AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE - 03/2021 Franz Prante, Alessandro Bramucci, Achim Truger
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D I S K U R S 03/ 2021 Franz Prante, Alessandro Bramucci, Achim Truger AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE
WISO DISKURS 03/ 2021 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditions- reichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demo- kratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik verknüpft Analyse und Diskussion an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit, um Antworten auf aktuelle und grundsätzliche Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu geben. Wir bieten wirtschafts- und sozialpolitische Analysen und entwickeln Konzepte, die in einem von uns organisierten Dialog zwischen Wissenschaft, Politik, Praxis und Öffentlichkeit vermittelt werden. WISO Diskurs WISO Diskurse sind ausführlichere Expertisen und Studien, die Themen und politische Fragestellungen wissenschaftlich durchleuchten, fundierte politische Handlungs- empfehlungen enthalten und einen Beitrag zur wissenschaftlich basierten Politik- beratung leisten. Über die Autoren Franz Prante ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen. Er promoviert an der Université Sorbonne Paris Nord. Alessandro Bramucci ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und hat an der Universität Urbino promoviert. Achim Truger ist Professor für Sozioökonomie mit Schwerpunkt Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen, Mitglied des Sachverstän- digenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sowie Senior Research Fellow am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Markus Schreyer, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik, Leiter der Arbeitsbe- reiche Allgemeine Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Europäische und globale Wirtschafts- und Sozialpolitik.
03/ 2021 WISO DISKURS Franz Prante, Alessandro Bramucci, Achim Truger AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE 2 ZUSAMMENFASSUNG 3 1 EINLEITUNG 4 2 ITALIENS STAATLICHE GESUNDHEITSVERSORGUNG IM INTERNATIONALEN VERGLEICH 7 3 JAHRZEHNTELANGE BUDGETBESCHRÄNKUNGEN UND MARKTLIBERALE REFORMEN IM ITALIENISCHEN GESUNDHEITSWESEN 9 4 AUSTERITÄT UND GESUNDHEITSAUSGABEN IN ITALIEN 15 5 DIE ENTWICKLUNG DER ITALIENISCHEN KRANKENHAUS- UND BETTENKAPAZITÄT – OPFER DER SPARMASSNAHMEN? 21 6 FAZIT: ITALIENS GESUNDHEITSSYSTEM LEIDET UNTER JAHRZEHNTEN DER SPARPOLITIK 24 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 24 Abkürzungsverzeichnis 25 Literaturverzeichnis
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 2 ZUSAMMENFASSUNG Die anhaltende Sars-CoV-2-Pandemie stellt eine beispiellose Ob die gegenwärtige Gesundheits- und Wirtschaftskrise Belastung globaler Gesundheitssysteme dar. In Italien war langfristig zu einer Investitionsoffensive im Gesundheitsbe- die Lage bereits zu Beginn der Pandemie äußerst dramatisch reich oder zu weiteren Kürzungen bei den Gesundheitsres- – in schwer betroffenen Regionen war das Gesundheitssys- sourcen führt, bleibt abzuwarten. Eine erneute Phase der tem den Fallzahlen schwerer Krankheitsverläufe nicht mehr Sparpolitik, die durch dysfunktionale europäische Fiskalregeln gewachsen. Angesichts der lang anhaltenden Austeritätspo- in Zukunft wieder eingeleitet werden könnte, wäre in dieser litik in Italien stellt sich die Frage, ob diese die Kapazitäten Hinsicht ein besonders besorgniserregendes Szenario. des Gesundheitssystems geschwächt und damit zu einem schwereren Verlauf der Pandemie in Italien beigetragen hat. Wir zeigen in diesem Beitrag auf, dass die unter anderem zur Erfüllung der europäischen Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstumspakts betriebene Austeritätspolitik das italienische Gesundheitswesen über Jahrzehnte belastet hat. Während die allgemeinen Sparmaßnahmen nach der F inanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 und im Gefolge der Eurokrise in Italien besonders drastisch ausfielen, geht die Sparpolitik jedoch bereits bis in die frühen 1990er Jahre zu- rück. Italien verzeichnet seit 1992 durchweg gesamtstaatli- che Primärüberschüsse. Die Staatseinnahmen waren demnach über fast drei Jahrzehnte größer als die Ausgaben für die B ereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Dies hat auch zu drastischen Kürzungen bei den Gesundheits ausgaben geführt. Gleichzeitig wurden Reformversuche un- ternommen, um das staatlich organisierte Gesundheits- system stärker marktwirtschaftlich auszurichten. Auch wenn dieses Ziel insgesamt nicht erreicht wurde, haben diese Versuche doch bedeutende Transformationsprozesse aus- gelöst. Die Spar- und Reformpolitik im Gesundheitsbereich hat insbesondere die Akutversorgung massiv reduziert und einen substanziellen Ausbau der Notversorgung erschwert. Italien wies zu Anfang der 1990er Jahre eine ähnlich hohe Kranken- haus- und Bettenversorgung wie Deutschland auf. Doch in- nerhalb von drei Jahrzehnten wurde diese Kapazität in Italien viel stärker als in anderen Ländern reduziert und fiel schließ- lich unter den EU-Durchschnitt. Budgetrestriktionen und markt- liberale Reformen haben auch die regionale Fragmentierung des Gesundheitssystems weiter verschärft. Sparmaßnahmen und markliberale Reformen haben somit das in der italieni- schen Verfassung verankerte Prinzip der Universalität der Ge- sundheitsversorgung gefährdet.
