Ausweg aus suchtbedingter Delinquenz? Über die Effektivität forensischer Suchtbehandlung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Ausweg aus suchtbedingter Delinquenz? Über die Effektivität forensischer Suchtbehandlung Dr. Jan Querengässer 17.06.2022 25. Berliner Junitagung für Forensische Psychiatrie und Psychologie
Überblick 1. Prologe • Begriffsklärung • Die Bedeutung der Suchtbehandlung im MRV 2. Studienlage zur Effektivität forensischer Suchtbehandlung • Die Makro-Ebene • Die Mikro-Ebene 3. Einzelne Behandlungsansätze • Motivational Interviewing • DBT 4. Weitergehende Überlegungen zu… • Allgemeinen Wirkfaktoren • Therapiezielsetzung 5. Fazit 17.06.2022 Folie 2
Prologe
Begriffsklärung Forensische Suchtbehandlung im weiteren Sinne: jede Form einer Heilbehandlung substanzbezogener Abhängigkeitsproblematiken im Kontext einer von Justizseite auferlegten Weisung oder Vorgabe im engeren Sinne: die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des deutschen Strafgesetzbuches (StGB) Erste Herausforderung: Die in § 64 StGB geregelte Unterbringung suchtkranker Straftäter jenseits des Regelvollzugs stellt im internationalen Vergleich ein Unikat dar, analoge Vorschriften dazu finden sich allenfalls im Schweizer Strafgesetzbuch. → Wie gut lassen sich Forschungsbefunde aus anderen Ländern übertragen/integrieren? 17.06.2022 Folie 4
Die Bedeutung der Suchtbehandlung im MRV Aus der Strafverfolgungsstatistik 2020: Anteil der UAO gem. § 64 StGB: 77% bezogen auf §§ 63/64 StGB Unterbringungsanordnungen Anzahl Geschätzt bei 1/3 der UAO gem. § 63 StGB: komorbid Sucht 699 § 64 StGB 350 → Selbst wenn nur die Hälfte davon eine „deliktrelevante“ § 63 StGB, komorbid Sucht (geschätzt) Sucht aufweist: § 63 StGB ohne Behandlungsauftrag 3515 komorbide Sucht (geschätzt) Suchttherapie in > 80% aller Einweisungen! 17.06.2022 Folie 5
Studienlage zur Effektivität forensischer Suchtbehandlung
Die Makro-Ebene international → „European drug treatment programmes on reoffending“ (Meta- Analyse; Koehler et al. 2014): Overall-Effekt Deliktrückfälligkeit: d = 0,47; Substanzkonsum: d = 0,38 → Diskrepanz: Immerhin 12 Studien zur Effektivität von Gruppentherapien bei forensischen Suchtpatienten vs. Befragungsergebnis, dass die meisten Kliniken in UK „in- house“ entwickelte Konzepte nutzen (Mallion et al. 2019) …und national (zusammengefasst) → Ermutigende Wirksamkeitsbelege für Effektivität der Behandlung gem. § 64 StGB (v.a. Essener Evaluationsstudie; Schalast, 2019) → Die Ergebnisse sind zwar nicht frei von Kritik (Steinert, Traub & Weitz, 2020), aber auch andere Katamnese-Studien belegen den Erfolg forensischer Suchtbehandlung (Bezzel 2020; Querengässer u.a. 2018; Bezzel & Schlögl 2021) 17.06.2022 Folie 7
Ältere Studien zur Legalbewährung • Bundesweite Rückfalluntersuchung (Jehle et al. 2010ff): Für gut 43% der unter Führungsaufsicht stehenden ehemaligen Patienten nach § 64 StGB wurden in einem dreijährigen Risikozeitraum erneute Straftaten registriert (n = 1108). • Regensburger Katamnese-Studie (Bezzel 2009): Insgesamt wurden von n = 164 Patienten gut 35% im ersten Jahr nach Entlassung erneut straffällig. → meist leichte Delinquenz → Suchtmitteleinfluss spielte bei 75% der Wiederholungstäter eine Rolle • Sächsische Outcome-Studie (Gericke & Kallert 2007): Im zweijährigen Risikozeitraum kam es bei 37% der 120 ehemaligen Patienten zu Delinquenz → meist leichte Delinquenz, allerdings ein breites Spektrum → nur selten (< 25%) einschlägige Delikte • LWL-Studie zum Bewährungsverlauf (Dimmek et al. 2010): Bei 45,2% der 155 Patienten kam es im Risikozeitraum von 3 Jahren zu mindestens einem erneuten Delikt, bei immerhin 19,4% zu mindestens zwei Delikten. → nur selten (< 25%) Verurteilung zu Freiheitsstrafen 17.06.2022 Folie 8
