Berichte - Südosteuropa-Gesellschaft
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Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte Online-Gespräch Kosovo nach den Wahlen: Im Gespräch mit Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz über Herausforderungen, Erwartungen und Chancen Kooperationsveranstaltung der Südosteuropa-Gesellschaft mit der Organisation deutsch- albanischer Akademiker Hamburg e.V., Online via Zoom, 18. Mai 2021 Bericht von Wladimir Dirksen, München Einleitung Nach den Parlamentswahlen in Kosovo am von den Verhandlungen mit Serbien, die Gër- 14. Februar 2021 bestätigte das Parlament in valla-Schwarz nun zusammen mit Premier Kurti Pristina am 22. März 2021 eine neue Regierung führen wird? Welche Rolle spielt ein „Großalba- unter Premier Albin Kurti („Vetëvendosje“). nien-Szenario“ in der Agenda der Regierung? Neue Außenministerin ist Donika Gërvalla- Welche Erwartungen gibt es seitens der kosova- Schwarz. Geboren in Kosovo, aufgewachsen in rischen Regierung an Deutschland und die EU? Deutschland und Albanien, lebte die 49-jährige Wann und wie kann die seit langem in Aussicht studierte Flötistin und Juristin zuletzt mit ihrer gestellte Visa-Liberalisierung realisiert werden? Familie in Bonn. Gërvalla-Schwarz kandidierte Wie kann die deutsche und die europäische Po- zum ersten Mal bei den jüngsten Wahlen auf litik die geplante Reformdynamik effektiver un- der neu gegründeten Liste von Vjosa Osmani, terstützen? Welche Rolle wird die US-Adminis „Guxo!“ (Dt. „Trau dich!“), und wurde mit 70.000 tration unter Präsident Biden für die Zukunft Stimmen in das kosovarische Parlament ge- des Landes spielen? wählt. Über diese und andere Fragen sprach Manuel Wie die neue Regierung insgesamt steht die Sarrazin, MdB, Sprecher für Osteuropapolitik Außenministerin vor großen Aufgaben. „Vetë- der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen vendosje“ verspricht den Kosovarinnen und und Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft, Kosovaren einen radikalen Wandel im Inneren mit der Außenministerin der Republik Kosovo, hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit, solider Regie- Donika Gërvalla-Schwarz. rungsführung, Korruptionsbekämpfung, wirt- schaftlichem Aufschwung und sozialer Gerech- Die Veranstaltung wurde mit einer Begrüßung tigkeit. Das Amt als Außenministerin von Kosovo durch Peter Beyer (MdB, Koordinator für die hält gleichermaßen zahlreiche Herausforderun- transatlantische Zusammenarbeit der Bundes- gen bereit: Wie geht es weiter mit der Integra regierung, Berichterstatter für den Westlichen tion in die Europäische Union, in der fünf Mit- Balkan, Vizepräsident der Südosteuropa-Gesell- gliedstaaten Kosovo nach wie vor die staatliche schaft, Berlin) eröffnet. Beyer betonte in seiner Anerkennung verweigern? Was ist zu erwarten Ansprache die Relevanz der politischen Ent-
70 Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte wicklungen in Kosovo für Deutschland und die Lebensjahr, einer sehr prägenden Zeit wie sie EU. Die neue kosovarische Regierung wisse sagte, in Hamburg gelebt. Diese Zeit habe ihr selbst am besten, welche Veränderungen für gezeigt, dass in Deutschland stabile politische die Bevölkerung im Land am drängendsten sei- und wirtschaftliche Verhältnisse eine Lebens- en. Nichtsdestotrotz wies Beyer insbesondere in weise schaffen würden, die sie sich auch für seiner Rolle als Parlamentarier darauf hin, dass Kosovo wünschte. die Korruptionsbekämpfung und der Dialog zwi- schen Kosovo und Serbien im Hinblick auf die Die Leichtigkeit des Lebens in Deutschland, die angestrebte EU-Mitgliedschaft priorisiert ver- eine demokratische Gesellschaft ermögliche, folgt werden sollten. Es sei an der Zeit, dass hätte sie sehr beeindruckt. „Wenn der Staat tut, Serbien und Kosovo in Brüssel zu einem Dialog was er soll“, mache das „natürlich hungrig auf finden und die konstruktive Hilfestellung der mehr“, erklärte Gërvalla-Schwarz ihren Wunsch, EU in Anspruch nehmen. diese Verhältnisse auch in ihrer Heimat schaf- fen zu wollen. Als politisch interessierter Mitveranstalter Muhamet Idrizi (Vorsitzender Mensch und als Kind eines Journalisten, der der Organisation deutsch-albanischer Akade aufgrund seiner Überzeugungen vom jugoslawi- miker Hamburg e.V. „ODA“) ging in seinen Gruß- schen Geheimdienst in Deutschland ermordet worten auf drei Bedürfnisse der kosovarischen worden ist, habe sie sich schon früh auch in Diaspora ein: Zunächst kritisierte Idrizi die Deutschland politisch engagiert. Gërvalla- längst überfälligen Visa-Liberalisierungen, de- Schwarz war in den 1990er Jahren und im Jahr ren Ausbleiben – in Anbetracht der Tatsache, 2015 wiederholt in leitenden Funktionen bei der dass es für andere Konfliktregionen bereits LDK, der „Demokratischen Liga des Kosovos“ tä- Visa-Liberalisierungen für die EU gegeben habe tig, bis sie 2018 nach gescheiterten Reformver- – schwer zu verstehen sei. Als zweites Bedürfnis suchen der Partei von allen Parteiämtern der der Diaspora nannte Idrizi die Zurückdrängung LDK zurücktrat. Im Januar diesen Jahres kandi- des Einflusses von Russland, China oder ande- dierte Gërvalla-Schwarz überraschend auf der ren Ländern durch eine aktivere Impfstoff-Di neu gegründeten Liste von Vjosa Osmani „Gu- plomatie der EU und Deutschlands. Seine dritte xo!“ erstmals für das kosovarische Parlament. Forderung richtete sich an die neue Regierung Hierbei erhielt Gërvalla-Schwarz sogar mehr Kosovos und verlangt eine Wahlrechtsreform, Stimmen, als der damalige Premierminister eine Entpolitisierung des diplomatischen Diens- Avdullah Hoti.1 tes und eine Plattform zur Ermöglichung einer direkten Kommunikation der Regierung mit der Teil der politischen Entwicklung Kosovos zu Diaspora. sein, sei für Gërvalla-Schwarz immer sehr wich- tig gewesen. Sie sei keine bloße Beobachterin, Der Wunsch nach einem unabhängigen und sondern stets gewillt gewesen, mit dazu beizu- demokratischen Kosovo tragen, dass Kosovo „frei […] und unabhängig Die erste Frage von Manuel Sarrazin an Außen- wird“. Die Aufgabe ihrer Regierung sei es daher, ministerin Donika Gërvalla-Schwarz bezog sich die in den 1990er Jahren gewonnene Unabhän- auf den EU-Erweiterungsprozess: Was wäre Ihr gigkeit zu bewahren und das Land von der gras- Wunsch an die EU oder auch an die deutsche sierenden Korruption zu befreien. Politik, um die Glaubwürdigkeit der EU-Erweite- rungspolitik zu stärken? Von der EU wünscht sich Gërvalla-Schwarz, dass man „weniger diplomatisch“, sondern eher poli- Gërvalla-Schwarz betonte erst einmal ihre tisch mit Kosovo umgehe. Der gangbarste Weg Freude darüber, bei dieser Veranstaltung in der für einen EU-Beitritt des Landes wäre in ihren Sprache der Heimat ihres Ehemanns und der Augen eine gut vorbereitete, gemeinsame Auf- ihrer Kinder sprechen zu können. Sie selbst ha- nahme aller Länder der Region. Die EU müsse be zwischen ihrem zwanzigsten und dreißigsten berücksichtigen, dass man keines der Westbal- 1 https://www.dw.com/de/donika-g%C3%ABrvalla-juristin-aus-bonn-nun-kosovos-chefdiplomatin/a-56992305