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 3 1 EINLEITUNG Die Sars-CoV-2-Pandemie und die dadurch ausgelöste Lungen- Im folgenden zweiten Abschnitt wollen wir zunächst die aktu- k rankheit Covid-19 haben einige europäische und internatio- ellen Gesundheitsausgaben und die Qualität des italieni- nale Gesundheitssysteme in beispielloser Weise überfordert. schen Systems im europäischen Vergleich einordnen. Dabei Besonders schwerw iegend war die Lage bereits zu Anfang stellt sich die Frage, wie gut die weitgehend staatliche Ver- der Pandemie in Italien – in den am stärksten betroffenen sorgung im Ländervergleich abschneidet und ob sie hinsicht- Regionen war das italienische Gesundheitssystem nicht in lich der Kosten deutlich unter oder über anderen Ländern der Lage, die Versorgung aller Covid-19-Patient_innen zu liegt. Auf diese Querschnittsbetrachtung folgt im dritten Ab- gewährleisten. Bevölkerung und Wirtschaft litten im interna- schnitt eine kurze Beschreibung der jahrelangen Spar- und tionalen Vergleich schon früh unter strengen Maßnahmen Reformtendenzen im italienischen Gesundheitssystem. Im gegen die Ausbreitung des Virus. Die sozialen und wirtschaft- vierten Abschnitt stellen wir den Bezug zur allgemeinen Aus- lichen Schäden sind immens, und eine schnelle wirtschaftli- teritätspolitik seit Anfang der 1990er Jahre her. Hier gehen che Erholung ist trotz zwischenzeitlicher Lockerungen kaum wir unter anderem auf den zeitlichen Vergleich der Entwick- absehbar. Neben dem zeitlichen Ablauf und den Zufällen der lung der Gesundheitsausgaben mit anderen europäischen Infektionsausbreitung, die Italien früh zu einem Zentrum der Ländern ein. Im fünften Abschnitt zeigen wir die Entwicklung Pandemie machten, stellt sichim Rückblick auf eine Phase der Versorgungskapazitäten über den gleichen Zeitraum und jahrelanger Austerität auch die F rage, ob diese Kürzungspo- gehen zum Ende kurz auf regionale Unterschiede ein. Der litik eine Mitverantwortung für die Überforderung des italie- letzte Abschnitt zieht ein vorläufiges Fazit bezüglich der Frage, nischen Gesundheitssystems trägt. ob die langfristige Sparpolitik negative Konsequenzen für das Die Auswirkungen der Sparpolitik auf die Gesundheits- italienische Gesundheitssystem mit sich brachte.1 versorgung sind aber auch über die Corona-Krise hinaus von Interesse. Insbesondere in primär öffentlich organisierten und finanzierten Gesundheitssystemen, wie in Italien, ist davon auszugehen, dass eine allgemeine Kürzungspolitik zulasten der Gesundheitsversorgung geht. In Italien ist dies auch vor dem Hintergrund regionaler und sozioökonomischer Un- gleichheit von Bedeutung. Mögliche negative Effekte von Austeritätsmaßnahmen auf die Gesundheitsversorgung wer- den jedoch in der ökonomischen Debatte noch zu selten behandelt. Obwohl die Kürzungsmaßnahmen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 und in der Folge der Eurokrise von 2010ff. in Italien sehr drastisch ausfielen, reicht Italiens Kürzungspolitik zeitlich deutlich weiter zurück verglichen mit vielen anderen südeuropäischen Ländern. Zudem ging die lang anhaltende Sparpolitik in Italien teilweise mit markt liberalen Reformbemühungen im öffentlichen Gesundheits- system einher. In diesem Beitrag wollen wir den Zusammen- hang von Gesundheitsversorgung und Austerität im Falle 1 Als Reaktion auf die Pandemie wurden in vielen Ländern Maßnahmen Italiens daher etwas genauer beleuchten. Dazu widmen wir zur Stärkung des Gesundheitssystems getroffen. Wir beschränken uns uns einer beschreibenden Darstellung der Ausgaben- und in unserer Analyse der Daten daher auf die Jahrzehnte vor der Corona- Versorgungssituation im italienischen Gesundheitssystem. Pandemie.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 4 2 ITALIENS STAATLICHE GESUNDHEITS VERSORGUNG IM INTERNATIONALEN VERGLEICH STAATLICHE VERSORGUNG IST ten Ländern gehört (0,2 Prozent), liegen die Ausgaben für e ige- KOSTENGÜNSTIG … ne Zuzahlungen der privaten Haushalte, sogenannten Out- of-Pocket-Zahlungen (OOP), in Italien bei 2,1 Prozent und d amit Im Vergleich mit anderen Ländern der Eurozone sind die Ge- auf dem gleichen Niveau wie in Spanien und über dem Euro- sundheitsausgaben in Italien relativ niedrig – insbesondere raum-Durchschnitt (1,7 Prozent). Während die OOP-Werte für im direkten Vergleich mit Deutschland und Frankreich. Unter Griechenland (2,8 Prozent) und Portugal (2,5 Prozent) noch den acht bevölkerungsreichsten Ländern der Eurozone über dem Wert für Italien liegen, weisen Deutschland (1,4 Pro- (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande, Belgien, zent), Frankreich (1,1 Prozent) und die Niederlande (1,1 Pro- Griechenland, Portugal) gehört Italien zu den vier Ländern zent) Werte deutlich unter dem Euroraum-Durchschnitt aus. (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien), die deutlich weniger Auch die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben sind in Italien für die Gesundheitsversorgung ausgeben als der Eurozonen- vergleichsweise niedrig. In jeweiligen Preisen gerechnet be- Durchschnitt. Die gesamten Gesundheitsausgaben der an- tragen die gesamten Gesundheitsausgaben in Italien pro deren vier Länder (Belgien, Deutschland, Frankreich, Nieder- Kopf ca. 2.500 Euro und damit etwa 2.000 Euro weniger als lande) liegen dagegen deutlich über dem Eurozonen-Durch- in Deutschland. Vor allem die staatlichen bzw. durch Pflicht- schnitt (vgl. Abbildung 1). Im Jahr 2017 beliefen sich die versicherung finanzierten Gesundheitsausgaben pro Kopf öffentlichen und privaten Gesamtausgaben für die Gesund- sind mit 1.864 Euro im Vergleich zu Deutschland (3.762 Euro) heitsversorgung in Italien auf 8,8 Prozent des Bruttoinlands- extrem niedrig (etwa die Hälfte). Im Jahr 2017 mussten die produkts (BIP). 2 Im gleichen Jahr betrug das Verhältnis der italienischen privaten Haushalte bei den OOPs pro Kopf etwa gesamten Gesundheitsausgaben zum BIP in Deutschland 592 Euro ausgeben, d. h. mehr als in den anderen betrach 11,2 Prozent und in Frankreich 11,3 Prozent. Von den hier be- teten Ländern (außer Belgien) und erheblich mehr als in trachteten Ländern wies nur Griechenland einen niedrigeren Frankreich (354 Euro), wo der OOP-Beitrag zu den Gesund- Wert der gesamten Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum heitsausgaben im Vergleich zu anderen Ländern besonders BIP auf (8,0 Prozent). 3 niedrig ist. Im Jahr 2017 betrugen die durch öffentliche und durch Pflichtversicherungen finanzierten Ausgaben für das Gesund- heitswesen in Italien dabei 6,5 Prozent des BIP. 4 Dies ist zwar … UND LIEFERT IM INTERNATIONALEN höher als in Griechenland (4,9 Prozent), Spanien (6,3 Prozent) VERGLEICH HERVORRAGENDE ALLGEMEINE und Portugal (5,9 Prozent), jedoch niedriger als in Euroländern GESUNDHEITSRESULTATE vergleichbarer Größe wie Deutschland und Frankreich, wo der Anteil am BIP 9,5 Prozent bzw. 9,4 Prozent entsprach. Das in Italien weitgehend staatlich bereitgestellte Gesund- Während der Wert der freiwilligen Gesundheitsausgaben in heitssystem scheint im europäischen Vergleich kostengünstig Prozent des BIP zu den niedrigsten unter den hier betrachte- zu sein. Dies deckt sich mit empirischen Befunden, die häufig eine größere oder gleiche Kosteneffizienz staatlicher Kranken 2 Dieser Absatz sowie Abbildung 1 beziehen sich auf das Jahr 2017 als hausversorgung gegenüber einer privat organisierten und letztes Jahr mit vollständiger Verfügbarkeit von Daten zu den Gesundheits- profitorientierten Gesundheitsversorgung feststellen (Tynk- ausgaben in der OECD-Gesundheitsstatistik (2019) für die von uns betrach- kynen/Vrangbæk 2018). Neben der unten zu erörternden teten Länder. Frage, wie sich Austeritätsmaßnahmen in Italien auf die Ge- 3 Auch der Eurozonen-Durchschnitt liegt bei den Gesamtausgaben unter sundheitsausgaben ausgewirkt haben, ist zunächst relevant, Italien. 4 Es sei darauf hingewiesen, dass die OECD die Staatsausgaben und die wie es angesichts der vergleichsweise geringen Ausgaben durch die Pflichtversicherung finanzierten Gesundheitsausgaben in die um den allgemeinen Gesundheitszustand der italienischen gleiche Kategorie einordnet. Bevölkerung bestellt ist.
