Ausweg aus suchtbedingter Delinquenz? Über die Effektivität forensischer Suchtbehandlung

Die Seite wird erstellt Jasmin Sommer
 
WEITER LESEN
Ausweg aus suchtbedingter Delinquenz? Über die Effektivität forensischer Suchtbehandlung
Ausweg aus suchtbedingter Delinquenz?

Über die Effektivität forensischer Suchtbehandlung

Dr. Jan Querengässer

17.06.2022
25. Berliner Junitagung für Forensische Psychiatrie und Psychologie
Überblick

1.   Prologe
•    Begriffsklärung
•    Die Bedeutung der Suchtbehandlung im MRV

2.   Studienlage zur Effektivität forensischer Suchtbehandlung
•    Die Makro-Ebene
•    Die Mikro-Ebene

3.   Einzelne Behandlungsansätze
•    Motivational Interviewing
•    DBT

4.   Weitergehende Überlegungen zu…
•    Allgemeinen Wirkfaktoren
•    Therapiezielsetzung

5.   Fazit

17.06.2022                                                       Folie 2
Prologe
Begriffsklärung

Forensische Suchtbehandlung

im weiteren Sinne:
jede Form einer Heilbehandlung substanzbezogener Abhängigkeitsproblematiken im Kontext
     einer von Justizseite auferlegten Weisung oder Vorgabe

im engeren Sinne:
die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des deutschen Strafgesetzbuches
     (StGB)

Erste Herausforderung: Die in § 64 StGB geregelte Unterbringung suchtkranker Straftäter
     jenseits des Regelvollzugs stellt im internationalen Vergleich ein Unikat dar, analoge
     Vorschriften dazu finden sich allenfalls im Schweizer Strafgesetzbuch.
→ Wie gut lassen sich Forschungsbefunde aus anderen Ländern übertragen/integrieren?

17.06.2022                                                                                    Folie 4
Die Bedeutung der Suchtbehandlung im MRV

Aus der Strafverfolgungsstatistik 2020:

Anteil der UAO gem. § 64 StGB:
77% bezogen auf §§ 63/64
    StGB                                  Unterbringungsanordnungen Anzahl

Geschätzt bei 1/3 der UAO gem.
    § 63 StGB: komorbid Sucht             699
                                                               § 64 StGB
                                   350
→ Selbst wenn nur die Hälfte
    davon eine „deliktrelevante“                               § 63 StGB, komorbid
                                                               Sucht (geschätzt)
    Sucht aufweist:
                                                               § 63 StGB ohne
Behandlungsauftrag                                      3515   komorbide Sucht
                                                               (geschätzt)
    Suchttherapie in   > 80%
    aller Einweisungen!

    17.06.2022                                                       Folie 5
Studienlage zur Effektivität forensischer
Suchtbehandlung
Die Makro-Ebene international

→ „European drug treatment programmes on reoffending“ (Meta-
     Analyse; Koehler et al. 2014): Overall-Effekt
     Deliktrückfälligkeit: d = 0,47; Substanzkonsum: d = 0,38

→ Diskrepanz: Immerhin 12 Studien zur Effektivität von
     Gruppentherapien bei forensischen Suchtpatienten vs.
     Befragungsergebnis, dass die meisten Kliniken in UK „in-
     house“ entwickelte Konzepte nutzen (Mallion et al. 2019)

…und national (zusammengefasst)

→ Ermutigende Wirksamkeitsbelege für Effektivität der Behandlung gem. § 64 StGB (v.a. Essener
     Evaluationsstudie; Schalast, 2019)

→ Die Ergebnisse sind zwar nicht frei von Kritik (Steinert, Traub & Weitz, 2020), aber auch andere
     Katamnese-Studien belegen den Erfolg forensischer Suchtbehandlung (Bezzel 2020;
     Querengässer u.a. 2018; Bezzel & Schlögl 2021)

17.06.2022                                                                               Folie 7
Ältere Studien zur Legalbewährung

•    Bundesweite Rückfalluntersuchung (Jehle et al. 2010ff): Für gut 43% der unter
     Führungsaufsicht stehenden ehemaligen Patienten nach § 64 StGB wurden in einem
     dreijährigen Risikozeitraum erneute Straftaten registriert (n = 1108).

