Aus Politik und Zeitgeschichte - Bundeszentrale für politische Bildung
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Beilage zur Wochenzeitung 1. November 2004 Aus Politik und Zeitgeschichte 3 Jochen Thies Essay Partner oder Konkurrent? Die deutsch- amerikanischen Beziehungen 6 Josef Braml Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat? Die Einschrånkung persænlicher Freiheitsrechte durch die Bush-Administration 16 Ernst-Otto Czempiel Die Auûenpolitik der Regierung George W. Bush 24 Jçrgen Wilzewski Die Bush-Doktrin, der Irakkrieg und die amerikanische Demokratie 33 Stephan Bierling Die US-Wirtschaft unter George W. Bush 40 Sæhnke Schreyer Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Bush-Regierung B 45/2004
Editorial Mehrheit des UN-Sicherheitsrates Herausgegeben von gegen die US-Plåne, den Irak der Bundeszentrale anzugreifen, die US-Administration n Die ersten acht Monate der fçr politische Bildung sehr. Was in den USA auf besonde- Amtszeit von US-Pråsident George Adenauerallee 86 res Missfallen stieû, war die Hal- W. Bush verliefen unspektakulår. 53113 Bonn. tung der Bundesregierung. Man Das ånderte sich durch die schreck- empfand die deutsche Verweige- lichen Terroranschlåge des 11. Sep- Redaktion: rung der Teilnahme am geplanten tember 2001 schlagartig. Seither Dr. Katharina Belwe Angriff auf den Irak als undankbar. verlåuft Bushs Pråsidentschaft tur- Dr. Hans-Georg Golz Bis heute sind Irritationen in den Dr. Ludwig Watzal bulent. Die USA befinden sich deutsch-amerikanischen Beziehun- (verantwortlich fçr diese Ausgabe) zusammen mit ihren Verbçndeten gen nicht vællig ausgeråumt. Hans G. Bauer in einem weltweiten ¹Krieg gegen Telefon: (0 18 88) 5 15-0 den Terrorismusª. Dieser Antiter- n Auch innenpolitisch reagierte die rorkampf wird auch von der Bun- Bush-Administration energisch auf Internet: die Anschlåge. Der USA Patriot Act www.bpb.de/publikationen/apuz desrepublik Deutschland auf den verschiedensten Ebenen und in vie- enthålt eine groûe Anzahl von poli- E-Mail: apuz@bpb.de len Regionen tatkråftig unterstçtzt. tischen, administrativen und Druck: gesetzlichen Initiativen, die zu Zu erheblichen Verstimmungen Frankfurter Societåts-Druckerei GmbH, erheblichen Einschrånkungen der zwischen der US-Administration 60268 Frankfurt am Main Bçrger- und Freiheitsrechte fçhren. und einigen ihrer europåischen Ver- Vertrieb und Leserservice: bçndeten kam es erst, als Bush den Das Spannungsverhåltnis zwischen Die Vertriebsabteilung Antiterrorkampf auf den Irak aus- Freiheit und Sicherheit scheint der Wochenzeitung , sowohl innenpolitisch als auch auf dehnte. In einer Rede bezeichnete Frankenallee 71 ± 81, internationaler Ebene zu Lasten der er Irak, Iran und Nordkorea als 60327 Frankfurt am Main, Freiheitsrechte zu gehen. Noch ist ¹Achse des Bæsenª; eine Klassifi- Telefon (0 69) 75 01-42 53, der Widerspruch dagegen verhal- Telefax (0 69) 75 01-45 02, zierung, die von den meisten euro- påischen Staats- und Regierungs- ten, aber die Stimmen derer sind E-Mail: parlament@fsd.de, chefs nicht nachvollzogen wurde. nicht zu çberhæren, die vor einer nimmt entgegen: Eine eschatologische Terminologie Ûberdehnung der in diesem Geset- * Nachforderungen der Beilage zespaket vorgesehenen Schritte auch in anderen Øuûerungen Aus Politik und Zeitgeschichte warnen, da sie das fest verankerte wurde in Europa mit Befremden * Abonnementsbestellungen der aufgenommen. Was die Europåer Prinzip der checks and balances Wochenzeitung vielleicht zu wenig realisiert hatten, auszuhebeln drohen. einschlieûlich Beilage zum Preis war die tiefe Verletztheit, ja Trau- n Das Bewundernswerte an der von Euro 19,15 halbjåhrlich, matisierung der amerikanischen amerikanischen Demokratie sind Jahresvorzugspreis Euro 34,90 Nation durch das, was in den USA ihre schier unermesslichen Selbst- einschlieûlich Mehrwertsteuer; ¹9/11ª heiût. Die USA empfanden reinigungskråfte. Zwei Beispiele Kçndigung drei Wochen vor Ablauf des Berechnungszeitraumes; die Anschlåge als einen Angriff von stehen exemplarisch fçr viele: In auûen, wohingegen er von europå- zahlreichen Hearings vor dem US- * Bestellungen von Sammel- ischer Seite eher als ein schreckli- Kongress mçssen Mitglieder der mappen fçr die Beilage ches Verbrechen angesehen wor- Bush-Administration zu den Grçn- zum Preis von Euro 3,58 den ist. Folglich interpretierte die den fçr den Krieg gegen den Irak zuzçglich Verpackungskosten, US-Regierung ihn als Kriegserklå- Rede und Antwort stehen. Mit glei- Portokosten und Mehrwertsteuer. rung. cher Akribie und unerbittlicher Die Veræffentlichungen Offenheit werden die abscheuli- in der Beilage n In der Folge wurden auf beiden Seiten des Atlantiks Entscheidun- chen Foltervorkommnisse im Abu- Aus Politik und Zeitgeschichte gen getroffen, die zu weiteren Graibh-Gefångnis im Irak und stellen keine Meinungsåuûerung diplomatischen Missverståndnissen anderen US-Gefangenenlagern des Herausgebers dar; fçhrten. Die Rede von George W. untersucht. Das System von checks sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung. Bush vor den Vereinten Nationen and balances, auf das die USA im Herbst 2002 kann als ein Bei- besonders stolz sind, scheint hier Fçr Unterrichtszwecke dçrfen spiel dafçr gelten: Der US-Pråsident wieder zu funktionieren. Das dem Kopien in Klassensatzstårke drohte der Weltorganisation mit american mind zugrunde liegende hergestellt werden. ¹Irrelevanzª, wenn sie sich wei- Misstrauen gegen ¹dieª in gere, den USA auf ihrem Weg zu Washington hat schon schwerere ISSN 0479-611 X folgen. Auf der anderen Seite ver- Zeiten çberstanden. årgerte der heftige Widerstand der Ludwig Watzal n
Jochen Thies Partner oder Konkurrent? Die deutsch-amerikanischen Beziehungen Der Ton in den deutsch-amerikanischen Beziehun- schiedet. Deutschland wartet ab und reagiert gen hat sich in den letzten drei Jahren spürbar ver- allenfalls, wenn in der Außen- und Sicherheitspoli- ändert. Und man geht nicht fehl in der Annahme, tik Schritte unvermeidlich werden. Gemessen an dass die nächsten Wahlen in beiden Ländern dar- seinem finanziellen Beitrag für den Golfkrieg zu über entscheiden werden, ob es dabei bleibt oder Beginn der neunziger Jahre – ein Drittel des ob noch einmal jene Vertrautheit in das Verhältnis damaligen Verteidigungshaushaltes –, leistet zurückkehren wird, wie man sie in den besten Zei- Deutschland in der Krisenregion im und um den ten deutsch-amerikanischer Freundschaft kannte. Irak zur Zeit praktisch nichts, weder militärisch Die kleine transatlantische Meinungselite in noch finanziell. Der Verweis, dass es andere auch Deutschland, ohnehin in die Jahre gekommen, ist nicht tun, wie Frankreich oder Spanien, das seine infolge der Entwicklungen seit dem 11. September Truppen aus dem Irak zurückgezogen hat, hilft 2001 und dem Irakkrieg beiseite geschoben wor- nicht weiter. Den Franzosen behagt vorläufig ihre den oder verharrt ungläubig und stumm angesichts Sonderrolle. Die Staaten Mittel-, Südost- und Ost- sich überschlagender Entwicklungen. Die Bestsel- europas, dem Kommunismus und der Militarisie- ler-Listen der deutschen Sachbücher, aber nicht rung der Gesellschaften gerade entronnen, enga- nur