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 5 Abbildung 1 Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in Euro (linke Achse) und Gesamtausgaben in % des BIP (rechte Achse), aufgeschlüsselt nach Finanzierungsarten, ausgewählte Länder und Eurozonen-Durchschnitt, 2017 5.000 12 4.500 10 4.000 3.500 8 3.000 Prozent Euro 2.500 6 2.000 1.500 4 1.000 2 500 0 0 Griechen- Portugal Spanien Italien Eurozone Frankreich Belgien Nieder- Deutsch- land lande land freiwillige Versicherungen (Euro, linke Achse) Out-of-Pocket-Zahlungen (Euro, linke Achse) staatliche und pflichtversicherte Ausgaben (Euro, linke Achse) staatliche und pflichtversicherte Ausgaben (Prozent, rechte Achse) Out-of-Pocket-Zahlungen (Prozent, rechte Achse) freiwillige Versicherungen (Prozent, rechte Achse) Gesamtausgaben (Prozent, rechte Achse) Quelle: OECD; Berechnungen der Autoren. Anmerkungen: Eurozonen-Durchschnitt (Mitglieder Stand 2020) ohne Malta und Zypern, für die keine Daten vorliegen. Diesbezüglich zeigt eine jüngere Gesundheitsstudie auf, Auch beim Verhältnis der Lebenserwartung zu den Gesund- dass die wichtigsten Gesundheitsindikatoren Italiens zu den heitsausgaben erreicht Italien im Jahr 2018 den zweiten Platz besten in Europa und der Welt gehören (Monasta et al. unter den ökonomisch gewichtigsten Ländern (nach Spanien).6 2019). Diese Studie hebt Italien als Beispiel für die guten Er- Im Bloomberg-Health-Index von 2018 erreicht Italien den gebnisse hervor, die durch eine Mischung aus einem relativ zweiten Platz beim Gesundheitsstand der Bevölkerung (Miller/ gesunden Lebensstil und einem universellen Gesundheitssys- Lu 2019). Die niedrigen Ausgaben und die guten Gesund- tem erzielt werden können. Das Ende der 1970er Jahre ein- heitsergebnisse der italienischen Bevölkerung haben dazu geführte universelle und öffentlich finanzierte italienische Ge- geführt, dass das italienische Gesundheitssystem oft als sehr sundheitssystem genießt bereits seit Jahrzehnten ein hohes effizient bewertet wird. In ihrem Länderbericht erkennt auch internationales Ansehen. Im Weltgesundheitsbericht des die Europäische Kommission an, dass Zugang und Qualität der Jahres 2000 bewertete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheitsdienste in Italien trotz unterdurchschnittlicher das italienische Gesundheitssystem hinsichtlich der Gesund- Ausgaben im EU-Vergleich insgesamt gut sind, wenngleich in heitsversorgung auf Grundlage von Daten des Jahres 1997 Italien deutliche regionale Unterschiede bestehen (Europäische als das zweitbeste der Welt nach Frankreich (WHO 2000: Kommission 2020: 44). 200; Tandon et al. 2000). Im Jahr 2010 wurde die Gesamt- Laut Eurostat-Daten betrug im Jahr 2018 die Lebenser- leistung des italienischen Gesundheitssystems von der WHO wartung Neugeborener in Italien 83,4 Jahre, womit Italien erneut als die zweitbeste der Welt bewertet (WHO 2010), und nach Spanien (83,5) den zweithöchsten Wert in der EU erreicht Italien erreicht den neunten Platz im Index Healthcare Access und damit mehr als zwei Jahre über dem EU-Durchschnitt and Quality (HAQ) der Global Burden of Diseases, Injuries, (81,0) liegt. Bei der Lebenserwartung bestehen in Italien je- and Risk Factors Study (GBD) von 2016 (Fullman et al. 2018). 5 doch geschlechtsspezifische, regionale und sozioökonomische Unterschiede. Frauen leben im Durchschnitt 4,4 Jahre länger als Männer. Die Lebenserwartung ist in den wirtschaftlich 5 Fullman et al. (2018) versuchen, den Zugang zu und die Qualität der stärkeren nördlichen Regionen mit höherem Lebensstandard Gesundheitsversorgung in einem Land mittels der Zahl der Todesfälle bei (gut drei Jahre) und für Personen mit höherem Bildungsniveau einer Reihe von Krankheiten zu erfassen, die bei einer wirksamen Behand- lung nicht tödlich verlaufen sollten. Italien liegt in dieser Rangliste auf dem neunten Platz von 195 Ländern und ist nach den Niederlanden, 6 Siehe Bloomberg Health Care Efficiency Ranking (Miller/Lu 2018). Nur Luxemburg, Finnland und Schweden auf dem fünften Rang innerhalb der die Sonderverwaltungszone Hongkong und der Stadtstaat Singapur liegen Europäischen Union. vor Spanien und Italien.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 6 (4,5 Jahre) höher (OECD 2019). Zwar ist die Lebenserwartung kapazitäten im Vergleich zu den Spar- und Reformbemühun- in Italien zwischen 2000 und 2018 um 3,5 Jahre gestiegen. gen hilfreich. Die anhaltende Wirtschaftskrise (vor Ausbruch von Sars-CoV-2) In den nächsten Abschnitten wird deutlich, dass die pan- scheint sich jedoch auf die Entwicklung der Lebenserwartung demiebedingte Überlastung des italienischen Gesundheits- ausgewirkt zu haben. Zwischen 2011 und 2012 gab es nach systems zu einem gewissen Grad auch das Ergebnis eines Eurostat-Angaben keine Verbesserung und zwischen 2014 Abbaus der Gesundheitsressourcen war. Dieser Ressourcen und 2015 sogar eine Verschlechterung um 0,5 Jahre sowie abbau wurde während dreier Jahrzehnte italienischer öffent zwischen 2017 und 2018 um 0,3 Jahre. licher Haushaltseinschränkungen vorgenommen. Budgetres- triktionen in Verbindung mit marktorientierten Reformen stellen somit die Qualität und Zugänglichkeit des italienischen … AUSTERITÄT STELLT JEDOCH EINE Gesundheitssystems infrage und drohen, das Grundprinzip GEFAHR DAR der Universalität zu untergraben. Die im internationalen Vergleich guten allgemeinen Gesund- heitsresultate bei vergleichsweise geringen Kosten lassen jedoch nicht einfach den Schluss zu, dass eine Sparpolitik in Italien keine negativen Effekte auf die Versorgung hatte. Zum einen weisen Monasta et al. (2019) darauf hin, dass die öffentlichen Gesundheitsausgaben zuletzt zurückgegangen sind, während die OOP-Ausgaben gestiegen sind (siehe dazu Abschnitt 4 unten). Eine Verlagerung größerer Kosten von der Öffentlichkeit auf einzelne Familien könnte demnach zu- künftig ein Problem darstellen. So gibt es auch Warnungen davor, dass die Auswirkungen der Maßnahmen nach 2008 auf das italienische Gesundheitssystem bei Weitem noch nicht abgeschlossen sind und dass die Gefahr besteht, dass sie seinen universalistischen Charakter und seine Fähigkeit zu einer gerechten und solidarischen Versorgung, insbeson- dere auf regionaler Ebene, untergraben könnten (Neri 2019). Zum anderen könnten die vergleichsweise gute Versor- gung und die geringen Kosten auch ein strukturelles Resultat eines staatlich organisierten und finanzierten Gesundheits- systems sein, in dem gegenüber stärker privat organisierten Systemen (mit höherem Profitdruck bei möglicherweise stark mono- bzw. oligopolistischen Strukturen) eine kostengünsti- gere und mehr an tatsächlichen Gesundheitsresultaten ori- entierte Bereitstellung gewährleistet werden kann. Eine uni- verselle und weitgehend kostenlose Gesundheitsversorgung trägt zum Beispiel aus Sicht der Europäischen Kommission zu den guten Gesundheitsresultaten in