•    Regensburger Katamnese-Studie (Bezzel 2009): Insgesamt wurden von n = 164
     Patienten gut 35% im ersten Jahr nach Entlassung erneut straffällig.
       → meist leichte Delinquenz
       → Suchtmitteleinfluss spielte bei 75% der Wiederholungstäter eine Rolle

•    Sächsische Outcome-Studie (Gericke & Kallert 2007): Im zweijährigen Risikozeitraum
     kam es bei 37% der 120 ehemaligen Patienten zu Delinquenz
       → meist leichte Delinquenz, allerdings ein breites Spektrum
       → nur selten (< 25%) einschlägige Delikte

•    LWL-Studie zum Bewährungsverlauf (Dimmek et al. 2010): Bei 45,2% der 155
     Patienten kam es im Risikozeitraum von 3 Jahren zu mindestens einem erneuten Delikt,
     bei immerhin 19,4% zu mindestens zwei Delikten.
       → nur selten (< 25%) Verurteilung zu Freiheitsstrafen

17.06.2022                                                                             Folie 8
Eigene Studie zum Zusammenhang Entlassart und Legalbewährung

                                      Zeitreihenvergleich:

                                      Log Rank
                                      (Mantel-Cox):
                                      Chi² (df = 1) = 16,94***

                                      Gruppe I: MW = 46,1 Monate
                                      bis zu einem Rückfall

                                      Gruppe II: MW = 24,7 Monate

                                               Quelle: Querengässer et al., 2018
17.06.2022                                                            Folie 9
BZR-Folgeeinträge innerhalb von 2 Jahren nach Entlassung

                                                              Faktor 1:1,7

                                                              Faktor 1:3,9

                                                              Faktor 1:3,8

                                                             Faktor 1:1,6

                                                              Faktor 1:2,7

                                                              Faktor 1:3,1

→ Kommt es zu einem Delikt, ist dieses bei Patienten mit einer Erledigung schwerer
     und mit hoher Wahrscheinlichkeit einschlägig.
17.06.2022                                                                    Folie 10
Die Essener Evaluationsstudie – Kernaussage 1

                                                    Zeitreihenvergleich:

                                                    Log Rank (Tarone-Ware):
                                                    Chi² (df = 1) = 24,2***
                                                    d = 0,46

                                                    Anteil Bewährung (1000 Tage)
                                                    MRV = 52,7%
                                                    JVA = 32,8%
                                                    → Vorteil 19,9%

                                                    Relative risk reduction: 29,6%

Kriterium hier: Irgendein Eintrag im BZR.

                                                Quelle: Schalast, 2019
17.06.2022                                                               Folie 11
Die Essener Evaluationsstudie – Kernaussage 2

                                                                         Zeitreihenvergleich:

                                                                         Log Rank (Tarone-Ware):
                                                                         Chi² (df = 1) = 14,2***
                                                                         d = 0,34

                                                                         Anteil Bewährung (1000 Tage)
                                                                         MRV = 69,6%
                                                                         JVA = 54,4%
                                                                         → Vorteil 15,5%

                                                                         Relative risk reduction: 34%

Kriterium hier: Eintrag im BZR, der zu erneuter Freiheitsstrafe führte (inkl. Bewährung).

                                                                     Quelle: Schalast, 2019
17.06.2022                                                                                    Folie 12
Vom wie      (wirkt „die Behandlung“)   zum was   (genau wirkt denn nun)…

Wichtig ist nicht nur zu wissen, dass „die Behandlung“ wirkt, sondern auch was genau wirkt,
     und woran dies liegt.
→ Frage nach der Evidenz einzelner Behandlungselemente
→ Frage nach den Wirkfaktoren

Besonderheit im MRV: Psychotherapie ist im MRV eigentlich nie eigenständiger Wirkagens!

