Über 300 Schadstoffe in der Muttermilch. Zeit für eine neue Chemikalienpolitik.
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Endstation Mensch Glossar Chemikalien Monitoring = Überwachung DDE = Dichlor-Diphenyl-Dichlorethylen NOAEL = no observed adverse effect level (Abbauprodukt von DDT) (Dosis ohne nachteilige Wirkung) DDT = Dichlor-Diphenyl-Trichloroethan Kongenere = Einzelsubstanzen BBP = Butylbenzylphthalat persistent = langlebig DBP = Dibutylphthalat Pestizide = Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämp- DEHP = Di-ethyl-hexyl-phthalat fungsmittel in der Landwirtschaft DIBP = Di-iso-butyl-phthalat REACH = Registrierung, Evaluierung (= Bewertung DIDP = Di-iso-decyl-phthalat und Autorisierung (= Zulassung) von Chemikalien DINP= Di-iso-nonyl-phthalat TDI/TWI = Tolerable Daily/Weekly Intake = tolerier- DNOP = Di-n-octylphthalat bare tägliche/wöchentliche Aufnahmemenge HCB = Hexachlorbenzol TEQ/TEF = Toxizitätsäquivalent/Toxizitätsäquivalenz- HCH = Hexachlorcyclohexan faktoren, abgeleitet von Dioxin 2,3,7,8-TCDD mit TEF 1 PBDE = polybromierte Diphenylether (Polybromierte Flammschutzmittel) Institutionen DecaBDE = Decabromdiphenylether AGLBM = Ausschuss für Umwelthygiene der Arbeits- OctaBDE = Octabromdiphenylether gemeinschaft der Leitenden Medizinalbeamten PentaBDE = Pentabromdiphenylether APUG = Aktionsprogramm Umwelt und Gesundheit TetraBDE = Tetrabromdiphenylether BfR = Bundesinstitut für Risikobewertung HBCD = Hexabromcyclododecan (früher: BgVV) TBBA = Tetrabrombisphenol A BgVV = Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbrau- PCB = Polychlorierte Biphenyle cherschutz und Veterinärmedizin (heute: BfR) PCDD/PCDF = Polychlorierte Dibenzo-p-dioxine/ BMU = Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz Polychlorierte Dibenzofurane und Reaktorsicherheit TCDD = Tetrachlordibenzo-p-dioxin CTSEE = Wissenschaftlicher Ausschuss für Toxizität, POP = Persistent Organic Pollutants = langlebige Ökotoxizität und Umwelt der EU organische Schadstoffe DFG = Deutsche Forschungsgemeinschaft HBM-Kommission = Human-Biomonitoring- Definitionen Kommission BCF = Biokonzentrationsfaktor IRK = Innenraumlufthygiene-Kommission bioakkumulativ = sich anreichernd SCF = Wissenschaftlicher Ausschuss für Biozide = Schädlingsbekämpfungsmittel in nicht Lebensmittel der EU landwirtschaftlichen Bereichen UBA = Umweltbundesamt CMR = carcinogen (karzinogen/Krebs erregend), US EPA = Environmental Protection Agency mutagen (Erbgut schädigend), reprotoxisch (Fort- (US-amerikanische Umweltbehörde) pflanzungsfähigkeit beeinträchtigend) WHO = World Health Organisation = Weltgesund- endokrin = hormonell heitsorganisation Exposition = Schadstoffen ausgesetzt sein Halbwertszeit = Zeit, die dafür notwendig ist, um die Maßeinheiten Menge einer Substanz um die Hälfte zu reduzieren 1 Kilogramm (kg) = 1.000 Gramm (g) = inhärente Eigenschaften = die einer Substanz inne- 1.000.000 Milligramm (mg) wohnenden, chemisch-physikalischen Eigenschaften 1 Milligramm (mg) = 1.000 Mikrogramm (µg) = lipophil = fettliebend 1.000.000 Nanogramm (ng) = 1.000.000.000 Piko- Metabolite = Abbauprodukte gramm (pg) 2
Dr. Angelika Zahrnt Politisches Vorwort |BUND-Vorsitzende Über 300 Schadstoffe in der Muttermilch. Auch ihrer Chemikalien nachweisen und nicht mehr die ohne gesundheitliche Risikobewertung ist diese Behörden deren Gefährlichkeit, wenn das Kind Zahl Besorgnis erregend. Und sie ist das Ergebnis bereits in den Brunnen gefallen ist. Ein zentraler einer verfehlten Chemikalienpolitik. Bestandteil des neuen Systems: Die Firmen sind verpflichtet, alle Stoffe, die in einer Menge von Seit Beginn der Massenproduktion synthetischer über einer Tonne pro Jahr hergestellt werden, vor Chemikalien in den 1940er Jahren sind wir der der Vermarktung mit Angaben zu deren Sicherheit Einwirkung tausender neuer Substanzen ausge- behördlich registrieren zu lassen. Das aber ist der setzt. Damals dachte niemand an schädliche Chemieindustrie zu teuer. Und so hat sie durch Langzeitwirkungen: Chemische Stoffe wurden aggressive Lobbyarbeit („ Zu hohe Kosten gefähr- ohne amtliche Prüfungen in die Umwelt entlassen. den Arbeitsplätze.“) eine starke Verwässerung des Erst 1981 trat ein Chemikaliengesetz in Kraft, das an sich guten Ansatzes erreicht – der in der vor- vor der Vermarktung der Substanzen die verbind- liegenden Form unsere Kinder nicht mehr vor liche Prüfung auf Umwelt- und Gesundheitsge- Schadstoffen in der Muttermilch schützen wird. fahren vorschrieb. Die rund 100.000 verschiede- Die beispiellos übertriebenen Kostenargumente nen „Altstoffe“, die vor diesem Gesetz in Verkehr von Wirtschafts- und Industrieverbänden wurden gebracht wurden, haben vorher keinerlei Risikobe- selbst in einer industrieeigenen Studie widerlegt. wertung durchlaufen. Seit 1993 gibt es die EU- Dennoch haben führende konservative deutsche Altstoffverordnung, die den Schutz von Mensch EU-Parlamentarier die Änderungsvorschläge der und Umwelt vor Risiken durch diese Stoffe Chemieindustrie 1:1 übernommen, statt sich für nachträglich gewährleisten soll. Hierfür werden einen wirksamen Gesundheitsschutz ihrer Wäh- alle Substanzen nachuntersucht und entweder für lerInnen einzusetzen. Und die Positionen diverser die Nutzung freigegeben oder mit bestimmten konservativer und liberaler Landespolitiker im Beschränkungen versehen. 2005 lagen lediglich Rahmen der REACH-Debatte lassen erahnen, was für 300 Stoffe abgeschlossene Risikobewertungen zu erwarten wäre, würden sie uns auch im EU- vor – eine Voraussetzung für gesetzgeberische Ministerrat vertreten. Wenn nur noch ökonomi- Maßnahmen. Damit fehlen über zehn Jahre nach sche Interessen der Industrie das politische Han- Einführung des Systems noch immer grundlegen- deln bestimmen und unkalkulierbare Risiken in de Informationen über die Gefahren und die Ver- Kauf genommen werden. wendung der meisten vermarkteten Substanzen. Das System ist demnach nicht geeignet, einen Arbeitsplätze sind wichtig, aber nicht auf Kosten angemessenen Schutz von Mensch und Umwelt langfristiger und irreversibler Gesundheitsschä- vor gefährlichen Chemikalien zu gewährleisten. den. Außerdem sollen mit REACH Innovationen angeschoben und neue Arbeitsplätze geschaffen Das neue EU-Chemikaliengesetz REACH soll die- werden, die Europa zum führenden Standort für ses Defizit endlich beseitigen. Es ist die bisher be- umwelt- und gesundheitsverträgliche Produkte deutendste Reform zum Umwelt- und Gesund- machen – wenn die Industrie endlich ihren Wider- heitsschutz in Europa, wird z.Zt. vom EU-Parla- stand aufgeben und ihre Chancen in dieser Ent- ment beraten und soll Ende 2006 als Verordnung wicklung sehen würde. in Kraft treten. Damit muss die Industrie in Zu- kunft vor einer Vermarktung die Unbedenklichkeit 3