sie, verraten, dass kulturell und politisch-ideo- gieren sich hingegen. Die Spaltung des Kontinents logisch bedingte antiamerikanische Einstellungen hinsichtlich der Irakfrage hält also weiter an, sie neue Nahrung erhalten haben. Selten ist ein Politi- verschärft die ohnehin vorhandenen Probleme im ker eines westlichen demokratischen Landes so europäischen Einigungsprozess und führt zu einer dämonisiert worden wie George Bush jr., dessen Renationalisierung. Sie legt offen, dass sich in Vater zusammen mit Amtsvorgänger Ronald Rea- einer Art von Wiederholung der Ereignisse vor gan die Wiedervereinigung möglich machte. sechzig Jahren die westliche Kriegskoalition des Gleichzeitig operiert die deutsche Linke, vermeint- Jahres 1944 im Kampf gegen den Terrorismus lich frei von alten, lästigen Zwängen, ziemlich erneut zusammengefunden hat. Bemerkenswert ist geschichtsvergessen mit neuen Optionen in der hierbei die übereinstimmende Lagebeurteilung Außenpolitik. Bei näherem Hinsehen bergen diese über den Mittleren Osten in der angelsächsischen das Risiko alter deutscher Irrtümer und Illusionen. Welt, also nicht nur in den USA, sondern auch in Ein neuer Kurs für Deutschland ist ausgegeben Großbritannien – es gibt kein „Sonderproblem“ worden, abgestützt durch den bewährten Partner Tony Blair – und in Australien sowie Neuseeland. Frankreich im Westen und den alten, neuen Freund Japan, zu Beginn der neunziger Jahre noch zöger- im Osten: Russland. Der Kontakt zu den kleineren licher als Bonn bei der Rückkehr in die Welt der europäischen Staaten wird von Berlin aus nur unzu- militärischen Risiken, zeigt im Mittleren Osten ein reichend gepflegt. Das könnte sich eines Tages bit- deutliches Profil. Skandinavische Staaten wie ter rächen. Denn es geht für Deutschland nicht län- Dänemark und Norwegen, Zivilgesellschaften ger um den Irakkrieg und die richtige Bewertung schlechthin, haben wie die Niederlande und Portu- seiner Risiken davor und danach, sondern darum, gal, europäische Vormächte vergangener Jahrhun- die Herausforderungen an die westliche Zivilisa- derte, Militärkontingente an den Euphrat ent- tion in einer immer rauher werdenden Weltpolitik sandt. Das sollte Deutschland zu denken geben. anzunehmen, die Risiken mit anderen zu teilen, ausreichende Risikovorsorge zu betreiben und aus- Von der Supermacht Amerika einmal abgesehen, gleichend zu wirken. Denn es droht eine Welt, die deren Stellung in der Welt unangefochten bleibt, noch weitaus unruhiger werden könnte. Sie erfor- verschieben sich gleichzeitig die ökonomischen dert gewaltige Investitionen in mindestens drei und politischen Gewichte vom Westen, von Bereiche: Sicherheit, Stabilisierung von Solidari- Europa weg in hohem Tempo nach Asien. Die tärssystemen und Bewahrung der Umwelt. Türkei, mehr als ein Jahrhundert lang aus der Weltpolitik so gut wie abgemeldet, kommt zurück. Mit Ausnahme der Briten und Polen haben sich Der Iran betreibt eine ambitionierte Atompolitik, die Europäer von dem Gedanken, die Politik nutzt die momentane Konzentration Amerikas auf Europas aktiv zu gestalten, weitgehend verab- andere Schauplätze ähnlich wie Nordkorea zum 3 Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004
Ausbau seiner Machtposition, auch mit Blick auf che Vorstellungen hat, zum befreienden „sorry“. Afghanistan. Indien, Pakistan und Indonesien Das mag damit zusammenhängen, dass viele deut- betreiben Außen- und Sicherheitspolitik im Stil sche Spitzenpolitiker die USA nicht oder nur sehr großer Mächte. Wladimir Putins Russland inves- unzureichend kennen. In diesem zusätzlichen Wis- tiert schon heute in seine heruntergekommenen, sens- und Anschauungsverlust liegt dann wohl demoralisierten Streitkräfte. Wenn die Risiken auch die eigentliche Bedeutung des amerikani- beim Öl bestehen bleiben sollten, wird die Remili- schen Truppenabzugs aus Deutschland. tarisierung dieser Großmacht noch schneller als Verliebt in das, was einmal war, beeinflusst durch bislang angenommen voranschreiten. Trifft diese eine uneingeschränkte Treue zu Amerika in der Beobachtung zu, entwickelt sich die Welt in Rich- langen Regierungszeit von Helmut Kohl – die sich tung eines Mächtesystems im Stil des 19. Jahrhun- 1989 auszahlte –, geht die CDU/CSU heutzutage zu derts, allerdings mit deutlich mehr Akteuren als weit mit ihrer Vorstellung, dass es im deutsch-ame- die alte Pentarchie. Ob Europa will oder nicht, es rikanischen Verhältnis so bleiben könne, wie es bei wird eine Antwort auf diese Entwicklung finden allen Meinungsverschiedenheiten ein halbes Jahr- müssen, und wenn dies nicht gelingt, werden dies hundert lang war. Aber je länger der Irakkrieg einzelne Staaten tun. andauert, umso stiller ist man geworden; den deut- Natürlich konnte das deutsch-amerikanische Ver- schen Konservativen scheint zu dämmern, dass hältnis nicht das bleiben, was es vor allem zu man weder das manichäische Weltbild des amtie- Beginn der neunziger Jahre war, ein Miteinander renden Präsidenten teilen, noch seine Politik befol- in nicht enden wollender Zeit der Euphorie: hier gen kann. Groß ist in den Reihen von CDU/CSU die Supermacht, die den Kalten Krieg am Ende jedoch die Verunsicherung darüber, dass Jacques für sich entschieden hatte, dort ein wieder verei- Chirac mit deutlicher Akzentuierung gegen Ame- nigtes Land, das sein Glück nicht fassen konnte. rika einen Schulterschluss mit Bundeskanzler Ger- Aber seit Beginn des neuen Jahrtausends ist es hard Schröder praktiziert, auch wenn dieser von dann in diesem bilateralen Verhältnis zu schnell Taktik und weniger von Überzeugungen geprägt voran und auseinander gegangen. Beziehungen ist. Was den deutschen Gaullisten in den sechziger wie die deutsch-amerikanischen dürfen sich jedoch Jahren nicht gelang, bedingungslos auf die Partner- nur langsam verändern; sonst nehmen sie Schaden. schaft mit Frankreich zu setzen und damit auf die Option der lange Zeit dominierenden Transatlanti- Noch immer wird in Deutschland verdrängt, dass ker „sowohl mit den USA als auch mit Frankreich“ die Anschläge auf das World Trade Center in New zu verzichten, könnte nun eingetreten sein. York und das Pentagon in Washington die Psycho- logie Amerikas nachhaltig verändert haben. In den Das Ende des privilegierten deutsch-amerikani- Amtsstuben von Washington ist nahezu jeder vom schen Dialogs der „Transatlantiker“ hat ferner Verlust eines Freundes oder Bekannten durch die auch damit zu tun, dass der politische Einfluss der Ereignisse des 11. September 2001 betroffen. Ach- amerikanischen Ostküste, an der Millionen von selzuckend nahm Deutschland vor kurzem zur europäischen Auswanderern und Verfolgten lan- Kenntnis, dass im Zuge einer veränderten Global- deten, nachgelassen hat. Die Gewichte in Amerika strategie nun die beiden letzten US- Kampfdivisio- haben sich verschoben; dies ist auch daran abzule- nen aus der Bundesrepublik abgezogen werden. sen, dass die Hauptkonfliktlinie zwischen weißen Zwar zeichnete sich eine derartige Möglichkeit und farbigen US-Amerikanern nicht länger exi- bereits zu Beginn der neunziger Jahre ab, gewiss stiert. Auf der anderen Seite des Kontinents, wo war der schrittweise Abzug der GIs aus Deutsch- die Hispanics leben und