Garanten
                                                                vidueller Freiheiten – zum Ausdruck kam. Es ist
der nationalen Einheit und Handlungsfähigkeit
                                                                jedoch anzunehmen, dass sich die Wahrnehmung
in Frage stellen. So waren Anfang Oktober 2001
                                                                der Bedrohung mit zunehmendem zeitlichen
denn auch knapp zwei Drittel (65 Prozent) der
                                                                Abstand und bei Ausbleiben neuer Anschläge wei-
Amerikaner der Meinung, der Kongress müsse
                                                                ter relativieren und die amerikanische Öffentlich-
alles absegnen, was vom Justizminister und den
                                                                keit wieder eine kritischere Haltung einnehmen
Sicherheitsdiensten für notwendig befunden
                                                                wird.
würde, um Terroristen das Handwerk zu legen und
die nationale Sicherheit zu gewährleisten, selbst               Zunächst hatte die Bush-Administration gegen
wenn die gewählten Mittel Privat- und Bürger-                   Jahresende 2001 mehr oder weniger freie Hand
                                                                bei der Wahl ihrer Mittel zur Abwehr der
14 Vgl. Umfrage der Public Opinion Strategies, 14. –17. 1.      Terrorismusbedrohung: Einer repräsentativen
2002; zit. in: AEI Studies in Public Opinion, American Public   Umfrage im Dezember 200120 zufolge waren 29
Opinion on the Terrorist Attacks, Washington, DC, Ame-
rican Enterprise Institute, 28. 6. 2002, S. 25.                 Prozent der Befragten der Ansicht, dass die Maß-
15 Umfrage der Washington Post/ABC News, zit. in: Dana          nahmen der Bush-Administration genau richtig
Milbank/Claudia Deane, President’s Ratings Still High, Poll     seien, 9 Prozent gingen sie nicht weit genug, und
Shows. 75 Percent View Bush As „Strong Leader“; 66 Percent      nur 12 Prozent der Bevölkerung gingen die
Approve His Work Performance, in: Washington Post vom
22. 12. 2002, S. A04.                                           Maßnahmen zu weit – dabei war in der Frage
16 In einer CNN/USA Today/Gallup-Umfrage vom 3. bis 5.          deutlich gemacht worden, dass sie auch einen Ein-
9. 2004 bekundeten 60 % der Amerikaner, dass George W.          griff in die Privat- und Bürgerrechte bedeuten
Bush ein „starker und entschlossener Führer“ sei, während       können. Gleichzeitig wurde aber auch erkennbar,
nur 30 % seinem Herausforderer, Senator John Kerry, diese
Charaktereigenschaft zuschreiben. Vgl. Lydia Saad, Bush         daß es sich noch um keine festen Überzeugungen
Exceeds or Ties With Kerry on Most Ratings of Presidential
Characteristics. Leadership and Honesty are Bush’s Strong       18 Vgl. Fox News/Opinion Dynamics, 3./4. 10. 2001, zit. in:
Points, Gallup News Service vom 14. 9. 2004.                    AEI Studies in Public Opinion (Anm. 14), S. 53.
17 Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische Partner-       19 Jennifer A. Dlouhy/Elizabeth A. Palmer, New Asser-
schaft“ zwischen Kongress und Präsident treffend als den        tions of Executive Power Anger, Frustrate Some on Hill, in:
„Kern des amerikanischen politischen Systems, der es von        Congressional Quarterly Weekly (CQW) vom 24. 11. 2001,
parlamentarischen europäischen [Systemen] unterscheidet“.       S. 2784.
Vgl. ders., Kongreß und Präsident, in: Willi Paul Adams/Peter   20 Vgl. CBS News/NYT vom 7. bis 10. 12. 2001, zit. in: AEI
Lösche (Hrsg.), Länderbericht USA, Bonn 1998, S. 207.           Studies in Public Opinion (Anm. 14), S. 48.