Endstation Mensch Kurzfassung In Europa hat die Produktion synthetischer Che- lastungen nicht erst mit dem Stillen, sondern be- mikalien seit den 1940er Jahren explosionsartig reits im Mutterleib. Viele der Chemikalien, mit zugenommen – bis 1980 kamen 106.000 Stoffe denen die Mutter belastet ist, können aus ihrem auf den Markt. Bereits 1950 wurde das Insekten- Blut in das ungeborene Kind gelangen. Ungebore- vernichtungsmittel DDT in der Muttermilch nach- ne und Kleinkinder sind besonders gefährdet, da gewiesen. Aber erst 1981 trat ein Chemikalienge- sie sich in empfindlichen Entwicklungsstadien setz in Kraft, das vor der Vermarktung der Stoffe befinden, in denen die Stoffe langfristige Schä- eine Prüfung auf Umwelt- und Gesundheitsge- den anrichten können. Die Folgen sind vielfältig fahren vorschrieb. Alle „Altstoffe“, die vor diesem und reichen von Allergien über Störungen des Gesetz in Verkehr gebracht wurden – ca. 97% der Immunsystems, verminderter Fruchtbarkeit und Substanzen – haben vorher keinerlei Risikobe- Krebs bis zu Verhaltensstörungen durch Beein- wertung durchlaufen. Das bedeutet, dass fast alle trächtigungen der Gehirnentwicklung. Stoffe in Kosmetika, Möbeln, Elektronikware usw. niemals auf Risiken für Mensch und Umwelt Insbesondere die hormonellen Schadstoffe kön- untersucht wurden. nen bereits in winzigen Mengen in entscheiden- de Stoffwechselvorgänge eingreifen und zu Viele dieser Chemikalien sind heute im Menschen schwerwiegenden Schäden führen. Neben den nachweisbar. Besonders Besorgnis erregend sind langlebigen und sich anreichernden Substanzen die langlebigen und Fett liebenden Stoffe, die ist diese Stoffgruppe besonders Besorgnis erre- nicht abgebaut werden und sich in fetthaltigen gend. Hinzu kommt, dass man von den meisten Geweben anreichern. Muttermilch ist ein beson- der Altstoffe nicht weiß, welche möglichen Schä- ders gut geeigneter Indikator für die Belastung den sie auf den Menschen haben können – sie mit diesen Chemikalien, da die angereicherten wurden schlichtweg vorher nie getestet. Die neue Substanzen während der Milchbildungsphase aus EU-Chemikaliengesetzgebung REACH (Regis- den Fettdepots in die Milch transportiert werden. trierung, Evaluierung und Autorisierung von Che- In Deutschland wurden seit 1980 mehr als 40.000 mikalien) soll dieses Defizit beseitigen. Sie ist die Muttermilchproben auf Chemikalienrückstände bisher bedeutendste Reform zum Umwelt- und untersucht. Viele giftige Stoffe, die bereits seit Gesundheitsschutz in Europa, wird z. Zt. vom EU- den 1970er Jahren verboten sind, z.B. PCB, wer- Parlament beraten und soll Ende 2006 als Ver- den noch immer in der Muttermilch nachgewie- ordnung in Kraft treten. Mit REACH soll die Indu- sen, wenn auch in abnehmender Menge. Ande- strie alle vor 1981 auf den EU-Markt gebrachten rerseits werden immer mehr neue Stoffgruppen Stoffe innerhalb bestimmter Fristen mit Angaben gefunden, z.B. Flammschutzmittel, Duftstoffe zur Sicherheit bei den Behörden melden. Nur jene und Weichmacher, die heute noch weit verbreitet Substanzen, die sich bei der folgenden Bewer- im Einsatz sind – das zeigt diese Studie, die die tung als ungefährlich herausstellen, dürfen wei- aktuellen Daten zur Muttermilchbelastung dar- ter vertrieben werden. Für bedenkliche Stoffe stellt und analysiert. müssen Sondergenehmigungen zur Nutzung beantragt und behördlich genehmigt werden. Mütter übertragen durch das Stillen einen Groß- REACH bietet die große Chance, alte Fehlent- teil der gespeicherten Fremdstoffe auf ihr Kind. wicklungen zu korrigieren und endlich einen vor- Inzwischen wurden mehr als 350 Schadstoffe sorgenden Gesundheits- und Umweltschutz ge- nachgewiesen, die der Säugling mit der Mutter- setzlich zu verankern. milch aufnehmen kann. Dabei beginnen die Be- 4
Muttermilch versorgt den Säugling mit lebens- nicht vom Stillen abhalten, sondern vor allem die wichtigen Nährstoffen und stärkt seine Abwehr- Dringlichkeit einer Reform der Chemiepolitik kräfte. Stillen lässt zudem eine enge Mutter- betonen. Der aktuelle REACH-Entwurf weist Kind-Bindung entstehen, eine wichtige Voraus- jedoch deutliche Defizite auf, zurückzuführen auf setzung für gesunde Entwicklung. Die Belastung den Einfluss der Chemieindustrie. Umweltver- der Muttermilch mit synthetischen Chemikalien bände fordern daher Nachbesserungen und ist daher ein besonders heikles Thema. Sie sollte haben fünf Hauptforderungen aufgestellt. Die fünf Hauptforderungen der Umweltverbände an die Reform der EU-Chemikalienpolitik 1. Sehr Besorgnis erregende Chemikalien dürfen nicht 4. Chemikalien, die über importierte Produkte in die zugelassen werden, wenn ihr Gebrauch nicht zwin- EU gelangen, müssen dieselben Teststandards durch- gend gesellschaftlich notwendig ist oder sicherere laufen wie die in der EU produzierten Artikel. Alternativen verfügbar sind. Substitution muss ver- Die im momentanen Entwurf enthaltenen Bestim- pflichtend sein. mungen für importierte Produkte sind unzurei- Nur wenn die Hintertür der „adäquaten Kontrolle“ chend und würden für bestimmte Industriesekto- geschlossen wird, kann von REACH ein klares Sig- ren in der EU ein Ungleichgewicht bei den Wett- nal ausgehen, welche Chemikalien wir weniger bewerbsbedingungen zur Folge haben. Verbrau- oder nicht mehr am Markt sehen wollen. Anson- cher blieben weiterhin ohne Schutz vor ge- sten werden akzeptable Alternativen außer Acht fährlichen Chemikalien in importierten Produkten. gelassen und von potenziellen Anwendern fernge- Wir müssen diese Sicherheitslücke schließen, halten und Verbraucher nach wie vor unakzepta- auch auf die Gefahr eines Konflikts mit der WTO blen Risiken ausgesetzt. hin. Die EU ist der größte Markt der Welt und soll- te nicht davor zurückschrecken, neue globale 2. Die Registrierung muss die Lücke bei den Sicherheitsstandards zu setzen. Sicherheitsinformationen schließen. Im jetzigen REACH-Entwurf sind 20.000 Stoffe 5. Informationen müssen für die Öffentlichkeit von einer ausreichenden Sicherheitsbeurteilung zugänglich sein. ausgenommen. Ohne Tests zur biologischen Ab- Es muss sichergestellt sein, dass alle Interessenten baubarkeit und Expositionsabschätzungen können ausreichenden Zugang zu den Sicherheitsdaten Chemikalien weder eingestuft noch für weitere haben, um ihre eigenen Risikobeurteilungen vor- Maßnahmen priorisiert werden. zunehmen. Dies gilt für Anwender von Chemikali- en, die den Markt nach besseren Alternativen 3. Eine Qualitätssicherung für die von der Industrie absuchen und für Verbraucher, die sich über gelieferten Sicherheitsinformationen ist unerlässlich. gefährliche Substanzen in Konsumerzeugnissen REACH gibt der Industrie die einmalige Chance, informieren wollen. Die Liste der nicht-vertrauli- die Verantwortung für die Chemikaliensicherheit chen Geschäftsinformationen muss um die Na- selbst zu übernehmen. Dies ist jedoch nur zusam- men der Stoffhersteller oder Importeure, die Pro- men mit einer ausreichenden Qualitätssicherung duktionsmengen nach Kategorien und die Exposi- und offiziellen Qualitätskontrolle sinnvoll. Die tionsabschätzung erweitert werden. Die Sicher- Qualitätssicherung für sämtliche Registrierungs- heitsdatenblätter müssen in der ganzen Lieferket- dossiers sollte von einem unabhängigen Dritten te weitergegeben werden, um auch Händlern und oder einer zertifizierten Organisation übernom- Verbrauchern zu ermöglichen, sich darüber zu men werden. Mindestes 5% aller Dossiers sollten informieren, ob Endprodukte gefährliche Chemi- von den nationalen Behörden bewertet werden. kalien enthalten. 5