Eigene Studie zum Zusammenhang Entlassart und Legalbewährung Zeitreihenvergleich: Log Rank (Mantel-Cox): Chi² (df = 1) = 16,94*** Gruppe I: MW = 46,1 Monate bis zu einem Rückfall Gruppe II: MW = 24,7 Monate Quelle: Querengässer et al., 2018 17.06.2022 Folie 9
BZR-Folgeeinträge innerhalb von 2 Jahren nach Entlassung Faktor 1:1,7 Faktor 1:3,9 Faktor 1:3,8 Faktor 1:1,6 Faktor 1:2,7 Faktor 1:3,1 → Kommt es zu einem Delikt, ist dieses bei Patienten mit einer Erledigung schwerer und mit hoher Wahrscheinlichkeit einschlägig. 17.06.2022 Folie 10
Die Essener Evaluationsstudie – Kernaussage 1 Zeitreihenvergleich: Log Rank (Tarone-Ware): Chi² (df = 1) = 24,2*** d = 0,46 Anteil Bewährung (1000 Tage) MRV = 52,7% JVA = 32,8% → Vorteil 19,9% Relative risk reduction: 29,6% Kriterium hier: Irgendein Eintrag im BZR. Quelle: Schalast, 2019 17.06.2022 Folie 11
Die Essener Evaluationsstudie – Kernaussage 2 Zeitreihenvergleich: Log Rank (Tarone-Ware): Chi² (df = 1) = 14,2*** d = 0,34 Anteil Bewährung (1000 Tage) MRV = 69,6% JVA = 54,4% → Vorteil 15,5% Relative risk reduction: 34% Kriterium hier: Eintrag im BZR, der zu erneuter Freiheitsstrafe führte (inkl. Bewährung). Quelle: Schalast, 2019 17.06.2022 Folie 12
Vom wie (wirkt „die Behandlung“) zum was (genau wirkt denn nun)… Wichtig ist nicht nur zu wissen, dass „die Behandlung“ wirkt, sondern auch was genau wirkt, und woran dies liegt. → Frage nach der Evidenz einzelner Behandlungselemente → Frage nach den Wirkfaktoren Besonderheit im MRV: Psychotherapie ist im MRV eigentlich nie eigenständiger Wirkagens! Behandlungsverlauf und -ergebnis 17.06.2022 Folie 13
Evidenzbasierung, Mikro-Ebene S3 Leitlinie “Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”, AWMF- Registernummer 076-001 (Umfang: 411 Seiten) → forensisch 4mal, davon 2 mal im Literaturverzeichnis; Maßregelvollzug 3mal, davon 2mal im Literaturverzeichnis und einmal in Statistik, wer wo behandelt wird; Forensik 0mal S 3 Leitlinie „Methamphetamin-bezogene Störungen“, Registernummer 038-024 → forensisch 1mal, Maßregelvollzug 0mal, Forensik 0mal (S3 Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“, Registernummer 038 – 025) → forensisch 0mal, Maßregelvollzug 0mal, Forensik 0mal Leitlinienanmeldung „Opioidbezogene Störungen“, Reg.-Nr. 076 – 012 Leitlinienanmeldung „Behandlung Cannabisbezogener Störungen“, Reg.-Nr. 076-005 Was folgt daraus??? Forensic therapists “…must sail in uncharted seas, doing the best they can to find the most effective treatments for their patients …[until further research evidence accrues]” (Barnao & Ward, 2015, p. 83) 17.06.2022 Folie 14
