Berichte - Südosteuropa-Gesellschaft

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Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021

                                                         Berichte

Online-Gespräch
Kosovo nach den Wahlen:
Im Gespräch mit Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz
über Herausforderungen, Erwartungen und Chancen
Kooperationsveranstaltung der Südosteuropa-Gesellschaft mit der Organisation deutsch-
albanischer Akademiker Hamburg e.V., Online via Zoom, 18. Mai 2021

Bericht von Wladimir Dirksen, München

Einleitung
Nach den Parlamentswahlen in Kosovo am                von den Verhandlungen mit Serbien, die Gër-
14. Februar 2021 bestätigte das Parlament in          valla-Schwarz nun zusammen mit Premier Kurti
­Pristina am 22. März 2021 eine neue Regierung        führen wird? Welche Rolle spielt ein „Großalba-
 unter Premier Albin Kurti („Vetëvendosje“).          nien-Szenario“ in der Agenda der Regierung?
 Neue Außenministerin ist Donika Gërvalla-            Welche Erwartungen gibt es seitens der kosova-
 Schwarz. Geboren in Kosovo, aufgewachsen in          rischen Regierung an Deutschland und die EU?
 Deutschland und Albanien, lebte die 49-jährige       Wann und wie kann die seit langem in Aussicht
 studierte Flötistin und Juristin zuletzt mit ihrer   gestellte Visa-Liberalisierung realisiert werden?
 Familie in Bonn. Gërvalla-Schwarz kandidierte        Wie kann die deutsche und die europäische Po-
 zum ersten Mal bei den jüngsten Wahlen auf           litik die geplante Reformdynamik effektiver un-
 der neu gegründeten Liste von Vjosa Osmani,          terstützen? Welche Rolle wird die US-Adminis­
 „Guxo!“ (Dt. „Trau dich!“), und wurde mit 70.000     tration unter Präsident Biden für die Zukunft
 Stimmen in das kosovarische Parlament ge-            des Landes spielen?
 wählt.
                                                      Über diese und andere Fragen sprach Manuel
Wie die neue Regierung insgesamt steht die            Sarrazin, MdB, Sprecher für Osteuropapolitik
­Außenministerin vor großen Aufgaben. „Vetë-          der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen
 vendosje“ verspricht den Kosovarinnen und            und Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft,
 ­Kosovaren einen radikalen Wandel im Inneren         mit der Außenministerin der Republik Kosovo,
  hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit, solider Regie-     Donika Gërvalla-Schwarz.
  rungsführung, Korruptionsbekämpfung, wirt-
  schaftlichem Aufschwung und sozialer Gerech-        Die Veranstaltung wurde mit einer Begrüßung
  tigkeit. Das Amt als Außenministerin von Kosovo     durch Peter Beyer (MdB, Koordinator für die
  hält gleichermaßen zahlreiche Herausforderun-       transatlantische Zusammenarbeit der Bundes-
  gen bereit: Wie geht es weiter mit der Integra­     regierung, Berichterstatter für den Westlichen
  tion in die Europäische Union, in der fünf Mit-     Balkan, Vizepräsident der Südosteuropa-Gesell-
  gliedstaaten Kosovo nach wie vor die staatliche     schaft, Berlin) eröffnet. Beyer betonte in seiner
  Anerkennung verweigern? Was ist zu erwarten         Ansprache die Relevanz der politischen Ent-
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wicklungen in Kosovo für Deutschland und die            Lebensjahr, einer sehr prägenden Zeit wie sie
EU. Die neue kosovarische Regierung wisse               sagte, in Hamburg gelebt. Diese Zeit habe ihr
selbst am besten, welche Veränderungen für              gezeigt, dass in Deutschland stabile politische
die Bevölkerung im Land am drängendsten sei-            und wirtschaftliche Verhältnisse eine Lebens-
en. Nichtsdestotrotz wies Beyer insbesondere in         weise schaffen würden, die sie sich auch für
seiner Rolle als Parlamentarier darauf hin, dass        ­Kosovo wünschte.
die Korruptionsbekämpfung und der Dialog zwi-
schen Kosovo und Serbien im Hinblick auf die            Die Leichtigkeit des Lebens in Deutschland, die
angestrebte EU-Mitgliedschaft priorisiert ver-          eine demokratische Gesellschaft ermögliche,
folgt werden sollten. Es sei an der Zeit, dass          hätte sie sehr beeindruckt. „Wenn der Staat tut,
Serbien und Kosovo in Brüssel zu einem Dialog           was er soll“, mache das „natürlich hungrig auf
finden und die konstruktive Hilfestellung der           mehr“, erklärte Gërvalla-Schwarz ihren Wunsch,
EU in Anspruch nehmen.                                  diese Verhältnisse auch in ihrer Heimat schaf-
                                                        fen zu wollen. Als politisch interessierter
Mitveranstalter Muhamet Idrizi (Vorsitzender            Mensch und als Kind eines Journalisten, der
der Organisation deutsch-albanischer Akade­             aufgrund seiner Überzeugungen vom jugoslawi-
miker Hamburg e.V. „ODA“) ging in seinen Gruß-          schen Geheimdienst in Deutschland ermordet
worten auf drei Bedürfnisse der kosovarischen           worden ist, habe sie sich schon früh auch in
Diaspora ein: Zunächst kritisierte Idrizi die           Deutschland politisch engagiert. Gërvalla-
längst überfälligen Visa-Liberalisierungen, de-         Schwarz war in den 1990er Jahren und im Jahr
ren Ausbleiben – in Anbetracht der Tatsache,            2015 wiederholt in leitenden Funktionen bei der
dass es für andere Konfliktregionen bereits             LDK, der „Demokratischen Liga des Kosovos“ tä-
­Visa-Liberalisierungen für die EU gegeben habe         tig, bis sie 2018 nach gescheiterten Reformver-
 – schwer zu verstehen sei. Als zweites Bedürfnis       suchen der Partei von allen Parteiämtern der
 der Diaspora nannte Idrizi die Zurückdrängung          LDK zurücktrat. Im Januar diesen Jahres kandi-
 des Einflusses von Russland, China oder ande-          dierte Gërvalla-Schwarz überraschend auf der
 ren Ländern durch eine aktivere Impfstoff-Di­          neu gegründeten Liste von Vjosa Osmani „Gu-
 plomatie der EU und Deutschlands. Seine dritte         xo!“ erstmals für das kosovarische Parlament.