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte 71 kan-Länder vernachlässigen dürfe, sodass keine großes Bedürfnis danach bestehen, dass Serbi- Ungleichverteilung der Ressourcen und Rechte en sich von seiner Vergangenheit löst und sich entstünde, was die Region weiter destabilisie- in Richtung Freiheit und Demokratie entwickelt. ren würde. Deshalb wäre es aus ihrer Sicht die Die Serben würden die Region als „Geisel“ hal- richtige Strategie – nicht in naher Zukunft, son- ten. Beispielsweise würde Bosnien und Herze- dern möglicherweise erst im Jahr 2030 – die gowina durch die Einflussnahme Serbiens auf Länder der Region gemeinsam als einen Block rund 30 Prozent seiner Bevölkerung täglich in in die EU aufzunehmen. Für die Region wäre ei- großer Gefahr schweben. Gerade dieses Land, ne langfristige Strategie der EU und Deutsch- das in den Kriegen den höchsten Preis habe lands wichtig, um intraregionale Strukturen auf- zahlen müssen, habe es verdient, durch die EU bauen und vertiefen zu können und sich über- unterstützt zu werden, damit Serbiens Einfluss- dies zum Beispiel im Hinblick auf Rechtsstaat- nahme- und Blockadepolitik ein Ende finde. lichkeit genügend an das europäische Niveau angleichen zu können. Manuel Sarrazin lenkte das Gespräch an dieser Stelle wieder zurück auf Kosovo und fragte nach Moderator Sarrazin griff diesen Gedanken auf der Einschätzung der Außenministerin zu in- und warf das hypothetische Beispiel in den nenpolitischen Entwicklungen im Land, was He- Raum, dass alle Reformen, die sich die neue rausforderungen wie die Bekämpfung von Kor- Regierung Kosovos vorgenommen habe, in den ruption oder der organisierten Kriminalität an- nächsten Jahren erfolgreich umgesetzt werden belangt. Eine Entwicklung wie diejenige in Alba- könnten. Was wäre in einem solchen Best-Case- nien, wo die politischen Lager in diesen Fragen Szenario, an dessen Ende sogar ein Beitritt von mittlerweile nicht mehr an einem Strang ziehen Kosovo zur EU verdient in Aussicht gestellt wer- würden, wäre nicht im Interesse der EU. Daher den würde, die Lösung, wenn andere Balkan- wollte Sarrazin wissen, welche Ideen die Außen- Länder, wie beispielsweise Bosnien und Herze- ministerin für Strategien habe, die die kosovari- gowina unter Präsident Milorad Dodik, sich den sche Regierung im Hinblick auf ihre so schwieri- Anforderungen der EU für einen Beitritt verwei- ge politische Ausgangssituation auf diese Fra- gern würden? gestellungen verfolgen solle. Gërvalla-Schwarz bat um Verzeihung für die un- Gërvalla-Schwarz legte dar, dass Korruptions diplomatische Antwort, die sie auf diese Frage bekämpfung immer mit Kritik verbunden sei. In geben würde, und wies eindringlich darauf hin, dem Fall, in dem eine Regierung die Korruption dass es nicht Präsident Milorad Dodik sei, der nicht genug bekämpfe, würde Kritik über ihren einem EU-Beitritt Bosnien und Herzegowinas mangelnden Einsatz gegen Korruption laut wer- im Weg stünde. Vielmehr sei es die serbische den. Wenn sie aber den Kampf gegen die Kor- Regierung, die einen Beitritt des Landes nach ruption im Land ernsthaft anginge, würden Bü- Kräften erschwere. Hätte Serbien in den vergan- rokraten schnell Kritik daran üben, dass die Re- genen fünf Jahren einen Demokratisierungspro- gierung zu weit gehe. Daher laute der Auftrag zess, verbunden mit einer konsequenten Kor- der neuen kosovarischen Regierung, die mehr ruptionsbekämpfung, durchlaufen, so würde als jede zweite Stimme im Land erhalten habe, selbst ein Milorad Dodik einen nicht so großen Kosovo eine ernsthafte Perspektive zu geben. Unterschied machen, urteilte Gërvalla-Schwarz. Die Angst davor, dass diese Regierung scheitern Die serbische Regierung würde vehement ver- könnte, sei in der Bevölkerung sehr groß. Gër- suchen, jegliche demokratische Entwicklung der valla-Schwarz erwartet daher im Fall eines Länder in der Region zu behindern – dies sei Scheiterns der Regierung eine weitere Auswan- bei der Republik Kosovo und Bosnien und Her- derungswelle aus dem Land. Die jetzige Regie- zegowina, aber auch in Montenegro der Fall. rung sei glaubwürdig und würde Vertrauen in- nerhalb der Bevölkerung genießen. Selbst in Nordmazedonien sei laut Gërvalla- Schwarz die serbische Regierung mithilfe medi- Was das albanische Szenario anbelangt, so aler Einflussnahme dabei, die Gesellschaft zu betonte Gërvalla-Schwarz, dass trotz vieler Ge- „manipulieren“. Daher würde in der Region ein meinsamkeiten und der generellen Kenntnis
72 Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte der albanischen Politik in Kosovo auch grund den Beziehungen beider Länder brechen und ei- legende Unterschiede zu Albanien bestehen nen „Neustart“ forcieren wolle. würden. In Kosovo habe man, im Gegensatz zu Albanien, eine politische Kultur bewahren kön- Mobilitätsbeschränkungen durch Corona nen, in der es nach wie vor möglich sei, über gefährden die Wirtschaft politische Lager hinweg miteinander zu spre- Unmittelbar nach der Wahl der neuen Regie- chen. Es seien fünf große Politikbereiche zu rung sei der Eindruck entstanden, dass interna- verorten, in denen die Regierung und die Oppo- tionale Beobachter kein anderes Thema als die sition in Kosovo ähnliche Ziele verfolgen wür- Beziehungen Kosovos zu Serbien zu interessie- den. Dazu gehörten beispielsweise die Außen- ren scheine. Jedoch wären gerade jetzt innen- politik, die Bildungspolitik oder die Energiepo politische Probleme die drängendsten. Ange- litik. Langfristige Ziele seien daher konsensfähi- sichts der grassierenden COVID-19 Pandemie ge Themen zwischen der Regierung und der Op- betonte Gërvalla-Schwarz die schlechte ge- position. Gërvalla-Schwarz versicherte, dass die sundheitliche Versorgung des Landes. Insbe- Angebote der Regierung an die Opposition auch sondere sei der Mangel an ausreichend Impf- in Zukunft seriös bleiben würden. stoff ein großes Problem, da Auslandsreisen stark von der Infektionslage im Land abhingen. Sarrazin wies darauf hin, dass insbesondere die Das Land selbst hänge aber stark von den Beziehungen zu Belgrad in der Vergangenheit Rücküberweisungen der Diaspora ab, welche großes Konfliktpotenzial zwischen dem Präsi- wiederum grundsätzlich mit der Mobilität der denten, seiner Regierung und der Mehrheit im Diaspora zusammenhängen würden. Sollte der Parlament dargestellt hätten. Daher wollte er Personenverkehr zwischen Kosovo und dem wissen, welche Herangehensweise an dieses Ausland weiterhin stark eingeschränkt bleiben, Thema für die Außenministerin persönlich die drohten dem Land große Einkommensverluste richtige wäre. Gërvalla-Schwarz konnte über die durch das Ausbleiben der Rücküberweisungen Haltung der Opposition zu diesem Thema