Evidenzbasierung, Mikro-Ebene Behandlungsstandards der DGPPN (Müller et al. 2017) - Verweis auf Leitlinien, „wobei einschränkend auf die Grenzen der Übertragbarkeit evidenzbasierter Leitlinien, die nicht an forensisch psychiatrischen Patienten gewonnen wurden, verwiesen wird.“ - Aber: Gibt im Abschnitt „Störungen durch psychotrope Substanzen (ICD-10: F1)“ eine Übersicht über Behandlungselemente: - State of the Art: „gut organisierte therapeutische Gemeinschaften mit hoher Alltagsverantwortung der Patienten, sinngebender Arbeit, aktiver Freizeitgestaltung mit Sport- und Kulturangeboten, bevorzugt in Gruppen, sowie Gruppenpsychotherapien mit dem Anspruch der Deliktbearbeitung“ - „Substitutionsbehandlung oder eine psychopharmakologische Behandlung je nach individueller Indikationsstellung“ - Motivational Interviewing - Dialektisch-behaviorale Therapie - DBT (v.a. im Kontext von Borderline) - Übertragungsfokussierte forensische Therapie - TFFP (Evidenzbasierung gegeben, bezieht sich allerdings nicht auf „harte“ forensische Kriterien) 17.06.2022 Folie 15
Evidenzbasierung, Überblick I McMurran (2007) – Überblicksarbeit (wiss. Artikel): - Strongest effectiveness: therapeutic communities & cognitive-behavioral therapies - Inneffective: purely behavioral therapies, boot camps & group counseling - Promising: methadone/diamorphine maintenance prescription [Substitution] combined with psychological treatment - Diversion of drug-using offenders into treatment → indirekte Unterstützung für § 64 StGB Roberts et al. (2007) – Systematisches Review (Projektbericht): - Illicit drugs: Therapeutic communities and aftercare seemed to be the most promising of interventions – but no single gold standard treatment intervention (Verweis auf Perry et al . 2006) - Alcohol: 4x Psycho-Social-Behavioural interventions were effective in reducing both alcohol use/abuse and criminal activity, 2x increased rates of recidivism, 1x increased alcohol use → Ambivalente Befunde 17.06.2022 Folie 16
Evidenzbasierung, Überblick II De Andrade et al. (2018) – Systematisches Review, aber prison-based (wiss. Artikel): - Therapeutic communities are effective in reducing recidivism and, to a lesser extent substance use after release - opioid maintenance treatment is effective in reducing the risk of drug use after release - care after release appears to enhance treatment effects for both types of interventions Hayhurst et al. (2019) – Meta-Analyse zu „community based diversion“ (wiss. Artikel): - Basiert auf 16 Studien - Behandlung reduziert Konsum von Heroin/Kokain stärker (OR = 1,68) als Inhaftierung, für andere Drogen sogar OR = 2,60 - Aber: nur geringe Effekte auf Re-Delinquenz 17.06.2022 Folie 17
Evidenzbasierung, Überblick III Cochrane-Database Perry et al. (2019) – Systematisches Review (drug-using offenders with cooccurring mental health problems): 17.06.2022 Folie 18
Evidenzbasierung, Überblick III Perry et al. (2019) – Systematisches Review (drug-using offenders with co-occurring Mental health problems): - Stärkste Evidenz für: Therapeutische Gemeinschaft - (Noch) unklare Evidenzlage für interpersonelle Psychotherapie, multisystemische Ansätze, Motivational interviewing Perry et al. (2015) – Systematisches Review (Pharmacological interventions for drug-using offenders): - Überraschung: Behandlung mit Agonisten (Substitution) scheint keinen Effekt auf Substanzkonsum und Redlinquenz zu haben - Behandlung mit Antagonist (Naltrexon) scheint keinen Effekt auf Substanzkonsum, aber auf Redelinquenz zu haben - Aber: alles im Vergleich zu nicht-Pharmakotherapie (also sehr wohl andere Behandlungselemente) 17.06.2022 Folie 19