 Forderung richtete sich an die neue Regierung          Hierbei erhielt Gërvalla-Schwarz sogar mehr
 Kosovos und verlangt eine Wahlrechtsreform,            Stimmen, als der damalige Premierminister
 eine Entpolitisierung des diplomatischen Diens-        ­Avdullah Hoti.1
 tes und eine Plattform zur Ermöglichung einer
 direkten Kommunikation der Regierung mit der           Teil der politischen Entwicklung Kosovos zu
 Diaspora.                                              sein, sei für Gërvalla-Schwarz immer sehr wich-
                                                        tig gewesen. Sie sei keine bloße Beobachterin,
Der Wunsch nach einem unabhängigen und                  sondern stets gewillt gewesen, mit dazu beizu-
demokratischen Kosovo                                   tragen, dass Kosovo „frei […] und unabhängig
Die erste Frage von Manuel Sarrazin an Außen-           wird“. Die Aufgabe ihrer Regierung sei es daher,
ministerin Donika Gërvalla-Schwarz bezog sich           die in den 1990er Jahren gewonnene Unabhän-
auf den EU-Erweiterungsprozess: Was wäre Ihr            gigkeit zu bewahren und das Land von der gras-
Wunsch an die EU oder auch an die deutsche              sierenden Korruption zu befreien.
Politik, um die Glaubwürdigkeit der EU-Erweite-
rungspolitik zu stärken?                                Von der EU wünscht sich Gërvalla-Schwarz, dass
                                                        man „weniger diplomatisch“, sondern eher poli-
Gërvalla-Schwarz betonte erst einmal ihre               tisch mit Kosovo umgehe. Der gangbarste Weg
­Freude darüber, bei dieser Veranstaltung in der        für einen EU-Beitritt des Landes wäre in ihren
 Sprache der Heimat ihres Ehemanns und der              Augen eine gut vorbereitete, gemeinsame Auf-
 ihrer Kinder sprechen zu können. Sie selbst ha-        nahme aller Länder der Region. Die EU müsse
 be zwischen ihrem zwanzigsten und dreißigsten          berücksichtigen, dass man keines der Westbal-

1    https://www.dw.com/de/donika-g%C3%ABrvalla-juristin-aus-bonn-nun-kosovos-chefdiplomatin/a-56992305
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021                                                 Berichte     71

kan-Länder vernachlässigen dürfe, sodass keine      großes Bedürfnis danach bestehen, dass Serbi-
Ungleichverteilung der Ressourcen und Rechte        en sich von seiner Vergangenheit löst und sich
entstünde, was die Region weiter destabilisie-      in Richtung Freiheit und Demokratie entwickelt.
ren würde. Deshalb wäre es aus ihrer Sicht die      Die Serben würden die Region als „Geisel“ hal-
richtige Strategie – nicht in naher Zukunft, son-   ten. Beispielsweise würde Bosnien und Herze-
dern möglicherweise erst im Jahr 2030 – die         gowina durch die Einflussnahme Serbiens auf
Länder der Region gemeinsam als einen Block         rund 30 Prozent seiner Bevölkerung täglich in
in die EU aufzunehmen. Für die Region wäre ei-      großer Gefahr schweben. Gerade dieses Land,
ne langfristige Strategie der EU und Deutsch-       das in den Kriegen den höchsten Preis habe
lands wichtig, um intraregionale Strukturen auf-    zahlen müssen, habe es verdient, durch die EU
bauen und vertiefen zu können und sich über-        unterstützt zu werden, damit Serbiens Einfluss-
dies zum Beispiel im Hinblick auf Rechtsstaat-      nahme- und Blockadepolitik ein Ende finde.
lichkeit genügend an das europäische Niveau
angleichen zu können.                               Manuel Sarrazin lenkte das Gespräch an dieser
                                                    Stelle wieder zurück auf Kosovo und fragte nach
Moderator Sarrazin griff diesen Gedanken auf        der Einschätzung der Außenministerin zu in-
und warf das hypothetische Beispiel in den          nenpolitischen Entwicklungen im Land, was He-
Raum, dass alle Reformen, die sich die neue         rausforderungen wie die Bekämpfung von Kor-
Regierung Kosovos vorgenommen habe, in den          ruption oder der organisierten Kriminalität an-
nächsten Jahren erfolgreich umgesetzt werden        belangt. Eine Entwicklung wie diejenige in Alba-
könnten. Was wäre in einem solchen Best-Case-       nien, wo die politischen Lager in diesen Fragen
Szenario, an dessen Ende sogar ein Beitritt von     mittlerweile nicht mehr an einem Strang ziehen
Kosovo zur EU verdient in Aussicht gestellt wer-    würden, wäre nicht im Interesse der EU. Daher
den würde, die Lösung, wenn andere Balkan-          wollte Sarrazin wissen, welche Ideen die Außen-
Länder, wie beispielsweise Bosnien und Herze-       ministerin für Strategien habe, die die kosovari-
gowina unter Präsident Milorad Dodik, sich den      sche Regierung im Hinblick auf ihre so schwieri-
Anforderungen der EU für einen Beitritt verwei-     ge politische Ausgangssituation auf diese Fra-
gern würden?                                        gestellungen verfolgen solle.

Gërvalla-Schwarz bat um Verzeihung für die un-      Gërvalla-Schwarz legte dar, dass Korruptions­
diplomatische Antwort, die sie auf diese Frage      bekämpfung immer mit Kritik verbunden sei. In
geben würde, und wies eindringlich darauf hin,      dem Fall, in dem eine Regierung die Korruption
dass es nicht Präsident Milorad Dodik sei, der      nicht genug bekämpfe, würde Kritik über ihren
einem EU-Beitritt Bosnien und Herzegowinas          mangelnden Einsatz gegen Korruption laut wer-
im Weg stünde. Vielmehr sei es die serbische        den. Wenn sie aber den Kampf gegen die Kor-
Regierung, die einen Beitritt des Landes nach       ruption im Land ernsthaft anginge, würden Bü-
Kräften erschwere. Hätte Serbien in den vergan-     rokraten schnell Kritik daran üben, dass die Re-
genen fünf Jahren einen Demokratisierungspro-       gierung zu weit gehe. Daher laute der Auftrag
zess, verbunden mit einer konsequenten Kor-         der neuen kosovarischen Regierung, die mehr
ruptionsbekämpfung, durchlaufen, so würde           als jede zweite Stimme im Land erhalten habe,
selbst ein Milorad Dodik einen nicht so großen      Kosovo eine ernsthafte Perspektive zu geben.