der Diaspora. nichts sagen, betonte jedoch, dass die Regie- rung eine detaillierte Strategie im Verhältnis Neben den Zahlungsströmen an die in Kosovo Pristinas zu Belgrad ausarbeiten werde. Diese lebende Familie würde die kosovarische Strategie würde auch die Interessen und Ein- Wirtschaft im Dienstleistungssektor wie der Gas- stellungen der kosovarischen Opposition ge- tronomie auch stark vom jährlichen Sommer- genüber Belgrad miteinschließen. Das Interesse Tourismus der Diaspora abhängen. Daher sei die der Regierung an einer geschlossenen Haltung Einschränkung der Reisefreiheit von im Ausland des kosovarischen Parlaments zur Politik ge- lebenden Kosovaren eine Abschnürung der ko- genüber Belgrad sei sehr hoch und die Regie- sovarischen Wirtschaft von dringend benötigten rung wäre daher auch bereit, Kompromisse ein- finanziellen Mitteln. Aus diesem Grund appel- zugehen. lierte die Außenministerin an die EU, Impfstoff- lieferungen an das Land aufzustocken, um eine Persönlich sei Gërvalla-Schwarz nicht an einem Überlastung des Gesundheitssystems und einen „Dialog“, sondern vielmehr an einer „Normalisie- Einbruch der Wirtschaft zu vermeiden. rung der Beziehungen zu Serbien“ gelegen. Das läge daran, dass in der Vergangenheit zwar Fort- Die Pandemie habe die „ererbte“ wirtschaftliche schritte in den Beziehungen beider Länder er- Lage des Landes verschlimmert. Daher sei es rungen worden seien, diese aber nicht auf ge- laut Gërvalla-Schwarz nicht der Dialog mit Ser- genseitigen Zugeständnissen, sondern vielmehr bien, sondern das Problem der Pandemie, das auf dem einseitigen Entgegenkommen Kosovos derzeit für die Regierung die höchste Priorität gegenüber Serbien zustandegekommen seien. habe. Appelle westlicher Partner, die sich aus- Hierbei wären die Interessen Kosovos vonseiten schließlich auf den Dialog mit Serbien bezögen, Belgrads jedoch nicht ernst genug genommen würden an der derzeitigen kosovarischen Reali- worden, was die jetzige Regierung ändern wolle. tät vorbeigehen. Laut Gërvalla-Schwarz bedeu- Daher sei der Ansatz der jetzigen Regierung ei- tet dies aber nicht, dass vonseiten des Kosovos ner, der mit der Praxis der letzten zehn Jahre in grundsätzlich keine Dialogbereitschaft bestün-
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte 73 de. Die kosovarische Regierung würde sich an würde Premierminister Kurti jedoch mit der allen Gesprächen beteiligen, ob bilateraler Art Aussage, dass die Frage eines „Großalbaniens“ oder auch unter Vermittlung der EU. derzeit nicht seine politische Priorität sei, be- schwichtigend ausweichen. Angesichts einer Angesichts der Tatsache, dass Kosovo derzeit links-nationalistischen Regierungspartei, deren sehr viele unterschiedliche Probleme zu bewäl- langfristiges Ziel eine Vereinigung von Kosovo tigen hat, zeigte Sarrazin für die Konzentration mit Albanien sei, wollte Sarrazin von Außenmi- auf innenpolitische Aufgaben, für deren Lösung nisterin Gërvalla-Schwarz wissen, wie sie zu der die Regierung ja schließlich gewählt worden sei, Frage eines „Großalbaniens“ steht. großes Verständnis. Andererseits sei es aber auch wichtig, dass man das „Spielfeld des Dia- Gërvalla-Schwarz verwies auf ihre Zeit in logs“ proaktiv angehe und in dem Fall, dass Deutschland und sprach dabei über ihre Faszi- langfristige strategische Ziele wie die völker- nation für die deutsche Einheit. Dieses Beispiel, rechtliche Anerkennung Kosovos derzeit realis- sagte sie, habe gezeigt, dass solch große histo- tisch nicht zu erreichen seien, auch dazu bereit rische Schritte wie eine Vereinigung nur dann sein müsse, sich auf „Zwischenziele“ zu einigen. möglich seien, wenn die jeweiligen Nachbarn Sarrazin fragte deshalb die Außenministerin keine Bedenken hätten und einem solchen noch einmal nach ihrem Ansatz für Verhandlun- Schritt zustimmen würden. Als seriöser Staat, gen mit der serbischen Regierung. der eine Ausstrahlung habe, die keine Gefahr für seine Nachbarn darstellt, würden die Nach- Gërvalla-Schwarz betonte, dass sie nicht vor barn einen solchen Weg mitgehen. habe, nach Brüssel zu fahren, „um Fotos zu ma- chen“, wie es in den letzten zehn Jahren die Die Außenministerin verwies darauf, dass ein Praxis gewesen sei. Vielmehr sei sie gewillt, sich gemeinsamer Kultur- und Sprachraum – nicht mit konkreten Vorschlägen auf die Gespräche in nur mit Albanien, sondern auch mit den ande- Brüssel vorzubereiten, um konkrete Einigungen ren Ländern, in denen Albaner in großer Zahl in den Verhandlungen zu erzielen. Laut Gërval- leben – die Menschen durchaus beschäftigt. In la-Schwarz wäre auch das Thema der gegensei- diesen Gebieten würde laut Gërvalla-Schwarz tigen Anerkennung beider Länder zeitnah zu dieselbe Sprache gesprochen und dieselbe Kul- bewältigen, wenn der politische Wille dazu be- tur gelebt. Obwohl die EU einen Beitritt dieser stünde. Daher sehe Gërvalla-Schwarz die Frage Länder derzeit nicht vorsehe, sei eben diese um die Anerkennung viel weniger problema- sprachlich-kulturelle Verbundenheit der Alba- tisch, als dies Sarrazin tun würde. Konkrete ner in den unterschiedlichen Ländern der strategische Schritte, welche die Außenminis Hauptgrund für das Bestreben in der Region um terin für die Verhandlungen mit Serbien anstre- eine Aufnahme in die EU. Denn was würde die be, könne sie derzeit jedoch nicht diskutieren EU denn anderes darstellen als die Möglichkeit, und verwies für dieses Thema auf einen späte- das eigene Leben nach Belieben gestalten zu ren Zeitpunkt. Was Gërvalla-Schwarz jedoch können. Beispielsweise würden Menschen, die schon offenlegen konnte war, dass sie die Ver- im französischsprachigen Raum leben wollen handlungen sehr offensiv angehen werde, um würden, dies problemlos tun können – ohne möglichst schnell Ergebnisse erzielen zu kön- sich darum kümmern zu müssen, ob man sich nen. diesseits oder jenseits der deutsch-französi- schen Grenze im Saarland niederlässt. Sarrazin kam an dieser Stelle auf die Regie- rungspartei LVV („Lëvizja Vetëvendosje!“ Dt. „Be- Das Zusammenleben der Albaner und Albane- wegung Selbstbestimmung!“) zu sprechen. Laut rinnen in einem gemeinsamen sprachlichen Sarrazin würde der Parteivorsitzende der LVV und kulturellen Raum könne man in der Region und amtierende Premierminister von Kosovo, nur durch eine Mitgliedschaft in der EU errei- Albin Kurti, immer wieder mit Äußerungen über chen. Selbstverständlich seien die demokrati- eine geplante Vereinigung Kosovos mit Albanien schen Werte, die Rechtsstaatlichkeit und viele auffallen. Auf genauere Nachfragen zu seinen weitere gute Gründe für eine Mitgliedschaft in Plänen für ein sogenanntes „Großalbanien“ der EU anzuführen; jedoch wäre die Möglichkeit