Einzelne Behandlungsansätze
Motivational Interviewing – Evidenzbasierung im forensischen Kontext Brown et al. (2015) – Originalarbeit: • Jugendliche mit psychiatrischer Komorbidität • Nicht nur Rückgang in Konsummenge, sondern auch in „rule-breaking behaviours“ (6-Monats-Katamnese) Austin et al. (2011) – Originalarbeit: • Inhaftierte (keine Sucht), die mit einer MI Adaption behandelt wurden • Anstieg der Veränderungsbereitschaft McMurran (2009) – Systematisches Review: • Basiert auf 13 publizierten Studien und 6 Dissertationen. 10 zu substanzabhängigen Straftätern • “MI can lead to improved retention in treatment, enhanced motivation to change, and reduced offending, although there are variations across studies.” Leider sind keine aktuelleren Studien oder Meta-Analysen zu finden… 17.06.2022 Folie 21
Exkurs: Wieso ist Motivierung im Kontext forensischer Suchtbehandlung so wichtig??? Ambivalente Behandlungsmotivation * Ambivalente Behandlungsmotivation = Potenz aus störungs- und kontextbedingter Ambivalenz → Die Essenz forensischer Suchtbehandlung steckt in permanenter Motivationsarbeit!!! 28.06.2022 Folie 22
DBT-F – Wirksamkeit: Ausgewählte Einzelbefunde (F = forensische Adaptation der DBT) Evershed et al. (2003): Male forensic BPT-patients, UK - Nach DBT: weniger gewalttätiges Verhalten, weniger Feindseligkeit und Ärgererleben Rosenfeld et al. (2007): Stalking offenders, outpatient treatment, USA - DBT-completers: Bessere Legalbewährung (im Vergleich zu Basisrate und Drop-Out) - Jüngst wurde sogar eine RCT-Studie zum Thema publiziert (Rosenfeld et al. 2019) Long et al. (2010): Female offenders, UK - Nach DBT: weniger Fremdaggressivität Sogar „harte“ Kriterien untersucht Sakdalen et al. (2010); Sakdalen & Collier (2012): forensic clients with intellectual disability, Neuseeland - Nach DBT: Rückgang kriminogener Faktoren bzw. verbaler & körperlicher Aggression sowie sexueller Übergriffigkeit Gee & Reed (2013): Female offenders, UK - Nach DBT: weniger gerichtliche Folgeentscheidungen 16.05.2022 Folie 23
DBT-F – Wirksamkeit: Reviews & Fazit Iwanoff & Marotta (2018) - Lehrbuchartikel inkl. Review: “DBT shows promise for widely diverse forensic populations based on demographic, clinical, and criminological factors.” Tomlinson (2018) - Empirical Review: “…preliminary evidence that DBT has the potential to reduce recidivism risk in criminal justice systems if applied within a Risk-Need- Responsivity framework.” Wieso DBT auch in forensischer Suchtbehandlung? - Oft Überschneidung zwischen PS und Sucht - Substanzkonsum als „typischer“ Copingstil → begünstigt Suchtentwicklung - Eigenständiges DBT-Suchtmanual liegt vor (DBT-S; Zimmermann et al. 2021) - Wirksamkeit von DBT bei Suchterkrankung sogar meta-analytisch bestätigt (Haktanir & Callender, 2020) - Auch erste dt. Studien befassen sich mit DBT bei forensischen Suchtpatienten (Wettermann et al. 2020 – allerdings mit gemischter Evidenz) Fazit zu DBT-F bei Suchterkrankungen - Spielt Impulsivität/emotionale Instabilität eine Rolle in der Genese der Suchterkrankung, kann DBT-F ein vielversprechender Behandlungsansatz sei 16.05.2022 Folie 24
Weitergehende Überlegungen