die zweite Generation land unvermeidlich, nicht zuletzt aufgrund des Per- asiatischer Einwanderer zur Mittelschicht und zur sonalengpasses bei den Amerikanern infolge des akademischen Elite aufgestiegen ist, hat die asiati- Irakkriegs. Aber von den vor Ort betroffenen sche Gegenküste auf dramatische Weise an Bedeu- Menschen in den Standorten einmal abgesehen, tung gewonnen. Hier befindet sich auch die einzige scheint die Reaktion des Landes von Gleichgültig- Macht, die den Amerikanern in absehbarer Zeit keit geprägt. Man vermisst in Deutschland echtes die Stirn bieten kann: die Volksrepublik China. Bedauern über diesen Beschluss, einen Moment Gleichzeitig haben die Deutschen die ihnen über der Erinnerung daran, dass seit den Tagen der Jahrzehnte hinweg vertrauten Gesprächspartner in Befreiung vom nationalsozialistischen Joch im den USA verloren. Selbst unter den deutschen Jahre 1944/45 über zehn Millionen Amerikaner Amerika-Experten gibt es kaum jemand, der enge zusammen mit ihren Familienangehörigen im Verbindungen zum Umfeld von Bush jr. unterhält. Lande stationiert waren – eine Begegnung des Kanzler Schröder steht mit seiner weitgehenden Normalamerikaners mit dem Deutschen, nicht ein Sprachlosigkeit, was die Kommunikation mit sei- Elitenaustausch. Man vermisst die Fähigkeit zum nem texanischen Partner angeht, also nicht allein. Smalltalk, auch wenn man politisch unterschiedli- Beide Länder haben ihre Mittler und Ansprech- Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004 4
partner fürs Erste verloren. American Academy wird an jener Vertrautheit fehlen, wie sie zwischen und Aspen Institute in Berlin tun alles, um neue Amerikanern und Briten herrscht. Dennoch ist Fäden zu knüpfen und Verbindungen nicht ganz trotz mancher schriller Töne im letzten Jahr die abreißen zu lassen. Aber man befindet sich auf Einsicht gewachsen, dass man zur gleichen Werte- abschüssigem Gelände. gemeinschaft gehört und dass Interdependenz unverzichtbar für das internationale System ist. Es Unabhängig vom Wahlausgang in den USA werden liegt auf der Hand, dass eine deutsche Bundesregie- die fundamentalen Unterschiede in der Bewertung rung – welcher Couleur auch immer – sich mit einer des Irakproblems zwischen Washington und Berlin Kerry-Administration leichter tun würde als mit fortbestehen. Aber der Konflikt ist nicht mehr so der amtierenden republikanischen Administration grundsätzlich wie noch vor Jahresfrist. Deutschland unter George W. Bush während einer zweiten hat sich schrittweise an den Kriegsschauplatz her- Amtszeit. Schröder und Bush haben sich im persön- angearbeitet. Und wenn die Vereinten Nationen lichen Verhältnis auf eine bemerkenswerte Weise während eines sich allmählich abzeichnenden Dis- auseinander entwickelt, darunter leidt die prakti- engagements der USA Zug um Zug Aufgaben im sche Arbeit. Üblich wäre in kritischen Zeiten, dass Irak übernehmen sollten, wird Berlin nicht abseits man sich viermal im Jahr zu Vieraugengesprächen stehen können. Die Spanier denken für diesen Fall trifft. Aber jeder scheint seit geraumer Zeit auf die über eine vorübergehende Rückkehr an Euphrat Abwahl des anderen zu warten. und Tigris nach. Und die französische Position scheint aufgrund der massiven Interessen im Lande Die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit wird und in der Region durchaus beweglich. Da Ameri- – auch wenn die Chemie beim Spitzenpersonal kaner und Russen darüber hinaus die Auffassung nicht stimmt – sich auf Felder einer pragmatischen teilen, dass auf Terrorismus mit aller Härte reagiert Zusammenarbeit konzentrieren. Denn die Irak- werden muss, ist es ein Gebot der Klugheit für die Kontroverse verdeckt, dass Deutschland unter deutsche Außenpolitik, die Kontroverse mit den Rot-Grün die „Scheckbuchdiplomatie“ aufgegeben USA nicht soweit zu treiben, dass man eines Tages hat und sich in anderen Krisenregionen der Welt isoliert dasteht. engagiert, auf dem Balkan wie am Hindukusch, was die Amerikaner anerkennen. Längst ist in den Ber- Der neue deutsche Gaullismus hat schon jetzt zur liner Amtsstuben die Einsicht eingekehrt, dass ein Folge, dass Amerika an einem deutschen Sitz im abrupter amerikanischer Rückzug aus dem Irak Weltsicherheitsrat nicht mehr übermäßig interes- hochgefährlich für Europa wäre. Die Ölversorgung siert ist. Von „Partnership in Leadership“, die geriete in Gefahr, die Energiepreise würden weiter Bush sen. den Deutschen einst anbot, ist nicht län- steigen – die wachsende Abhängigkeit Deutsch- ger die Rede. Anders als bei den Briten könnte lands von russischen Lieferungen noch größer wer- Washington nicht sicher sein, wie sich Berlin in den. Gleichzeitig wäre der gerade erst beginnende schwieriger Lage verhält. Denn die gegenwärtige Dialog der Europäischen Union mit der Türkei in Regierung besitzt in sicherheitspolitischen Fragen, Frage gestellt, und die Bedrohung Israels würde die rasche Entscheidungen verlangen, keine ei- zunehmen. Um wachsenden amerikanischen An- gene Mehrheit. Der Parlamentsvorbehalt ist eine forderungen zu entgehen und um die Verbindung Schönwetterangelegenheit. Darüber hinaus ist in zu Frankreich noch zu stärken, deutet Berlin neuer- amerikanischer Sicht der deutsche sicherheitspoli- dings an, sich in Afrika militärisch engagieren zu tische Beitrag im Augenblick unzureichend. Im wollen. Die sudanesische Provinz Darfur könnte Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien für diese neue Politik der erste Testfall sein. unternimmt Deutschland zurzeit keinerlei An- strengungen, etwas daran zu ändern. Machtpoli- Am Ende sollte für die deutsch-amerikanischen tisch wird eine derartige Haltung in der Welt – Beziehungen gelten, dass man zwei Teile von auch unter so genannten Freunden – dahingehend etwas Ganzem darstellt, dass man trotz aller interpretiert, dass man Abschied vom Gedanken Unterschiede die Gemeinsamkeiten anerkennt, genommen hat, in der ersten Reihe der mittleren die weiterhin überwiegen. Da Europa eine militä- Mächte Europas eine Rolle zu spielen. Zwischen rische Supermacht weder werden kann noch will, Regierung und Opposition scheint es in Deutsch- bleibt der Sicherheitsschirm, den die Supermacht land darüber einen stillschweigenden Konsens zu über Europa gespannt hat, nach wie vor lebens- geben. Denn die Anfänge dieser Politik liegen in wichtig. Die deutsche Politik muss darauf abzielen, den besten Jahren von Helmut Kohl und Hans- den Amerikanern jederzeit ein Gefühl von Solida- Dietrich Genscher. rität und Risikobereitschaft zu vermitteln. Denn amerikanische Nähe trägt in guten wie in schlech- Die deutsch-amerikanischen Beziehungen der ten Zeiten zur Zügelung deutscher Unruhe und nahen Zukunft werden somit zwar vordergründig Unrast bei. Die deutsche Automobilindustrie einem Zustand der Normalität zustreben. Aber es merkt das bereits. 5 Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004