Italien bei (Europäi- sche Kommission 2020: 44). Nichtsdestotrotz kann ein sol- ches System durch Sparpolitik natürlich unter Druck gesetzt werden. Darüber hinaus zeigt die Corona-Krise, dass gewisse Kapa- zitäten in der Gesundheitsversorgung nur in seltenen Notfällen benötigt werden. Eine durch Budgetplanungen getriebene jahrelange Reduktion von Akut- und Notfallversorgungskapa- zitäten wirkt sich dann nicht unbedingt direkt und unter Um- ständen nur verzögert auf allgemeine Indikatoren wie die Lebenserwartung aus. Die Indikatoren zum allgemeinen Ge- sundheitszustand und zur Effizienz des italienischen Gesund- heitssystems berücksichtigen diesbezüglich nicht, dass im Laufe der Jahre zahlreiche Ressourcen insbesondere in Be- zug auf Gesundheitseinrichtungen und Personal aus dem ö ffentlichen Gesundheitssystem abgezogen wurden. Der Mangel an solchen Ressourcen wurde mit dem Ausbruch der Covid-19-Krise auf tragische Weise deutlich. Um der Frage nachzugehen, inwieweit Kürzungspolitik in Italien in den ver- gangenen Jahrzehnten hier negative Effekte hatte, ist ein Blick auf die Entwicklung der Ausgaben und der Versorgungs-
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 7 3 JAHRZEHNTELANGE BUDGETBE- SCHRÄNKUNGEN UND MARKTLIBE- RALE REFORMEN IM ITALIENISCHEN GESUNDHEITSWESEN Der im Jahr 1978 gegründete Nationale Gesundheitsdienst Gesundheitssystem ausgelöst (vgl. Pavolini/Vicarelli 2013). (Servizio Sanitario Nazionale – SSN) entstand aus der Auf Neben dem vordergründigen Ziel der Versorgung einer al- lösung der italienischen Krankenkassen (Casse Mutue), die ternden Bevölkerung bestand eine zentrale Motivation der ursprünglich aus dem korporativen System des faschistischen Reformen im italienischen Gesundheitssystem auch darin, die Regimes hervorgegangen waren. Unter dem Krankenkassen Kosten einzudämmen (Pavolini/Vicarelli 2013). Die verstärkten system beruhte der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Sparmaßnahmen in den 1990er Jahren wurden von zwei die Beschäftigten und ihre Familienangehörigen auf der Be- weitreichenden Reformen des italienischen Gesundheitssys- rufskategorie und der Höhe der in den Fonds eingezahlten tems in den Jahren 1992/93 und 1999 begleitet. Im Zuge Beiträge (Taroni 2019). Mit der Einführung des SSN wurde dieser Reformen wurden unter anderem regulatorische Kom- die Gesundheit als ein für alle Bürger_innen einheitliches in- petenzen von der nationalen auf die regionale Ebene ver- dividuelles Grundrecht anerkannt. Dies war auch der Versuch, schoben (Pavolini/Vicarelli 2013). Außerdem wurde die Admi- Versorgungsgleichheit in einem Land herzustellen, das durch nistration des Gesundheitswesens im Sinne des marktliberalen soziale (zwischen Berufsgruppen) und regionale (zwischen Ansatzes der „Öffentlichen Reformverwaltung“ (New Public dem industrialisierten Norden und dem hauptsächlich land- Management Approach) reformiert (Maino/Neri 2011; Pavolini/ wirtschaftlich geprägten Süden) Unterschiede tief gespalten Vicarelli 2013). Dieser Ansatz setzt auf die Anwendung privat- war. Mit der Gründung des SSN wurde der Zugang zur Ge- wirtschaftlicher Managementtechniken in der öffentlichen sundheit auf universalistischer Basis gewährleistet und auf Verwaltung und orientiert sich stark an Konzepten der Public- lokaler Ebene durch ein Netz lokaler Gesundheitseinheiten Choice-Theorie (Reichard/Röber 2001). Im Zuge dessen wur- (Unità Sanitarie Locali – USLs) organisiert (Taroni 2019). den lokale Gesundheitsbehörden (USLs) in sogenannte Ge- Der SSN soll auf Grundlage des in Artikel 32 der italieni- sundheitsagenturen (Aziende Sanitarie Locali – ASLs) und schen Verfassung verankerten Rechts auf Gesundheitsver Krankenhaus-Trusts (Aziende Ospedaliere – AOs) umgewan- sorgung allen Staatsbürger_innen, rechtmäßig ansässigen delt, die anstelle der zuvor von den Kommunalverwaltungen Ausländer_innen und Migrant_innen mit Aufenthaltsgeneh- ernannten Politiker_innen von befristeten Manager_innen migung eine universelle Gesundheitsversorgung bieten (Direttori generali) geleitet wurden. Sowohl auf den höheren (De Falco 2019). Die Gesundheitsversorgung durch Kranken- Ebenen des SSN als auch im täglichen Betrieb von Kranken- häuser und medizinische Dienste soll nach Maßgabe der häusern und anderen Gesundheitseinrichtungen hat diese Verfassung weitgehend kostenlos sein. Der SSN finanziert „Managerialisierung“ und „Rationalisierung“ zu einer Verlage- sich dabei hauptsächlich über Steuern auf nationaler und rung des administrativen Schwerpunkts auf die Budgetierung, regionaler Ebene; ergänzt wird dies jedoch durch eigene Zu- Kostenkontrolle und ähnliche Kriterien der privatwirtschaft zahlungen der Patient_innen (OOPs). Während die Regierung lichen Betriebsführung geführt. Gleichzeitig wurde innerhalb über das Gesundheitsministerium für die Koordination und des SSN verstärkt auf das Konzept der Konkurrenz und eine die Budgetierungspolitik auf nationaler Ebene verantwortlich breitere Nutzung von privaten Anbietern gesetzt (Maino/ ist, sind die italienischen Regionen für die Organisation und Neri 2011; Pavolini/Vicarelli 2013). Bereitstellung der Gesundheitsdienste über die lokalen Netz- „Quasi-Märkte“ sowie der zunehmende Ersatz öffentli- werke öffentlicher und privater Anbieter verantwortlich cher Versorgungsstellen durch Fremdverträge mit privaten (Ferrè et al. 2014). Anbietern sollten das Gesundheitssystem (kosten-)effizienter Während der 1990er Jahre wurden in Italien verstärkt Re- machen. Grundsätzlich kann zwischen der Privatisierung formversuche unternommen, um den SSN durch ein stärker der Ausgaben (geringerer Anteil der Staatsausgaben an den privatwirtschaftlich orientiertes System zu ersetzen. Dieses Gesamtausgaben der Gesundheitsversorgung) und der Privati- Ziel wurde zwar insgesamt nicht erreicht, jedoch haben diese sierung der Versorgung an sich (mehr private Dienstleistungen) Versuche deutliche Transformationsprozesse im italienischen unterschieden werden. Die steigende Privatisierung der Dienst-
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 8 leistungen fand dabei eher in den 1990er Jahren statt. Weite- re Reformversuche wurden aber auch zwischen 2001 und 2006 und danach 2007 unternommen. Mitte-Rechts-Regie- rungen versuchten, weitere (Teil-)Privatisierungen und eine verstärkte Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen durchzusetzen. Die 2000er Jahre waren jedoch insgesamt eher durch fokussierte und kleinere Reformschritte geprägt. Trotzdem haben auch sie einen spürbaren Effekt auf den SSN gehabt (Pavolini/Vicarelli 2013). Die finanziellen Beschränkungen und die Reformen im Gesundheitswesen fielen in Italien in eine Zeit allgemeiner fiskalpolitischer Sparanstrengungen. Der nächste Abschnitt verdeutlicht den Zusammenhang von Restriktionen bei den Gesundheitsausgaben und einer allgemeinen Austeritäts politik in Italien.