74 Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte für die Albaner, über Grenzen hinweg zusam- Union in Bosnien und Herzegowina, Dragan menzuleben, eine wesentliche Motivation für Čović, ordentlich die Suppe versalzen. eine Mitgliedschaft in der EU. Die Tatsache, dass es in der Region so viele „Fans“ für eine solche Sarrazin verwies an dieser Stelle darauf, dass Mitgliedschaft gebe, wäre eben der Möglichkeit er schon dem albanischen Ministerpräsidenten geschuldet, den Problemen der „Kleinstaaterei“ Edi Rama klargemacht habe, dass er persönlich zu entfliehen und in einem großen, gemeinsa- eine solche Angliederung vehement ablehnt men und integrierten Raum zu leben. Es sei und im Fall einer Vereinigung von Kosovo mit „ganz einfach das, was wir wollen“, offenbarte Albanien eine Aufnahme in die EU von seiner Gërvalla-Schwarz. Seite kategorisch ausgeschlossen werden wür- de. „Ich nehme Kosovo und Albanien nur als Wenn man Premierminister Kurti einmal richtig separate Staaten in die EU auf, und sonst nicht, zuhören würde und nicht nur die von den Medi- ganz klar“, brachte Sarrazin seine Einstellung zu en herausgepickten Zitate mitbekäme, könnte einer möglichen Vereinigung beider Länder man heraushören, dass Kurti genau darüber noch vor einem möglichen Beitritt zur EU sprechen würde, so Gërvalla-Schwarz. Kurti deutlich zum Ausdruck. würde nicht über eine Verbindung von Kosovo mit Albanien zu einem gemeinsamen Staat Für den Fall, dass ein Zusammenschluss erst sprechen, denn „wo bl[ie]ben denn da die an- nach einem Beitritt in die EU angestrebt würde, deren?“. Kurti spreche nicht davon, dass Pristina müssten einerseits die Verträge mit der EU ge- und Tirana einseitig entscheiden würden, dass ändert werden und könnte andererseits die da- man ab morgen eine staatliche Union einginge für nötige einstimmige Zustimmung aller EU- und dabei missachten würde, was die Nachbar- Mitgliedstaaten nach Sarrazin mit Sicherheit staaten, die EU und die USA davon denken. Je- nicht erreicht werden. Insbesondere dann, doch könne der Wunsch der einfachen Men- wenn zu diesem Zeitpunkt neben Kosovo und schen von der Straße, „gemeinsam in einem Albanien auch Serbien ein Mitglied der EU sein Raum zu leben“, nicht länger ignoriert werden. sollte. Angesichts dieser Sachlage, die eine Ver- Daher würde Gërvalla-Schwarz ihre Freunde in einigung von Kosovo mit Albanien laut Sarrazin der EU stets davor warnen, eine EU-Perspektive unwahrscheinlicher mache, als es eine erneute der Länder immer weiter aufzuschieben, denn Teilung Deutschlands wäre, stelle sich daher die es sei nun mal so, dass Menschen eine be- Frage nach dem Sinn, über ein so unrealisti- grenzte Geduld hätten und dann nach Alternati- sches Ziel überhaupt zu debattieren. Warum, ven suchen würden. wollte Sarrazin wissen, werde sowohl von der Regierungspartei als auch von der LDK trotzdem Laut Gërvalla-Schwarz würden sich laut immer wieder die öffentliche Aufmerksamkeit Umfragen über 93 Prozent der Kosovaren für auf dieses Thema gelenkt? Warum würden un- eine Mitgliedschaft in der EU aussprechen. Dies erfüllbare Wünsche der Wähler als realistische sei eine verlässliche numerische Angabe, im Ziele dargestellt und damit ethno-nationalisti- Gegensatz zu Erklärungen in den Zeitungen, die sche Debatten in der Region immer weiter be- den Eindruck erwecken sollten, dass die neue feuert? Regierung bedrohlich sei, indem sie ihr vorwer- fen würden, die Stabilität auf dem Balkan zu Ein Vergleich der albanischen Frage mit der Fra- gefährden. Über seine unkonventionelle Frage- ge nach einer möglichen Teilung Bosnien und stellung vorwarnend, merkte Sarrazin an, dass Herzegowinas sei nicht zulässig, erwiderte Gër- er diesen Wunsch in Bosnien und Herzegowina valla-Schwarz. Milorad Dodiks und Dragan ebenfalls wiederholt zur Kenntnis genommen Čovićs Bemühungen würden nämlich die Gefahr habe. Daher würde ein klares Dementi seitens mit sich bringen, einen Staat wie Bosnien und von Kosovo über eine mögliche Vereinigung mit Herzegowina auseinanderfallen zu lassen. Beide Albanien sowohl dem serbisch-bosnischen Poli- würden mit ihren Bemühungen die Existenz des tiker und ehemaligen Staatsoberhaupt der Re- Staates riskieren, was für Gërvalla-Schwarz ein publika Srpska, Milorad Dodik, als auch dem „nicht gangbarer Weg“ ist. Gërvalla-Schwarz Vorsitzenden der Kroatisch Demokratischen sagte, dass es nicht ihr Ziel sei, innerhalb der
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte 75 EU aus zwei Staaten einen einzigen Staat zu for- ges an, wonach vor internationalen Gerichten men. Vielmehr würde die EU als solche das Be- nach Gerechtigkeit gesucht werden solle. Als dürfnis der Menschen nach einem gemeinsa- ein Freund des internationalen Rechts beteuer- men sprachlich-kulturellen Raum befriedigen. te Sarrazin, daran zu glauben, dass Aufarbei- Das bedeute, dass nicht die Formung einer poli- tung sehr wichtig sei und man viel mehr über tischen Vereinigung innerhalb der EU das Ziel die Opfer und vor allem mit ihnen sprechen sei; stattdessen würde das in der Region „exis- müsse, um zu einer Versöhnung und gegensei- tente Bedürfnis nach einem barrierefreien Zu- tigen Anerkennung des Leids zu kommen. sammenleben in einem Sprach- und Kultur- Nichtsdestotrotz gebe es auch die Auffassung, raum“ durch die Aufnahme in die EU befriedigt dass weitere Bemühungen der Aufarbeitung werden. keinen Nutzen für die Opfer brächten, sondern vielmehr die tiefen Gräben zwischen den Par- Ein solches Szenario würde nach Gërvalla- teien wieder aufreißen würden. Angesichts die- Schwarz eine Win-win-Situation für alle darstel- ser zwei Strömungen in Bezug auf den Jugosla- len. Ein gemeinsamer Sprach- und Kulturraum wien-Krieg wollte Sarrazin von der Außenmi- sei zwar nicht der einzige Grund dafür, dass es nisterin wissen, welche Einstellung sie zur Auf- einen Willen zur EU-Mitgliedschaft gebe, jedoch arbeitung habe. würde eben dieses Thema besonders oft zur Sprache gebracht – was wiederum dazu führen Gërvalla-Schwarz gab an, dass Bemühungen der würde, dass es so zentral erscheint. Eine politi- Aufarbeitung das Problem bergen würden, dass sche Einheit mit Albanien werde laut Gërvalla- man zu sehr in der Vergangenheit lebt. Hierbei Schwarz innerhalb der EU nicht angestrebt, vor sei aber nicht die Vergangenheit selbst das allem nicht, wenn es bei den Nachbarn auf Wi- Problem, sondern die heutige Haltung Serbiens. derstand stoßen würde. So etwas „werde ich „Unser Problem ist das heutige Serbien, unser nicht erleben, [und] das werden Sie [auch] nicht Problem ist noch nicht einmal, dass der ehe erleben“, stellte sie klar. malige Propagandaminister […] von Slobodan Milošević der heutige serbische Präsident ist, Genau das, was die EU vorgemacht hätte, wün- weil das haben nicht wir zu entscheiden, das sche sie sich für den Balkan, sagte Gërvalla- haben die Bürger in Serbien entschieden […].