Endstation Mensch Inhalt 1. Einleitung ......................................................................................................................................................................................................................7 2. Muttermilchbelastung mit „alten Sünden“ ................................................................................................................................................ 9 3. Zur Risikobewertung von Schadstoffen .................................................................................................................................................... 16 3.1 Wie kommt die Chemikalie in den Körper? ..................................................................................................................................16 3.2 Einflussfaktoren auf die Rückstandsgehalte ................................................................................................................................18 3.3 Zum Umgang mit Nichtwissen ..............................................................................................................................................................19 4. „Neue Sünden“: Von Flammschutzmitteln und mehr in der Muttermilch ................................................................................23 4.1 Flammschutzmittel .................................................................................................................................................................................... 23 4.2 Duftstoffe ...................................................................................................................................................................................................... 28 4.3 Weichmacher ................................................................................................................................................................................................ 31 5. Gefährdung der Kindergesundheit .............................................................................................................................................................. 37 6. Die Reform der EU-Chemikalienpolitik – eine Lösung? .................................................................................................................. 39 7. Literatur .................................................................................................................................................................................................................... 45 6
1. Einleitung Wir Menschen und unsere Umwelt sind seit lan- Luft, das Wasser oder in Organismen über den gem tausenden synthetischen Chemikalien aus- ganzen Erdball. Dadurch sind mittlerweile nicht gesetzt, die vor der Industrialisierung noch nicht nur Menschen in den Industrienationen, sondern existierten. Zumeist wird uns diese Tatsache erst auch Bewohner entfernter Regionen mit „POP“ dann bewusst, wenn extreme Schadstoffbelas- belastet. Je höher ein Lebewesen in der Nah- tungen – z.B. mit PCB verseuchte Schulgebäude rungskette steht, desto stärker ist seine Bela- oder sehr hohe Pestizidrückstände in Erdbeeren stung, da die Schadstoffe über die Nahrung wei- oder Salat – zum Skandal werden. Es gibt zahlrei- tergereicht werden. Verbote und Regulierungen che Hinweise darauf, dass die Zunahme bestimm- zur Verminderung von Produktion oder Nutzung ter Erkrankungen in den Industriestaaten mit dem dieser Chemikalien sorgen zwar dafür, dass die unüberschaubaren Cocktail synthetischer Stoffe Belastung mit Altstoffen kontinuierlich sinkt – zusammenhängt, dem wir tagtäglich ausgesetzt trotzdem sind sie weiterhin weltweit vorhanden. sind: Allergien, Krebserkrankungen und Verhal- Schlimmer noch: Viele Substanzen mit ähnlichen tensstörungen bei Kindern nehmen zu, Spermien- Eigenschaften werden nach wie vor produziert qualität und Fruchtbarkeit nehmen ab. und eingesetzt. Sie sind in Konsumerzeugnissen genauso wie in menschlichen und tierischen In Europa hat die Produktion synthetischer Che- Geweben zu finden und unterliegen bisher keinen mikalien seit ca. 1940 explosionsartig zugenom- oder nur geringfügigen gesetzlichen Beschrän- men. Das „Europäische Verzeichnis der Altstoffe“ kungen. gibt an, dass im Zeitraum bis 1980 – also in nur vier Jahrzehnten – 106.000 Chemikalien auf den Ein großes Problem ist zudem, dass einige Chemi- europäischen Markt kamen. Bereits 1950 wurde kalien in das Hormonsystem von Mensch und Tier das Insektenvernichtungsmittel DDT in der Mut- eingreifen. Von ihnen gehen Gefahren aus, die termilch nachgewiesen. Aber erst 1981 trat ein kaum bekannt sind und die sich der traditionellen Chemikaliengesetz in Kraft, das erstmals vor der Risikobewertung entziehen. Diese Stoffe wirken Vermarktung der Chemikalien die verbindliche bereits in extrem winzigen Mengen, die man bis- Prüfung auf Umwelt- und Gesundheitsgefahren her nicht für möglich gehalten hatte. Besonders vorschrieb. So genannte „Altstoffe“ – d.h. nahezu tückisch ist, dass sie in empfindliche Stoffwech- alle Stoffe, die vor diesem Chemikaliengesetz in sel- und Entwicklungsvorgänge im Mutterleib Verkehr gebracht wurden – haben vorher keiner- oder in die frühkindliche Reifung eingreifen. lei Risikobewertung durchlaufen. Das bedeutet, dass fast alle Chemikalien in Kosmetika, Möbeln, Muttermilch ist ein besonders geeigneter Bioindi- usw. niemals auf ihre Risiken für Mensch und kator für die Belastung mit langlebigen und Fett Umwelt untersucht worden sind. Viele dieser liebenden Chemikalien, da die angereicherten Chemikalien sind heute in den verschiedenen Substanzen während der Milchbildungsphase aus Organen des Menschen nachweisbar. Besonders den Fettdepots in die Milch transportiert werden. Besorgnis erregend sind dabei die langlebigen Mütter übertragen durch das Stillen einen erheb- (persistenten) und Fett liebenden (lipophilen) lichen Teil der Stoffe auf ihr Kind: Die Mutter wird Chemikalien, die in der Natur nicht abgebaut entgiftet, der Säugling belastet. Inzwischen wur- werden und sich in fetthaltigen Geweben anrei- den bereits mehr als 350 Schadstoffe nachgewie- chern. Einige kennt man unter dem Namen „POP“ sen, die der Säugling mit der Muttermilch auf- (Persistent Organic Pollutants = langlebige orga- nehmen kann (Lyons, 1999). Auch ohne ge- nische Schadstoffe). Sie verteilen sich über die sundheitliche Risikobewertung ist diese Zahl Be- 7