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handelte und die Exekutive sich zum Großteil auf            26. Oktober 200124 ermächtigte unter anderem den
blindes Vertrauen ihrer Bürger stützen konnte,              Justizminister, Ausländer auf unbestimmte Zeit zu
bekannten doch 49 Prozent der Befragten, dass sie           inhaftieren, wenn deren Abschiebung bis auf weite-
nicht genug über diese Materie Bescheid wüssten.            res nicht möglich oder absehbar erscheint25 oder
                                                            wenn diese Ausländer nach seinem Ermessen eine
Inzwischen ist in der öffentlichen Meinung bereits          Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten
eine Kehrtwende feststellbar. Während unmittel-             Staaten darstellen, die allgemeine Sicherheit oder
bar nach den Anschlägen vom 11. September die               Einzelne bedrohen.26 Der Justizminister ist also
Zahl derer anstieg, die von der Regierung schär-            autorisiert festzulegen, ob es sich bei einem Aus-
fere Antiterrorgesetze forderten, und analog dazu           länder um einen gefährlichen Terroristen handelt,
seltener die Sorge vor exzessiven Eingriffen in die         der Angriffe plant oder unterstützt. Seine Ermes-
Bürgerrechte durch neue Antiterrorgesetze artiku-           sensentscheidung kann sich auch auf geheime
liert wurde, hatte sich schon neun Monate nach              Beweismittel stützen, die dem Inhaftierten bzw.
den Anschlägen das Meinungsbild grundlegend                 dessen Anwälten nicht bekannt gemacht werden
verändert: Nur etwa ein Drittel der ameri-                  müssen. Freilich dürfen diese Beweismittel bei der
kanischen Bevölkerung blieb besorgt, dass die Re-           späteren Rechtsfindung nicht herangezogen wer-
gierung keine schärferen Anti-Terror-Gesetze                den; sie bilden dennoch die Legitimationsgrund-
verabschiedet, aber knapp die Hälfte der Amerika-           lage für einen Freiheitsentzug zum Zwecke der Prä-
ner hegte mittlerweile Bedenken, dass diese Maß-            vention terroristischer Akte.
nahmen schwerwiegende Eingriffe in die persönli-
chen Freiheitsrechte darstellen.21                          Dieses Beispiel ist bezeichnend für die in den USA
                                                            zu beobachtende Tendenz, die Rolle des Gesetzes
Knapp zwei Jahre nach den Anschlägen vom                    grundlegend neu zu interpretieren. Justizminister
11. September gehören jene Amerikaner, die for-             Ashcroft brachte sie im Dezember 2001 vor dem
dern, dass die Regierung ungeachtet der Ein-                Justizausschuss des Senats deutlich zum Ausdruck:
schränkungen der persönlichen Freiheitsrechte               „Herr Vorsitzender, Mitglieder des Ausschusses,
alle notwendigen Maßnahmen ergreifen müsse,                 wir befinden uns im Krieg gegen einen Feind, der
um weitere terroristische Anschläge zu verhindern,          individuelle Rechte ebenso missbraucht wie Passa-
einer Minderheit (29 Prozent) an. Eine Zwei-                gierflugzeuge: als Waffen zum Töten von Amerika-
drittelmehrheit (67 Prozent) würde mittlerweile             nern. Wir haben darauf reagiert, indem wir den
Maßnahmen ablehnen, wenn sie grundlegende                   Auftrag des Justizministeriums neu definiert
individuelle Freiheitsrechte beeinträchtigten. Im           haben. Unsere Nation und ihre Bürger gegen terro-
Januar 2002 hielten sich Befürworter und Gegner             ristische Angriffe zu verteidigen ist nunmehr
solcher Maßnahmen noch in etwa die Waage (47                unsere erste und vorrangige Aufgabe.“27 Aus Sicht
versus 49 Prozent).22 Die Daten stützen die These,          der Exekutive hat die Präventionsfunktion Vorrang
„dass die Bereitschaft, Freiheit einzuschränken,            vor der Rechtsfindungs- und Rechtsstaatsfunktion.
um Sicherheit zu gewährleisten, um so höher ist,            Diese Uminterpretation des Rechts bleibt nicht
je größer die Angst ist. (. . .) Wenn die Panik             ohne Wirkung auf das Verhältnis zwischen persön-
sich legt, wird der Anteil derjenigen, die eine             lichen Freiheitsrechten und Sicherheit.