Unterschied machen, urteilte Gërvalla-Schwarz.      Die Angst davor, dass diese Regierung scheitern
Die serbische Regierung würde vehement ver-         könnte, sei in der Bevölkerung sehr groß. Gër-
suchen, jegliche demokratische Entwicklung der      valla-Schwarz erwartet daher im Fall eines
Länder in der Region zu behindern – dies sei        Scheiterns der Regierung eine weitere Auswan-
bei der Republik Kosovo und Bosnien und Her-        derungswelle aus dem Land. Die jetzige Regie-
zegowina, aber auch in Montenegro der Fall.         rung sei glaubwürdig und würde Vertrauen in-
                                                    nerhalb der Bevölkerung genießen.
Selbst in Nordmazedonien sei laut Gërvalla-
Schwarz die serbische Regierung mithilfe medi-      Was das albanische Szenario anbelangt, so
aler Einflussnahme dabei, die Gesellschaft zu       ­betonte Gërvalla-Schwarz, dass trotz vieler Ge-
„manipulieren“. Daher würde in der Region ein        meinsamkeiten und der generellen Kenntnis
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der albanischen Politik in Kosovo auch grund­         den Beziehungen beider Länder brechen und ei-
legende Unterschiede zu Albanien bestehen             nen „Neustart“ forcieren wolle.
würden. In Kosovo habe man, im Gegensatz zu
Albanien, eine politische Kultur bewahren kön-        Mobilitätsbeschränkungen durch Corona
nen, in der es nach wie vor möglich sei, über         ­gefährden die Wirtschaft
politische Lager hinweg miteinander zu spre-           Unmittelbar nach der Wahl der neuen Regie-
chen. Es seien fünf große Politikbereiche zu           rung sei der Eindruck entstanden, dass interna-
­verorten, in denen die Regierung und die Oppo-        tionale Beobachter kein anderes Thema als die
 sition in Kosovo ähnliche Ziele verfolgen wür-        Beziehungen Kosovos zu Serbien zu interessie-
 den. Dazu gehörten beispielsweise die Außen-          ren scheine. Jedoch wären gerade jetzt innen-
 politik, die Bildungspolitik oder die Energiepo­      politische Probleme die drängendsten. Ange-
 litik. Langfristige Ziele seien daher konsensfähi-    sichts der grassierenden COVID-19 Pandemie
 ge Themen zwischen der Regierung und der Op-          betonte Gërvalla-Schwarz die schlechte ge-
 position. Gërvalla-Schwarz versicherte, dass die      sundheitliche Versorgung des Landes. Insbe-
 Angebote der Regierung an die Opposition auch         sondere sei der Mangel an ausreichend Impf-
 in Zukunft seriös bleiben würden.                     stoff ein großes Problem, da Auslandsreisen
                                                       stark von der Infektionslage im Land abhingen.
Sarrazin wies darauf hin, dass insbesondere die        Das Land selbst hänge aber stark von den
Beziehungen zu Belgrad in der Vergangenheit            Rücküberweisungen der Diaspora ab, welche
großes Konfliktpotenzial zwischen dem Präsi-           wiederum grundsätzlich mit der Mobilität der
denten, seiner Regierung und der Mehrheit im           Diaspora zusammenhängen würden. Sollte der
Parlament dargestellt hätten. Daher wollte er          Personenverkehr zwischen Kosovo und dem
wissen, welche Herangehensweise an dieses              Ausland weiterhin stark eingeschränkt bleiben,
Thema für die Außenministerin persönlich die           drohten dem Land große Einkommensverluste
richtige wäre. Gërvalla-Schwarz konnte über die        durch das Ausbleiben der Rücküberweisungen
Haltung der Opposition zu diesem Thema                 der Diaspora.
nichts sagen, betonte jedoch, dass die Regie-
rung eine detaillierte Strategie im Verhältnis        Neben den Zahlungsströmen an die in Kosovo
Pristinas zu Belgrad ausarbeiten werde. Diese         lebende Familie würde die kosovarische
Strategie würde auch die Interessen und Ein-          Wirtschaft im Dienstleistungssektor wie der Gas-
stellungen der kosovarischen Opposition ge-           tronomie auch stark vom jährlichen Sommer-
genüber Belgrad miteinschließen. Das Interesse        Tourismus der Diaspora abhängen. Daher sei die
der Regierung an einer geschlossenen Haltung          Einschränkung der Reisefreiheit von im Ausland
des kosovarischen Parlaments zur Politik ge-          lebenden Kosovaren eine Abschnürung der ko-
genüber Belgrad sei sehr hoch und die Regie-          sovarischen Wirtschaft von dringend benötigten
rung wäre daher auch bereit, Kompromisse ein-         finanziellen Mitteln. Aus diesem Grund appel-
zugehen.                                              lierte die Außenministerin an die EU, Impfstoff-
                                                      lieferungen an das Land aufzustocken, um eine
Persönlich sei Gërvalla-Schwarz nicht an einem        Überlastung des Gesundheitssystems und einen
„Dialog“, sondern vielmehr an einer „Normalisie-      Einbruch der Wirtschaft zu vermeiden.