Endstation Mensch sorgnis erregend. Hinzu kommt, dass die mögli- Die Studie fasst die aktuellen Daten zur Bela- chen Kombinationswirkungen der verschiedenen stung der Muttermilch mit verschiedenen „Alt- Substanzen so gut wie unerforscht sind. stoffen“ zusammen, die heute zumeist verboten sind, sich jedoch noch immer im Menschen fin- Die „Nationale Stillkommission“ analysiert seit den lassen. Es werden die allgemeinen Vorausset- 1994 die Belastung der Muttermilch deutscher zungen beschrieben, die die Aufnahme von Che- Frauen, bewertet gesundheitliche Risiken für die mikalien und deren Anreicherung im Körper Säuglinge und veröffentlicht Stillempfehlungen. ermöglichen und jene Faktoren aufgezeigt, die Bis 1995 wurde geraten, die Muttermilch bei ei- die Schadstoffmengen in der Muttermilch beein- ner Stilldauer von mehr als vier Monaten auf flussen. Am Beispiel von PCB wird auf die Lang- Rückstände untersuchen zu lassen. Weil inzwi- zeitwirkung von Stoffen mit besonderen Eigen- schen immer weniger Pestizide, Dioxine und PCB schaften eingegangen und Probleme der gängi- in der Muttermilch nachgewiesen werden, spricht gen Risikobewertung und der Unsicherheiten bei sich die „Nationale Stillkommission“ seit 1995 für der Stoffbewertung werden dargestellt. Im Kapi- das Stillen ohne Einschränkung aus. Grundsätz- tel „Neue Sünden“ werden die Belastungsdaten lich ist erfreulich, dass die Belastungen mit den solcher Stoffe dargestellt, die erst seit vergleichs- „alten“ Umweltchemikalien Jahrzehnte nach weise kurzer Zeit als Problemstoffe identifiziert ihrem Verbot nur noch in Konzentrationen vorlie- sind. Ein weiteres Kapitel widmet sich der beson- gen, die diese Empfehlung erlauben. Doch wie bei deren Gefährdung der Kindergesundheit. vielen anderen umweltpolitischen Entscheidun- gen auch, basiert dieser Ratschlag auf der ver- Zur Zeit steht die europäische Chemikalienpolitik gleichenden Betrachtung von Risiko und Nutzen. vor einer umfassenden Reform. Die EU-Kommis- Das bedeutet, dass die Experten nach derzeitigem sion hat ein Gesetz entworfen, das den Umgang wissenschaftlichen Erkenntnisstand den gesund- mit Chemikalien neu regeln soll. Mit REACH (Re- heitlichen und emotionalen Nutzen des Stillens gistrierung, Evaluierung und Autorisierung von für die Säuglinge höher einschätzen als die bisher Chemikalien) muss die Industrie alle vor 1981 auf bekannten Gefahren. Allerdings werden Risiken, den europäischen Markt gebrachten Chemikalien die derzeit noch überprüft werden und solche, die bei den Behörden melden – bei Nichteinhaltung noch unbekannt sind, nicht mit in die Abwägung der Fristen drohen Vermarktungsverbote. Nur einbezogen. Daher betont die Nationale Stillkom- Substanzen, die sich bei der Bewertung als unge- mission, dass synthetische Chemikalien in der fährlich herausstellen, dürfen weiterhin ver- Muttermilch grundsätzlich unerwünscht sind. trieben werden, für die Nutzung bedenklicher Dies ist besonders wichtig vor dem Hintergrund, Stoffe müssen Sondergenehmigungen beantragt dass in letzter Zeit in der Muttermilch neue syn- werden. Damit muss die Industrie in Zukunft vor thetische Stoffe mit vergleichbaren Risiken iden- einer Vermarktung die Unbedenklichkeit ihrer tifiziert wurden. Eine Entwarnung sollte deshalb Stoffe nachweisen und nicht, wie bisher, die keineswegs gegeben werden. Das Ziel muss sein: Behörden deren Gefährlichkeit. Es bietet sich die Weniger langlebige und Fett liebende Che- große Chance, alte Fehlentwicklungen zu korri- mikalien in der Umwelt, Verminderung der Ein- gieren und endlich einen vorsorgenden Gesund- wirkung dieser Stoffe auf den Menschen und da- heits- und Umweltschutz gesetzlich zu veran- mit ihre Minimierung auch in der Muttermilch. kern. Gerade die Belastung der Muttermilch mit Die beste aller Maßnahmen bleibt jedoch, künftig synthetischen Chemikalien zeigt die dringende vernünftige Strategien zu entwickeln, die solche Notwendigkeit der Reform. Im letzten Teil dieser Belastungen von vornherein vermeiden. Studie werden Forderungen an den Reformpro- zess diskutiert, die aus Sicht des Umwelt- und Verbraucherschutzes dringend erforderlich sind. 8
2. Muttermilchbelastung mit „alten Sünden“ Insgesamt wurden in Muttermilch bereits mehr den Muttermilchproben bzw. im Blut bezieht sich als 350 Schadstoffe nachgewiesen (Lyons, 1999). jeweils nur auf die Gehalte der drei PCB-Konge- Es gibt nur vergleichsweise wenige Chemikalien nere 138, 153 und 180. Die 17 im menschlichen oder Stoffgruppen, für die regelmäßig und lang- Körperfett gespeicherten Dioxine und Furane jährig erhobene Daten aus Muttermilchanalysen werden summarisch als Internationale Toxi- und anderen Humanproben vorliegen und die ein zitätsäquivalente (I-TEQ) angegeben. Das Daten- einigermaßen gesichertes Bild zur Belastungssi- material wird seit 2000 in der zentralen – für die tuation der Bevölkerung erlauben sowie Trend- Öffentlichkeit aber unzugänglichen – „Frauen- aussagen zulassen. Besonders gut untersucht milch- und Dioxin-Humandatenbank“ des Bun- wurden im Wesentlichen einige Vertreter der so des und der Länder am Bundesinstitut für ge- genannten POP (Persistent Organic Pollutants = sundheitlichen Verbraucherschutz und Vete- langlebige, organische Schadstoffe), wie die rinärmedizin (BgVV) (seit November 2002 Bun- Gruppe der polychlorierten Biphenyle (PCB), das desinstitut für Risikobewertung (BfR)) zusam- Insektizid DDT, Hexachlorbenzol (HCB) sowie die mengetragen. giftigen Verbrennungsprodukte Dioxine (PCDD = polychlorierte Dibenzo-p-dioxine) und Furane Mehr als 40.000 Muttermilchproben wurden seit (PCDF=polychlorierte Dibenzofurane), die auf- 1980 analysiert. Trotz der Verbote der meisten grund ihrer starken Persistenz, Bioakkumulier- dieser Stoffe in den 1970er Jahren sind in fast barkeit, weltweiten Verbreitung und hohen Toxi- allen Proben viele Stoffe noch immer in gut mes- zität 2004 als erste Chemikalien durch die Ver- sbaren Konzentrationsbereichen nachweisbar. einten Nationen im Rahmen der so genannten Dabei handelt es sich um Σ DDT, HCB, β-HCH UN-POP-Konvention (auch Stockholm-Konven- und Σ PCB. Auch α- und γ-HCH (Lindan), cis- tion) weltweit