“ Schwarz: Dass man barrierefrei miteinander Das derzeitige Problem sei, die Sprache, die auf kommunizieren könne und dass man sich – un- Seiten Serbiens gegenüber Kosovo benutzt wer- abhängig davon, ob man Franzose in Paris oder de, zu akzeptieren. In Deutschland wäre auch an der Grenze ist, oder ob man Deutscher in keiner bereit, die „AfD-Sprache“ zu akzeptieren, Hamburg oder im Süden sei – aussuchen kön- und als solche nehme Gërvalla-Schwarz die ne, in welchem Raum man zu leben wünscht. Sprache der serbischen Regierung wahr. Die Außenministerin betonte, dass die Unter- stützung der neuen Regierung innerhalb der Wenn man serbische Medien verfolge, würde Bevölkerung sehr groß sei und die Regierung in man erkennen, dass der Populismus des Präsi- den schwierigen Zeiten, die noch kommen wür- denten Serbiens, Aleksandar Vučić, alle Lö- den, diese Unterstützung brauchen werde, um sungsmöglichkeiten ausschließen würde. Die schwierige Entscheidungen treffen zu können. serbische Presse würde versuchen, den Präsi- Die neue Regierung müsse Ergebnisse produzie- denten möglichst gut darzustellen. Dieser wür- ren, die sie zu Hause auch umsetzen könne, al- de sich aber aufgrund von Korruptionsvorwür- les andere wäre eine bloße „Foto-Diplomatie“. fen in seinem Land darauf beschränken, auf Man brauche einen Dialog, von dem die Men- Kosovo herumzuhacken. schen in Serbien und Kosovo und nicht nur die Politiker, die sich in den Verhandlungen betäti- Gërvalla-Schwarz betonte an dieser Stelle, dass gen, profitieren würden. sich die Biografien der serbischen und kosova- rischen Politiker stark unterscheiden. Auf der Umgang mit den Opfern des Kosovo-Krieges einen Seite gebe es eine neue kosovarische Re- Sarrazin sprach an dieser Stelle die von Kurti gierung, deren Ministerpräsident zweieinhalb aufgeworfene Frage nach den Opfern des Krie- Jahre als politischer Gefangener in serbischen
76 Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte Gefängnissen gesessen habe. Nachdem man ihn das Geschehene von unabhängiger, internatio- in Kosovo festgenommen und nach dem Ein- naler Stelle bewiesen zu bekommen. marsch der NATO-Truppen nach Serbien ver- schleppt hatte, habe man ihn erst zwei Jahre Es vergehe kein Tag zwischen den Monaten nach Ende des Krieges freigelassen. Im Gegen- März und Juni eines jeden Jahres, an dem nicht satz dazu habe Vučić zur selben Zeit als Propa- an ein Massaker erinnert würde. Bei diesen gandaminister Miloševićs fungiert. Massakern seien überwiegend Frauen und Kin- der ermordet worden. Hierbei sei in vielen Fäl- Ein anderes Beispiel sei die derzeitige Vizeprä- len nicht klar, wohin die Opfer verschleppt wor- sidentin des kosovarischen Parlaments, die den den seien, sodass Trauernde auch heute noch Krieg mit 16 Kugeln im Körper überlebt habe, oft nicht wissen, wo sich die Überreste ihrer An- nachdem ihre ganze Familie ermordet worden gehörigen befinden. Die Außenministerin for- sei. Ebenso gebe es eine kosovarische Abgeord- derte daher, dass Serbien offenlegen solle, wo nete, die öffentlich über Massenvergewaltigun- sich die fraglichen Massengräber auf serbi- gen im Krieg gesprochen habe und dafür in Ko- schem Territorium befinden, damit man die Ge- sovo sehr geschätzt und respektiert werde. Die schehnisse verarbeiten und den Dialog voran- Außenministerin selbst habe auch eine Biogra- bringen könne. Dabei gehe es nicht nur um Ver- fie, die sehr schwierig sei: Nachdem sie als Kind gangenheitsbewältigung, sondern darum, dass habe erleben müssen, wie ihre Familie flüchte- es auch heute noch Mütter gebe, die nicht te, seien ihr Vater und ihr Onkel bei einem poli- wüssten, wo ihre Kinder begraben sind. tischen Attentat in Deutschland getötet worden. Der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti Die Außenministerin stellte klar, dass die Befür- habe in seiner ersten Rede vor dem Parlament worter einer Aufarbeitung keinesfalls auf Rache öffentlich erklärt, dass von den 1.600 Vermiss- aus seien. Jedoch wäre bislang in Folge von – ten ein Viertel bis ein Drittel nicht albanischer laut Gërvalla-Schwarz geschätzten – mehr als Herkunft, sondern Serben, Roma, Bosniaken, zwanzigtausend Vergewaltigungen im Krieg kein Türken oder Angehörige anderer Volksgruppen einziger Täter in Serbien verurteilt worden. Ser- gewesen seien. Die Angaben über die Massen- bien betreibe laut der Außenministerin keine gräber vermute man im Archiv der ehemaligen Vergangenheitsbewältigung. Die aufgeführten jugoslawischen Volksarmee in Belgrad. Für Bel- Biografien würden zeigen, dass es sich bei der grad wäre es laut Gërvalla-Schwarz ein Leichtes, Aufarbeitung der Verbrechen nicht um die diese Daten herauszugeben. Auf albanischer Generation der Großeltern oder der Eltern Seite gebe es zwar keine Register, aber man handelt, sondern um eine gegenwärtig in Koso- hätte eine enorme Bereitschaft, den Prozess der vo in Regierungsverantwortung stehende Gene- Aufarbeitung voranzutreiben, nicht nur der al- ration. Daher befände sich derzeit ein Institut banischen Mütter wegen. Auch alle anderen zur Dokumentation der Verbrechen in der Grün- Mütter hätten es verdient, ihre Angehörigen dung, und die Regierung würde eine Genozid- ordnungsgemäß bestatten zu können. Eine sol- Klage vorbereiten, die nach ausreichender Be- che Aufarbeitung des Schicksals der Vermissten weissicherung und realistischer Aussicht auf Er- würde wesentlich zur Befriedung der Gesell- folg erhoben werden wird. schaft beitragen. Damit das Thema des Krieges endlich beerdigt werden könne, brauche man Folglich habe Serbien zwei Möglichkeiten, mit vonseiten Belgrads als Zeichen des guten Wil- seiner Vergangenheit umzugehen. Einerseits lens Informationen über die Standorte der Mas- bestünde die Möglichkeit, dem Vorbild Deutsch- sengräber, bevor man mit den Dialogen begin- lands zu folgen und die eigenen Verbrechen an- ne. zuerkennen, sich bei den Opfern zu entschuldi- gen und auf eine andere, bessere Zukunft in Fragen aus dem Publikum den nachbarschaftlichen Beziehungen zu hof- An dieser Stelle beendete Manuel Sarrazin das fen. Oder aber man bleibe auf dem Weg, den Zwiegespräch, bedankte sich bei der Außenmi- Vučić eingeschlagen habe, und leugne seine nisterin und übergab für die Zuschauerfragen Verbrechen. In letzterem Fall sei es daher nötig, an Dr. Christian Hagemann, den stellvertreten-