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 9 4 AUSTERITÄT UND GESUNDHEITS- AUSGABEN IN ITALIEN SPARPOLITIK MINDERT STAATLICH gängig gesamtstaatliche Primärüberschüsse hervorgebracht FINANZIERTE GESUNDHEITSAUSGABEN (vgl. A bbildung 2). Dies bedeutet, dass das, was an Staats einnahmen eingenommen wurde, fast drei Jahrzehnte lang Das übergeordnete Ziel der marktliberalen Reformen und größer war, als das, was die Bevölkerung an öffentlichen der Sparmaßnahmen bestand in einer Begrenzung der italie- Gütern und Dienstleistungen erhielt. Die nach der Finanzkrise nischen Staatsverschuldung, unter anderem aufgrund der 2008/2009 und in Reaktion auf die Eurokrise 2010ff. noch- italienischen Anstrengungen zur Erfüllung der Maastricht- mals v erschärfte Austerität hat die italienische Wirtschaft Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstumspakts (Maino/ und das Gesundheitssystem weiter belastet und deutliche Neri 2011; Pavolini/Vicarelli 2013). Tatsächlich befindet sich Ausgabenbeschränkungen im Gesundheitswesen erneut auf Italien wegen der starken Anstrengungen zur Einhaltung die Tageso rdnung gesetzt. Abbildung 2 zeigt, dass Perioden d ieser europäischen Vorgaben im Gegensatz zu vielen ande- mit Kürzungen der Gesundheitsausgaben tendenziell mit ren Ländern bereits seit Anfang der 1990er Jahre in einem Perioden starker Haushaltskonsolidierung in der ersten Hälfte dauerhaften Austeritätsregime (Storm 2019). Die starken der 1990er Jahre und in der Euro-Krise nach 2010 einher Konsolidierungsanstrengungen Italiens haben seit 1992 durch- gehen. Abbildung 2 Staatliche und durch Pflichtversicherung finanzierte Gesundheitsausgaben pro Kopf in konstanten Preisen in Euro (Basisjahr 2010) (linke Achse) und konjunkturbereinigter Primärsaldo in % des potenziellen BIP (rechte Achse), Italien, 1990–2018 2.000 8 1.900 6 1.800 1.700 4 1.600 Prozent Euro 2 1.500 1.400 0 1.300 –2 1.200 1.100 –4 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 staatliche und durch Pflichtversicherung finanzierte Ausgaben für Gesundheit, pro Kopf, konstante Preise in Euro (linke Achse) konjunkturbereinigter Primärsaldo in % des potenziellen BIP (rechte Achse) Quelle: OECD, IWF. Anmerkungen: Die OECD ordnet staatliche und durch Pflichtversicherungen finanzierte Gesundheitsausgaben in die gleiche Kategorie ein.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 10 Abbildung 3 Staatliche und durch Pflichtversicherung finanzierte Gesundheitsausgaben pro Kopf in konstanten Preisen in Euro (Basisjahr 2010), ausgewählte Länder und Eurozonen-Durchschnitt, 1990–2018 4.000 3.500 3.000 2.500 Euro 2.000 1.500 1.000 500 0 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 Belgien Frankreich Deutschland Griechenland Niederlande Italien Portugal Spanien Eurozone Quelle: OECD; Berechnungen der Autoren Anmerkungen: Eurozonen-Durchschnitt (Mitglieder Stand 2020) ohne Malta und Zypern, für die keine Daten vorliegen. Brüche in den Daten vorhanden. Für 2018 vorläufige Daten oder Schätzungen der OECD. Normalerweise nehmen die Gesundheitsausgaben aufgrund öffentlichen und pflichtversicherten Gesundheitsausgaben von Preiserhöhungen, Fortschritten in der Gesundheitsver- pro Kopf der Bevölkerung. sorgung und einer alternden Bevölkerung in den meisten in- Die Abbildungen 4a bis 4d zeigen die prozentuale Ver dustrialisierten Ländern über die Zeit zu. Eine anhaltende änderung der staatlichen und pflichtversicherten Pro-Kopf- Seitwärtsbewegung oder sogar ein Rückgang über mehrere Ausgaben für Gesundheitszwecke für diese drei verschiede- Jahre ist eher selten zu beobachten. Italien ist einer dieser nen Phasen und für den gesamten Zeitraum zwischen 1990 seltenen Fälle. und 2018. Im Zeitraum 1990 bis 2000 gab es in Italien eine Die Entwicklung der italienischen staatlichen und pflicht- erste Phase der Budgetbeschränkungen, in der die öffent versicherten Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben in konstanten lichen Ausgaben innerhalb von zehn Jahren nur um 8,7 Pro- Preisen lässt sich in der Zeit zwischen 1990 und 2018 in drei zent stiegen. Nach einer moderat expansiven zweiten Phase Phasen einteilen. 7 Abbildung 3 zeigt, dass Italien in den von 2000 bis 2010, in der die Pro-Kopf-Ausgaben in Italien 1990er Jahren zunächst einen Rückgang der staatlichen Ge- um 27,1 Prozent zulegten, gab es im dritten Zeitabschnitt sundheitsausgaben verzeichnete. Erst zum Ende der 1990er e inen Rückgang des Wachstums der öffentlichen Gesund- Jahre zeichnete sich eine beginnende Aufwärtsbewegung heitsausgaben. In diesem Zeitraum, der durch die jüngsten ab, die über die 2000er Jahre weitgehend parallel zum Haushaltskürzungen gekennzeichnet war, sanken die Pro- Durchschnitt der Eurozone verlief. Ab 2010 begann dann Kopf-Ausgaben in Italien um 8,2 Prozent – weniger stark als eine erneute Phase der Austerität, die bis 2015 anhielt und in Griechenland, aber stärker als in Spanien und Portugal. neben Italien vor allem Griechenland sowie Portugal und Im Gegensatz dazu verzeichnete die Gruppe der nördlichen Spanien betraf. Im Gegensatz dazu kam es in dieser Zeit in Länder einen Anstieg. Insgesamt wuchsen die öffentlichen Deutschland, Frankreich und Belgien zu einem Anstieg der und pflichtversicherten Gesundheitsausgaben pro Kopf in Italien von 1990 bis 2018 um weniger als 26,8 Prozent, was 7 Diese zeitliche Einteilung lässt sich auch mit kaufkraftbereinigten und/ mit Abstand der niedrigste Wert unter allen hier ausgewiese- oder mit Daten zu laufenden Preisen vornehmen. nen europäischen Ländern ist.