rung der Beziehungen zu Serbien“ gelegen. Das
läge daran, dass in der Vergangenheit zwar Fort-      Die Pandemie habe die „ererbte“ wirtschaftliche
schritte in den Beziehungen beider Länder er-         Lage des Landes verschlimmert. Daher sei es
rungen worden seien, diese aber nicht auf ge-         laut Gërvalla-Schwarz nicht der Dialog mit Ser-
genseitigen Zugeständnissen, sondern vielmehr         bien, sondern das Problem der Pandemie, das
auf dem einseitigen Entgegenkommen Kosovos            derzeit für die Regierung die höchste Priorität
gegenüber Serbien zustandegekommen seien.             habe. Appelle westlicher Partner, die sich aus-
Hierbei wären die Interessen Kosovos vonseiten        schließlich auf den Dialog mit Serbien bezögen,
Belgrads jedoch nicht ernst genug genommen            würden an der derzeitigen kosovarischen Reali-
worden, was die jetzige Regierung ändern wolle.       tät vorbeigehen. Laut Gërvalla-Schwarz bedeu-
Daher sei der Ansatz der jetzigen Regierung ei-       tet dies aber nicht, dass vonseiten des Kosovos
ner, der mit der Praxis der letzten zehn Jahre in     grundsätzlich keine Dialogbereitschaft bestün-
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de. Die kosovarische Regierung würde sich an          würde Premierminister Kurti jedoch mit der
allen Gesprächen beteiligen, ob bilateraler Art       Aussage, dass die Frage eines „Großalbaniens“
oder auch unter Vermittlung der EU.                   derzeit nicht seine politische Priorität sei, be-
                                                      schwichtigend ausweichen. Angesichts einer
Angesichts der Tatsache, dass Kosovo derzeit          links-nationalistischen Regierungspartei, deren
sehr viele unterschiedliche Probleme zu bewäl-        langfristiges Ziel eine Vereinigung von Kosovo
tigen hat, zeigte Sarrazin für die Konzentration      mit Albanien sei, wollte Sarrazin von Außenmi-
auf innenpolitische Aufgaben, für deren Lösung        nisterin Gërvalla-Schwarz wissen, wie sie zu der
die Regierung ja schließlich gewählt worden sei,      Frage eines „Großalbaniens“ steht.
großes Verständnis. Andererseits sei es aber
auch wichtig, dass man das „Spielfeld des Dia-        Gërvalla-Schwarz verwies auf ihre Zeit in
logs“ proaktiv angehe und in dem Fall, dass           Deutschland und sprach dabei über ihre Faszi-
langfristige strategische Ziele wie die völker-       nation für die deutsche Einheit. Dieses Beispiel,
rechtliche Anerkennung Kosovos derzeit realis-        sagte sie, habe gezeigt, dass solch große histo-
tisch nicht zu erreichen seien, auch dazu bereit      rische Schritte wie eine Vereinigung nur dann
sein müsse, sich auf „Zwischenziele“ zu einigen.      möglich seien, wenn die jeweiligen Nachbarn
Sarrazin fragte deshalb die Außenministerin           keine Bedenken hätten und einem solchen
noch einmal nach ihrem Ansatz für Verhandlun-         Schritt zustimmen würden. Als seriöser Staat,
gen mit der serbischen Regierung.                     der eine Ausstrahlung habe, die keine Gefahr
                                                      für seine Nachbarn darstellt, würden die Nach-
Gërvalla-Schwarz betonte, dass sie nicht vor­         barn einen solchen Weg mitgehen.
habe, nach Brüssel zu fahren, „um Fotos zu ma-
chen“, wie es in den letzten zehn Jahren die          Die Außenministerin verwies darauf, dass ein
­Praxis gewesen sei. Vielmehr sei sie gewillt, sich   gemeinsamer Kultur- und Sprachraum – nicht
 mit konkreten Vorschlägen auf die Gespräche in       nur mit Albanien, sondern auch mit den ande-
 Brüssel vorzubereiten, um konkrete Einigungen        ren Ländern, in denen Albaner in großer Zahl
 in den Verhandlungen zu erzielen. Laut Gërval-       leben – die Menschen durchaus beschäftigt. In
 la-Schwarz wäre auch das Thema der gegensei-         diesen Gebieten würde laut Gërvalla-Schwarz
 tigen Anerkennung beider Länder zeitnah zu           dieselbe Sprache gesprochen und dieselbe Kul-
 bewältigen, wenn der politische Wille dazu be-       tur gelebt. Obwohl die EU einen Beitritt dieser
 stünde. Daher sehe Gërvalla-Schwarz die Frage        Länder derzeit nicht vorsehe, sei eben diese
 um die Anerkennung viel weniger problema-            sprachlich-kulturelle Verbundenheit der Alba-
 tisch, als dies Sarrazin tun würde. Konkrete         ner in den unterschiedlichen Ländern der
 strategische Schritte, welche die Außenminis­        Hauptgrund für das Bestreben in der Region um
 terin für die Verhandlungen mit Serbien anstre-      eine Aufnahme in die EU. Denn was würde die
 be, könne sie derzeit jedoch nicht diskutieren       EU denn anderes darstellen als die Möglichkeit,
 und verwies für dieses Thema auf einen späte-        das eigene Leben nach Belieben gestalten zu
 ren Zeitpunkt. Was Gërvalla-Schwarz jedoch           können. Beispielsweise würden Menschen, die
 schon offenlegen konnte war, dass sie die Ver-       im französischsprachigen Raum leben wollen
 handlungen sehr offensiv angehen werde, um           würden, dies problemlos tun können – ohne
 möglichst schnell Ergebnisse erzielen zu kön-        sich darum kümmern zu müssen, ob man sich
 nen.                                                 diesseits oder jenseits der deutsch-französi-
                                                      schen Grenze im Saarland niederlässt.
Sarrazin kam an dieser Stelle auf die Regie-
rungspartei LVV („Lëvizja Vetëvendosje!“ Dt. „Be-     Das Zusammenleben der Albaner und Albane-
wegung Selbstbestimmung!“) zu sprechen. Laut          rinnen in einem gemeinsamen sprachlichen
Sarrazin würde der Parteivorsitzende der LVV          und kulturellen Raum könne man in der Region
und amtierende Premierminister von Kosovo,            nur durch eine Mitgliedschaft in der EU errei-
Albin Kurti, immer wieder mit Äußerungen über         chen. Selbstverständlich seien die demokrati-
eine geplante Vereinigung Kosovos mit Albanien        schen Werte, die Rechtsstaatlichkeit und viele
auffallen. Auf genauere Nachfragen zu seinen          weitere gute Gründe für eine Mitgliedschaft in
Plänen für ein sogenanntes „Großalbanien“             der EU anzuführen; jedoch wäre die Möglichkeit
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für die Albaner, über Grenzen hinweg zusam-         Union in Bosnien und Herzegowina, Dragan
menzuleben, eine wesentliche Motivation für         Čović, ordentlich die Suppe versalzen.