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte 77 den Geschäftsführer der Südosteuropa-Gesell- Seiten kenne und dadurch wirtschaftliche schaft in München. Das erste Thema, auf das Beziehungen zu anderen Ländern gleichzeitig sich die Fragen aus dem Publikum bezogen, war erleichtere und befördere. Die Ausbildung der die Rolle der Diaspora und der Umgang mit ihr. Diaspora sei sehr gut und breit gefächert, es Innerhalb der kosovarischen Diaspora gebe es müsse daher gelingen, dieses Knowhow für das viele Menschen, die gut ausgebildet wären und Land zu nutzen. Die Bereitschaft dafür sehe sie sich gerne in die Entwicklung Kosovos einbrin- überall, sagte Gërvalla-Schwarz. Die Diaspora gen würden. Es gebe zwar jährlich im Sommer solle außerdem nie mehr von ihrem Stimmrecht eine gewaltige Finanzspritze für die kosovari- abgeschnitten werden. Das erste eingebrachte sche Wirtschaft, jedoch bestünde gleichzeitig Gesetz der neuen Regierung habe aus diesem das Problem, dass diese Rücküberweisungen Grund das Wahlrecht Kosovos betroffen und der häufig in Konsumgüter anstatt in nachhaltigere Diaspora zugestanden, dass ihr das Stimmrecht Anlagen investiert würden. Die Frage an die Au- per Gesetz nie wieder entzogen werden kann. ßenministerin lautete daher, ob es zu dieser Als Beispiel für das erfolgreiche Einbringen der Problematik bereits eine Strategie der Regie- Diaspora in die kosovarischen Institutionen rung zur Umlenkung der Investitionen gebe. nannte Gërvalla-Schwarz ihren Kabinettschef, welcher erst 24 Jahre alt sei und aufgrund sei- Gërvalla-Schwarz beteuerte, dass die Diaspora ner Ausbildung und Sozialisierung in Deutsch- der eigentliche Schatz Kosovos sei. Sie selbst land den größten Respekt innerhalb der Regie- sei über 20 Jahre lang Teil der Diaspora gewe- rung genieße. Demnach seien Fachkräfte mit sen und wisse, dass die Einbindung der Diaspo- Knowhow in Kosovo viel dringender gebraucht ra in allen Bereichen des Lebens in Kosovo – als Geld. Folglich sei eine Plattform für die Be- wie auch in einer Regierungserklärung festge- standsaufnahme der zur Verfügung stehenden schrieben – unverzichtbar sei. Das liege nicht Fachkräfte vonnöten. nur an den Rücküberweisungen, sondern vor allem daran, dass die Diaspora als eine Brücke Weiterhin wollte das Publikum wissen, ob und ins Ausland fungiere und meist bestens ausge- inwieweit der Austausch zwischen der Diaspora bildet sei. Daher brauche man die Diaspora in und Kosovo institutionalisiert werden soll. Vor- allen Institutionen Kosovos, um Reformen nicht schläge aus dem Publikum, dass man Praktika, durch Dritte vorgefertigt zu bekommen, sondern Workshops oder gar einen Finanzierungsfonds mithilfe der Diaspora Reformen selbst entwer- der Diaspora einrichten könnte, gingen laut fen und angehen zu können. Außerdem würden Gërvalla-Schwarz in dieselbe Richtung, die der viele Arbeitsplätze durch die Investitionen der Regierung vorschwebe. Derzeit würde sie selbst Diaspora geschaffen. sich beispielsweise bei der Besetzung des Am- tes ihrer Stellvertreterin für eine bestimmte Ausländische Investitionen würden im Fall der Person einsetzen, die sich in ihrer beruflichen Diaspora im Gegensatz zu anderen Investoren Vergangenheit explizit mit der Ausweitung der ohne große Gewinnerwartungen getätigt. Wich- Beziehungen zur Diaspora beschäftigt habe. tig sei den Investoren und Investorinnen aus der Diaspora stattdessen insbesondere, dass Das Publikum stellte als nächstes Fragen zur mit ihrem Geld keine Korruption finanziert wer- EU-Perspektive des Landes: In den letzten Mo- de. Daher werde die Regierung alles daranset- naten sei in Bezug auf den EU-Beitritt der Län- zen, diese Hürde für Investitionen zu beseitigen. der des Westbalkans eine pessimistische Dis- Falls jemand die Erfahrung machen sollte, kor- kussion entstanden. Die Region habe zwar keine rupte Beamte bezahlen zu müssen, solle man Alternative zum EU-Beitritt, jedoch stelle sich dies laut Gërvalla-Schwarz dringend den Behör- langfristig die Frage danach, wie lange die koso- den melden. Genehmigungen würden in Kosovo varische Regierung die EU-Perspektive und den nicht mehr mithilfe von Bestechungszahlungen Glauben an das Beitrittsversprechen der EU an erteilt. die Region innerhalb der Bevölkerung aufrecht- erhalten könne. Beispielsweise fehlte einerseits Die Diaspora fungiere als Brücke zu anderen die versprochene Visa-Liberalisierung, anderer- Ländern, weil sie die Gepflogenheiten beider seits würde Kosovo immer noch von fünf EU-
78 Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte Mitgliedstaaten (Griechenland, Rumänien, die der Glaubwürdigkeit der EU, wenn trotz größter Slowakei, Spanien und Zypern) nicht anerkannt. Bemühungen Fortschritte im Beitrittsprozess an Gibt es konkrete Gründe für Frankreich und die den Vorurteilen einiger Länder scheiterten. Niederlande, die Mitgliedschaft Kosovos und der Region als Ganzes zu verweigern? In Bezug auf die nach wie vor fehlende Aner- kennung von Kosovo durch fünf EU-Mitglied- Gërvalla-Schwarz stellte klar, dass man die staaten wollte Hagemann von der Außenminis- sogenannte EU-Müdigkeit, die man auch in terin wissen, wie gut die Chancen für eine bal- Deutschland in einigen Teilen der Bevölkerung dige Änderung des Status von Kosovo in den vorfinden würde, in den Balkan-Ländern nicht fünf Ländern wäre. Es sei richtig, dass fünf EU- habe. Es gebe zwar Länder wie Serbien, die der Mitgliedstaaten Kosovo noch nicht anerkannt EU gegenüber nicht freundlich gesinnt seien, je- hätten. Jedoch, so beteuerte Gërvalla-Schwarz, doch brauche man sich mit über 93 Prozent Zu- hätten die 22 anderen EU-Mitgliedstaaten alle stimmung für einen EU-Beitritt in Kosovo keine schon früh die Unabhängigkeit Kosovos aner- Sorgen über die Beitrittswilligkeit der Bevölke- kannt. Es gehöre zum täglichen Geschäft des rung machen. Kosovo habe das Assoziierungs- Außenministeriums, um die Anerkennung in abkommen unterschrieben; Ziel der neuen Re- diesen Ländern (Griechenland, Rumänien, die gierung sei es daher, innerhalb der nächsten Slowakei, Spanien und Zypern) zu werben. Dies vier Jahre den Status eines EU-Beitrittskandida- sei ein langwieriger Prozess, der auf allen Ebe- ten zu erreichen. Das sei zwar ein ambitionier- nen forciert werden müsse. Hierzu sollen in tes Ziel, jedoch sei die kosovarische Regierung nächster Zeit die kulturellen und wirtschaftli- „sehr committed“, dies zu schaffen. chen Kontakte mit diesen Ländern ausgebaut werden, um auf lange Sicht die Anerkennung Dass es immer noch keine Visa-Liberalisierungen Kosovos zu erreichen. gebe, mache die Außenministerin sprachlos. Das EU-Parlament und die Kommission hätten bestä- Die nächste Frage aus dem Publikum richtete tigt, dass die Voraussetzungen für Visa-Liberali- sich auf die atlantische Perspektive Kosovos: In- sierungen erfüllt worden seien und diese jetzt wieweit befürwortet die Außenministerin einen eingeführt werden müssten. Jedoch gebe es zwei, Verbleib der KFOR-Truppen in Kosovo? Erachtet drei Länder, die blockieren würden. Angesichts sie – analog zum EU-Beitritt – auch einen NATO- von 1,8 Millionen Menschen in Kosovo wäre die Beitritt Kosovos oder der Region als Ganzes für Blockade der Visa-Liberalisierungen aus Sorge sinnvoll? Laut Gërvalla-Schwarz würde die Zu- vor illegaler Migration laut Gërvalla-Schwarz ein stimmung in Kosovo für einen Beitritt zur NATO großes Unrecht, da man dabei auch Geschäfts- sogar noch höher sein als diejenige zu einem leuten, Sportlern und Sportlerinnen, Kunstschaf- EU-Beitritt. Die meisten NATO-Mitgliedstaaten fenden und Besuchern und Besucherinnen die hätten Kosovo