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 11 Abbildung 4a – 4d Prozentuale Veränderung der staatlichen und pflichtversicherten Gesundheitsausgaben pro Kopf in konstanten Preisen in Euro (Basisjahr 2010), ausgewählte Länder und Zeitintervalle (a) 1990–2000 (b) 2000–2010 120 80 70 100 60 80 50 Prozent Prozent 60 40 30 40 20 20 10 0 0 Italien Belgien Spanien Deutschland Frankreich Italien Niederlande Griechenland Frankreich Deutschland Belgien Spanien Griechenland Niederlande Portugal Portugal (c) 2010–2018 (d) 1990–2018 20 160 140 10 120 0 100 Prozent Prozent –10 80 60 –20 40 –30 20 –40 0 Italien Griechenland Spanien Niederlande Belgien Frankreich Deutschland Italien Griechenland Belgien Spanien Deutschland Frankreich Niederlande Portugal Quelle: OECD; Berechnungen der Autoren. Portugal Anmerkungen: Für Belgien fehlt der Wert für 1990, wir haben ihn durch den Wert von 1993 ersetzt; siehe Anmerkungen Abbildung 3. REFORMEN UND SPARMASSNAHMEN von 162 Euro im Jahr 1990 auf 591 Euro im Jahr 2018. Seit LASSEN EIGENLEISTUNGEN DER PRIVATEN Ende der 2000er Jahre ist zudem eine Zunahme der freiwilli- HAUSHALTE STEIGEN gen finanziellen Ausgaben zu verzeichnen, die von 21 Euro im Jahr 2006 auf 69 Euro im Jahr 2018 stiegen. 8 Wie oben erwähnt, weisen Monasta et al. (2019) bei ihrer Die bereits erwähnte erste Phase der Sparpolitik und die umfassenden Einschätzung des Zustands des italienischen Reformen zu Beginn der 1990er Jahre, die auf die Einführung Gesundheitssystems auf den jüngsten Rückgang öffentlicher quasi marktbasierter Elemente abzielten, haben auch den Gesundheitsausgaben als potenzielles Problem für die Ver- Anteil der staatlich finanzierten Gesundheitsausgaben an den sorgungsqualität hin. Gleichzeitig warnen sie vor der Verschie- gesamten Gesundheitsausgaben stark reduziert. Deckten bung der finanziellen Belastung zu den privaten Haushalten, die staatlichen Gesundheitsausgaben 1990 noch mehr als die durch den ebenfalls zu beobachtenden Anstieg der Eigen 80 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben ab, so sank leistungen (OOPs) verursacht wird. Abbildung 5 stellt die dieser Anteil innerhalb von fünf Jahren um ca. zehn Prozent- Ausgaben pro Kopf (in laufenden Preisen) aufgeschlüsselt nach punkte. Dieser Rückgang wurde zwar im Verlauf der 2000er Finanzierungsquellen dar und zeigt auf, dass gravierende Jahre zum Teil wieder ausgeglichen, die Eurokrise und Auste- Veränderungen in der Finanzierung des italienischen Gesund heitssystems weit vor die Finanzkrise von 2008/09 und die 8 Seit 2008 werden freiwillige Gesundheitsausgaben in Form von ergän- nachfolgende Euro-Krise zurückreichen. Die Eigenleistungen zenden Gesundheitsfonds durch Steuererleichterungen gefördert (Ricciardi der privaten Haushalte pro Kopf verzeichnen einen Anstieg et al. 2018).
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 12 Abbildung 5 Gesundheitsausgaben pro Kopf aufgeschlüsselt nach Finanzierungsquellen in laufenden Preisen in Euro (linke Achse) und Anteil der staatlichen und durch Pflichtversicherung finanzierten Gesundheitsausgaben in % der gesamten Gesundheitsausgaben (rechte Achse), Italien, 1990–2018 3.000 84 82 2.500 80 78 2.000 76 Prozent Euro 1.500 74 72 1.000 70 68 500 66 0 64 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 staatliche und pflichtversicherte Ausgaben (linke Achse) Anteil der staatlichen und pflicht- versicherten Ausgaben an den Out-of-Pocket-Zahlungen (linke Achse) gesamten Gesundheitsausgaben (rechte Achse) freiwillige Versicherungen (linke Achse) Quelle: OECD. Anmerkungen: Brüche in den Daten vorhanden. Daten für 2018 sind teilweise OECD-Schätzungen. rität haben nach 2010 jedoch einen erneuten Rückgang des nicht gedeckten Bedarfs an medizinischer Behandlung nach Anteils der staatlich finanzierten Gesundheitsausgaben her- Eigenangaben in der Bevölkerung von 5,2 Prozent im Jahr vorgerufen. Von 2010 bis 2018 sank der Anteil der Staatsaus- 2008 auf 5,9 Prozent im Jahr 2011 und dann nochmals auf gaben von 78,5 Prozent auf 74,3 Prozent. In der gleichen Zeit 7,2 Prozent im Jahr 2015 gestiegen. Im Jahr 2018 sank der stieg der Anteil der OOPs innerhalb von acht Jahren um drei Anteil dank der (wenn auch leichten) Erholung von Wirtschaft Prozentpunkte und erreichte 2018 fast ein Viertel (23 Prozent) und Beschäftigung auf 2,4 Prozent. Dennoch liegt dieser Wert der Gesamtausgaben für Gesundheit – ein wesentlich höhe- über den Werten von Belgien, Deutschland, Frankreich, den rer Wert als im EU-Durchschnitt (15,8 Prozent) (OECD 2019). Niederlanden, Portugal und Spanien. Im Gegensatz dazu ging Eine Erhöhung des Anteils der privaten Gesundheitsaus- der Anteil ungedeckten medizinischen Bedarfs in Deutsch- gaben in Italien bedeutet, dass den privaten Haushalten eine land von 2,2 Prozent im Jahr 2008 auf 0,2 Prozent im Jahr höhere Finanzierungslast aufgebürdet wurde, was die Mög- 2018 zurück. lichkeit des Zugangs zu Gesundheitsdiensten für viele Haus- Austeritätspolitik hat in vielen europäischen Ländern zu halte einschränkte. Dies gilt umso mehr in Zeiten wirtschaft einer Reduktion der durch Versicherungen abgedeckten Leis- licher Schwierigkeiten und steigender Ungleichheit. Die tungen geführt und Zuzahlungen der privaten Haushalte er- Stagnation oder gar Verringerung des verfügbaren Einkom- höht, wodurch insbesondere ärmere Haushalte stärker an der mens in Verbindung mit höheren OOP-Zuzahlungen und Gesundheitsfinanzierung beteiligt wurden (Quaglio et al. 2013; übermäßigen Wartezeiten zwang eine wachsende Zahl von Stuckler et al. 2017). Die Ineffizienz solcher Maßnahmen zur privaten Haushalten, insbesondere in den ärmeren Bevölke- Kostenreduktion (es erfolgt eher eine Verschiebung hin zu rungsschichten, die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung administrativen Kosten) hat politische Entscheidungsträger_ zu reduzieren oder zu verschieben. Sparmaßnahmen haben innen jedoch nicht von der Durchsetzung solcher Maßnah- in Italien den in der Verfassung festgelegten Zugang zur all- men abgehalten, trotz der Schädlichkeit für den Zugang zur gemeinen Gesundheit damit untergraben (De Falco 2019). Gesundheitsversorgung (Stuckler et al. 2017). Umfrageergeb- Negative Effekte von Austeritätsmaßnahmen auf Umfrage nisse unter älteren Patient_innen (50+) zeigen, dass OOPs daten zum ungedeckten Behandlungsbedarf lassen sich für nach der Finanzkrise in vielen europäischen Ländern deutlich mehrere europäische Länder feststellen, insbesondere dort, zugenommen haben und sich die Zahl der Patient_innen er- wo der Anteil der OOPs vergleichsweise hoch ist (Stuckler et höht hat, die sich mit katastrophalen Gesundheitsausgaben al. 2017). Nach Angaben von Eurostat ist in Italien der Anteil belastet sehen (Stuckler et al. 2017).