Josef Braml Vom Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat? Die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte durch die Bush-Administration Die Terroranschläge des 11. September 2001 er- schoben. Insofern kommt dem Kongress eine be- schütterten das Fundament der freiheitlich demo- sondere Verantwortung zu – zumal, wie die bis- kratischen Grundordnung der Vereinigten Staaten: herige Erfahrung gezeigt hat, die richterliche das Grundvertrauen der Amerikaner in die eigene Kontrolle in Kriegszeiten eher schwach ausgeprägt Stärke. In der Folge wurde dem Staat eine beson- ist. Indem die Legislative ihre Kommunikations- dere Schutzfunktion und damit die Aufgabe zuge- und Kontrollfunktionen wahrnimmt, kann sie wiesen, das „Heimatland“ zu schützen – auch um dafür sorgen, dass auch in Zeiten nationaler Unsi- den Preis der Einschränkung individueller Frei- cherheit individuelle Freiheiten nicht unter Be- heitsrechte, der so genannten „civil liberties“1. rufung auf das kollektive Schutzbedürfnis über Gebühr eingeschränkt werden. Im Folgenden soll verdeutlicht werden, wie sehr die Anschläge des 11. September 2001 die Gesell- schaft der Vereinigten Staaten traumatisiert und verändert haben. Erst vor diesem Hintergrund – Der 11. September diesem Verständnis für das Gefühl der Verwund- und die amerikanische Gesellschaft barkeit und der nationalen Bedrohung – kann man das Zutrauen der Amerikaner in die Schutzfunk- tion ihrer Regierung, vor allem in die Amtsgewalt Anders als in Europa wurden in den Vereinigten des Präsidenten als Oberster Befehlshaber nach- Staaten die Anschläge des 11. September nicht vollziehen. Nach Auffassung des Präsidenten als terroristische, sondern als kriegerische Akte George W. Bush verschaffen nur energisches Han- verstanden. Amerika befindet sich nach dieser deln im Ausland und erhöhte Wachsamkeit im Auffassung im Kriegszustand. Diese kollektive Innern Sicherheit vor weiteren Angriffen auf das amerikanische Wahrnehmung hat nicht nur funda- amerikanische „Homeland“. mentale Auswirkungen auf die Verfassung der ein- zelnen Bürger, sondern auch auf die der Gesell- Dieser „Krieg gegen den Terrorismus“ zeitigt auch schaft insgesamt. Im „Krieg für eine gerechte innenpolitische „Kollateralschäden“. Die Präven- Sache“ ist die Bevölkerung, sind auch die Intellek- tion künftiger Terroranschläge geht oft auf Kosten tuellen eher bereit, materielle und ideelle Opfer zu individueller Freiheit. Mehr noch: Die so genannte bringen. Darüber hinaus eröffnet ein derartiges „Ashcroft-Doktrin“ der Prävention droht die Szenario dem Präsidenten als Oberstem Befehls- grundlegende Sicherung persönlicher Freiheits- haber und der in seinem Namen handelnden Exe- rechte durch das System sich gegenseitig kontrol- kutive einen umfangreichen Gestaltungsspielraum. lierender Gewalten auszuhebeln. In diesem Kontext werden unter anderem die grundlegenden Verfassungsprinzipien der staatli- Einmal mehr in der amerikanischen Geschichte chen Sicherheit und der individuellen Freiheit in hat sich aufgrund äußerer Bedrohung die Macht- einem kriegsrechtlichen Rahmen neu bewertet. balance dieser konkurrierenden „branches of government“ zugunsten der Exekutivgewalt ver- Der 11. September 2001 verschaffte dem Präsi- denten nicht nur einen Vertrauensvorschuss, er 1 Die wichtigsten – im weiteren synonym als individuelle veränderte auch die Ausgangslage und Dynamik oder persönliche Freiheitsrechte bezeichneten – „civil liber- der Wahlen. Obschon das Amt des Präsidenten ties“ werden durch die ersten zehn Verfassungszusätze nicht zur Wahl stand, gilt George W. Bush als der (amendments) garantiert. Diese auch unter den Begriff der Sieger der Zwischenwahlen 2002.2 Diese machten „Bill of Rights“ subsumierten Grundsätze wurden am 15. 12. 1791 en bloc als integraler Bestandteil in die Verfassung auf- deutlich, dass die nationale Sicherheitsbedrohung genommen. Nach dem Bürgerkrieg kamen weitere „amend- ments“ hinzu, wobei das vierzehnte wegen seiner „due pro- 2 Vgl. Josef Braml, Freie Hand für Bush? Auswirkungen der cess“- bzw. „equal protection“-Bestimmungen besonders Kongresswahlen auf das innenpolitische Machtgefüge und signifikant für den Schutz der individuellen Freiheitsrechte die Außenpolitik der USA, Berlin 2002 (SWP-Aktuell 55/02), „jeder Person“ ungeachtet der Staatsbürgerschaft ist. http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=406. Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004 6
dem Präsidenten in seiner Rolle als Oberster Supermacht wich dem Bewusstsein der Verwund- Befehlshaber eine historische Gelegenheit bot, barkeit im „Heimatland“7: Nicht zuletzt wurden auch bei Wahlkämpfen erfolgreich für die Unter- mit den Angriffen auf das World Trade Center stützung seiner Politik gegen den Terrorismus zu und das Pentagon auch Symbole der wirtschaftli- werben. chen und militärischen Macht der Vereinigten Staaten zerstört. Die Wahrnehmung eigener Ver- Für Präsident Bush bleibt es im Wahlkampf 2004 wundbarkeit rief ein immenses Sicherheits-, oberste Priorität, sich seiner Stammwähler zu ver- Schutz- und Handlungsbedürfnis hervor. Entspre- sichern – indem er im Kampf gegen den Terroris- chend forderte der amerikanische Präsident auch mus weiterhin die nötige Härte zeigt und in seiner eine neue, aktive Strategie: „Amerika ist nicht Irakpolitik standhaft bleibt. Tatsächlich hat Bush mehr durch die großen Ozeane geschützt. Nur vielen seiner Landsleute glaubhaft machen kön- energisches Handeln im Ausland und erhöhte nen, dass der Waffengang im Irak nur eine weitere Wachsamkeit im Innern verschaffen uns Sicher- Schlacht im langwierigen Krieg gegen den Terro- heit vor Angriffen.“8 rismus sei.3 Bush assoziierte in seiner kriegsvorbe- reitenden Ansprache vom 28. Januar 2003 einmal mehr die Lage im Irak mit der existenziellen Vertrauen in die Regierung Bedrohung Amerikas durch Massenvernichtungs- waffen in den Händen von Terroristen: „Stellen Obschon der Begriff „government“ über Jahr- Sie sich diese 19 Luftpiraten mit anderen Waffen zehnte in den Köpfen der meisten Amerikaner und anderen Plänen vor – dieses Mal von Saddam negative Vorstellungen hervorgerufen hatte, Hussein bewaffnet. Eine Phiole, ein Kanister, eine wurde die amerikanische Regierung von ihren in dieses Land geschmuggelte Kiste würde ausrei- Bürgern nunmehr merklich positiver wahrgenom- chen, einen Tag des Grauens zu veranstalten, wie men. Eine seit den sechziger Jahren nicht mehr wir ihn noch nie erlebt haben.“4 Nach Auffassung registrierte Vertrauensmarke von 60 Prozent des Präsidenten war diese reale Gefahr nur durch brach mit dem seit damals vorherrschenden präventives Handeln abzuwehren: „Wir werden Muster eines „confidence gap“9. Auch die Ergeb- alles in unserer Macht Stehende tun, um sicherzu- nisse einer von der Brookings Institution in Auf- stellen, dass dieser Tag niemals kommt.“5 Der Prä- trag gegebenen nationalen Umfrage bestätigen sident erteilte der bisherigen Sicherheitsstrategie diesen signifikanten Umschwung in der öffentli- der Eindämmung eine eindeutige Absage: „Ließen chen Meinung. Ein genauer Blick zeigt jedoch, wir zu, dass diese Bedrohung ungehindert und dass dieses überschwengliche Vertrauen in die plötzlich auftritt, kämen alle Taten, alle Worte und eigene Regierung in erster Linie als unmittelbar alle Beschuldigungen zu spät. Dem gesunden emotionale Reaktion auf die Terroranschläge zu Menschenverstand und der Zurückhaltung Sad- interpretieren ist (vgl. Tabelle 1).10 Ausgehend dam Husseins zu vertrauen, ist weder eine Strate- von 29 Prozent im Juli 2001 schlug das Vertrau- gie noch eine Option.