verboten wurden. Heptachlorperoxid (Abbauprodukt von Heptach- lor) und Dieldrin sind heute noch in 10-50% der In Deutschland werden Muttermilch-, Urin- und Muttermilchproben messbar. Viele andere – hier Blutproben von den Untersuchungsämtern der nicht aufgeführte Chemikalien – sind ebenfalls Bundesländer seit langer Zeit auf bestimmte Pes- noch immer in fast allen Proben in gut erfassba- tizide wie DDT, PCB sowie Dioxine und Furane ren Konzentrationsbereichen nachzuweisen. untersucht. Bei den DDT-Messungen handelt es sich um den Gesamt-DDT-Gehalt (Σ DDT) ein- Allerdings ist in Deutschland gleichzeitig eine schließlich seines persistenten Abbauproduktes kontinuierliche Abnahme in der Belastungshöhe DDE, zu dem DDT im Körper durch Stoffwechsel- der Muttermilch festzustellen (Tab. 1): Von 1980 vorgänge abgebaut wird. Bei den PCB handelt es bis 1997 ging die Belastung mit Organochlor- sich um Stoffgemische mit insgesamt 209 mög- Pestiziden und PCB zurück, seit den 1990er Jah- lichen Einzelsubstanzen (Kongenere), die sich in ren zeigt sich auch ein Rückgang der Dioxine und der Anzahl der Chloratome und ihrer Position am Furane. So hat das PCB-Verbot zu einer rund Biphenylring unterscheiden. Für die PCB-Mes- 70%igen Reduktion der Muttermilchgehalte an sungen werden in Standardmessverfahren sechs PCB geführt, auf mittlere 0,49 Milligramm pro Leitkongenere (PCB 28, 52, 101, 138, 153, 180) Kilogramm (mg/kg) Fett. Allerdings überschritten analysiert und mit einem Multiplikationsfaktor bei den 1997 untersuchten Proben immerhin auf den Gesamt-PCB-Gehalt (Σ PCB) extrapoliert noch 4,3% den festgelegten Referenzwert von (nach DIN 51527 und Schadstoff-Höchstmen- 1,2 mg/kg Fett. Dies bedeutet, dass 4,3% der gen-Verordnung). Der Gesamt-PCB-Gehalt in untersuchten Frauen deutlich höher mit PCB be- 9
Endstation Mensch lastet waren als der obere Bereich der Hinter- Krebs), sowie nach der Erkenntnis, dass sich PCB grundbelastung (BgVV, 2000; Vieth, 2002). Um inzwischen weltweit in allen Umwelt- und Hu- eine Aussage darüber zu treffen, ob ein individu- manproben finden ließen, erfolgte 1978 zunächst eller Rückstandsgehalt in dem für Deutschland das Verbot für den offenen Einsatz. Seit 1989 ist charakteristischen Bereich der Hintergrundbe- die Produktion, das In-Verkehr-bringen und die lastung liegt, werden von der Kommission „Hu- Verwendung von PCB in Deutschland endlich man-Biomonitoring“ (HBM) des Umweltbundes- vollständig verboten. Im Mai 2004 erging amtes Referenzwerte festgelegt (HBM-Kommis- schließlich das weltweite Verbot für die Produk- sion, 2000). Sie basieren auf den 1994 ermittel- tion und die Anwendung aller PCB durch die UN. ten 95. Perzentilwerten, die den oberen Bereich der Muttermilchbelastung in der deutschen Be- PCB werden in zwei Gruppen unterteilt, in die völkerung widerspiegeln. Referenzwerte, die es dioxin-ähnlichen und die nicht-dioxinähnlichen auch für die Rückstandsgehalte im Blut gibt, las- PCB. Zwölf der 209 PCB sind aufgrund ihrer che- sen grundsätzlich keine gesundheitliche Bewer- mischen Struktur und Form den Dioxinen ähn- tung zu. lich. Von einer Expertengruppe der WHO wurden 1998 für diese dioxin-ähnlichen PCB Toxizitätsä- PCB wurden in den 1950er bis 1970er Jahren von quivalenzfaktoren (TEF) festgelegt, welche die der Industrie als Allround-Chemikalien massen- dioxin-ähnliche Wirksamkeit relativ zum giftig- haft in Deutschland und vielen anderen Ländern sten Dioxin 2,3,7,8-TCDD gewichten (Körner, eingesetzt. Sie fanden Verwendung als techni- 2003). PCB 126 steht damit in der toxischen sche Gemische, u.a. als Weichmacher in Kunst- Wirksamkeit auf gleicher Stufe mit den meisten stoffen und Fugendichtungsmassen, zum Bau Dioxinen und Furanen und ist nur 10-mal gerin- von Plattenbetongebäuden, als Flammschutzmit- ger toxisch als das giftigste der Dioxine, das so tel in Farben und Lacken, als Di-elektrikum in genannte Seveso-Dioxin. Kondensatoren (z.B. in Leuchtstoffröhren) und Transformatoren, in Isolier-, Kühl- oder Hydrau- Dioxine besitzen ein breites Spektrum toxischer likflüssigkeiten oder als Zusatzstoffe in Nagel- und biochemischer Wirkungen; einige von ihnen lacken oder Textilien. Nach einigen schweren sind als krebserregend für den Menschen be- Unfällen in Asien in den 1970er Jahren, bei denen kannt. Bekannt ist auch ihre hormonelle (endo- PCB Reisöl kontaminierte und schwere Erkran- krine) Wirksamkeit. Bei Labortieren wurde ein kungen bei vielen Menschen auslöste (Chlorakne, Zusammenhang zwischen Dioxinen und Endo- Tabelle 1: Rückstand Mittlerer Gehalt Mittlerer Gehalt 95. Perzentil Referenzwert 3) Mittelwerte und 1979/81 1997 1997 Referenzwerte persistenter Σ DDT 1,83 0,30 1) 0,86 1) 0,9 1) Organochlor- verbindungen HCB 1,14 0,07 0,17 0,3 in Frauenmilch aus Deutschland β-HCH 0,33 0,04 0,11 0,1 in mg/kg Milchfett. Σ PCB 1,72 0,49 1) 0,94 1) 1,2 1) PCDD/PCDF 30,6 2) 12,9 3) 23,0 3) keiner ng I-TEQ/kg Fett ng I-TEQ/kg Fett ng I-TEQ/kg Fett 1) Nur Werte aus den alten Bundesländern enthalten; 2) Daten für den Zeitraum 1986–1990; 3) Daten aus 1998 10
metriose (Wucherungen am Eierstock), Entwick- und Holland untersuchten die vorgeburtlichen lungsstörungen und neurologisch bedingten Ver- (pränatalen) und nachgeburtlichen (postnatalen) haltensstörungen (Lernstörungen), Wirkungen Einflüsse von PCB-Hintergrundbelastungen auf auf Entwicklung und Reproduktion (geringe Kinder bis zum Alter von 72 Monaten. In beiden Spermienanzahl, genitale Missbildungen) sowie Studien wurden mentale Entwicklungsstörungen immuntoxischen Wirkungen beobachtet. Diese bei den Kleinkindern festgestellt. Effekte treten bereits bei deutlich geringeren Ex- positionshöhen auf als die krebserregende Effek- Die PCB-Aufnahme (Exposition) erfolgt zu gut te (Europäische Union, 2001). 