                             Behandlungsverlauf
                               und -ergebnis

17.06.2022                                                                              Folie 13
Evidenzbasierung, Mikro-Ebene

S3 Leitlinie “Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”, AWMF-
     Registernummer 076-001 (Umfang: 411 Seiten)
→ forensisch 4mal, davon 2 mal im Literaturverzeichnis; Maßregelvollzug 3mal, davon 2mal
     im Literaturverzeichnis und einmal in Statistik, wer wo behandelt wird; Forensik 0mal

S 3 Leitlinie „Methamphetamin-bezogene Störungen“, Registernummer 038-024
→ forensisch 1mal, Maßregelvollzug 0mal, Forensik 0mal

(S3 Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“, Registernummer 038 – 025)
→ forensisch 0mal, Maßregelvollzug 0mal, Forensik 0mal

Leitlinienanmeldung „Opioidbezogene Störungen“, Reg.-Nr. 076 – 012
Leitlinienanmeldung „Behandlung Cannabisbezogener Störungen“, Reg.-Nr. 076-005

Was folgt daraus???
Forensic therapists “…must sail in uncharted seas, doing the best they can to find the most
effective treatments for their patients …[until further research evidence accrues]” (Barnao &
Ward, 2015, p. 83)

17.06.2022                                                                                Folie 14
Evidenzbasierung, Mikro-Ebene

Behandlungsstandards der DGPPN (Müller et al. 2017)
-    Verweis auf Leitlinien, „wobei einschränkend auf die Grenzen der Übertragbarkeit
     evidenzbasierter Leitlinien, die nicht an forensisch psychiatrischen Patienten gewonnen
     wurden, verwiesen wird.“
-    Aber: Gibt im Abschnitt „Störungen durch psychotrope Substanzen (ICD-10: F1)“ eine
     Übersicht über Behandlungselemente:
       -     State of the Art: „gut organisierte therapeutische Gemeinschaften mit hoher
             Alltagsverantwortung der Patienten, sinngebender Arbeit, aktiver Freizeitgestaltung
             mit Sport- und Kulturangeboten, bevorzugt in Gruppen, sowie
             Gruppenpsychotherapien mit dem Anspruch der Deliktbearbeitung“
       -     „Substitutionsbehandlung oder eine psychopharmakologische Behandlung je nach
             individueller Indikationsstellung“
       -     Motivational Interviewing
       -     Dialektisch-behaviorale Therapie - DBT (v.a. im Kontext von Borderline)
       -     Übertragungsfokussierte forensische Therapie - TFFP (Evidenzbasierung gegeben,
             bezieht sich allerdings nicht auf „harte“ forensische Kriterien)

17.06.2022                                                                                  Folie 15
Evidenzbasierung, Überblick I

McMurran (2007) – Überblicksarbeit (wiss. Artikel):
-    Strongest effectiveness: therapeutic communities & cognitive-behavioral therapies
-    Inneffective: purely behavioral therapies, boot camps & group counseling
-    Promising: methadone/diamorphine maintenance prescription [Substitution] combined
     with psychological treatment
-    Diversion of drug-using offenders into treatment → indirekte Unterstützung für § 64
     StGB

Roberts et al. (2007) – Systematisches Review (Projektbericht):
-    Illicit drugs: Therapeutic communities and aftercare seemed to be the most
     promising of interventions – but no single gold standard treatment intervention (Verweis
     auf Perry et al . 2006)
-    Alcohol: 4x Psycho-Social-Behavioural interventions were effective in reducing both
     alcohol use/abuse and criminal activity, 2x increased rates of recidivism, 1x increased
     alcohol use → Ambivalente Befunde

17.06.2022                                                                                 Folie 16
Evidenzbasierung, Überblick II

De Andrade et al. (2018) – Systematisches Review, aber prison-based (wiss. Artikel):
-    Therapeutic communities are effective in reducing recidivism and, to a lesser extent
     substance use after release
-    opioid maintenance treatment is effective in reducing the risk of drug use after
     release
-    care after release appears to enhance treatment effects for both types of interventions

Hayhurst et al. (2019) – Meta-Analyse zu „community based diversion“ (wiss. Artikel):
-    Basiert auf 16 Studien
-    Behandlung reduziert Konsum von Heroin/Kokain stärker (OR = 1,68) als Inhaftierung,
     für andere Drogen sogar OR = 2,60
-    Aber: nur geringe Effekte auf Re-Delinquenz

17.06.2022                                                                               Folie 17
Evidenzbasierung, Überblick III

Cochrane-Database
Perry et al. (2019) – Systematisches Review (drug-using offenders with cooccurring
mental health problems):