eine Mitgliedschaft in der EU. Die Tatsache, dass
es in der Region so viele „Fans“ für eine solche    Sarrazin verwies an dieser Stelle darauf, dass
Mitgliedschaft gebe, wäre eben der Möglichkeit      er schon dem albanischen Ministerpräsidenten
geschuldet, den Problemen der „Kleinstaaterei“      Edi Rama klargemacht habe, dass er persönlich
zu entfliehen und in einem großen, gemeinsa-        eine solche Angliederung vehement ablehnt
men und integrierten Raum zu leben. Es sei          und im Fall einer Vereinigung von Kosovo mit
„ganz einfach das, was wir wollen“, offenbarte      Albanien eine Aufnahme in die EU von seiner
Gërvalla-Schwarz.                                   Seite kategorisch ausgeschlossen werden wür-
                                                    de. „Ich nehme Kosovo und Albanien nur als
Wenn man Premierminister Kurti einmal richtig       ­separate Staaten in die EU auf, und sonst nicht,
zuhören würde und nicht nur die von den Medi-        ganz klar“, brachte Sarrazin seine Einstellung zu
en herausgepickten Zitate mitbekäme, könnte          einer möglichen Vereinigung beider Länder
man heraushören, dass Kurti genau darüber            noch vor einem möglichen Beitritt zur EU
sprechen würde, so Gërvalla-Schwarz. Kurti           ­deutlich zum Ausdruck.
würde nicht über eine Verbindung von Kosovo
mit Albanien zu einem gemeinsamen Staat             Für den Fall, dass ein Zusammenschluss erst
sprechen, denn „wo bl[ie]ben denn da die an-        nach einem Beitritt in die EU angestrebt würde,
deren?“. Kurti spreche nicht davon, dass Pristina   müssten einerseits die Verträge mit der EU ge-
und Tirana einseitig entscheiden würden, dass       ändert werden und könnte andererseits die da-
man ab morgen eine staatliche Union einginge        für nötige einstimmige Zustimmung aller EU-
und dabei missachten würde, was die Nachbar-        Mitgliedstaaten nach Sarrazin mit Sicherheit
staaten, die EU und die USA davon denken. Je-       nicht erreicht werden. Insbesondere dann,
doch könne der Wunsch der einfachen Men-            wenn zu diesem Zeitpunkt neben Kosovo und
schen von der Straße, „gemeinsam in einem           Albanien auch Serbien ein Mitglied der EU sein
Raum zu leben“, nicht länger ignoriert werden.      sollte. Angesichts dieser Sachlage, die eine Ver-
Daher würde Gërvalla-Schwarz ihre Freunde in        einigung von Kosovo mit Albanien laut Sarrazin
der EU stets davor warnen, eine EU-Perspektive      unwahrscheinlicher mache, als es eine erneute
der Länder immer weiter aufzuschieben, denn         Teilung Deutschlands wäre, stelle sich daher die
es sei nun mal so, dass Menschen eine be-           Frage nach dem Sinn, über ein so unrealisti-
grenzte Geduld hätten und dann nach Alternati-      sches Ziel überhaupt zu debattieren. Warum,
ven suchen würden.                                  wollte Sarrazin wissen, werde sowohl von der
                                                    Regierungspartei als auch von der LDK trotzdem
Laut Gërvalla-Schwarz würden sich laut              immer wieder die öffentliche Aufmerksamkeit
Umfragen über 93 Prozent der Kosovaren für          auf dieses Thema gelenkt? Warum würden un-
eine Mitgliedschaft in der EU aussprechen. Dies     erfüllbare Wünsche der Wähler als realistische
sei eine verlässliche numerische Angabe, im         Ziele dargestellt und damit ethno-nationalisti-
Gegensatz zu Erklärungen in den Zeitungen, die      sche Debatten in der Region immer weiter be-
den Eindruck erwecken sollten, dass die neue        feuert?
Regierung bedrohlich sei, indem sie ihr vorwer-
fen würden, die Stabilität auf dem Balkan zu        Ein Vergleich der albanischen Frage mit der Fra-
gefährden. Über seine unkonventionelle Frage-       ge nach einer möglichen Teilung Bosnien und
stellung vorwarnend, merkte Sarrazin an, dass       Herzegowinas sei nicht zulässig, erwiderte Gër-
er diesen Wunsch in Bosnien und Herzegowina         valla-Schwarz. Milorad Dodiks und Dragan
ebenfalls wiederholt zur Kenntnis genommen          Čovićs Bemühungen würden nämlich die Gefahr
habe. Daher würde ein klares Dementi seitens        mit sich bringen, einen Staat wie Bosnien und
von Kosovo über eine mögliche Vereinigung mit       Herzegowina auseinanderfallen zu lassen. Beide
Albanien sowohl dem serbisch-bosnischen Poli-       würden mit ihren Bemühungen die Existenz des
tiker und ehemaligen Staatsoberhaupt der Re-        Staates riskieren, was für Gërvalla-Schwarz ein
publika Srpska, Milorad Dodik, als auch dem         „nicht gangbarer Weg“ ist. Gërvalla-Schwarz
Vorsitzenden der Kroatisch Demokratischen           sagte, dass es nicht ihr Ziel sei, innerhalb der
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021                                                 Berichte    75

EU aus zwei Staaten einen einzigen Staat zu for-    ges an, wonach vor internationalen Gerichten
men. Vielmehr würde die EU als solche das Be-       nach Gerechtigkeit gesucht werden solle. Als
dürfnis der Menschen nach einem gemeinsa-           ein Freund des internationalen Rechts beteuer-
men sprachlich-kulturellen Raum befriedigen.        te Sarrazin, daran zu glauben, dass Aufarbei-
Das bedeute, dass nicht die Formung einer poli-     tung sehr wichtig sei und man viel mehr über
tischen Vereinigung innerhalb der EU das Ziel       die Opfer und vor allem mit ihnen sprechen
sei; stattdessen würde das in der Region „exis-     müsse, um zu einer Versöhnung und gegensei-
tente Bedürfnis nach einem barrierefreien Zu-       tigen Anerkennung des Leids zu kommen.