“6 ensbarometer kurz nach den Terrorangriffen auf eine Höhe von 57 Prozent aus und pendelte sich Das Ergebnis der Zwischenwahlen 2002, die im Mai 2002 wieder auf 40 Prozent ein. Gemessen Kommunikation und Legitimation des Waffen- an den Umfrageergebnissen vor den Terrorangrif- gangs im Irak 2003 sowie der sicherheitspolitische fen wurde der amerikanischen Regierung jedoch Rahmen bei den Auseinandersetzungen im aktu- immer noch ein deutlich höheres Vertrauen entge- ellen Wahlkampf verdeutlichen, dass die gengebracht. Anschläge vom 11. September die Wahrnehmung und das Selbstverständnis der amerikanischen 7 Vgl. Sydney J. Freedberg, Jr./Siobhan Gorman, National Gesellschaft verändert haben. Das Grundver- Security: Are We Safer?, in: National Journal vom 10. 8. 2002. 8 George W. Bush, Address before a Joint Session of trauen in die eigene Stärke als einzig verbliebene the Congress on the State of the Union, 29. 1. 2002, http:// www.whitehouse.gov/news/releases/2002/01/print/20020129– 3 Vgl. Josef Braml, Amerika vor dem Krieg. Welchen 11.html. Rückhalt genießt die Bush-Administration in der eige- 9 Gemäß den Daten der National Election Studies (NES) nen Bevölkerung?, Berlin 2003 (SWP-Aktuell 8/03), http:// des Center for Political Studies, University of Michigan (bis www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=113. 2000); entsprechende Umfrage für 2001 (5.–6. 10.) durch 4 George W. Bush, Bericht zur Lage der Nation, Gallup/CNN/USA Today, zit. in: AEI Studies in Public Opi- 28. 1. 2003, http://www.whitehouse.gov/news/releases/2003/ nion, American Public Opinion on the War on Terrorism, 01/20030128 –19.html; Übersetzung der amerikanischen Bot- Washington, DC, American Enterprise Institute, 10. 1. 2003, schaft in Berlin, USINFO-B-DE. S. 40. 5 Ebd. 10 Vgl. G. Calvin Mackenzie/Judith Labiner, Opportunity 6 Ebd. Ausführlicher zur Vorbereitung des Irakkrieges Lost: The Rise and Fall of Trust and Confidence in Gov- und zur Präventivkriegdebatte vgl. Peter Rudolf, „Präven- ernment After September 11, Washington, D.C., Center for tivkrieg“ als Ausweg? Die USA und der Irak, Berlin 2002 Public Policy Service at the Brookings Institution, 30. 5. 2002, (SWP-Studie). S. 3. 7 Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004
Tabelle 1: Anstieg und Rückgang des Vertrauens einen immensen Machtgewinn und Vertrauensvor- in die Regierung nach dem 11. September 2001 sprung für den Präsidenten und die Exekutive. (in Prozent) Nicht zuletzt symbolisiert das Präsidentenamt die Vertrauen, dass die Regie- Juli Oktober Mai nationale Einheit, gilt das Weiße Haus als Ort der rung richtig handelt 2001 2001 2002 Orientierung, an dem in Krisenzeiten die Stan- immer 4 15 8 darte hochgehalten wird. meistens 25 42 32 Das schlägt sich auch im Selbstverständnis des nur manchmal 66 39 53 Weißen Hauses nieder, denn, so der damalige nie 4 2 4 Pressesprecher Ari Fleischer: „Aufgrund der Art Quelle: Center for Public Service der Brookings Institu- und Weise, wie unsere Nation konstituiert und tion vom 30. 5. 2002. unsere Verfassung geschrieben ist, liegt die politi- sche Macht in Kriegszeiten hauptsächlich in den Konventionelle Erklärungsmuster unterstellen Händen der Exekutive.“12 Um jeglichen Missver- eine kausale Beziehung zwischen der Einschät- ständnissen vorzubeugen, wurde Justizminister zung der bisher erbrachten Leistung der Regie- John Ashcroft im Kongress noch deutlicher: „Ich rungsvertreter und dem in sie gesetzten Vertrauen. hoffe auch, dass der Kongress die Amtsgewalt des Danach ist Vertrauen Resultat von Erfahrungen. Präsidenten respektiert, den Krieg gegen den Ter- Da jedoch der 11. September den Erfahrungs- rorismus zu führen und unsere Nation und ihre horizont auch der amerikanischen Bevölkerung Bürger mit der ganzen ihm von der Verfassung sprengte, dürfte der enorme Vertrauensvorschuss zugedachten und vom amerikanischen Volk anver- unmittelbar nach den Anschlägen nicht allein auf trauten Machtfülle zu verteidigen.“13 eine Ex-post-Bewertung des Regierungsverhaltens zurückzuführen sein. Vielmehr brachten die Bürger In der Tat legt eine differenziertere Untersuchung damit vermutlich vor allem ihre Erwartung zum offen, wie sehr die Bevölkerung ihrem Präsidenten Ausdruck, dass die Regierung sie schützen werde. nach den Terroranschlägen vertraute (vgl. Tabel- Insofern trägt es zum Verständnis dieses Phäno- le 2). Neben ihm konnte nur seine unmittelbare mens bei, wenn man zwischen spezifischer und dif- Umgebung von Amtsträgern der Exekutive auch fuser Unterstützung differenziert. Erstere gründet nach einem zeitlichen Abstand zu den Anschlägen auf der Zufriedenheit der Bürger mit konkreten diesen immensen Vertrauensbonus noch auf sich Politikinhalten bzw. mit der spezifischen Leistung konzentrieren, während die übrigen Volksvertreter von Regierungsvertretern; Letztere reflektiert eine und Staatsangestellten in der Gunst der Bevölke- allgemeine Einstellung der Bevölkerung gegenüber rung nach einem kurzen Ausschlag wieder ihre den politischen Institutionen.11 Umfrageergebnisse gewohnten Positionen einnahmen. der Washington Post/ABC News legen eine solche Differenzierung ebenfalls nahe. Tabelle 2: Beliebtheit öffentlicher Amtsträger, Juli 2001– Mai 2002 (in Prozent) Sowohl der erste als auch der zweite terroristische Anschlag auf das World Trade Center ließen Steht bzw. stehen in Juli Oktober Mai jeweils das Vertrauen der Bevölkerung in die (besonderer) Gunst – 2001 2001 2002 Schutzmacht ihrer Regierung wachsen. Hatte Very/somewhat favorable schon der erste Anschlag auf das World Trade President Bush 57 83 75 Center vom 26. Februar 1993 einen Vertrauens- Vice President Cheney 57 74 69 schub bei der Bevölkerung bewirkt, trauten nach Presidential Appointees 60 79 69 den Terrorangriffen vom 11. September fast dop- Elected officials 58 71 62 pelt so viele Menschen ihrer Regierung zu, das Federal workers 69 76 69 Land vor weiteren Terrorangriffen wirksam schüt- zen zu können. Quelle: Center for Public Service der Brookings Institu- tion vom 30. 5. 2002. Präsidentielle Regierung Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, wenn In Zeiten äußerster Bedrohung kommt dem Prä- man sich vergegenwärtigt, wie schwach die Legi- sidenten die Rolle des Schutzpatrons zu. Als timation des Präsidenten durch den Wahlakt im Oberster Befehlshaber steht er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der patriotische Samm- 12 Dana Milbank, In War, It‘s Power to the President, in: Washington Post vom 20. 11. 2001, S. A1. lungseffekt des „rally around the flag“ bedeutet 13 Testimony of Attorney General John Ashcroft, Senate Committee on the Judiciary, 6. 12. 2001, http://www.justice.gov/ 11 Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, ag/testimony/2001/1206transcriptsenatejudiciary committee. New York 1965. htm. Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004 8