17.06.2022                                                                           Folie 18
Evidenzbasierung, Überblick III

Perry et al. (2019) – Systematisches Review (drug-using offenders with co-occurring Mental
     health problems):
-    Stärkste Evidenz für: Therapeutische Gemeinschaft
-    (Noch) unklare Evidenzlage für interpersonelle Psychotherapie, multisystemische Ansätze,
     Motivational interviewing

Perry et al. (2015) – Systematisches Review (Pharmacological interventions for drug-using
     offenders):
-    Überraschung: Behandlung mit Agonisten (Substitution) scheint keinen Effekt auf
     Substanzkonsum und Redlinquenz zu haben
-    Behandlung mit Antagonist (Naltrexon) scheint keinen Effekt auf Substanzkonsum,
     aber auf Redelinquenz zu haben
-    Aber: alles im Vergleich zu nicht-Pharmakotherapie (also sehr wohl andere
     Behandlungselemente)

17.06.2022                                                                              Folie 19
Einzelne Behandlungsansätze
Motivational Interviewing – Evidenzbasierung im forensischen Kontext

Brown et al. (2015) – Originalarbeit:
•    Jugendliche mit psychiatrischer Komorbidität
•    Nicht nur Rückgang in Konsummenge, sondern auch in „rule-breaking behaviours“
     (6-Monats-Katamnese)

Austin et al. (2011) – Originalarbeit:
•    Inhaftierte (keine Sucht), die mit einer MI Adaption behandelt wurden
•    Anstieg der Veränderungsbereitschaft

McMurran (2009) – Systematisches Review:
•    Basiert auf 13 publizierten Studien und 6 Dissertationen. 10 zu substanzabhängigen
     Straftätern
•    “MI can lead to improved retention in treatment, enhanced motivation to change, and
     reduced offending, although there are variations across studies.”

Leider sind keine aktuelleren Studien oder Meta-Analysen zu finden…

17.06.2022                                                                                Folie 21
Exkurs: Wieso ist Motivierung im Kontext forensischer Suchtbehandlung
so wichtig???

          Ambivalente
      Behandlungsmotivation

                                    *         Ambivalente
                                          Behandlungsmotivation

                                     =
             Potenz aus störungs- und kontextbedingter Ambivalenz

→ Die Essenz forensischer Suchtbehandlung steckt in permanenter
Motivationsarbeit!!!

28.06.2022                                                          Folie 22
DBT-F – Wirksamkeit: Ausgewählte Einzelbefunde
(F = forensische Adaptation der DBT)

Evershed et al. (2003): Male forensic BPT-patients, UK
-    Nach DBT: weniger gewalttätiges Verhalten, weniger Feindseligkeit und Ärgererleben

Rosenfeld et al. (2007): Stalking offenders, outpatient treatment, USA
-    DBT-completers: Bessere Legalbewährung (im Vergleich zu Basisrate und Drop-Out)
-    Jüngst wurde sogar eine RCT-Studie zum Thema publiziert (Rosenfeld et al. 2019)

Long et al. (2010): Female offenders, UK
-    Nach DBT: weniger Fremdaggressivität                                Sogar „harte“
                                                                         Kriterien untersucht
Sakdalen et al. (2010); Sakdalen & Collier (2012):
forensic clients with intellectual disability, Neuseeland
-    Nach DBT: Rückgang kriminogener Faktoren bzw. verbaler & körperlicher Aggression
     sowie sexueller Übergriffigkeit

Gee & Reed (2013): Female offenders, UK
-    Nach DBT: weniger gerichtliche Folgeentscheidungen

16.05.2022                                                                                Folie 23
DBT-F – Wirksamkeit: Reviews & Fazit

Iwanoff & Marotta (2018) - Lehrbuchartikel inkl. Review: “DBT shows promise for widely
     diverse forensic populations based on demographic, clinical, and criminological factors.”

Tomlinson (2018) - Empirical Review: “…preliminary evidence that DBT has the potential to
     reduce recidivism risk in criminal justice systems if applied within a Risk-Need-
     Responsivity framework.”