anerkannt. Für einige wenige, die Einreise erschwere. Es könne nicht sein, so die dies noch nicht getan hätten, würden täglich Außenministerin, dass Eltern ihre Kinder in Anstrengungen unternommen, um zu zeigen, Deutschland nicht besuchen könnten, obwohl dass das Land ein seriöser bilateraler Partner ihre Kinder die finanziellen Mittel haben würden, sei. „Deswegen: NATO? – Ja, unbedingt!, mit Aus- ihnen die Tickets zu bezahlen. rufezeichen und KFOR-Präsenz auch: Ja!, mit Ausrufezeichen“ fasste die Außenministerin ihre Die Voraussetzungen für eine Liberalisierung Position unmissverständlich zusammen. seien „doppelt erfüllt“ worden. Als Außenminis- terin müsse Gërvalla-Schwarz mit Frankreich, Die KFOR-Präsenz sei der Garant für die Sicher- den Niederlanden und anderen Skeptikern ei- heit der Menschen in Kosovo. Ungeachtet der ner Visa-Liberalisierung sprechen, um Zweifel Tatsache, dass die serbische Seite durch die aus der Welt zu schaffen. Wie große Drogenfun- Lieferungen schwerer Waffen aus Russland oder de in der letzten Zeit gezeigt hätten, würden je- China Propaganda betreibe, könnten die koso- den Tag Signale gesendet, dass man die Verbre- varischen Bürger und Bürgerinnen dank der chensbekämpfung in Kosovo ernst nehme. Im Präsenz von NATO-Truppen in Gestalt der KFOR Endeffekt sei es für Gërvalla-Schwarz eine Frage nachts ruhig schlafen. Ohne NATO und KFOR im
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte 79 Land wäre die Sicherheitslage in Kosovo eine wegen ihres Geschlechts. Es sei der Außenmi- ganz andere und man müsste fürchten, dass nisterin allerdings klar, dass es einige Zeit dau- Serbien einmarschieren könnte. „Also, bitte ern werde, bis die Geschlechtergerechtigkeit KFOR nicht antasten!“ appellierte Gërvalla- von den höchsten politischen Ebenen des Staa- Schwarz und betonte die Rolle der KFOR als tes bis in die Gesellschaft übernommen werden Garant für Frieden und Stabilität in der Region. könne. Kosovo von 2021 sei nicht mehr derjeni- ge von 1990 – Frauen hätten in der Gesellschaft Die letzte Frage aus dem Publikum betraf den viel mehr zu sagen als früher. gesellschaftlichen Bereich und richtete sich an der Geschlechtergerechtigkeit im Land aus: Als Jedoch sei nach wie vor die Arbeitslosigkeit bei weibliche Außenministerin in Kosovo neben ei- Frauen mit über 80 Prozent sehr hoch, was Gër- ner weiblichen Staatspräsidentin – was können valla-Schwarz als „völlig inakzeptabel“ bezeich- Sie als wichtige Frauen auch für die Frauen in nete. Wenige Frauen würden in Kosovo Familie Kosovo verändern? Gërvalla-Schwarz erklärte, und Arbeit vereinbaren. Dort jedoch, wo Frauen dass die Liste der von ihrer Koalition zur Wahl in Kosovo arbeiten würden, würden sie dies aufgestellten Abgeordneten bei den letzten besser tun als die Männer. Unabhängig davon, Wahlen die festgesetzte Frauen-Quote von dass in den höchsten politischen Ebenen Frau- 30 Prozent auf dem Stimmzettel mit über 40 en sehr sichtbar seien und viel eigenes politi- Prozent zur Wahl aufgestellter Frauen bei wei- sches Gewicht hätten, würde es noch viel Arbeit tem übertroffen habe. brauchen und ein langer Weg sein, bis Frauen in Kosovo gleichberechtigt wären und Mädchen In der obersten Ebene der Politik habe Kosovo und Jungen die gleichen Chancen hätten. einen Status von Frauen erreicht, in dem nichts mehr erklärt werden müsse. Die Staatspräsi- Mit einer Danksagung und Verabschiedung dentin zum Beispiel sei aufgrund ihrer Haltung, durch Manuel Sarrazin endete das Online- Werte und Prinzipien gewählt worden und nicht Gespräch. Online-Diskussion 25 Jahre nach Dayton: Bosnien und Herzegowina zwischen Ethnonationalismus und Bürgergesellschaft Veranstalterin: Südosteuropa-Gesellschaft, Online via Zoom, 04. Mai 2021 Bericht von Stephani Streloke, Bonn Die Online-Veranstaltungen der SOG sind auf YouTube nachzuverfolgen und nachzuhören unter dem Link: https://tinyurl.com/y7r8zgso. Einleitung Veranstaltung über die aktuellen Herausforde- Ende 1995 konnte mit dem Friedensabkommen rungen des Landes zwischen Ethno-Nationalis- von Dayton der Krieg in Bosnien und Herzego- mus und Bürgergesellschaft diskutiert: Welche wina endlich beendet werden. Bis heute ist das Veränderungen braucht es, damit Bosnien und Land jedoch ein in weiten Teilen dysfunktiona- Herzegowina sich zu einer Bürgergesellschaft ler Staat, in dem nicht alle Bürgerinnen und mit gleichen Rechten für alle Bürgerinnen und Bürger über die gleichen Rechte verfügen. Die Bürger entwickeln kann? ethnische Spaltung der Gesellschaft schreitet voran, die Glorifizierung von Kriegsverbrechen Auf dem Podium diskutierten darüber Dr. Valen- gehört keineswegs der Vergangenheit an. tin Inzko, Hoher Repräsentant für Bosnien und 25 Jahre nach Dayton wurde auf dieser Online- Herzegowina, Sarajevo; Botschafterin Susanne
80 Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte Schütz, Beauftragte für Südosteuropa, die Türkei, Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft eingefor- OSZE und Europarat, Auswärtiges Amt, Berlin; dert und gefördert wird. Eine Verfassungsreform Mirsad Hadžikadić, Vorsitzender und Gründer der einschließlich des Wahlgesetzes müsse dafür Platform for Progress, Sarajevo; Dr. Majda Ruge, sorgen, dass die ethnische Spaltung überwun- Senior Policy Fellow, Western Balkans, European den werde. Nur ein multi-ethnisches und multi- Council on Foreign Relations, Berlin und Prof. Dr. kulturelles Bosnien könne in Europa, in einer Joseph Marko, ehemaliger internationaler Richter Europäischen Union bestehen. Dies wolle er der am Verfassungsgerichtshof von Bosnien und Diskussion vorausschicken. Herzegowina, Universität Graz. Moderatorin der Veranstaltung war Adelheid Wölfl, Südosteuropa- Notwendige Schritte hin zur Korrespondentin, Der Standard, Sarajevo. Bürgergesellschaft Moderatorin Adelheid Wölfl dankte Sarrazin für In seinem (aufgrund von Wahlkampf-Terminen seine einführenden Worte. Nach 25 Jahren be- vorab aufgezeichneten) Grußwort sagte Manuel finde sich BuH in der Situation, dass wieder Sarrazin, MdB, Sprecher für Osteuropapolitik einmal über Gesetzesänderungen gesprochen der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grü- werde und individuelle Bürgerrechte eingefor- nen und Präsident der Südosteuropa-Gesell- dert würden. Was braucht es, um gleiche Rechte schaft: „Wir alle wissen, wie wichtig das Dayto- für alle zu erhalten, wie kann man dies unter- ner Abkommen von 1995 war, es beendete end- stützen, und welche Rolle kommt der Zivilge- lich den blutigen Bosnienkrieg. […] Abwesenheit sellschaft dabei zu? Sie begrüßte das hochkarä- von Krieg bedeutet nicht unbedingt auch Frie- tig besetzte Panel und wandte sich als erstes an den. Wir wissen, dass Bosnien und Herzegowina Valentin Inzko: Er sei als OHR vor Ort, zusam- bis heute in weiten Teilen ein dysfunktionaler men mit Repräsentant*innen der EU und ande- Staat ist.