90% über die Nahrung, die Aufnahme über die Atemluft wird auf unter 10% geschätzt. Bei 25- Die Toxizität der dioxin-ähnlichen PCB ähnelt jährigen gehen 12–14% der im Körper enthalte- derjenigen der hochtoxischen Dioxine, da sie sich nen PCB-Mengen noch auf die Aufnahme durch an den gleichen subzellularen Einheiten anbin- die Muttermilch zurück (Patandin et al., 1999). den und somit die gleichen Prozesse in der Zelle PCB werden von der so genannten Plazenta- beeinflussen. Im Tierexperiment sind sie kanze- Schranke nicht zurückgehalten, Menschen wer- rogen, neuro-, immuno-, reproduktions- und den diesen Stoffen daher bereits vor ihrer Geburt entwicklungstoxisch und können auf das Hor- als Föten ausgesetzt. Die Hintergrundbelastung monsystem einwirken, z.B. stören sie die Schild- der Außenluft liegt bei 1–10 Nanogramm pro drüsenfunktion, die Reproduktion und den Koh- Kubikmeter (ng/m3). In den letzten Jahren und lehydratstoffwechsel. Nicht-dioxinähnliche PCB Jahrzehnten zeigten sich die Folgen der PCB- sind als eigene Wirkgruppe weitaus weniger er- Verwendung in Gebäuden in erhöhten Belastun- forscht. Sie beeinflussen andere subzelluläre gen der Innenraumluft, vornehmlich in öffentli- Prozesse, die daraus resultierenden Effekte sind chen Gebäuden wie Schulen und Kindergärten. aber wiederum sehr ähnlich (Schoeters & Birn- Häufig wurden diese Betonwände innen nicht baum, 2004; Schrenk, 2004); neben den bereits verputzt, so dass PCB aus den Fugendichtungs- genannten Effekten können sie Verhaltens- massen in die Innenraumluft entweichen konn- störungen auslösen (Schrenk, 2003). Umfangrei- ten oder es wurden PCB-haltige Brandschutz- che Übersichten und Bewertungen zu den hor- Deckenplatten oder Leuchtstoffröhren eingebaut monellen Effekten der PCB und anderer Umwelt- (VUA & BUB, 1999). schadstoffe bieten u.a. das Umweltbundesamt (Gies et al., 2001) und die WHO (2002). Größtenteils unbekannt ist die Expositionssitua- tion im Detail. Diese Informationen sind jedoch Bei berufsbedingt PCB-belasteten Frauen wur- dringend notwendig, da die PCB in unterschied- den Verkürzungen der Schwangerschaftsdauer liche Wirkungsgruppen untergliedert werden, die beobachtet (Taylor et al., 1989). Gesundheitliche sich in Luft, Boden, Wasser oder Lebewesen un- Beeinträchtigungen treten beim Menschen aber terschiedlich verhalten. Auch ist das Mengenver- auch schon in Konzentrationsbereichen auf, wie hältnis von niederchlorierten (weniger Chlorato- sie in der Umwelt vorkommen. Beispielsweise me im Molekül) zu höherchlorierten (mehr zeigten Kinder von Müttern, die hoch belasteten Chloratome) PCB in der Innenraumluft, im Blut Fisch gegessen hatten, in einer Langzeitstudie oder im Fettgewebe jeweils ein anderes und mit aus Michigan (USA) verminderte Geburtsgewich- ihrer Zusammensetzung im ursprünglichen PCB- te sowie neuropsychologische Auffälligkeiten in Produkt nicht mehr identisch. Die Rückstandsge- den durchgeführten Intelligenz-, Sprach- und halte der dioxin-ähnlichen PCB werden in Hu- Gedächtnistests (Jacobson et al., 1985; Jacobson man-, Umwelt- oder Lebensmittelproben in der & Jacobson, 1996). Zwei epidemiologische Stu- Regel nicht gesondert analysiert. Die tägliche dien aus Deutschland („Düsseldorfer Kohorte“) tolerierbare Aufnahme (Tolerable Daily Intake = 11
Endstation Mensch TDI) gemäß den Toxizitätsäquivalenzfaktoren 3-fachen Gehalten. Im Ländervergleich liegt (TEF) in Toxizitätsäquivalenten (TEQ) angegeben. Deutschland mit den Plätzen vier und fünf im Der TDI-Wert beziffert die akzeptable tägliche oberen Drittel bei der Muttermilchbelastung mit Aufnahmemenge eines Stoffes in Milligramm pro diesen Substanzen (Malisch 2003) (Abb. 1 und 2). Kilogramm Körpergramm, welche ein Mensch lebenslänglich täglich verzehren kann, ohne ge- Ein Säugling nimmt während der Stillperiode sundheitliche Schäden davonzutragen. Basis für 2 bis 4-mal mehr an Gesamt-PCB auf als es der die Festlegung dieses Wertes sind in der Regel zur Zeit provisorische Wert für die tägliche tole- Fütterungsversuche mit Ratten oder Mäusen. rierbare Aufnahme (TDI) zulässt und die Belas- tung mit Dioxinen und dioxin-ähnlichen PCB ist Ein Report der Generaldirektion Gesundheit und rund eine Größenordnung höher als bei Er- Verbraucherschutz der Europäischen Kommission wachsenen. Von offizieller Seite wird dies als fasst alle verfügbaren Daten an Rückstandsge- nicht Besorgnis erregend bewertet, da eine Still- halten von dioxin-ähnlichen PCB und Dioxinen dauer von sechs Monaten weniger als 1% der in Lebensmitteln zusammen (European Commis- durchschnittlichen Lebenserwartung entspricht sion, 2000). Die Datenlage weist darauf hin, dass und sich der TDI-Wert auf eine lebenslange dioxin-ähnliche PCB im Vergleich zu den Dioxi- Fremdstoffaufnahme bezieht (Vieth & Przyrem- nen etwa denselben bis den doppelten TEQ-Bei- bel, 2003). Diese Sichtweise negiert völlig die trag leisten (Tab. 2). Neuere Untersuchungen von höchst sensiblen Entwicklungsstadien bei Kin- Milchprodukten aus Deutschland kamen zu dem dern und somit die vollständig anderen und Ergebnis, dass Dioxine nur zu knapp 30% zum wesentlich gravierenderen Konsequenzen einer Gesamt-TEQ beitragen, den restlichen Beitrag Schadstoffeinwirkung (siehe dazu Kap. 5). liefern die dioxin-ähnlichen PCB (Malisch, 2003). Eine aktuelle deutsche Studie untersuchte erst- Nach der Generaldirektion Gesundheit und Ver- mals sowohl das Blut von 169 schwangeren Frau- braucherschutz liegt der durchschnittliche Ge- en als auch ihre Muttermilch ca. zwei Wochen halt von Dioxinen und Furanen in der Mutter- nach der Entbindung (Wittsiepe et al., 2004). Die milch in verschiedenen Mitgliedsländern bei 8- Wissenschaftler fanden vergleichbare Gehalte 16 Pikogramm Internationales Toxizitätsäqiva- wie in anderen Studien und gute Korrelationen lent pro Gramm (pg I-TEQ/g) Fett. Die Belastung zwischen Blut- und Milchkonzentrationen so- der Muttermilch liegt somit in der gleichen Grö- wohl bei den Dioxinen als auch bei den dioxin- ßenordnung wie im höchstbelasteten Lebens- ähnlichen PCB (Tab. 3). Die gefundenen Haupt- mittel, dem Fisch. Wurden parallele Analysen auf kongenere in Blut und Milch sind PCB 126 (das Dioxine und dioxin-ähnliche PCB vorgenommen, giftigste PCB-Kongener) und 156. Bezogen auf schwankte der mittlere PCB-TEQ-Gehalt zwi- die Toxizitätsäquivalente liegt der Anteil von PCB schen der gleichen Größenordnung und den im Blut bei 40%, in der Muttermilch bei 48%. Tabelle 2: Lebensmittel PCDD/PCDF dioxin-ähnliche PCB Mittlere Belas- (pg TEQ/g Fett) (pg TEQ/g Fett) tung von Lebens- mitteln in der Fisch 10 30 EU mit Dioxinen Fleisch 0,4–0,7 0,3–1,5 (PCDD/ PCDF) Milch/Milchprodukte 0,6–1,0 0,6–1,3 und dioxin- Pflanzliche ähnlichen PCB. Lebensmittel, Eier Differenzierung ist nicht möglich aufgrund unzureichender Datenbasis. 12
Kinder, die gestillt werden, weisen im Mittel mit de, desto höher die Schadstoffbelastung. Die 0,25 bzw. 0,4 Mikrogramm pro Liter (µg/l) höhe- Referenzwerte im Blut, in Abhängigkeit vom Le- re DDE- und PCB-Gehalte im Blut auf als Kinder, bensalter, sind Abb. 3 zu entnehmen. Für alle die nicht gestillt werden (0,17 bzw. 0,27 µg/l). Stoffe bzw. Stoffgruppen lässt sich eine deutli- Statistische Auswertungen belegen eine signifi- che Zunahme mit ansteigendem Alter von 9 bis kant positive Beziehung der Rückstandswerte im 69 Jahre ausmachen, ein klares Zeichen für die Blut der Kinder mit der Stilldauer insbesondere Persistenz und Bioakkumulierbarkeit dieser Subs- für PCB, DDE und HCB, d.h. je länger gestillt wur- tanzen. Die vergleichsweise hohen DDE-Refe- 80 Abbildung 1: PCDD/PCDF Gehalte von 70 Dioxinen und Furanen in der 60 Muttermilch. WHO-TEQ (pg/g Fett) Maximum 50 Median 40 30 20 10 0 Rumänien Ägypten Niederlande Italien Deutschland Spanien Ukraine Schweden Slovakei Russland Tschechien Norwegen Irland Neuseeland Australien Ungarn Kroatien Brasilien Bulgarien Finnland 45 Abbildung 2: Gehalte von 40 dioxin-ähnliche PCBs dioxin-ähnlichen 35 PCB in der Muttermilch. WHO-TEQ (pg/g Fett) 30 Maximum 25 Median 20 15 10 5 0 Rumänien Ukraine Italien Russland Tschechien Deutschland Slovakei Niederlande Spanien Schweden Norwegen Kroatien Ägypten Irland Bulgarien Neuseeland Australien Ungarn Brasilien Finnland 13