Evidenzbasierung, Wirkfaktoren (aus allg. Psychotherapie) Faktor(gruppe) Variable Studien Patienten ES Wirkung von Psychotherapie > 500 > 80.000 0,80 Psychotherapie Kontextuelle Faktoren Allianz 190 > 14.000 0,57 Empathie 59 3.599 0,63 Zielkonsens/Zusammenarbeit 15 1.302 0,72 … Person des Psychotherapeuten 29+17 14.519 0,35- 0,55 Spezifische Wirkfaktoren Unterschiede zwischen Treatments 295 > 5.900
Kontextuelle Wirkfaktoren in forensischer Suchtbehandlung Bisher keine Studien bekannt, die sich dezidiert damit auseinander setzen, aber Hinweise Querengässer et al. (2017), (eher explorative) Originalarbeit: Abbrecher und regulär entlassene Patienten unterschieden sich nicht in den Wirkfaktoren Problemaktualisierung, -bewältigung und Ressourcenaktivierung, aber im Faktor therapeutische Beziehung. → Die therapeutische Beziehung ist zentral für das Gelingen forensischer Suchttherapie. Es erscheint notwendig, mit MRV-Patienten intensiver als bisher an einem gemeinsamen Bewertungsrahmen des Therapieprozesses zu arbeiten. Fontao et al. (2021), systematisches Literaturreview zu Straftäterbehandlung: Untersucht wurden allgemeine Wirkfaktoren (therapeutische Allianz, soziales Klima, Feedback) und Therapeutenfaktoren (zwischenmenschliche Fähigkeiten/Eigenschaften, Persönlichkeit, Therapieerwartung). → keine einheitliche Evidenz, aber Tendenzen: Soziales Klima, Feedback, therapeutische Allianz; Empathie, Wärme, Belohnung, Leitung, konfrontativer Therapiestil → Bedeutender Zusammenhang zwischen allgemeinen Wirk- und Therapeutenfaktoren und Therapieoutcome in der Therapie von Straftätern ist wahrscheinlich, aber noch liegen zu wenige kontrollierte Studien vor, um ihn zweifelsfrei zu untermauern. 16.05.2022 Folie 27
(Letzter hoffentlich weiterführender) Gedanke: Evidenzbasierung alternativer Behandlungsansätze bzw. -ziele Eine Überlegung wert: Ist die implizite Abstinenzzielvorgabe in jedem Fall sinnvoll und alternativlos? (vgl. § 64 StGB: „Konsum im Übermaß“ und nicht „Konsum per se“) Die Evidenz mehrt sich, dass auch alternative Ansätze wirksam sind, um Abhängigkeitsproblematiken zu lindern: - Behandlungsansatz des selbstkontrollierten Substanzkonsums (z.B. „Kontrolliertes Trinken“) - Schadensminimierende Ansätze (neben Substitution z.B. drug checking, hygienischer Konsum etc.) - Siehe dazu Körkel, 2020 All das im forensischen Kontext noch nicht evidenzbasiert* – aber Henne-Ei- Problem: Wenn es niemand anwendet, kann es nicht evaluiert werden… * Indirekt: Reduktion der Trinkmenge fördert die soziale Stabilisierung und gesetzeskonformes Verhalten (Witkiewitz et al., 2017; Witkiewitz, Wilson et al., 2019b) 16.05.2022 Folie 28
Fazit
Take-Home-Message, Bullet-Points oder was auch immer… 1. Forensische Suchtbehandlung gem. § 64 StGB ist nicht frei von Herausforderungen und bietet an vielen Stellen Optimierungspotential. Doch mehren sich die Befunde, dass die Behandlung in der Breite geeignet ist, suchtbedingte Delinquenzneigung zu lindern. 2. Es mehrt sich (auch international) die Evidenz, dass das deutsche System der gesonderten Behandlung suchtkranker Straftäter in einem therapeutischen Setting so schlecht nicht ist. 3. Die Evidenz scheint weniger in der Applikation einzelner Ansätze oder Techniken begründet zu sein als im Setting (Milieutherapie, therapeutische Gemeinschaft) und der behandlerischen Haltung (Bedeutung der therap. Beziehung, Verständnis von Motivationsarbeit als Prozess) → MI und DBT effektiv, weil sie über je eigene Menschenbilder und therapeutische Haltungen verfügen? 4. Trotz forensischer Besonderheiten könnte es sich lohnen „out of the box“ zu denken und alternative Behandlungsansätze (Zieloffenheit → kontrollierte Konsumformen, Schadensminimierung) zu beachten 16.05.2022 Folie 30