sammenleben in einem Sprach- und Kultur-            Nichtsdestotrotz gebe es auch die Auffassung,
raum“ durch die Aufnahme in die EU befriedigt       dass weitere Bemühungen der Aufarbeitung
werden.                                             keinen Nutzen für die Opfer brächten, sondern
                                                    vielmehr die tiefen Gräben zwischen den Par-
Ein solches Szenario würde nach Gërvalla-           teien wieder aufreißen würden. Angesichts die-
Schwarz eine Win-win-Situation für alle darstel-    ser zwei Strömungen in Bezug auf den Jugosla-
len. Ein gemeinsamer Sprach- und Kulturraum         wien-Krieg wollte Sarrazin von der Außenmi-
sei zwar nicht der einzige Grund dafür, dass es     nisterin wissen, welche Einstellung sie zur Auf-
einen Willen zur EU-Mitgliedschaft gebe, jedoch     arbeitung habe.
würde eben dieses Thema besonders oft zur
Sprache gebracht – was wiederum dazu führen         Gërvalla-Schwarz gab an, dass Bemühungen der
würde, dass es so zentral erscheint. Eine politi-   Aufarbeitung das Problem bergen würden, dass
sche Einheit mit Albanien werde laut Gërvalla-      man zu sehr in der Vergangenheit lebt. Hierbei
Schwarz innerhalb der EU nicht angestrebt, vor      sei aber nicht die Vergangenheit selbst das
allem nicht, wenn es bei den Nachbarn auf Wi-       ­Problem, sondern die heutige Haltung Serbiens.
derstand stoßen würde. So etwas „werde ich           „Unser Problem ist das heutige Serbien, unser
nicht erleben, [und] das werden Sie [auch] nicht     Problem ist noch nicht einmal, dass der ehe­
erleben“, stellte sie klar.                          malige Propagandaminister […] von Slobodan
                                                     Milošević der heutige serbische Präsident ist,
Genau das, was die EU vorgemacht hätte, wün-         weil das haben nicht wir zu entscheiden, das
sche sie sich für den Balkan, sagte Gërvalla-        haben die Bürger in Serbien entschieden […].“
Schwarz: Dass man barrierefrei miteinander           Das derzeitige Problem sei, die Sprache, die auf
kommunizieren könne und dass man sich – un-          Seiten Serbiens gegenüber Kosovo benutzt wer-
abhängig davon, ob man Franzose in Paris oder        de, zu akzeptieren. In Deutschland wäre auch
an der Grenze ist, oder ob man Deutscher in          keiner bereit, die „AfD-Sprache“ zu akzeptieren,
Hamburg oder im Süden sei – aussuchen kön-           und als solche nehme Gërvalla-Schwarz die
ne, in welchem Raum man zu leben wünscht.            Sprache der serbischen Regierung wahr.
Die Außenministerin betonte, dass die Unter-
stützung der neuen Regierung innerhalb der          Wenn man serbische Medien verfolge, würde
Bevölkerung sehr groß sei und die Regierung in      man erkennen, dass der Populismus des Präsi-
den schwierigen Zeiten, die noch kommen wür-        denten Serbiens, Aleksandar Vučić, alle Lö-
den, diese Unterstützung brauchen werde, um         sungsmöglichkeiten ausschließen würde. Die
schwierige Entscheidungen treffen zu können.        serbische Presse würde versuchen, den Präsi-
Die neue Regierung müsse Ergebnisse produzie-       denten möglichst gut darzustellen. Dieser wür-
ren, die sie zu Hause auch umsetzen könne, al-      de sich aber aufgrund von Korruptionsvorwür-
les andere wäre eine bloße „Foto-Diplomatie“.       fen in seinem Land darauf beschränken, auf
Man brauche einen Dialog, von dem die Men-          ­Kosovo herumzuhacken.
schen in Serbien und Kosovo und nicht nur die
Politiker, die sich in den Verhandlungen betäti-    Gërvalla-Schwarz betonte an dieser Stelle, dass
gen, profitieren würden.                            sich die Biografien der serbischen und kosova-
                                                    rischen Politiker stark unterscheiden. Auf der
Umgang mit den Opfern des Kosovo-Krieges            einen Seite gebe es eine neue kosovarische Re-
Sarrazin sprach an dieser Stelle die von Kurti      gierung, deren Ministerpräsident zweieinhalb
aufgeworfene Frage nach den Opfern des Krie-        Jahre als politischer Gefangener in serbischen
76     Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021                                                  Berichte

Gefängnissen gesessen habe. Nachdem man ihn         das Geschehene von unabhängiger, internatio-
in Kosovo festgenommen und nach dem Ein-            naler Stelle bewiesen zu bekommen.
marsch der NATO-Truppen nach Serbien ver-
schleppt hatte, habe man ihn erst zwei Jahre        Es vergehe kein Tag zwischen den Monaten
nach Ende des Krieges freigelassen. Im Gegen-       März und Juni eines jeden Jahres, an dem nicht
satz dazu habe Vučić zur selben Zeit als Propa-     an ein Massaker erinnert würde. Bei diesen
gandaminister Miloševićs fungiert.                  Massakern seien überwiegend Frauen und Kin-
                                                    der ermordet worden. Hierbei sei in vielen Fäl-
Ein anderes Beispiel sei die derzeitige Vizeprä-    len nicht klar, wohin die Opfer verschleppt wor-
sidentin des kosovarischen Parlaments, die den      den seien, sodass Trauernde auch heute noch
Krieg mit 16 Kugeln im Körper überlebt habe,        oft nicht wissen, wo sich die Überreste ihrer An-
nachdem ihre ganze Familie ermordet worden          gehörigen befinden. Die Außenministerin for-
sei. Ebenso gebe es eine kosovarische Abgeord-      derte daher, dass Serbien offenlegen solle, wo
nete, die öffentlich über Massenvergewaltigun-      sich die fraglichen Massengräber auf serbi-
gen im Krieg gesprochen habe und dafür in Ko-       schem Territorium befinden, damit man die Ge-
sovo sehr geschätzt und respektiert werde. Die      schehnisse verarbeiten und den Dialog voran-
Außenministerin selbst habe auch eine Biogra-       bringen könne. Dabei gehe es nicht nur um Ver-
fie, die sehr schwierig sei: Nachdem sie als Kind   gangenheitsbewältigung, sondern darum, dass
habe erleben müssen, wie ihre Familie flüchte-      es auch heute noch Mütter gebe, die nicht
te, seien ihr Vater und ihr Onkel bei einem poli-   wüssten, wo ihre Kinder begraben sind.
tischen Attentat in Deutschland getötet worden.