Beschneidung der Rechte unterstützen, weiter
abnehmen23.“ Nach wie vor steht aber der Sicher-            24 Vgl. Sektion 236 (A) (a) „Detention of Terrorist Aliens“
heitsaspekt im Zentrum der nationalen Aufmerk-              des sogenannten Uniting and Strengthening America by Pro-
                                                            viding Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct
samkeit, was dem Präsidenten – auch gegenüber               Terrorism (USA PATRIOT) Act of 2001, PL 107 –56, 115
dem Kongress – die Möglichkeit gibt, eine domi-             Stat. 272 (HR 3162).
nierende Rolle im Kampf gegen den Terrorismus               25 Zum Beispiel wenn der Betroffene keine Staatsbürger-
zu spielen.                                                 schaft besitzt, sein Herkunftsland die Aufnahme verweigert
                                                            oder die Gefahr von Folter besteht.
                                                            26 Der Betroffene kann zunächst sieben Tage festgehalten
Um die eigene Position auf diesem Schauplatz des            werden, ohne dass dafür eine spezifische Anklage vorliegen
Kampfes gegen den Terrorismus zu stärken,                   muss. Wird der Verdächtige dann für ein Vergehen angeklagt,
erwirkte die Bush-Administration die Rücken-                selbst wenn es nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit
                                                            Terrorismus steht, und existiert nach dem Ermessen des Jus-
deckung des Kongresses: Der USA Patriot Act vom             tizministers ein Sicherheitsrisiko, kann diese Person für sechs
                                                            Monate, dann wiederholt für jeweils weitere sechs Monate in
21 Vgl. PSRA/Pew Research Center; zit. in: AEI Studies in   Gewahrsam genommen werden – solange der Justizminister
Public Opinion, America After 9/11, Washington, DC: Ame-    befindet, dass diese Person eine Bedrohung für die nationale
rican Enterprise Institute, 17. 9. 2004, S. 169.            Sicherheit darstellt.
22 Vgl. Gallup/CNN/USA Today, 25. –27. 1. 2002 bzw.         27 Testimony of Attorney General John Ashcroft, Senate
25. –26. 8. 2003, zit. in: ebd., S. 167.                    Committee on the Judiciary, 6. 12. 2001, http://www.
23 Amitai Etzioni, How Democracy Is Preserved, in: Chri-    justice.gov/ag/testimony/2001/1206transcriptsenatejudiciary
stian Science Monitor vom 26. 8. 2002.                      committee.htm.

Aus Politik und Zeitgeschichte    B 45 / 2004                                                                           10
Hingegen sehen deren Befürworter die außeror-
     Spannungsverhältnis zwischen                           dentlichen Machtbefugnisse der Exekutive durch
     Freiheitsrechten und Sicherheit                        die alles überragende Schutzrolle des Obersten
                                                            Befehlshabers legitimiert. Aus dieser Sicht er-
                                                            scheint es vertretbar, dass in Kriegszeiten das zivile
Das Spannungsverhältnis zwischen persönlichen               Recht, das stärker den Anspruch auf individuelle
Freiheitsrechten und Sicherheit betrifft neben              Freiheitsrechte betont, zum Kriegsrecht mutiert,
zahlreichen Problembereichen des USA Patriot                in dem der kollektive Sicherheitsaspekt alle ande-
Act,28 die überwiegend auf die innenpolitische              ren überragt. In den verschiedenen Problemberei-
Debatte beschränkt bleiben, auch solche von inter-          chen lässt sich entsprechend ein gemeinsamer
nationaler Brisanz. Dabei geht es in erster Linie           Nenner ausmachen: Es geht weniger um die straf-
um den Status der gefangenen Taliban- und Al-               rechtliche Verantwortung einzelner Täter und
Qaida-Kämpfer, die Einrichtung von Militärtri-              deren Verfolgung wegen begangener Taten, son-
bunalen, die Festnahme und „Vorbeugehaft“ ver-              dern vielmehr um die allgemeine Verhinderung
dächtiger Ausländer sowie die Verschärfung der              künftiger Attentate. Denn laut Justizminister Ash-
Einreisebestimmungen und die allgemeine Stigma-             croft war die „Kultur der Hemmung“ (culture of
tisierung ausländischer Studenten muslimischer              inhibition) vor dem 11. September „so stark auf
Herkunft.29                                                 die Strafverfolgung begangener Straftaten fokus-
                                                            siert, dass sie die Prävention künftiger Terroran-
                                                            schläge einschränkte“30.