“ Nicht alle Bürgerinnen und Bürger ren wichtigen Playern. In der Vergangenheit ha- hätten die gleichen Rechte. Auch die ethnische be man gesehen, dass es Fortschritte gibt, wenn Spaltung sei noch lange nicht überwunden. Die alle gut zusammenarbeiten. Wie kann so eine Glorifizierung von Kriegsverbrechen gehöre zur Zusammenarbeit aussehen, damit es schrittwei- Tagesordnung. „Wie können wir uns gemeinsam se in Richtung Bürgergesellschaft vorangeht? für die Idee einer multi-ethnischen Bürgerge- sellschaft einsetzen?“, fragte Sarrazin. Valentin Inzko bestätigte, dass fast alles, was es auf der Welt an internationalen Organisationen Sarrazin wandte sich dann den sogenannten gibt, vor Ort ist, einschließlich der Weltbank, ei- „Non-Papers“ zu, welche seit dem Frühjahr 2021 ner UNO-Vertretung und des UNHCR. Als größte kursieren und die eine ethnische Grenzziehung Organisation sei die OSZE mit rund 300 Mitar- für Bosnien und Herzegowina fordern. Die Poli- beiter*innen vor Ort. Insgesamt seien ein- tik habe sich in den letzten Wochen damit be- schließlich der Botschaften rund 2.000 Organi- schäftigen müssen. „Über die reden alle, aber sationen im Land vertreten. Der Output jedoch keiner will sie geschrieben haben“, sagte Sarra- sei nicht gut, hier müsse mehr geliefert werden. zin. Er bedankte sich bei Bundesaußenminister Der OHR hatte anfangs die Leadership. Ein gro- Heiko Maas und Staatsminister Michael Roth, ßer Schritt hin zur Normalität seien die einheit- dass diese sich so offen gegen ethnische Grenz- lichen Nummernschilder, Fahnen und eine ge- ziehungen positionierten. Sarrazin sagte, diese meinsame Währung gewesen. Aus drei Armeen Papiere gehörten in den „historischen Schred- sei eine, aus zwei Verteidigungsministerien ei- der“. Die Verfasser der „Non-Papers“ wollten nes geworden. nicht erreichte Kriegsziele heute am Grünen Tisch verwirklichen. Es werde immer noch ge- Statt der „Bonn Powers“ des OHR spreche man testet, wie weit man gehen kann und sondiert, heute von „Pool Powers“. Inzko sagte, er sehe zu wie die EU auf solche Versuche reagiert. wenig von diesen und auch zu wenig von der Perspektive der EU-Mitgliedschaft. Die EU habe Die Grenzen von Bosnien und Herzegowina sei- bereits 2003 in Thessaloniki europäische Pers- en unantastbar, sagt Sarrazin. In diesem Kon- pektiven in Aussicht gestellt. Wenn BuH 2033 in text sei es auch wichtig, dass der Aufbau einer die EU kommen sollte, habe es lange 30 Jahre
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021 Berichte 81 darauf gewartet. „Eine Perspektive von 30 Jah- nig ausholen, sagte Schütz. Wie auch Außenmi- ren verändert sich in eine Fata Morgana“, da ha- nister Heiko Maas auf seiner Reise nach Kosovo, be man keine Lust mehr, zu warten, stellte Inzko Serbien und Nordmazedonien gesagt habe, lie- fest. Die Menschen sagten also, wir lieben die gen Deutschland die Länder des westlichen Bal- EU, wir gehen jetzt nach Deutschland oder nach kans als künftige Mitglieder der EU sehr am Her- Österreich, wir wollen die EU sofort haben und zen. Die Situation in BuH sei derzeit aber Anlass nicht erst in 30 Jahren. zur Sorge. Der Reformprozess stoppe. Provokatio- nen und Spaltungsversuche lenkten Aufmerk- Politiker*innen sähen das anders: Sie wüssten, samkeit und Ressourcen von den Reformaufga- dass sie bei einem solchen Zeithorizont keinen ben ab. Allzu oft seien es Machtinteressen und Posten in der EU bekommen werden; deshalb Einzelne, die Zugriff auf diese Ressourcen haben machten sie nur Lippenbekenntnisse. Sie woll- wollten. Das oben angesprochene, angeblich slo- ten keine europäischen Werte. „Warum sollten wenische „Non-Paper“ zeige dies. diese Politiker ‚Rule of Law‘ haben wollen? Das bringt sie ja direkt ins Gefängnis“, folgerte Inzko. Deutschland lehne Grenzveränderungen ent- „Wenn wir in BuH gar nichts hinterlassen wür- lang ethnischer Kriterien auf dem Westbalkan den, keine Straßen, keine Infrastruktur, aber da- ab, betonte Schütz. Dies würde die Instabilität für Rechtsstaatlichkeit, dann könnten wir nach in der Region erhöhen und neue Krisen herauf- Hause gehen, dann hätten wir viel hinterlas- beschwören. Vielmehr seien regionale Zusam- sen.“ Ein Grundwert sei sicher Rule of Law, ein menarbeit und Multiethnizität Garanten für anderes das Bildungssystem. Bürgerrechte und Frieden, Demokratie und Wohlstand. BuH Wahlrecht müssten geändert werden, die Zivil- müsse auf seinem Weg von Dayton nach Brüs- gesellschaft gestärkt. In BuH, so Inzko, gibt es sel schneller vorankommen und einen Grad keine Staatsbürger*innen – nur Serb*innen, an Stabilität erreichen, durch den es in eige- Kroat*innen, Bosniak*innen. Als Staatsbürger*in ner Ownership seinen Weg gehen könne. kann man nicht für ein politisches Amt kandi- Dafür müsse das Land echte und nachhaltige dieren (Angehörige der Rom oder jüdische Bür- Strukturreformen durchführen. ger*innen könnten also auch nicht kandidie- ren). Dann gebe es die Wohnortregelung: Wenn „In dieser Hinsicht war der letzte Länderbericht man den falschen Meldezettel habe, könne man der EU-Kommission ein Warnsignal“, sagte auch nicht kandidieren (Serb*innen aus Saraje- Schütz. Die Lokalwahlen 2020 hätten gezeigt, vo zum Beispiel oder Bosniak*innen aus Sre- dass politische Veränderungen möglich sind. In brenica). Auch Menschen aus gemischten Ehen einigen Wahlkreisen seien lokale Politiker*in- könnten nicht kandidieren. nen gewählt worden, welche ethnische Grenzen überwinden wollten. Unter den 14 von der EU Inzko befürchtet, dass bei der Wahlrechtsreform formulierten unverzichtbaren Kernprioritäten gemogelt werden soll. Niemand spräche im Vor- sei eine die Reform des Wahlrechts. Klar sei, feld mit Jakob Finci, dem Juristen und Präsiden- dass die Schaffung einer dritten Entität nicht ten der Jüdischen Gemeinschaft von Bosnien das Ziel der Reformen sein dürfe. „Wir unter- und Herzegowina, alle sprächen mit dem Vorsit- stützen den Wunsch auch der Zivilgesellschaft, zenden der bosnisch-kroatischen HDZ BiH, Dra- eine Bürgergesellschaft jenseits ethnischer Ka- gan Čović. Die Central Election Commission wol- tegorien zu schaffen“, sagte Schütz. Die Owner- le man ebenfalls nicht dabeihaben. Die Opposi- ship für die Reformen liege auf Seiten BuHs. tion werde allerdings auf Verlangen des OHR Zusätzlich habe der OHR bei der Umsetzung der dabei sein, dies sei ganz wichtig. Er wolle nichts Reformen eine wichtige Rolle inne. Deutschland anderes, als dass BuH ein ganz normales Land habe die Kandidatur von Christian Schmidt als wird, sagte Inzko. Nachfolger für den scheidenden OHR Inzko vor- geschlagen, um BuH wieder verstärkt auf die Wie können Deutschland und die EU bei der Um- europäische Agenda zu bringen. setzung der Reformen helfen?, richtete Modera- torin Wölfl die Frage an Susanne Schütz. Sie müsse für die Beantwortung dieser Frage ein we-
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