Wieso DBT auch in forensischer Suchtbehandlung?
-    Oft Überschneidung zwischen PS und Sucht
-    Substanzkonsum als „typischer“ Copingstil → begünstigt Suchtentwicklung
-    Eigenständiges DBT-Suchtmanual liegt vor (DBT-S; Zimmermann et al. 2021)
-    Wirksamkeit von DBT bei Suchterkrankung sogar meta-analytisch bestätigt (Haktanir &
     Callender, 2020)
-    Auch erste dt. Studien befassen sich mit DBT bei forensischen Suchtpatienten
     (Wettermann et al. 2020 – allerdings mit gemischter Evidenz)

Fazit zu DBT-F bei Suchterkrankungen
- Spielt Impulsivität/emotionale Instabilität eine Rolle in der Genese der Suchterkrankung,
     kann DBT-F ein vielversprechender Behandlungsansatz sei
16.05.2022                                                                                 Folie 24
Weitergehende Überlegungen
Evidenzbasierung, Wirkfaktoren             (aus allg. Psychotherapie)

Faktor(gruppe)             Variable                                     Studien   Patienten    ES

Wirkung von                Psychotherapie                               > 500     > 80.000     0,80
Psychotherapie
Kontextuelle Faktoren      Allianz                                      190       > 14.000     0,57
                           Empathie                                     59        3.599        0,63
                           Zielkonsens/Zusammenarbeit                   15        1.302        0,72
                           …
                           Person des Psychotherapeuten                 29+17     14.519       0,35-
                                                                                               0,55
Spezifische Wirkfaktoren   Unterschiede zwischen Treatments             295       > 5.900
Kontextuelle Wirkfaktoren in forensischer Suchtbehandlung

Bisher keine Studien bekannt, die sich dezidiert damit auseinander setzen, aber Hinweise

Querengässer et al. (2017), (eher explorative) Originalarbeit: Abbrecher und regulär entlassene
     Patienten unterschieden sich nicht in den Wirkfaktoren Problemaktualisierung, -bewältigung
     und Ressourcenaktivierung, aber im Faktor therapeutische Beziehung.
     → Die therapeutische Beziehung ist zentral für das Gelingen forensischer Suchttherapie. Es
     erscheint notwendig, mit MRV-Patienten intensiver als bisher an einem gemeinsamen
     Bewertungsrahmen des Therapieprozesses zu arbeiten.

Fontao et al. (2021), systematisches Literaturreview zu Straftäterbehandlung: Untersucht wurden
     allgemeine Wirkfaktoren (therapeutische Allianz, soziales Klima, Feedback) und
     Therapeutenfaktoren (zwischenmenschliche Fähigkeiten/Eigenschaften, Persönlichkeit,
     Therapieerwartung).
     → keine einheitliche Evidenz, aber Tendenzen: Soziales Klima, Feedback, therapeutische
     Allianz; Empathie, Wärme, Belohnung, Leitung, konfrontativer Therapiestil
     → Bedeutender Zusammenhang zwischen allgemeinen Wirk- und Therapeutenfaktoren und
     Therapieoutcome in der Therapie von Straftätern ist wahrscheinlich, aber noch liegen zu
     wenige kontrollierte Studien vor, um ihn zweifelsfrei zu untermauern.

16.05.2022                                                                                 Folie 27
(Letzter hoffentlich weiterführender) Gedanke: Evidenzbasierung
alternativer Behandlungsansätze bzw. -ziele

Eine Überlegung wert: Ist die implizite Abstinenzzielvorgabe in jedem Fall sinnvoll
     und alternativlos?
(vgl. § 64 StGB: „Konsum im Übermaß“ und nicht „Konsum per se“)

Die Evidenz mehrt sich, dass auch alternative Ansätze wirksam sind, um
     Abhängigkeitsproblematiken zu lindern:
-    Behandlungsansatz des selbstkontrollierten Substanzkonsums (z.B. „Kontrolliertes
     Trinken“)
-    Schadensminimierende Ansätze (neben Substitution z.B. drug checking, hygienischer
     Konsum etc.)
-    Siehe dazu Körkel, 2020

All das im forensischen Kontext noch nicht evidenzbasiert* – aber Henne-Ei- Problem: Wenn
     es niemand anwendet, kann es nicht evaluiert werden…

* Indirekt: Reduktion der Trinkmenge fördert die soziale Stabilisierung und gesetzeskonformes Verhalten
     (Witkiewitz et al., 2017; Witkiewitz, Wilson et al., 2019b)

16.05.2022                                                                                          Folie 28
Fazit
Take-Home-Message, Bullet-Points oder was auch immer…

1.   Forensische Suchtbehandlung gem. § 64 StGB ist nicht frei von Herausforderungen und
     bietet an vielen Stellen Optimierungspotential. Doch mehren sich die Befunde, dass die
     Behandlung in der Breite geeignet ist, suchtbedingte Delinquenzneigung zu lindern.