Endstation Mensch renzwerte im Blut bei Bewohnern der neuen Das technische Hexachlorcyclohexan (HCH) setzt Bundesländer (doppelt bis fast 4-fache Werte sich aus 65–70% α-HCH, 7–10% γ-HCH, 14– gegenüber den alten Bundesländern) sind ver- 15% γ-HCH und 10% anderen Isomeren zusam- mutlich auf den noch längeren Einsatz des Insek- men. Durch Reinigungsverfahren wird aus HCH tizids DDT in der DDR bis 1989 zurückzuführen. Lindan gewonnen, das zu mehr als 99% aus Obgleich dort in den 1970er Jahren wie auch in γ-HCH besteht. Lindan kann in Spuren mit β-HCH Westdeutschland (1972) ein DDT-Verbot erlassen verunreinigt sein. Lindan zeigt sich im Tierexperi- wurde, wurde der Stoff aufgrund zahlreicher ment krebserregend (carcinogen), erbgutschä- Ausnahmegenehmigungen weiter eingesetzt. Die digend (mutagen) und giftig für die Fortpflan- PCB- und HCB-Referenzwerte sanken im Ver- zungsfähigkeit (reproduktionsschädigend) (CMR- gleich zur letzten Bewertung 1999 für die Alters- Stoff), bei β-HCH deuten Studien auf die Entste- gruppe bis 49 Jahre um bis zu 30% (HBM-Kom- hung von Brustkrebs hin. Laut Europäischer Kom- mission, 2003). mission ist Lindan erwiesenermaßen hormonell wirksam und damit im Rahmen der Bewertung Studien aus Deutschland und anderen Ländern hormoneller Schadstoffe als hoch prioritär einge- belegen auch das Auftreten einiger Pestizide und stuft (Gies et al., 2001; WWF, 2002). Lindan ist Biozide der älteren Generation in der Muttermilch seit 1998 in Pflanzenschutzmitteln auf dem und anderen Humanproben. Auch sie finden sich deutschen Markt nicht mehr zugelassen. Nach als globale Umweltschadstoffe in der UN-POP- der EU-Pestizidzulassung (Richtlinie 91/414) darf Konvention, sind in Deutschland bereits lange Lindan als Pestizidwirkstoff in der EU seit Juni verboten oder hatten als Pestizidwirkstoff hier 2002 ebenfalls nicht mehr zugelassen werden. keine Bedeutung. Sie sind zumeist als giftig oder Noch bis in die 1980er Jahre hinein war Lindan in sehr giftig eingestuft und für die meisten ist auch Holzschutzmitteln enthalten. Es findet sich aber eine hormonelle Wirksamkeit belegt. bis heute noch weltweit einschließlich in Deutschland als Biozidwirkstoff in Läusemitteln Die DDT-Gehalte in deutscher Muttermilch sind für Menschen (meist als Shampoo bei Kindern in Tabelle 1 (S. 10) dargestellt. Auch in diesem eingesetzt) und in Insektenbekämpfungsmitteln Fall sind die Werte deutlich zurückgegangen. Ne- für Haustiere, z.B. in „Jacutin“-Produkten. HCH- ben zahlreichen anderen toxischen Eigenschaf- Rückstände finden sich in zahlreichen tierischen ten, die letztlich zu dem DDT-Verbot führten, ist Lebensmitteln (vgl. Berichte des Lebensmittelmo- mittlerweile auch dessen hormonelle Wirksam- nitorings des BgVV bzw. BfR) und Lindan-Rück- keit erwiesen. In einer aktuellen Untersuchung stände waren bis 1998 auch in pflanzlichen Pro- von EU-Parlamentariern konnte bei allen 47 Pro- dukten deutscher Herkunft nachzuweisen (PAN, banden DDE im Blutserum nachgewiesen wer- 2001). Einen Vorstoß für ein sofortiges EU-Verbot den. Es zeigte die höchste mittlere Konzentrati- für HCH inklusive Lindan hat der Ausschuss für on im Blutserum unter den insgesamt in der Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbrau- Untersuchung nachgewiesenen 76 Substanzen cherschutz des EU-Parlaments in einer Stellung- (WWF, 2004). nahme zur Umsetzung der UN-POP-Konvention in die EU-Gesetzgebung unternommen. Tabelle 3: Konzentrationen von Dioxinen und Furanen sowie WHO-TEQ Blut Milch PCB in Blut und (pg/g Fett) Median Min. Max. Median Min. Max. Milch deutscher PCDD/PCDF 15,32 2,73 55,07 13,30 1,80 34,70 Mütter von Sep- PCB 10,81 1,40 42,23 13,00 1,21 50,10 tember 2000 bis PCDD/PCDF+PCB 26,37 4,34 97,30 26,40 3,01 78,70 Januar 2003. 14
35 30 25 20 15 DDE (alte Bundesländer) 10 DDE (neue Bundesländer) 5 HCB HCH 0 PCB 9–11 18–19 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 Abb. 3. Referenzwerte für verschiedene Organochlorverbindungen im Blut (µg/l) in Abhängigkeit vom Lebensalter In der Muttermilch und im Blut dominiert das β- eine hormonelle Wirksamkeit (WHO, 2002) und in HCH, da es sich um das Isomer mit der höchsten diesem Bezug auf ein erhöhtes Brustkrebsrisiko Langlebigkeit und stärksten Bioakkumulation (Gies et al., 2001) hin. Der Verzehr von mit HCB handelt. Die Werte für Deutschland finden sich in gebeiztem Saatweizen Mitte der 1950er Jahre in Tabelle 1 (S. 10). Im Rahmen des deutschen Hu- der Türkei verursachte schwerste Vergiftungen man-Biomonitoring konnten bei 1,7% der Er- und Todesfälle. Bei betroffenen Müttern wurden wachsenen α-HCH, bei 5,2% γ-HCH (Lindan) und sehr hohe HCB-Konzentrationen von 15–20 bei 34% β-HCH im Blut nachgewiesen werden. Mikrogramm pro Gramm (µg/g) in der Mutter- Bei nahezu allen untersuchten Kindern, nämlich milch nachgewiesen (Jensen & Slorach, 1991). bei 92,3%, wurde β-HCH im Blut gefunden (HBM-Kommission, 2003). Bei einer Untersu- Durch das Pestizidverbot und technische Verbes- chung von EU-Parlamentariern wiesen die Proben serungen bei industriellen Produktionsprozessen des Blutserums von über 90 % der 47 untersuch- konnte in Deutschland eine drastische Reduzie- ten Personen β-HCH auf (WWF, 2004). rung der Rückstandsgehalte in der Muttermilch und im Blut erreicht werden (Tab. 1, S. 10). Aller- Hexachlorbenzol (HCB) wurde einerseits direkt als dings kann auch bei den aktuellen Rückstands- Pestizid (Fungizid) verwendet, findet sich aber gehalten in der Muttermilch die tägliche Auf- auch als Verunreinigung in anderen Pestiziden. Es nahmemenge von HCB für den gestillten Säug- wurde aber auch als Industriechemikalie, z.B. bei ling die festgelegte akzeptable tägliche Aufnah- der Gummiherstellung, eingesetzt und wird noch memenge (TDI-Wert) übersteigen (Vieth & Przy- bis heute bei der Lösungsmittelherstellung ver- rembel, 2003). Bei den aktuellen Untersuchun- wendet. In Großbritannien wurde 1998 ein at- gen der EU-Parlamentarier konnte bei allen Per- mosphärischer Eintrag von immerhin 0,9 Tonnen sonen HCB im Blutserum nachgewiesen werden gemessen (WWF, 2004). Als Pestizid ist es in (WWF, 2004). Deutschland und der EU seit 1988 verboten: Der Stoff wird als sehr giftig und wahrscheinlich krebserregend klassifiziert. Studien weisen auf 15