An den einzelnen Bereichen, in denen die Proble-
matik der Einschränkung persönlicher Freiheits-             Die „Ashcroft-Doktrin“ der Prävention,31 die sich
rechte vor allem auch internationale Aufmerk-               solcher Hemmungen entledigt hat, äußert sich
samkeit erregte, lässt sich erkennen, dass die              nunmehr darin, dass Gruppen von potenziellen
Verantwortlichen zwischen zwei Klassen von                  Gefahrenträgern, die gewisse Merkmale aufwei-
Rechtsträgern unterscheiden: zwischen amerikani-            sen, einfach nicht ins Land gelassen, abgeschoben,
schen Bürgern und „Nicht-Amerikanern“. Unge-                „von der Straße entfernt“ (remove from the street)
achtet der verfassungsrechtlichen „due process“-            oder in „Vorbeugehaft“ (preventive detention)
bzw. „equal protection“-Bestimmungen, in denen              genommen werden. Mögliche Informanten können
vom Schutz der individuellen Freiheitsrechte                zudem als so genannte wichtige Zeugen (material
„jeder Person“ (any person) die Rede ist, genießen          witnesses) festgesetzt werden. Auch die Militärtri-
die sich in den Vereinigten Staaten aufhaltenden            bunale sind als Waffen im Kampf gegen den Terro-
Ausländer nach Auffassung der Bush-Administra-              rismus vorgesehen: „Die Order zur Errichtung von
tion grundsätzlich nicht den gleichen Rechtsschutz          Militärtribunalen (The Military Order) fügt dem
wie die Staatsbürger der Vereinigten Staaten.               präsidentiellen Köcher weitere Pfeile hinzu“ – so
Wenn sie als mutmaßliche Terroristen eingestuft             die Erläuterung der Administration gegenüber
werden, haben sie zudem auch noch diesen „min-              dem Senat durch Pierre-Richard Prosper, Ambas-
deren Anspruch“ verwirkt. Sie werden gar als                sador-at-Large for War Crimes Issues, U.S.
Outlaws behandelt, wenn sie sich nicht auf dem              Department of State.32
souveränen Staatsgebiet der Vereinigten Staaten             Die Grenzen zwischen ziviler Strafverfolgung und
befinden – wie die gefangenen Taliban- und Al-              Prävention einerseits sowie militärischer Opera-
Qaida-Kämpfer auf dem US-Marinestützpunkt in                tion und Kriegsrecht andererseits verwischen sich
Guantánamo Bay, Kuba. Die Entscheidung, wer                 zusehends. Insofern hat der sich abzeichnende
welche Rechte „verdient“, wurde a priori von der            Paradigmenwechsel in der Interpretation der staat-
Exekutive getroffen. Die Bush-Administration                lichen Schutzfunktion nicht nur Auswirkungen auf
versuchte dabei auch, sich der Kontrolle juristi-           das Verständnis demokratischer Rechtsstaatlich-
scher und parlamentarischer Instanzen zu ent-               keit, sondern auch auf das Funktionieren des poli-
ziehen. Nicht wenige Beobachter sehen in dieser
Praxis aus verfassungsrechtlicher Warte ein gefähr-         30 Justizminister Ashcrofts Ansprache an die U.S. Attor-
liches Wagnis, bei dem die im politischen System            neys Conference in New York vom 1. 10. 2002; Exzerpte in:
der Vereinigten Staaten fest verankerten Prin-              Siobhan Gorman, There Are No Second Chances, in: Natio-
zipien der „checks and balances“ ausgehebelt zu             nal Journal vom 21. 12. 2002.