November 2000 gewesen ist. Obwohl es Bush bei rechte beeinträchtigten. Nur einer von fünf Ameri- den Präsidentschaftswahlen nicht gelang, die kanern sprach sich dagegen aus, dass der Kongress Mehrheit der abgegebenen Wählerstimmen (po- der Exekutive einen Freibrief ausstellt.18 Der kon- pular vote) zu erreichen, und obwohl auch seine servative Republikaner Bob Barr, ehemaliges Mit- Amtsführung in der Bevölkerung auf geteilte und glied des Justizausschusses im Repräsentantenhaus zunehmend negative Beurteilungen stieß, konnte und einer der prominentesten Verfechter der „civil sich der Präsident seit den Anschlägen auf ein gro- liberties“, zeigte auf, wie eng der Handlungsspiel- ßes – wenn auch tendenziell wieder abnehmendes – raum des Kongresses war: „Es ist sehr schwierig, Zutrauen seiner Landsleute stützen. Kongressabgeordnete dazu zu bewegen, etwas zu tun, was für den Laien den Anschein haben Differenziertere Meinungsumfragen lassen darauf könnte, (. . .) als würden die Terroristen nicht rich- schließen, dass der Vertrauensbonus des Präsiden- tig ins Visier genommen. (. . .) Viele der Abgeord- ten überwiegend auf den Erwartungen an seine neten denken, die Leute zu Hause im Wahlkreis institutionelle Rolle als Oberster Befehlshaber im hätten den Eindruck, dass wir nicht die nötige Krieg gegen den Terrorismus beruhte.14 Auch Härte zeigen.“19 In der Tat gaben eben jene „folks 15 Monate nach den Anschlägen vom 11. Septem- back home“ bei den letzten Kongresswahlen ber 2001 sahen drei von vier Amerikanern in 2002 ein deutliches Votum darüber ab, wer sich ihrem Präsidenten einen „starken Führer“15 – eine ihrer Ängste und Sorgen um ihr „Heimatland“ in Charakterisierung, auf die sich der amtierende Washington annehmen und für ihre Sicherheit sor- Präsident auch weiterhin, vor allem im aktuellen gen werde. Wahlkampf 2004, stützen kann.16 In dieser Lage wäre die Legislative schlecht bera- ten, ihr institutionelles Gegengewicht17 in die poli- Schutzbedürfnis der Amerikaner tische Waagschale zu werfen, um eine starke und In den Umfragen direkt nach den Anschlägen vom markante Oppositionsrolle zu spielen. Der Kon- 11. September artikulierte sich das emotionale gress hat in einer solchen Ausnahmesituation nicht Schutzbedürfnis einer terrorisierten amerikani- das politische Gewicht, einen derartig populären schen Öffentlichkeit, das auch in der Nachfrage Präsidenten im Kampf gegen den Terrorismus he- nach größerer Sicherheit – auch um den Preis indi- rauszufordern, würde er doch damit den Garanten vidueller Freiheiten – zum Ausdruck kam. Es ist der nationalen Einheit und Handlungsfähigkeit jedoch anzunehmen, dass sich die Wahrnehmung in Frage stellen. So waren Anfang Oktober 2001 der Bedrohung mit zunehmendem zeitlichen denn auch knapp zwei Drittel (65 Prozent) der Abstand und bei Ausbleiben neuer Anschläge wei- Amerikaner der Meinung, der Kongress müsse ter relativieren und die amerikanische Öffentlich- alles absegnen, was vom Justizminister und den keit wieder eine kritischere Haltung einnehmen Sicherheitsdiensten für notwendig befunden wird. würde, um Terroristen das Handwerk zu legen und die nationale Sicherheit zu gewährleisten, selbst Zunächst hatte die Bush-Administration gegen wenn die gewählten Mittel Privat- und Bürger- Jahresende 2001 mehr oder weniger freie Hand bei der Wahl ihrer Mittel zur Abwehr der 14 Vgl. Umfrage der Public Opinion Strategies, 14. –17. 1. Terrorismusbedrohung: Einer repräsentativen 2002; zit. in: AEI Studies in Public Opinion, American Public Umfrage im Dezember 200120 zufolge waren 29 Opinion on the Terrorist Attacks, Washington, DC, Ame- rican Enterprise Institute, 28. 6. 2002, S. 25. Prozent der Befragten der Ansicht, dass die Maß- 15 Umfrage der Washington Post/ABC News, zit. in: Dana nahmen der Bush-Administration genau richtig Milbank/Claudia Deane, President’s Ratings Still High, Poll seien, 9 Prozent gingen sie nicht weit genug, und Shows. 75 Percent View Bush As „Strong Leader“; 66 Percent nur 12 Prozent der Bevölkerung gingen die Approve His Work Performance, in: Washington Post vom 22. 12. 2002, S. A04. Maßnahmen zu weit – dabei war in der Frage 16 In einer CNN/USA Today/Gallup-Umfrage vom 3. bis 5. deutlich gemacht worden, dass sie auch einen Ein- 9. 2004 bekundeten 60 % der Amerikaner, dass George W. griff in die Privat- und Bürgerrechte bedeuten Bush ein „starker und entschlossener Führer“ sei, während können. Gleichzeitig wurde aber auch erkennbar, nur 30 % seinem Herausforderer, Senator John Kerry, diese Charaktereigenschaft zuschreiben. Vgl. Lydia Saad, Bush daß es sich noch um keine festen Überzeugungen Exceeds or Ties With Kerry on Most Ratings of Presidential Characteristics. Leadership and Honesty are Bush’s Strong 18 Vgl. Fox News/Opinion Dynamics, 3./4. 10. 2001, zit. in: Points, Gallup News Service vom 14. 9. 2004. AEI Studies in Public Opinion (Anm. 14), S. 53. 17 Kurt L. Shell beschreibt die „antagonistische Partner- 19 Jennifer A. Dlouhy/Elizabeth A. Palmer, New Asser- schaft“ zwischen Kongress und Präsident treffend als den tions of Executive Power Anger, Frustrate Some on Hill, in: „Kern des amerikanischen politischen Systems, der es von Congressional Quarterly Weekly (CQW) vom 24. 11. 2001, parlamentarischen europäischen [Systemen] unterscheidet“. S. 2784. Vgl. ders., Kongreß und Präsident, in: Willi Paul Adams/Peter 20 Vgl. CBS News/NYT vom 7. bis 10. 12. 2001, zit. in: AEI Lösche (Hrsg.), Länderbericht USA, Bonn 1998, S. 207. Studies in Public Opinion (Anm. 14), S. 48. 9 Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004
handelte und die Exekutive sich zum Großteil auf 26. Oktober 200124 ermächtigte unter anderem den blindes Vertrauen ihrer Bürger stützen konnte, Justizminister, Ausländer auf unbestimmte Zeit zu bekannten doch 49 Prozent der Befragten, dass sie inhaftieren, wenn deren Abschiebung bis auf weite- nicht genug über diese Materie Bescheid wüssten. res nicht möglich oder absehbar erscheint25 oder wenn diese Ausländer nach seinem Ermessen eine Inzwischen ist in der öffentlichen Meinung bereits Gefahr für die nationale Sicherheit der Vereinigten eine Kehrtwende feststellbar. Während unmittel- Staaten darstellen, die allgemeine Sicherheit oder bar nach den Anschlägen vom 11. September die Einzelne bedrohen.26 Der Justizminister ist also Zahl derer anstieg, die von der Regierung schär- autorisiert festzulegen, ob es sich bei einem Aus- fere Antiterrorgesetze forderten, und analog dazu länder um einen gefährlichen Terroristen handelt, seltener die Sorge vor exzessiven Eingriffen in die der Angriffe plant oder unterstützt. Seine Ermes- Bürgerrechte durch neue Antiterrorgesetze artiku- sensentscheidung kann sich auch auf geheime liert wurde, hatte sich schon neun Monate nach Beweismittel stützen, die dem Inhaftierten bzw. den Anschlägen das Meinungsbild grundlegend dessen Anwälten nicht bekannt gemacht werden verändert: Nur etwa ein Drittel der ameri- müssen. Freilich dürfen diese Beweismittel bei der kanischen Bevölkerung blieb besorgt, dass die Re- späteren Rechtsfindung nicht herangezogen wer- gierung keine schärferen Anti-Terror-Gesetze den; sie bilden dennoch die Legitimationsgrund- verabschiedet, aber knapp die Hälfte der Amerika- lage für einen Freiheitsentzug zum Zwecke der Prä- ner hegte mittlerweile Bedenken, dass diese Maß- vention terroristischer Akte. nahmen schwerwiegende