                                                    Der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti
Die Außenministerin stellte klar, dass die Befür-   habe in seiner ersten Rede vor dem Parlament
worter einer Aufarbeitung keinesfalls auf Rache     öffentlich erklärt, dass von den 1.600 Vermiss-
aus seien. Jedoch wäre bislang in Folge von –       ten ein Viertel bis ein Drittel nicht albanischer
laut Gërvalla-Schwarz geschätzten – mehr als        Herkunft, sondern Serben, Roma, Bosniaken,
zwanzigtausend Vergewaltigungen im Krieg kein       Türken oder Angehörige anderer Volksgruppen
einziger Täter in Serbien verurteilt worden. Ser-   gewesen seien. Die Angaben über die Massen-
bien betreibe laut der Außenministerin keine        gräber vermute man im Archiv der ehemaligen
Vergangenheitsbewältigung. Die aufgeführten         jugoslawischen Volksarmee in Belgrad. Für Bel-
Biografien würden zeigen, dass es sich bei der      grad wäre es laut Gërvalla-Schwarz ein Leichtes,
Aufarbeitung der Verbrechen nicht um die            diese Daten herauszugeben. Auf albanischer
Generation der Großeltern oder der Eltern           Seite gebe es zwar keine Register, aber man
handelt, sondern um eine gegenwärtig in Koso-       hätte eine enorme Bereitschaft, den Prozess der
vo in Regierungsverantwortung stehende Gene-        Aufarbeitung voranzutreiben, nicht nur der al-
ration. Daher befände sich derzeit ein Institut     banischen Mütter wegen. Auch alle anderen
zur Dokumentation der Verbrechen in der Grün-       Mütter hätten es verdient, ihre Angehörigen
dung, und die Regierung würde eine Genozid-         ordnungsgemäß bestatten zu können. Eine sol-
Klage vorbereiten, die nach ausreichender Be-       che Aufarbeitung des Schicksals der Vermissten
weissicherung und realistischer Aussicht auf Er-    würde wesentlich zur Befriedung der Gesell-
folg erhoben werden wird.                           schaft beitragen. Damit das Thema des Krieges
                                                    endlich beerdigt werden könne, brauche man
Folglich habe Serbien zwei Möglichkeiten, mit       vonseiten Belgrads als Zeichen des guten Wil-
seiner Vergangenheit umzugehen. Einerseits          lens Informationen über die Standorte der Mas-
bestünde die Möglichkeit, dem Vorbild Deutsch-      sengräber, bevor man mit den Dialogen begin-
lands zu folgen und die eigenen Verbrechen an-      ne.
zuerkennen, sich bei den Opfern zu entschuldi-
gen und auf eine andere, bessere Zukunft in         Fragen aus dem Publikum
den nachbarschaftlichen Beziehungen zu hof-         An dieser Stelle beendete Manuel Sarrazin das
fen. Oder aber man bleibe auf dem Weg, den          Zwiegespräch, bedankte sich bei der Außenmi-
Vučić eingeschlagen habe, und leugne seine          nisterin und übergab für die Zuschauerfragen
Verbrechen. In letzterem Fall sei es daher nötig,   an Dr. Christian Hagemann, den stellvertreten-
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021                                                  Berichte    77

den Geschäftsführer der Südosteuropa-Gesell-        Seiten kenne und dadurch wirtschaftliche
schaft in München. Das erste Thema, auf das         ­Beziehungen zu anderen Ländern gleichzeitig
sich die Fragen aus dem Publikum bezogen, war        erleichtere und befördere. Die Ausbildung der
die Rolle der Diaspora und der Umgang mit ihr.       Diaspora sei sehr gut und breit gefächert, es
Innerhalb der kosovarischen Diaspora gebe es         müsse daher gelingen, dieses Knowhow für das
viele Menschen, die gut ausgebildet wären und        Land zu nutzen. Die Bereitschaft dafür sehe sie
sich gerne in die Entwicklung Kosovos einbrin-       überall, sagte Gërvalla-Schwarz. Die Diaspora
gen würden. Es gebe zwar jährlich im Sommer          solle außerdem nie mehr von ihrem Stimmrecht
eine gewaltige Finanzspritze für die kosovari-       abgeschnitten werden. Das erste eingebrachte
sche Wirtschaft, jedoch bestünde gleichzeitig        Gesetz der neuen Regierung habe aus diesem
das Problem, dass diese Rücküberweisungen            Grund das Wahlrecht Kosovos betroffen und der
häufig in Konsumgüter anstatt in nachhaltigere       Diaspora zugestanden, dass ihr das Stimmrecht
Anlagen investiert würden. Die Frage an die Au-      per Gesetz nie wieder entzogen werden kann.
ßenministerin lautete daher, ob es zu dieser         Als Beispiel für das erfolgreiche Einbringen der
Problematik bereits eine Strategie der Regie-        Diaspora in die kosovarischen Institutionen
rung zur Umlenkung der Investitionen gebe.           nannte Gërvalla-Schwarz ihren Kabinettschef,
                                                     welcher erst 24 Jahre alt sei und aufgrund sei-
Gërvalla-Schwarz beteuerte, dass die Diaspora        ner Ausbildung und Sozialisierung in Deutsch-
der eigentliche Schatz Kosovos sei. Sie selbst       land den größten Respekt innerhalb der Regie-
sei über 20 Jahre lang Teil der Diaspora gewe-       rung genieße. Demnach seien Fachkräfte mit
sen und wisse, dass die Einbindung der Diaspo-       Knowhow in Kosovo viel dringender gebraucht
ra in allen Bereichen des Lebens in Kosovo –         als Geld. Folglich sei eine Plattform für die Be-
wie auch in einer Regierungserklärung festge-        standsaufnahme der zur Verfügung stehenden
schrieben – unverzichtbar sei. Das liege nicht       Fachkräfte vonnöten.