                                                            31 Vgl. ders., The Ashcroft Doctrine, in: National Journal
werden drohen.                                              vom 21. 12. 2002.
                                                            32 Pierre-Richard Prosper, Ambassador-at-Large for War
28 Vgl. Elizabeth Palmer/Keith Perine, Provisions of the    Crimes Issues, U.S. Department of State, Testimony before
Anti-Terrorism Bill, in: CQW vom 2. 2. 2002, S. 329 –335.   the United States Senate Committee on the Judiciary,
29 Vgl. Josef Braml, USA: Zwischen Rechtsschutz und         DOJ Oversight: Preserving Our Freedoms while Defending
Staatsschutz. Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte,   against Terrorism, 4. 12. 2001, http://judiciary.senate.gov/
Berlin 2003 (SWP-Studie S5), S. 16 –24.                     print_testimony.cfm?id=129&wit_id=77.

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tischen Systems sich gegenseitig kontrollierender                versus Rumsfeld) und zu den Rechtsansprüchen
Gewalten, welches den Schutz der persönlichen                    von Nicht-Amerikanern auf dem US-Marinestütz-
Freiheitsrechte gewährleistet.                                   punkt in Guantánamo Bay, Kuba (Rasul et al. ver-
                                                                 sus Bush). Mit diesen Urteilen vom 28. Juni 2004
                                                                 widersprach der Supreme Court der bisherigen
                                                                 Praxis der Exekutive, wonach diese eigenmächtig
     Gewaltenkontrolle zum Schutz                                und a priori darüber urteilte, wer welche Rechte
            des Einzelnen                                        „verdient“, und die Möglichkeit einer Ex-post-
                                                                 Überprüfung durch eine juristische Kontroll-
                                                                 instanz verwehrte. Der Supreme Court verdeut-
Persönliche Freiheitsrechte sollen vor allem durch               lichte, dass die richterliche Kontrolle exekutiver
das Prinzip der „checks and balances“, der konkur-               Entscheidungen ein wesentliches Element des
rierenden, sich gegenseitig kontrollierenden politi-             amerikanischen Systems der „checks and balan-
schen Gewalten der Exekutive, Legislative und                    ces“ ist. Bei der Urteilsfindung ging es um nicht
Judikative gesichert werden.33 In der amerika-                   weniger als das Habeas-corpus-Prinzip, das Recht
nischen Geschichte gab es jedoch immer wieder                    jedes Häftlings in demokratisch verfassten Staaten,
Phasen äußerer Bedrohung, in denen sich die                      die Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit seiner
Machtbalance dieser konkurrierenden „branches                    Festnahme vor Gericht anzufechten. Die Richter
of government“ zugunsten der Exekutivgewalt ver-                 nahmen nur zur Frage der Gerichtsbarkeit Stel-
schoben hat. In einer eingehenden Analyse dieses                 lung,37 nicht aber zu weiteren Verfahrensweisen.
Phänomens mit dem Titel „All the Laws but One:                   Die Obersten Richter behaupteten damit zwar die
Civil Liberties in Wartime“34 warnte William                     eigene Raison d’être und ihre Machtbefugnisse.