Eingriffe in die persönli- chen Freiheitsrechte darstellen.21 Dieses Beispiel ist bezeichnend für die in den USA zu beobachtende Tendenz, die Rolle des Gesetzes Knapp zwei Jahre nach den Anschlägen vom grundlegend neu zu interpretieren. Justizminister 11. September gehören jene Amerikaner, die for- Ashcroft brachte sie im Dezember 2001 vor dem dern, dass die Regierung ungeachtet der Ein- Justizausschuss des Senats deutlich zum Ausdruck: schränkungen der persönlichen Freiheitsrechte „Herr Vorsitzender, Mitglieder des Ausschusses, alle notwendigen Maßnahmen ergreifen müsse, wir befinden uns im Krieg gegen einen Feind, der um weitere terroristische Anschläge zu verhindern, individuelle Rechte ebenso missbraucht wie Passa- einer Minderheit (29 Prozent) an. Eine Zwei- gierflugzeuge: als Waffen zum Töten von Amerika- drittelmehrheit (67 Prozent) würde mittlerweile nern. Wir haben darauf reagiert, indem wir den Maßnahmen ablehnen, wenn sie grundlegende Auftrag des Justizministeriums neu definiert individuelle Freiheitsrechte beeinträchtigten. Im haben. Unsere Nation und ihre Bürger gegen terro- Januar 2002 hielten sich Befürworter und Gegner ristische Angriffe zu verteidigen ist nunmehr solcher Maßnahmen noch in etwa die Waage (47 unsere erste und vorrangige Aufgabe.“27 Aus Sicht versus 49 Prozent).22 Die Daten stützen die These, der Exekutive hat die Präventionsfunktion Vorrang „dass die Bereitschaft, Freiheit einzuschränken, vor der Rechtsfindungs- und Rechtsstaatsfunktion. um Sicherheit zu gewährleisten, um so höher ist, Diese Uminterpretation des Rechts bleibt nicht je größer die Angst ist. (. . .) Wenn die Panik ohne Wirkung auf das Verhältnis zwischen persön- sich legt, wird der Anteil derjenigen, die eine lichen Freiheitsrechten und Sicherheit. Beschneidung der Rechte unterstützen, weiter abnehmen23.“ Nach wie vor steht aber der Sicher- 24 Vgl. Sektion 236 (A) (a) „Detention of Terrorist Aliens“ heitsaspekt im Zentrum der nationalen Aufmerk- des sogenannten Uniting and Strengthening America by Pro- viding Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct samkeit, was dem Präsidenten – auch gegenüber Terrorism (USA PATRIOT) Act of 2001, PL 107 –56, 115 dem Kongress – die Möglichkeit gibt, eine domi- Stat. 272 (HR 3162). nierende Rolle im Kampf gegen den Terrorismus 25 Zum Beispiel wenn der Betroffene keine Staatsbürger- zu spielen. schaft besitzt, sein Herkunftsland die Aufnahme verweigert oder die Gefahr von Folter besteht. 26 Der Betroffene kann zunächst sieben Tage festgehalten Um die eigene Position auf diesem Schauplatz des werden, ohne dass dafür eine spezifische Anklage vorliegen Kampfes gegen den Terrorismus zu stärken, muss. Wird der Verdächtige dann für ein Vergehen angeklagt, erwirkte die Bush-Administration die Rücken- selbst wenn es nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Terrorismus steht, und existiert nach dem Ermessen des Jus- deckung des Kongresses: Der USA Patriot Act vom tizministers ein Sicherheitsrisiko, kann diese Person für sechs Monate, dann wiederholt für jeweils weitere sechs Monate in 21 Vgl. PSRA/Pew Research Center; zit. in: AEI Studies in Gewahrsam genommen werden – solange der Justizminister Public Opinion, America After 9/11, Washington, DC: Ame- befindet, dass diese Person eine Bedrohung für die nationale rican Enterprise Institute, 17. 9. 2004, S. 169. Sicherheit darstellt. 22 Vgl. Gallup/CNN/USA Today, 25. –27. 1. 2002 bzw. 27 Testimony of Attorney General John Ashcroft, Senate 25. –26. 8. 2003, zit. in: ebd., S. 167. Committee on the Judiciary, 6. 12. 2001, http://www. 23 Amitai Etzioni, How Democracy Is Preserved, in: Chri- justice.gov/ag/testimony/2001/1206transcriptsenatejudiciary stian Science Monitor vom 26. 8. 2002. committee.htm. Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004 10
Hingegen sehen deren Befürworter die außeror- Spannungsverhältnis zwischen dentlichen Machtbefugnisse der Exekutive durch Freiheitsrechten und Sicherheit die alles überragende Schutzrolle des Obersten Befehlshabers legitimiert. Aus dieser Sicht er- scheint es vertretbar, dass in Kriegszeiten das zivile Das Spannungsverhältnis zwischen persönlichen Recht, das stärker den Anspruch auf individuelle Freiheitsrechten und Sicherheit betrifft neben Freiheitsrechte betont, zum Kriegsrecht mutiert, zahlreichen Problembereichen des USA Patriot in dem der kollektive Sicherheitsaspekt alle ande- Act,28 die überwiegend auf die innenpolitische ren überragt. In den verschiedenen Problemberei- Debatte beschränkt bleiben, auch solche von inter- chen lässt sich entsprechend ein gemeinsamer nationaler Brisanz. Dabei geht es in erster Linie Nenner ausmachen: Es geht weniger um die straf- um den Status der gefangenen Taliban- und Al- rechtliche Verantwortung einzelner Täter und Qaida-Kämpfer, die Einrichtung von Militärtri- deren Verfolgung wegen begangener Taten, son- bunalen, die Festnahme und „Vorbeugehaft“ ver- dern vielmehr um die allgemeine Verhinderung dächtiger Ausländer sowie die Verschärfung der künftiger Attentate. Denn laut Justizminister Ash- Einreisebestimmungen und die allgemeine Stigma- croft war die „Kultur der Hemmung“ (culture of tisierung ausländischer Studenten muslimischer inhibition) vor dem 11. September „so stark auf Herkunft.29 die Strafverfolgung begangener Straftaten fokus- siert, dass sie die Prävention künftiger Terroran- schläge einschränkte“30. An den einzelnen Bereichen, in denen die Proble- matik der Einschränkung persönlicher Freiheits- Die „Ashcroft-Doktrin“ der Prävention,31 die sich rechte vor allem auch internationale Aufmerk- solcher Hemmungen entledigt hat, äußert sich samkeit erregte, lässt sich erkennen, dass die nunmehr darin, dass Gruppen von potenziellen Verantwortlichen zwischen zwei Klassen von Gefahrenträgern, die gewisse Merkmale aufwei- Rechtsträgern unterscheiden: zwischen amerikani- sen, einfach nicht ins Land gelassen, abgeschoben, schen Bürgern und „Nicht-Amerikanern“. Unge- „von der Straße entfernt“ (remove from the street) achtet der verfassungsrechtlichen „due process“- oder in „Vorbeugehaft“ (preventive detention) bzw. „equal protection“-Bestimmungen, in denen genommen werden. Mögliche Informanten können vom Schutz der individuellen Freiheitsrechte zudem als so genannte wichtige Zeugen (material „jeder Person“ (any person) die Rede ist, genießen witnesses) festgesetzt werden. Auch die Militärtri- die sich in den Vereinigten Staaten aufhaltenden bunale sind als Waffen im Kampf gegen den Terro- Ausländer nach Auffassung der Bush-Administra- rismus vorgesehen: „Die Order zur Errichtung von tion grundsätzlich nicht den gleichen Rechtsschutz Militärtribunalen (The Military Order) fügt dem wie die Staatsbürger der Vereinigten Staaten. präsidentiellen Köcher weitere Pfeile hinzu“ – so Wenn sie als mutmaßliche Terroristen eingestuft die Erläuterung der Administration gegenüber werden, haben sie zudem auch noch diesen „min- dem Senat durch Pierre-Richard Prosper, Ambas- deren Anspruch“ verwirkt. Sie werden gar als sador-at-Large for War Crimes Issues, U.S. Outlaws behandelt, wenn sie sich nicht auf dem Department of State.32 souveränen Staatsgebiet der Vereinigten Staaten Die Grenzen zwischen ziviler Strafverfolgung und befinden – wie die gefangenen Taliban- und Al- Prävention einerseits sowie militärischer Opera- Qaida-Kämpfer auf dem US-Marinestützpunkt in tion und Kriegsrecht andererseits verwischen sich Guantánamo Bay, Kuba. Die Entscheidung, wer zusehends. Insofern hat der sich abzeichnende welche Rechte „verdient“, wurde a priori von der Paradigmenwechsel in der Interpretation der staat- Exekutive getroffen. Die Bush-Administration lichen Schutzfunktion nicht nur Auswirkungen auf versuchte dabei auch, sich der Kontrolle juristi- das Verständnis demokratischer Rechtsstaatlich- scher und parlamentarischer Instanzen zu ent- keit, sondern auch auf das Funktionieren des poli- ziehen. Nicht wenige Beobachter sehen in dieser Praxis aus verfassungsrechtlicher Warte ein gefähr- 30 Justizminister Ashcrofts Ansprache an die U.S. Attor- liches Wagnis, bei dem die im politischen System neys Conference in New York vom 1. 