Endstation Mensch 3. Zur Risikobewertung von Schadstoffen Damit chemische Stoffe in Mensch und Tier schaften der Substanzen, den so genannten in- nachgewiesen werden können, müssen sie zu- härenten Eigenschaften. Kann eine Substanz nächst in den Körper gelangen und von be- wieder ausgeschieden werden und/oder sich stimmten Geweben aufgenommen werden. Die- durch Stoffwechselvorgänge im Körper abbauen sen Vorgang des „In-Kontakt-kommens“ be- (also „biologisch abbaubar“ sein), wird sie in der zeichnet man als Exposition. Die Konzentration Tendenz eher in geringeren Mengen zu finden der im Gewebe vorgefundenen Schadstoffe sein – kann sie das nicht (ist sie also persistent), hängt danach nicht nur von der Menge ab, die wird ihre Aufnahme in den Körper im Laufe der wir mit einmaligem Kontakt aufnehmen, sondern Zeit zu immer höheren Konzentrationen im Ge- auch von den chemisch-physikalischen Eigen- webe führen: Der Stoff reichert sich an bzw. ist bioakkumulativ. Aus der Kombination einer mög- lichen Exposition in Verbindung mit bestimmten Abbildung 4: Anreicherung Eigenschaften der Substanz ergibt sich damit das von Schadstoffen von einer Chemikalie ausgehende Gefahrenpo- entlang der Nah- Baby–x? tenzial. So wird z.B. ein offen angewendeter rungskette. Stoff, der bioakkumulative Eigenschaften hat, sich mit Sicherheit in allen mit ihm in Kontakt kommenden Geweben wiederfinden lassen – man muss nur danach suchen und die Analytik muss existent sein. Frau–x? 3.1 Wie kommt die Chemikalie in den Körper? Grundvoraussetzung für die Aufnahme von Fremdstoffen in den Körper ist das „In-Kontakt- Seeforelle–x 2.800.00 kommen“ – die so genannte Exposition mit dem chemischen Stoff. Synthetische Stoffe gelangen auf unterschiedlichen Wegen und aus unter- schiedlichen Gründen in die Umwelt: bei ihrer Stint–x 835.000 Produktion, als Neben-, Abbau- oder Abfallpro- dukte anderer Chemikalien, bei ihrem Transport durch Unfälle und bei der unsachgemäßen Lage- rung und Entsorgung. Außerdem gelangen sie bei Kleinkrebse–x 45.000 der alltäglichen Nutzung von Produkten und Ge- genständen, die diese Stoffe enthalten, in die Umwelt oder durch bewusste Freisetzung wie bei dem Einsatz von Pestiziden (Pflanzenschutz- und Zooplankton–x 500 Schädlingsbekämpfungsmittel in der Landwirt- schaft) und Bioziden (Schädlingsbekämpfungs- mittel in nicht landwirtschaftlichen Bereichen). Für die Freisetzung von Pestiziden und Bioziden Phytoplankton–x 250 existieren gesetzliche Beschränkungen und Grenzwerte. Besonders problematisch ist die 16
ungewollte und ungeplante Freisetzung synthe- ist. Nach kräftigen Schütteln und einer Wartezeit tischer Chemikalien aus Alltagsprodukten, da bis zum Erreichen eines Verteilungsgleichge- man über diesen Vorgang sehr wenig weiß und er wichts werden die Stoffkonzentrationen in der gesetzlich nicht geregelt ist, weil angeblich nicht wässrigen und in der Oktanolphase gemessen. Je existent. Es ist jedoch so, dass viele Chemikalien lipophiler die Substanz, desto höher ist die Kon- nicht fest in einem Konsumartikel gebunden zentration im Oktanol im Vergleich zur Konzen- sind, sondern sich über verschiedene Mechanis- tration im Wasser. Als Standardmaß wird der Ok- men (Ausgasen, Ausschwitzen, Auswaschen etc.) tanol-Wasser-Verteilungskoeffizient = POW er- aus diesem lösen und so vom Menschen über die rechnet (P = Partition = Verteilung). Ein POW von Atmung (inhalativ), die Haut (dermal) und die 1000 bedeutet eine 1000-fach höhere Stoffkon- Nahrung (oral) aufgenommen werden können. zentration in der Oktanolphase als in der wässri- gen Phase. Eine für die Verwendung und Nutzung ge- wünschte und eigentlich günstige physikalisch- Der gleiche Mechanismus dieser Stoffverteilung chemische Eigenschaft von Stoffen (inhärente ist auch in Gewässern zu beobachten. Die orga- Stoffeigenschaft), nämlich die Langlebigkeit der nischen Träger können organische Bestandteile Chemikalien (Persistenz), wird unter diesen Be- im Sediment oder in Schwebstoffen sein, aber dingungen zu einem großen Risiko. Persistente auch Algen, Krebse, Fische und alle anderen Stoffe werden nur sehr langsam in Gewässern, Wasserlebewesen. Bei Organismen wird, analog Böden oder in Geweben auf chemischem oder zum POW, der Begriff der Biokonzentration bzw. biologischem Wege (z.B. durch Mikroorganis- der Biokonzentrationsfaktor (BCF) verwendet. men, Stoffwechselvorgänge) umgewandelt und Dieser kann entweder theoretisch abgeschätzt abgebaut. Die Dauer dieses Vorganges wird als so werden (z.B. aus dem POW) oder mit Hilfe von genannte Halbwertszeit angegeben, das ist die Laborexperimenten an Testorganismen praktisch Zeit, die dafür notwendig ist, um die Menge der bestimmt werden. Der Einfachheit halber wird Substanz um die Hälfte zu reduzieren. Es besteht der BCF, der streng genommen nur für Wasserle- dabei außerdem die Gefahr, dass sich Umwand- bewesen gültig ist, als Bewertungsmaßstab für lungs- bzw. Abbauprodukte (Metabolite) bilden, die Bioakkumulierbarkeit, also die Fähigkeit eines die sogar noch persistenter sind als die Ur- chemischen Stoffes zur Anreicherung in einem sprungssubstanz und zudem andere, unter Um- Organismus, herangezogen. Je höher der Fettge- ständen noch giftigere Eigenschaften besitzen. halt eines Organismus, desto mehr an lipophilen Als gegenwärtig in der EU verwendeter Schwel- Schadstoffen kann er aufnehmen. Dabei geht lenwert für unerwünschte Persistenz gilt eine man bei einem Biokonzentrationsfaktor über Halbwertszeit von 40–60 Tagen. 2.000 von einer Fähigkeit der Substanz zur Bio- akkumulation aus, die zur Anreicherung po- Ein weiteres, für die Produktverwendung eben- tentiell gefährlicher Substanzen im Verlauf der falls meist positives Stoffverhalten, ist die physi- Nahrungskette führen kann (Europäische Kom- kalisch-chemische Eigenschaft, sich in organi- mission, 2001). Die z.B. in einem Krebs enthalte- schen Lösungsmitteln besser zu lösen als im nen Schadstoffe addieren sich im Fisch um die Wasser. Stoffe mit dieser Eigenschaft werden als Menge der von ihm gefressenen Krebse, entspre- lipophil (=Fett liebend) oder hydrophob (=Was- chendes geschieht dann z.B. auf dem Weg vom ser abweisend) bezeichnet. Diese Stoffeigen- Fisch zum Seehund und von diesem zum Eisbär. schaften lassen sich einfach im Labor ermitteln. Je höher ein Lebewesen in der Nahrungskette In der Regel wird die Substanz in einen Kolben steht, desto stärker seine Belastung (Abb. 4). Der gegeben, der zu gleichen Teilen mit Wasser und oben beschriebene Verteilungsmechanismus und dem organischen Lösungsmittel Oktanol gefüllt die Stoffanreicherung über die Nahrungskette 17
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