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 13 Abbildung 6 Prozentuale Veränderung der Gesamtausgaben des Staates für Gesundheit und der Ausgaben für Krankenhausleistungen (2008–2018) (nach COFOG), ausgewählte Länder 60 50 40 30 20 10 Prozent 0 –10 –20 –30 –40 –50 Griechen- Italien Portugal Eurozone Frankreich Belgien Deutsch- Nieder- land land lande Ausgaben für Krankenhausleistungen gesamte Gesundheitsausgaben Quelle: Eurostat; Berechnungen der Autoren. AUSTERITÄT NACH 2008 BETRIFFT im Gesundheitswesen, auf dem Niveau von 2010 eingefroren. VIELE BEREICHE – KRANKENHÄUSER Ein neuer Tarifvertrag wurde erst 2018 abgeschlossen, nach- JEDOCH BESONDERS STARK dem ein Urteil des Verfassungsgerichts die Regierung ge- zwungen hatte, den Tarifverhandlungsprozess im öffentlichen Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 war das Sektor wieder aufzunehmen. Hinzu kommt, dass das medizi- Ausmaß der Kürzungen im SSN besonders dramatisch. Auf- nische und vor allem das ärztliche Personal in Italien relativ grund der hohen Staatsschulden hatte Italien zwar bereits in alt ist und die Einstellungsbeschränkungen die Fluktuation den frühen 1990er Jahren damit begonnen, Maßnahmen zur des Gesundheitspersonals zusätzlich erschweren (Neri 2019). Kostendämpfung bei den Gesundheitsausgaben zu ergreifen, Angesichts der erheblichen Kürzungen im Gesundheits- um insbesondere die zunehmenden Ausgabenungleichge- sektor stellt sich die Frage, ob die italienische öffentliche Ver- wichte zwischen den Regionen des Nordens und des Südens sorgung und insbesondere die öffentliche Beschäftigung im zu bekämpfen. Die vertiefte Austerität nach der Finanz- und Laufe der Jahre von den politischen Entscheidungsträger_innen Eurokrise hat diese Bestrebungen jedoch nochmals verstärkt eher als eine Quelle öffentlicher Ausgaben denn als wichtige (De Belvis et al. 2012). Die zentrale Finanzierung der Regionen Anbieter öffentlicher Dienstleistungen betrachtet wurden, die wurde bereits ab 2009 und dann verstärkt unter der Regierung einer Modernisierung bedürfen und das Wirtschaftswachs- Monti im sogenannten „Spending Review“ reduziert. tum unterstützen könnten (Di Mascio/Natalini 2014). Die Revision der öffentlichen Ausgaben beinhaltete unter Laut Eurostat-COFOG-Daten, in denen staatliche Ausgaben anderem die Kontrolle der Arzneimittelausgaben sowie die nach Aufgabenbereichen klassifiziert werden, 9 stiegen die Beschränkung bei Beschaffungen von Material und Dienst- gesamten öffentlichen Gesundheitsausgaben (einschließlich leistungen, die Senkung der Hospitalisierungsraten, die Er Investitionen, Vorleistungen, Forschung und Entwicklung und höhung der Zuzahlungen und nicht zuletzt die zusätzliche Reduktion der Zahl der bereits vorher stark gesunkenen Krankenhausbetten (Neri 2019). Hinzu kamen Maßnahmen 9 In den COFOG-Daten fasst das Gesundheitsaggregat (GF07 und Unter- gruppen) alle Arten von Staatsausgaben für Gesundheitszwecke zusam- zur Eindämmung der Personalkosten. Zwischen 2007 und men (einschließlich Personalausgaben, Vorleistungen, Bruttoinvestitionen 2015 ist das Personal des italienischen SSN um 4,9 Prozent usw.). Die Abgrenzung der Staatsausgaben in der COFOG-Klassifikation gesunken. Gleichzeitig wurden die Gehälter der Beschäftig- unterscheidet sich dabei vom System der Gesundheitskonten (System of ten des öffentlichen Dienstes, einschließlich der Beschäftigten Health Accounts – SHA).
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 14 Abbildung 7 Zusammensetzung der jährlichen Wachstumsrate der gesamten Staatsausgaben für Gesundheit (zweite Ebene COFOG), nominale Werte, Italien, 2008–2018 8 6 4 Prozent 2 0 –2 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 andere Ausgaben im Gesundheitswesen öffentliche Gesundheitsdienste F&E Gesundheitswesen medizinische Produkte, Geräte und Ausrüstungen ambulante Behandlungen Krankenhausleistungen Gesamtvariation zum Vorjahr Quelle: Eurostat; Berechnungen der Autoren. andere Komponenten) in Italien von 2008 bis 2018 nominal Der deutlich erkennbare Zusammenhang einer schwachen nur um 5,3 Prozent, während sie z. B. in Deutschland im glei- Entwicklung der Gesundheitsausgaben mit drei Jahrzehnten chen Zeitraum um 46,8 Prozent zunahmen (vgl. Abbildung 6). der Sparpolitik hat in Italien glücklicherweise bis vor Kurzem Eine Aufschlüssung der Gesundheitsausgaben nach Un- keine starken negativen Auswirkungen auf die allgemeine tergruppen (zweite Ebene der COFOG-Daten) zeigt das Aus- Gesundheit der italienischen Bevölkerung gehabt. Italiens Be- maß der Kürzungen bei den Krankenhausleistungen auf.10 Im völkerung gilt weiterhin als eine der gesündesten der Welt, Gegensatz zu den nordeuropäischen Ländern haben Grie- wie wir eingangs erörtert haben (vgl. Monasta et al. 2019). chenland, Portugal und Italien die öffentlichen Ausgaben für Im Zeichen der Corona-Krise stellt sich jedoch die Frage, ob Krankenhausleistungen gesenkt (wobei die Kürzungen im die jahrelange Sparpolitik mit einem Ressourcenabbau bei austeritätsgeplagten Griechenland besonders dramatisch aus- der kritischen Gesundheitsversorgung einherging, deren fielen). Von 2011 bis 2018 haben in Italien die Kürzungen der Wichtigkeit nur in Notsituationen, wie im Falle einer Pandemie, öffentlichen Krankenhausleistungen wesentlich zur schwachen deutlich wird. Im nächsten Abschnitt widmen wir uns der und teils negativen Wachstumsdynamik der öffentlichen Ge- Entwicklung dieser Kapazitäten im Zeitalter der Austeriät. sundheitsausgaben beigetragen (vgl. Abbildung 7). Obwohl die Sparpolitik eine große Belastung für das Gesundheitssystem darstellte, ist der Anteil der Gesundheits- ausgaben an den gesamten Staatsausgaben jedoch von zehn Prozent im Jahr 1995 auf 14,7 Prozent im Jahr 2008 gestiegen und lag nach COFOG-Daten auch nach 2008 noch über 14 Prozent. Dies könnte darauf hindeuten, dass die Ge- sundheitsversorgung trotz allgemeiner Ausgabenbeschrän- kungen für die italienische Regierung von hoher Bedeutung war, was jedoch nicht verhindern konnte, dass die italieni- schen Gesundheitsausgaben hinter dem internationalen Trend zurückblieben. 10 Gemäß der COFOG-Klassifikation wird die tagesklinische Einweisung unter Krankenhausleistungen klassifiziert.