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!!! Für Fragen, Anregungen, Kritik: jan.querengaesser@lvr.de
Literaturverzeichnis I Austin, K. P., Williams, M. W. M., & Kilgour, G. (2011). The Effectiveness of Motivational Interviewing with Offenders: An Outcome Evaluation. New Zealand Journal of Psychology, 40(1). Barnao, M., & Ward, T. (2015). Sailing uncharted seas without a compass: A review of interventions in forensic mental health. Aggression and Violent Behavior, 22(1), 77–86. doi:10.1016/j.avb.2015.04.009 Bezzel A (2009) Therapieabbruch im Maßregelvollzug (Paragraph 64 StGB) - Charakteristika und Prädiktoren. In: Praxis der Rechtspsychologie 19(1): 146-153 Bezzel, A. (2020). Ergebnisqualitätsmessung Bayern, in: J. Müller & M. Koller (Hrsg.), Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Stuttgart, 42–56 Bezzel, A. & Schlögl, C. (2021). Eine Retrospektive zum bayerischen Maßregelvollzug: »alles bewegt sich fort und nichts bleibt«? Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 28/2, 151-172. Brown, R. A., Abrantes, A. M., Minami, H., Prince, M. A., Bloom, E. L., Apodaca, T. R., ... & Hunt, J. I. (2015). Motivational interviewing to reduce substance use in adolescents with psychiatric comorbidity. Journal of substance abuse treatment, 59, 20-29. De Andrade, D., Ritchie, J., Rowlands, M., Mann, E., & Hides, L. (2018). Substance use and recidivism outcomes for prison-based drug and alcohol interventions. Epidemiologic reviews, 40(1), 121-133. Dimmek B, Brunn DE, Meier S, Stremmel M, Suer P, Westendarp AM, Westendarp H (2010) Bewährungsverlauf und Wiedereingliederung suchtkranker Rechtsbrecher. Pabst Science Publishers, Lengerich Evershed, S., Tennant, A., Boomer, D., Rees, A., Barkham, M., & Watson, A. (2003). Practice‐based outcomes of dialectical behaviour therapy (DBT) targeting anger and violence, with male forensic patients: A pragmatic and non‐contemporaneous comparison. Criminal Behaviour and Mental Health, 13(3), 198-213. Fontao, M., Schorer, L., & Ross, T. (2021). Therapeutische Wirkfaktoren in der Behandlung von Straftätern: ein systematisches Literaturreview. Fortschr Neurol Psychiatr. 89(10), 483-495 Gee, J., & Reed, S. (2013). The HoST programme: A pilot evaluation of modified dialectical behaviour therapy with female offenders diagnosed with borderline personality disorder. European Journal of Psychotherapy & Counselling, 15(3), 233-252. Gericke B, Kallert TW (2007) Zum Outcome der Maßregelvollzugsbehandlung nach § 64 StGB. In: Psychiatrische Praxis 34: 5218-5226 HAKTANIR, A., & CALLENDER, K. A. (2020). Meta-analysis of dialectical behavior therapy (DBT) for treating substance use. Research on Education and Psychology, 4(Special Issue), 74-87. 17.06.2022 Folie 32