Rehnquist, Chief Justice des Supreme Court, vor                  Doch sie gingen nicht soweit, der Exekutive vorzu-
der Gefahr, dass der Oberste Befehlshaber in                     schreiben, wie diese rechtsstaatlichen Prinzipien
Kriegszeiten durch zusätzliche Machtbefugnisse                   auf die aktuellen Fälle angewendet werden sollen.
dazu verleitet ist, den konstitutionellen Rahmen                 Der Exekutive bleibt genügend (semantischer)
auszureizen.35                                                   Spielraum, der es ihr erlaubt, im Kampf gegen den
                                                                 Terrorismus die Entscheidungen des Obersten
                                                                 Gerichtes in ihrem, exekutiven Sinne zu operatio-
Judikative                                                       nalisieren. Schließlich bestätigte der Supreme
Nach seinem Blick in die Geschichte hat der Chief                Court den von der Bush-Administration etablier-
Justice jedoch kein allzu großes Vertrauen, dass                 ten kriegsrechtlichen Rahmen, der ihr weiterhin
seine Zunft der Exekutive die zu wahrenden Gren-                 Handlungsspielraum „im Krieg“ gegen den Terro-
zen unmittelbar aufzeigt: „Wenn die (höchstrich-                 rismus gewährt. „Die oberste Pflicht des Präsiden-
terliche) Entscheidung getroffen wird, nachdem                   ten ist es, die amerikanische Nation zu verteidigen,
die Kriegshandlungen beendet sind, ist es wahr-                  und wir begrüßen es, dass das Oberste Gericht
scheinlicher, dass die persönlichen Freiheitsrechte              die Befugnisse des Präsidenten bestätigt hat,
favorisiert werden, als wenn sie getroffen wird,                 feindliche Kombattanten, inklusive amerikani-
während der Krieg noch andauert.“36 Obschon                      scher Staatsbürger, festzuhalten, solange der Kon-
vereinzelt zivilgesellschaftliche „advocacy groups“              flikt andauert“, erklärte Claire Buchan, Sprecherin
bereits einige Teilerfolge erzielt und einschlägige              des Weißen Hauses, unmittelbar nach dem Urteils-
Urteile erwirkt haben, wurden diese in der Regel                 spruch.38 Die Reaktion des Justizministeriums ließ
nach Gegenhalten der Exekutive von höheren                       auch nicht lange auf sich warten. Sprecher Mark
Instanzen wieder zurückgewiesen oder für nicht                   Corallo zeigte sich ebenso erfreut, dass das Ge-
rechtskräftig erklärt.                                           richt die Autorität des Präsidenten als Oberster
                                                                 Befehlshaber der Streitkräfte bestätigt habe, so
Mittlerweile sprach jedoch das Oberste Gericht
ein „Machtwort“ zum rechtlichen Status des
in Afghanistan festgenommenen amerikanischen                     37 Die Bush-Administration vertrat die Auffassung, dass
                                                                 der – wohl bewusst gewählte – Inhaftierungsort auf dem
Staatsbürgers Yaser Esam Hamdi (Hamdi et al.                     US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba, außerhalb
                                                                 des souveränen Staatsgebietes der Vereinigten Staaten von
33 Richard Neustadt beschreibt das amerikanische System          Amerika liege. Entsprechend könnten dort internierte aus-
treffend als „separate authorities sharing power“. Vgl. ders.,   ländische Staatsangehörige keinen Anspruch auf einen Pro-
Presidential Power and the Modern Presidents. The Politics       zess vor einem amerikanischen Gericht geltend machen.
of Leadership from Roosevelt to Reagan, New York– To-            Doch nach Auffassung der Richtermehrheit des Supreme
ronto 1990.                                                      Court kontrollieren die USA de facto das Gebiet auf Guan-
34 Vgl. William H. Rehnquist, All the Laws but One: Civil        tánamo, deshalb sind auch amerikanische Gerichte zuständig.
Liberties in Wartime, New York–Toronto 1998.                     38 Zit. in: Todd Purdum, In Classic Check and Balance,
35 Vgl. ebd., S. 224.                                            Court Shows Bush It Also Has Wartime Powers, in: New York
36 Ebd.                                                          Times vom 29. 6. 2004, S. 1.

Aus Politik und Zeitgeschichte       B 45 / 2004                                                                         12
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