AUSTERITÄT, DAS ITALIENISCHE GESUNDHEITSSYSTEM UND DIE CORONA-KRISE WISO DISKURS 15 5 DIE ENTWICKLUNG DER ITALIENISCHEN KRANKENHAUS- UND BETTENKAPAZITÄT – OPFER DER SPARMASSNAHMEN? Krankenhäuser stellen einen besonders kostspieligen und was zu einer fortlaufenden Reduzierung von Krankenhaus spezialisierten Faktor der öffentlichen Gesundheitsversor- kapazitäten führte. Dies hat auch in Italien zu einer starken gung dar. In der EU wird fast ein Drittel der öffentlichen Ge- Reduktion der Krankenhauskapazität geführt. sundheitsausgaben zur Deckung der laufenden Ausgaben So zeigen die Daten der WHO in Abbildung 8, dass die Zahl der stationären Heilanstalten verwendet (HOPE 2018). In ihnen der Krankenhäuser pro 100.000 Personen seit Anfang der wurde daher in ganz Europa ein großes Einsparpotenzial für 1990er Jahre in vielen Ländern Europas deutlich reduziert öffentliche Gesundheitssysteme gesehen (vgl. McKee 2004; wurde, besonders aber in Italien und Belgien. Akutkranken- Popic 2020). Strategien zur Kosteneindämmung veränderten häuser sind derzeit ein wichtiges Element im Kampf gegen die Nutzung und Bereitstellung stationärer Krankenhausver- Covid-19, und eine höhere Zahl hätte vermutlich die Isolie- sorgung zugunsten tagesklinischer und ambulanter Dienste, rung infizierter Patient_innen erleichtern können. Außerdem Abbildung 8 Anzahl der Akutkrankenhäuser pro 100.000 Personen, ausgewählte Länder und EU-Durchschnitt, 1990–2014 4 3,5 3 pro 100.000 Personen Akutkrankenhäuser 2,5 2 1,5 1 0,5 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 Belgien Frankreich Deutschland Griechenland Niederlande Italien Portugal Spanien EU-Durchschnitt Quelle: WHO.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Wirtschafts- und Sozialpolitik 16 Abbildung 9 Vorjahresdifferenz der Gesamtzahl der Krankenhausbetten aufgeschlüsselt nach Eigentum (linke Achse) und Verhältnis von privaten (und non-profit) zu öffentlichen Krankenhausbetten (rechte Achse), Italien, 2004–2017 4.000 0,51 0,50 2.000 Verhältnis von privaten (und non-profit) zu öffentlichen Krankenhausbetten 0,49 0 0,48 0,47 Bettenzahl –2.000 0,46 –4.000 0,45 –6.000 0,44 0,43 –8.000 0,42 –10.000 0,41 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 non-profit (linke Achse) Vorjahresdifferenz (linke Achse) staatlich (linke Achse) Verhältnis von privaten (und non-profit) zu öffentlichen Krankenhausbetten (rechte Achse) privat (linke Achse) Quelle: OECD; Berechnungen der Autoren. kann eine Reduktion der Zahl der Krankenhäuser sich negativ Betten (inklusive Betten gemeinnütziger Einrichtungen) zu auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung auswirken, den öffentlichen Betten aus (vgl. rot gestrichelte Linie in wenn z. B. Krankenhäuser in ländlichen Regionen geschlossen Abbildung 9). werden. Abbildung 8 zeigt, dass Italien zu Anfang der 1990er Neben der allgemeinen Bettenzahl verzeichnete auch die Jahre pro Kopf noch eine ähnlich hohe Krankenhausversor- Kapazität der Betten für die Akutversorgung seit Jahrzehnten gung wie Deutschland aufwies. Doch innerhalb von zwei einen Rückgang (vgl. Abbildung 10).12 Wenngleich in vielen Jahrzehnten hat Italien die Pro-Kopf-Krankenhauskapazität europäischen Ländern ein ausgeprägter Trend zur Reduktion dann viel stärker reduziert als viele andere Länder.11 Ab 1998 der Akutbetten zu beobachten ist, haben nur wenige Länder fiel die Zahl der Akutkrankenhäuser in Italien sogar unter den die verfügbaren Betten so stark und auf ein so niedriges Ni- EU-Durchschnitt. Der Abwärtstrend setzte sich in den Jahren veau reduziert wie Italien. Im Jahr 1990 gab es in Italien der Finanz- und Eurokrise fort. noch sieben Betten pro 1.000 Personen, ein Wert nahe an Noch stärker als die Krankenhauskapazität wurde die Deutschland und über dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 Ausstattung mit Betten abgebaut. In Italien ist sowohl die war die Zahl der Akutbetten in Italien auf 2,6 pro 1.000 Per- Gesamtzahl der öffentlichen als auch die der privaten Betten sonen gesunken und lag damit deutlich unter der Hälfte seit Jahren rückläufig. Dabei war der Abbau bei den öffent des Wertes in Deutschland und viel näher am historisch lichen Betten jedoch ausgeprägter, sodass sich eine voran- niedrigen Wert Spaniens. Innerhalb eines relativ kurzen Zeit- schreitende Privatisierung der Bettenkapazität abzeichnete. raums sah sich Italien damit am unteren Ende des Spektrums Diese Tendenz ist in Abbildung 9 zu sehen. Die Kranken- in Europa angekommen. hausbetten in öffentlichen Einrichtungen wurden deutlich reduziert (graue Balken). Krankenhausbetten in privaten (und gemeinnützigen) Einrichtungen wurden dagegen we- niger reduziert und in manchen Jahren sogar leicht erhöht. Dies drückte sich in einem steigenden Verhältnis der privaten 11 Insbesondere einige ehemals zur Sowjetunion gehörige osteuropäische 12 In vielen Ländern wurde die Bettenzahl nach Ausbruch der Sars-CoV-2- Länder verzeichnen vor allem in den 1990er Jahren eine noch drastischere Pandemie deutlich aufgestockt. Wir beziehen uns hier nur auf historische Reduktion bei der Krankenhauskapzität und den Betten pro Kopf. Werte.
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