Literaturverzeichnis II Hayhurst, K. P., Leitner, M., Davies, L., Millar, T., Jones, A., Flentje, R., ...Shaw, J. (2019). The effectiveness of diversion programmes for offendersusing Class A drugs: a systematic review and meta-analysis. Drugs: Education, Prevention and Policy, 26(2), 113-124.https://doi.org/10.1080/09687637.2017.1398715 Jehle JM, Albrecht HJ, Hohmann-Fricke S, Tetal C (2010). Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2004 bis 2007. Bundesministerium der Justiz, Berlin Ivanoff, A., & Marotta, P. L. (2018). DBT in forensic settings. Oxford handbook of dialectical behaviour therapy, 615-644. Koehler, J. A., Humphreys, D. K., Akoensi, T. D., Sánchez de Ribera, O., & Lösel, F. (2014). A systematic review and meta-analysis on the effects of European drug treatment programmes on reoffending. Psychology, Crime & Law, 20(6), 584-602. Körkel, J. (2020). Abstinenz als Primärziel in der Behandlung suchtmittelabhängiger Straftäter – ein zeitgemäßes Therapiekonzept? Bewährungshilfe, 67 (3) 269 –293 Long, C. G., Fulton, B., Dolley, O., & Hollin, C. R. (2011). Dealing with feelings: The effectiveness of cognitive behavioural group treatment for women in secure settings. Behavioural and cognitive psychotherapy, 39(2), 243-247.Mallion, J. S., Tyler, N., & Miles, H. L. (2020). What is the Evidence for Offense-Specific Group Treatment Programs for Forensic Patients?. International Journal of Forensic Mental Health, 19(2), 114-126. Mallion, J. S., Tyler, N., & Miles, H. L. (2020). What is the evidence for offense-specific group treatment programs for forensic patients?. International Journal of Forensic Mental Health, 19(2), 114-126. McMurran, M. (2007). What works in substance misuse treatments for offenders? Criminal Behaviour and Mental Health 17: 225–233 McMurran, M. (2009). Motivational interviewing with offenders: A systematic review. Legal and Criminological Psychology, 14(1), 83-100. Müller, J. L., Saimeh, N., Briken, P., Eucker, S., Hoffmann, K., Koller, M., ... & Zeidler, R. (2017). Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB. Der Nervenarzt, 88(1), 1-29. Perry, A.E., Martyn-St James, M., Burns, L., Hewitt, C., Glanville, J.M., Aboaja, A., Thakkar, P., Santosh Kumar, K.M., Pearson,C., Wright,K., Swami, S. (2019) Interventions for drug-using offenders with co-occurring mental health problems. Cochrane Database of Systematic Reviews 2019, Issue 10. Art. No.: CD010901. DOI: 10.1002/14651858.CD010901.pub3. 17.06.2022 Folie 33
Literaturverzeichnis III Perry, A.E., Neilson, M., Martyn-St James, M., Glanville, J.M., Woodhouse, R., Godfrey, C., Hewitt, C. (2015). Pharmacological interventions for drug-using o'enders. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 6. Art. No.: CD010862. DOI: 10.1002/14651858.CD010862.pub2. Querengässer, J., Bulla, J., Hoffmann, K. & Ross, T. (2018). Therapieabbruch als Prädiktor erneuter Straftaten: Legalbewährung von Patienten nach Unterbringungen gemäß § 64 StGB. Nervenarzt 89/1, 71–77. Querengässer, J., Hoffmann, K., Bulla, J. & Ross, T. (2017b). Einflussfaktoren forensischer Suchttherapie aus Patienten- und Therapeutensicht. Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin, 38, 93–106. Roberts, A.J., Hayes, A.J., Carlisle, J., & Shaw, J. (2007). Review of Drug and Alcohol Treatments in Prison and Community Settings, A Systematic Review Conducted on Behalf of the Prison Health Research Network. Project documentation, The University of Manchester Rosenfeld, B., Galietta, M., Foellmi, M., Coupland, S., Turner, Z., Stern, S., ... & Ivanoff, A. (2019). Dialectical behavior therapy (DBT) for the treatment of stalking offenders: A randomized controlled study. Law and human behavior, 43(4), 319. Rosenfeld, B., Galietta, M., Ivanoff, A., Garcia-Mansilla, A., Martinez, R., Fava, J., ... & Green, D. (2007). Dialectical behavior therapy for the treatment of stalking offenders. International Journal of Forensic Mental Health, 6(2), 95- 103. Sakdalan, J. A., & Collier, V. (2012). Piloting an evidence-based group treatment programme for high risk sex offenders with intellectual disability in the New Zealand setting. New Zealand Journal of Psychology, 41(3), 6-12. Sakdalan, J. A., Shaw, J., & Collier, V. (2010). Staying in the here‐and‐now: A pilot study on the use of dialectical behaviour therapy group skills training for forensic clients with intellectual disability. Journal of Intellectual Disability Research, 54(6), 568-572. Schalast N. Ergebnisse der Essener Evaluationsstudie. In: Schalast N, eds. Straffällige mit Suchtproblemen – Fakten, Erfahrungen und Ergebnisse der Essener Evaluationsstudie. Lengerich: Pabst Science Publishers; 2019: 29–150 Steinert, T., Traub, H.-J. & Weitz, H.-J. (2020). Plädoyer für die Abschaffung des § 64 StGB, in: J. Müller & M. Koller (Hrsg.), Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Stuttgart, 84–102. Statistisches Bundesamt (2020). Rechtspflege – Strafverfolgung. Fachserie 10 Reihe 3, Berichtsjahr 2019. https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Strafverfolgung- Strafvollzug/strafverfolgung-2100300197004.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 28.12.2020 17.06.2022 Folie 34
Literaturverzeichnis IV Tomlinson, M. F. (2018). A theoretical and empirical review of dialectical behavior therapy within forensic psychiatric and correctional settings worldwide. International Journal of Forensic Mental Health, 17(1), 72-95. Wampold, B.E., & Imel, H.E. (Eds.) (2015). The Great Psychotherapy Debate - The Evidence for What Makes Psychotherapy Work. New York: Routledge Wettermann, A., Völlm, B., & Schläfke, D. (2020). Highly Structured Treatment Programs for Addicted Offenders: Comparing the Effects of the Reasoning & Rehabilitation Program and DBT-F. Frontiers in Psychiatry, 11, doi:10.3389/fpsyt.2020.499241. Witkiewitz, K., Hallgren, K. A., Kranzler, H. R., Mann, K. F., Hasin, D. S., Falk, D. E., ... & Anton, R. F. (2017). Clinical validation of reduced alcohol consumption after treatment for alcohol dependence using the World Health Organization risk drinking levels. Alcoholism: clinical and experimental research, 41(1), 179-186 Witkiewitz, K., Wilson, A. D., Pearson, M. R., Montes, K. S., Kirouac, M., Roos, C. R., ... & Maisto, S. A. (2019). Profiles of recovery from alcohol use disorder at three years following treatment: can the definition of recovery be extended to include high functioning heavy drinkers?. Addiction, 114(1), 69-80. Zimmermann, P., Förster, J., & Reiske, S. (2021). DBT-Sucht. Dialektisch-Behaviorale Therapie bei Borderline- und Substanzgebrauchsstörungen (DBT-S). Göttingen, Hogrefe 17.06.2022 Folie 35
Sie können auch lesen