10. 2002; Exzerpte in: der Vereinigten Staaten fest verankerten Prin- Siobhan Gorman, There Are No Second Chances, in: Natio- zipien der „checks and balances“ ausgehebelt zu nal Journal vom 21. 12. 2002. 31 Vgl. ders., The Ashcroft Doctrine, in: National Journal werden drohen. vom 21. 12. 2002. 32 Pierre-Richard Prosper, Ambassador-at-Large for War 28 Vgl. Elizabeth Palmer/Keith Perine, Provisions of the Crimes Issues, U.S. Department of State, Testimony before Anti-Terrorism Bill, in: CQW vom 2. 2. 2002, S. 329 –335. the United States Senate Committee on the Judiciary, 29 Vgl. Josef Braml, USA: Zwischen Rechtsschutz und DOJ Oversight: Preserving Our Freedoms while Defending Staatsschutz. Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, against Terrorism, 4. 12. 2001, http://judiciary.senate.gov/ Berlin 2003 (SWP-Studie S5), S. 16 –24. print_testimony.cfm?id=129&wit_id=77. 11 Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004
tischen Systems sich gegenseitig kontrollierender versus Rumsfeld) und zu den Rechtsansprüchen Gewalten, welches den Schutz der persönlichen von Nicht-Amerikanern auf dem US-Marinestütz- Freiheitsrechte gewährleistet. punkt in Guantánamo Bay, Kuba (Rasul et al. ver- sus Bush). Mit diesen Urteilen vom 28. Juni 2004 widersprach der Supreme Court der bisherigen Praxis der Exekutive, wonach diese eigenmächtig Gewaltenkontrolle zum Schutz und a priori darüber urteilte, wer welche Rechte des Einzelnen „verdient“, und die Möglichkeit einer Ex-post- Überprüfung durch eine juristische Kontroll- instanz verwehrte. Der Supreme Court verdeut- Persönliche Freiheitsrechte sollen vor allem durch lichte, dass die richterliche Kontrolle exekutiver das Prinzip der „checks and balances“, der konkur- Entscheidungen ein wesentliches Element des rierenden, sich gegenseitig kontrollierenden politi- amerikanischen Systems der „checks and balan- schen Gewalten der Exekutive, Legislative und ces“ ist. Bei der Urteilsfindung ging es um nicht Judikative gesichert werden.33 In der amerika- weniger als das Habeas-corpus-Prinzip, das Recht nischen Geschichte gab es jedoch immer wieder jedes Häftlings in demokratisch verfassten Staaten, Phasen äußerer Bedrohung, in denen sich die die Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit seiner Machtbalance dieser konkurrierenden „branches Festnahme vor Gericht anzufechten. Die Richter of government“ zugunsten der Exekutivgewalt ver- nahmen nur zur Frage der Gerichtsbarkeit Stel- schoben hat. In einer eingehenden Analyse dieses lung,37 nicht aber zu weiteren Verfahrensweisen. Phänomens mit dem Titel „All the Laws but One: Die Obersten Richter behaupteten damit zwar die Civil Liberties in Wartime“34 warnte William eigene Raison d’être und ihre Machtbefugnisse. Rehnquist, Chief Justice des Supreme Court, vor Doch sie gingen nicht soweit, der Exekutive vorzu- der Gefahr, dass der Oberste Befehlshaber in schreiben, wie diese rechtsstaatlichen Prinzipien Kriegszeiten durch zusätzliche Machtbefugnisse auf die aktuellen Fälle angewendet werden sollen. dazu verleitet ist, den konstitutionellen Rahmen Der Exekutive bleibt genügend (semantischer) auszureizen.35 Spielraum, der es ihr erlaubt, im Kampf gegen den Terrorismus die Entscheidungen des Obersten Gerichtes in ihrem, exekutiven Sinne zu operatio- Judikative nalisieren. Schließlich bestätigte der Supreme Nach seinem Blick in die Geschichte hat der Chief Court den von der Bush-Administration etablier- Justice jedoch kein allzu großes Vertrauen, dass ten kriegsrechtlichen Rahmen, der ihr weiterhin seine Zunft der Exekutive die zu wahrenden Gren- Handlungsspielraum „im Krieg“ gegen den Terro- zen unmittelbar aufzeigt: „Wenn die (höchstrich- rismus gewährt. „Die oberste Pflicht des Präsiden- terliche) Entscheidung getroffen wird, nachdem ten ist es, die amerikanische Nation zu verteidigen, die Kriegshandlungen beendet sind, ist es wahr- und wir begrüßen es, dass das Oberste Gericht scheinlicher, dass die persönlichen Freiheitsrechte die Befugnisse des Präsidenten bestätigt hat, favorisiert werden, als wenn sie getroffen wird, feindliche Kombattanten, inklusive amerikani- während der Krieg noch andauert.“36 Obschon scher Staatsbürger, festzuhalten, solange der Kon- vereinzelt zivilgesellschaftliche „advocacy groups“ flikt andauert“, erklärte Claire Buchan, Sprecherin bereits einige Teilerfolge erzielt und einschlägige des Weißen Hauses, unmittelbar nach dem Urteils- Urteile erwirkt haben, wurden diese in der Regel spruch.38 Die Reaktion des Justizministeriums ließ nach Gegenhalten der Exekutive von höheren auch nicht lange auf sich warten. Sprecher Mark Instanzen wieder zurückgewiesen oder für nicht Corallo zeigte sich ebenso erfreut, dass das Ge- rechtskräftig erklärt. richt die Autorität des Präsidenten als Oberster Befehlshaber der Streitkräfte bestätigt habe, so Mittlerweile sprach jedoch das Oberste Gericht ein „Machtwort“ zum rechtlichen Status des in Afghanistan festgenommenen amerikanischen 37 Die Bush-Administration vertrat die Auffassung, dass der – wohl bewusst gewählte – Inhaftierungsort auf dem Staatsbürgers Yaser Esam Hamdi (Hamdi et al. US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay, Kuba, außerhalb des souveränen Staatsgebietes der Vereinigten Staaten von 33 Richard Neustadt beschreibt das amerikanische System Amerika liege. Entsprechend könnten dort internierte aus- treffend als „separate authorities sharing power“. Vgl. ders., ländische Staatsangehörige keinen Anspruch auf einen Pro- Presidential Power and the Modern Presidents. The Politics zess vor einem amerikanischen Gericht geltend machen. of Leadership from Roosevelt to Reagan, New York– To- Doch nach Auffassung der Richtermehrheit des Supreme ronto 1990. Court kontrollieren die USA de facto das Gebiet auf Guan- 34 Vgl. William H. Rehnquist, All the Laws but One: Civil tánamo, deshalb sind auch amerikanische Gerichte zuständig. Liberties in Wartime, New York–Toronto 1998. 38 Zit. in: Todd Purdum, In Classic Check and Balance, 35 Vgl. ebd., S. 224. Court Shows Bush It Also Has Wartime Powers, in: New York 36 Ebd. Times vom 29. 6. 2004, S. 1. Aus Politik und Zeitgeschichte B 45 / 2004 12
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