2.   Es mehrt sich (auch international) die Evidenz, dass das deutsche System der
     gesonderten Behandlung suchtkranker Straftäter in einem therapeutischen Setting so
     schlecht nicht ist.

3.   Die Evidenz scheint weniger in der Applikation einzelner Ansätze oder Techniken
     begründet zu sein als im Setting (Milieutherapie, therapeutische Gemeinschaft) und der
     behandlerischen Haltung (Bedeutung der therap. Beziehung, Verständnis von
     Motivationsarbeit als Prozess) → MI und DBT effektiv, weil sie über je eigene
     Menschenbilder und therapeutische Haltungen verfügen?

4.   Trotz forensischer Besonderheiten könnte es sich lohnen „out of the box“ zu denken und
     alternative Behandlungsansätze (Zieloffenheit → kontrollierte Konsumformen,
     Schadensminimierung) zu beachten

16.05.2022                                                                                Folie 30
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!!!

Für Fragen, Anregungen, Kritik: jan.querengaesser@lvr.de
Literaturverzeichnis I
Austin, K. P., Williams, M. W. M., & Kilgour, G. (2011). The Effectiveness of Motivational Interviewing with Offenders: An
     Outcome Evaluation. New Zealand Journal of Psychology, 40(1).
Barnao, M., & Ward, T. (2015). Sailing uncharted seas without a compass: A review of interventions in forensic mental
     health. Aggression and Violent Behavior, 22(1), 77–86. doi:10.1016/j.avb.2015.04.009
Bezzel A (2009) Therapieabbruch im Maßregelvollzug (Paragraph 64 StGB) - Charakteristika und Prädiktoren. In: Praxis
     der Rechtspsychologie 19(1): 146-153
Bezzel, A. (2020). Ergebnisqualitätsmessung Bayern, in: J. Müller & M. Koller (Hrsg.), Reformansätze zur Unterbringung
     nach § 64 StGB. Stuttgart, 42–56
Bezzel, A. & Schlögl, C. (2021). Eine Retrospektive zum bayerischen Maßregelvollzug: »alles bewegt sich fort und nichts
     bleibt«? Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 28/2, 151-172.
Brown, R. A., Abrantes, A. M., Minami, H., Prince, M. A., Bloom, E. L., Apodaca, T. R., ... & Hunt, J. I. (2015).
     Motivational interviewing to reduce substance use in adolescents with psychiatric comorbidity. Journal of substance
     abuse treatment, 59, 20-29.
De Andrade, D., Ritchie, J., Rowlands, M., Mann, E., & Hides, L. (2018). Substance use and recidivism outcomes for
     prison-based drug and alcohol interventions. Epidemiologic reviews, 40(1), 121-133.
Dimmek B, Brunn DE, Meier S, Stremmel M, Suer P, Westendarp AM, Westendarp H (2010) Bewährungsverlauf und
     Wiedereingliederung suchtkranker Rechtsbrecher. Pabst Science Publishers, Lengerich
Evershed, S., Tennant, A., Boomer, D., Rees, A., Barkham, M., & Watson, A. (2003). Practice‐based outcomes of
     dialectical behaviour therapy (DBT) targeting anger and violence, with male forensic patients: A pragmatic and
     non‐contemporaneous comparison. Criminal Behaviour and Mental Health, 13(3), 198-213.
Fontao, M., Schorer, L., & Ross, T. (2021). Therapeutische Wirkfaktoren in der Behandlung von Straftätern: ein
     systematisches Literaturreview. Fortschr Neurol Psychiatr. 89(10), 483-495
Gee, J., & Reed, S. (2013). The HoST programme: A pilot evaluation of modified dialectical behaviour therapy with
     female offenders diagnosed with borderline personality disorder. European Journal of Psychotherapy & Counselling,
     15(3), 233-252.
Gericke B, Kallert TW (2007) Zum Outcome der Maßregelvollzugsbehandlung nach § 64 StGB. In: Psychiatrische Praxis
     34: 5218-5226
HAKTANIR, A., & CALLENDER, K. A. (2020). Meta-analysis of dialectical behavior therapy (DBT) for treating substance
     use. Research on Education and Psychology, 4(Special Issue), 74-87.

17.06.2022                                                                                                  Folie 32
Literaturverzeichnis II
Hayhurst, K. P., Leitner, M., Davies, L., Millar, T., Jones, A., Flentje, R., ...Shaw, J. (2019). The effectiveness of diversion
      programmes for offendersusing Class A drugs: a systematic review and meta-analysis. Drugs: Education, Prevention
      and Policy, 26(2), 113-124.https://doi.org/10.1080/09687637.2017.1398715
Jehle JM, Albrecht HJ, Hohmann-Fricke S, Tetal C (2010). Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine
      bundesweite Rückfalluntersuchung 2004 bis 2007. Bundesministerium der Justiz, Berlin
Ivanoff, A., & Marotta, P. L. (2018). DBT in forensic settings. Oxford handbook of dialectical behaviour therapy, 615-644.
Koehler, J. A., Humphreys, D. K., Akoensi, T. D., Sánchez de Ribera, O., & Lösel, F. (2014). A systematic review and
      meta-analysis on the effects of European drug treatment programmes on reoffending. Psychology, Crime & Law,
      20(6), 584-602.
Körkel, J. (2020). Abstinenz als Primärziel in der Behandlung suchtmittelabhängiger Straftäter – ein zeitgemäßes
      Therapiekonzept? Bewährungshilfe, 67 (3) 269 –293
Long, C. G., Fulton, B., Dolley, O., & Hollin, C. R. (2011). Dealing with feelings: The effectiveness of cognitive behavioural
      group treatment for women in secure settings. Behavioural and cognitive psychotherapy, 39(2), 243-247.Mallion, J.
      S., Tyler, N., & Miles, H. L. (2020). What is the Evidence for Offense-Specific Group Treatment Programs for
      Forensic Patients?. International Journal of Forensic Mental Health, 19(2), 114-126.
Mallion, J. S., Tyler, N., & Miles, H. L. (2020). What is the evidence for offense-specific group treatment programs for
      forensic patients?. International Journal of Forensic Mental Health, 19(2), 114-126.
McMurran, M. (2007). What works in substance misuse treatments for offenders? Criminal Behaviour and Mental Health
      17: 225–233
McMurran, M. (2009). Motivational interviewing with offenders: A systematic review. Legal and Criminological Psychology,
      14(1), 83-100.
Müller, J. L., Saimeh, N., Briken, P., Eucker, S., Hoffmann, K., Koller, M., ... & Zeidler, R. (2017). Standards für die
      Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB. Der Nervenarzt, 88(1), 1-29.
Perry, A.E., Martyn-St James, M., Burns, L., Hewitt, C., Glanville, J.M., Aboaja, A., Thakkar, P., Santosh Kumar, K.M.,
      Pearson,C., Wright,K., Swami, S. (2019) Interventions for drug-using offenders with co-occurring mental health
      problems. Cochrane Database of Systematic Reviews 2019, Issue 10. Art. No.: CD010901. DOI:
      10.1002/14651858.CD010901.pub3.

17.06.2022                                                                                                      Folie 33
Literaturverzeichnis III
Perry, A.E., Neilson, M., Martyn-St James, M., Glanville, J.M., Woodhouse, R., Godfrey, C., Hewitt, C. (2015).
      Pharmacological interventions for drug-using o'enders. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 6.
      Art. No.: CD010862. DOI: 10.1002/14651858.CD010862.pub2.
Querengässer, J., Bulla, J., Hoffmann, K. & Ross, T. (2018). Therapieabbruch als Prädiktor erneuter Straftaten:
      Legalbewährung von Patienten nach Unterbringungen gemäß § 64 StGB. Nervenarzt 89/1, 71–77.
Querengässer, J., Hoffmann, K., Bulla, J. & Ross, T. (2017b). Einflussfaktoren forensischer Suchttherapie aus Patienten-
      und Therapeutensicht. Verhaltenstherapie & Verhaltensmedizin, 38, 93–106.
Roberts, A.J., Hayes, A.J., Carlisle, J., & Shaw, J. (2007). Review of Drug and Alcohol Treatments in Prison and
      Community Settings, A Systematic Review Conducted on Behalf of the Prison Health Research Network. Project
      documentation, The University of Manchester
Rosenfeld, B., Galietta, M., Foellmi, M., Coupland, S., Turner, Z., Stern, S., ... & Ivanoff, A. (2019). Dialectical behavior
      therapy (DBT) for the treatment of stalking offenders: A randomized controlled study. Law and human behavior,
      43(4), 319.
Rosenfeld, B., Galietta, M., Ivanoff, A., Garcia-Mansilla, A., Martinez, R., Fava, J., ... & Green, D. (2007). Dialectical
      behavior therapy for the treatment of stalking offenders. International Journal of Forensic Mental Health, 6(2), 95-
      103.
Sakdalan, J. A., & Collier, V. (2012). Piloting an evidence-based group treatment programme for high risk sex offenders
      with intellectual disability in the New Zealand setting. New Zealand Journal of Psychology, 41(3), 6-12.
Sakdalan, J. A., Shaw, J., & Collier, V. (2010). Staying in the here‐and‐now: A pilot study on the use of dialectical
      behaviour therapy group skills training for forensic clients with intellectual disability. Journal of Intellectual Disability
      Research, 54(6), 568-572.
Schalast N. Ergebnisse der Essener Evaluationsstudie. In: Schalast N, eds. Straffällige mit Suchtproblemen – Fakten,
      Erfahrungen und Ergebnisse der Essener Evaluationsstudie. Lengerich: Pabst Science Publishers; 2019: 29–150
Steinert, T., Traub, H.-J. & Weitz, H.-J. (2020). Plädoyer für die Abschaffung des § 64 StGB, in: J. Müller & M. Koller
      (Hrsg.), Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Stuttgart, 84–102.
Statistisches Bundesamt (2020). Rechtspflege – Strafverfolgung. Fachserie 10 Reihe 3, Berichtsjahr 2019.
      https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Strafverfolgung-
      Strafvollzug/strafverfolgung-2100300197004.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 28.12.2020

17.06.2022                                                                                                         Folie 34
Literaturverzeichnis IV
Tomlinson, M. F. (2018). A theoretical and empirical review of dialectical behavior therapy within forensic psychiatric and
     correctional settings worldwide. International Journal of Forensic Mental Health, 17(1), 72-95.
Wampold, B.E., & Imel, H.E. (Eds.) (2015). The Great Psychotherapy Debate - The Evidence for What Makes
     Psychotherapy Work. New York: Routledge
Wettermann, A., Völlm, B., & Schläfke, D. (2020). Highly Structured Treatment Programs for Addicted Offenders:
     Comparing the Effects of the Reasoning & Rehabilitation Program and DBT-F. Frontiers in Psychiatry, 11,
     doi:10.3389/fpsyt.2020.499241.
Witkiewitz, K., Hallgren, K. A., Kranzler, H. R., Mann, K. F., Hasin, D. S., Falk, D. E., ... & Anton, R. F. (2017). Clinical
     validation of reduced alcohol consumption after treatment for alcohol dependence using the World Health
     Organization risk drinking levels. Alcoholism: clinical and experimental research, 41(1), 179-186
Witkiewitz, K., Wilson, A. D., Pearson, M. R., Montes, K. S., Kirouac, M., Roos, C. R., ... & Maisto, S. A. (2019). Profiles of
     recovery from alcohol use disorder at three years following treatment: can the definition of recovery be extended to
     include high functioning heavy drinkers?. Addiction, 114(1), 69-80.
Zimmermann, P., Förster, J., & Reiske, S. (2021). DBT-Sucht. Dialektisch-Behaviorale Therapie bei Borderline- und
     Substanzgebrauchsstörungen (DBT-S). Göttingen, Hogrefe

17.06.2022                                                                                                      Folie 35
Sie können auch lesen