nur an den Rücküberweisungen, sondern vor
allem daran, dass die Diaspora als eine Brücke      Weiterhin wollte das Publikum wissen, ob und
ins Ausland fungiere und meist bestens ausge-       inwieweit der Austausch zwischen der Diaspora
bildet sei. Daher brauche man die Diaspora in       und Kosovo institutionalisiert werden soll. Vor-
allen Institutionen Kosovos, um Reformen nicht      schläge aus dem Publikum, dass man Praktika,
durch Dritte vorgefertigt zu bekommen, sondern      Workshops oder gar einen Finanzierungsfonds
mithilfe der Diaspora Reformen selbst entwer-       der Diaspora einrichten könnte, gingen laut
fen und angehen zu können. Außerdem würden          Gërvalla-Schwarz in dieselbe Richtung, die der
viele Arbeitsplätze durch die Investitionen der     Regierung vorschwebe. Derzeit würde sie selbst
Diaspora geschaffen.                                sich beispielsweise bei der Besetzung des Am-
                                                    tes ihrer Stellvertreterin für eine bestimmte
Ausländische Investitionen würden im Fall der       Person einsetzen, die sich in ihrer beruflichen
Diaspora im Gegensatz zu anderen Investoren         Vergangenheit explizit mit der Ausweitung der
ohne große Gewinnerwartungen getätigt. Wich-        Beziehungen zur Diaspora beschäftigt habe.
tig sei den Investoren und Investorinnen aus
der Diaspora stattdessen insbesondere, dass         Das Publikum stellte als nächstes Fragen zur
mit ihrem Geld keine Korruption finanziert wer-     EU-Perspektive des Landes: In den letzten Mo-
de. Daher werde die Regierung alles daranset-       naten sei in Bezug auf den EU-Beitritt der Län-
zen, diese Hürde für Investitionen zu beseitigen.   der des Westbalkans eine pessimistische Dis-
Falls jemand die Erfahrung machen sollte, kor-      kussion entstanden. Die Region habe zwar keine
rupte Beamte bezahlen zu müssen, solle man          Alternative zum EU-Beitritt, jedoch stelle sich
dies laut Gërvalla-Schwarz dringend den Behör-      langfristig die Frage danach, wie lange die koso-
den melden. Genehmigungen würden in Kosovo          varische Regierung die EU-Perspektive und den
nicht mehr mithilfe von Bestechungszahlungen        Glauben an das Beitrittsversprechen der EU an
erteilt.                                            die Region innerhalb der Bevölkerung aufrecht-
                                                    erhalten könne. Beispielsweise fehlte einerseits
Die Diaspora fungiere als Brücke zu anderen         die versprochene Visa-Liberalisierung, anderer-
Ländern, weil sie die Gepflogenheiten beider        seits würde Kosovo immer noch von fünf EU-
78     Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021                                                 Berichte

Mitgliedstaaten (Griechenland, Rumänien, die        der Glaubwürdigkeit der EU, wenn trotz größter
Slowakei, Spanien und Zypern) nicht anerkannt.      Bemühungen Fortschritte im Beitrittsprozess an
Gibt es konkrete Gründe für Frankreich und die      den Vorurteilen einiger Länder scheiterten.
Niederlande, die Mitgliedschaft Kosovos und
der Region als Ganzes zu verweigern?                In Bezug auf die nach wie vor fehlende Aner-
                                                    kennung von Kosovo durch fünf EU-Mitglied-
Gërvalla-Schwarz stellte klar, dass man die         staaten wollte Hagemann von der Außenminis-
­sogenannte EU-Müdigkeit, die man auch in           terin wissen, wie gut die Chancen für eine bal-
 Deutschland in einigen Teilen der Bevölkerung      dige Änderung des Status von Kosovo in den
 vorfinden würde, in den Balkan-Ländern nicht       fünf Ländern wäre. Es sei richtig, dass fünf EU-
 habe. Es gebe zwar Länder wie Serbien, die der     Mitgliedstaaten Kosovo noch nicht anerkannt
 EU gegenüber nicht freundlich gesinnt seien, je-   hätten. Jedoch, so beteuerte Gërvalla-Schwarz,
 doch brauche man sich mit über 93 Prozent Zu-      hätten die 22 anderen EU-Mitgliedstaaten alle
 stimmung für einen EU-Beitritt in Kosovo keine     schon früh die Unabhängigkeit Kosovos aner-
 Sorgen über die Beitrittswilligkeit der Bevölke-   kannt. Es gehöre zum täglichen Geschäft des
 rung machen. Kosovo habe das Assoziierungs-        Außenministeriums, um die Anerkennung in
 abkommen unterschrieben; Ziel der neuen Re-        diesen Ländern (Griechenland, Rumänien, die
 gierung sei es daher, innerhalb der nächsten       Slowakei, Spanien und Zypern) zu werben. Dies
 vier Jahre den Status eines EU-Beitrittskandida-   sei ein langwieriger Prozess, der auf allen Ebe-
 ten zu erreichen. Das sei zwar ein ambitionier-    nen forciert werden müsse. Hierzu sollen in
 tes Ziel, jedoch sei die kosovarische Regierung    nächster Zeit die kulturellen und wirtschaftli-
 „sehr committed“, dies zu schaffen.                chen Kontakte mit diesen Ländern ausgebaut
                                                    werden, um auf lange Sicht die Anerkennung
Dass es immer noch keine Visa-Liberalisierungen     Kosovos zu erreichen.
gebe, mache die Außenministerin sprachlos. Das
EU-Parlament und die Kommission hätten bestä-       Die nächste Frage aus dem Publikum richtete
tigt, dass die Voraussetzungen für Visa-Liberali-   sich auf die atlantische Perspektive Kosovos: In-
sierungen erfüllt worden seien und diese jetzt      wieweit befürwortet die Außenministerin einen
eingeführt werden müssten. Jedoch gebe es zwei,     Verbleib der KFOR-Truppen in Kosovo? Erachtet
drei Länder, die blockieren würden. Angesichts      sie – analog zum EU-Beitritt – auch einen NATO-
von 1,8 Millionen Menschen in Kosovo wäre die       Beitritt Kosovos oder der Region als Ganzes für
Blockade der Visa-Liberalisierungen aus Sorge       sinnvoll? Laut Gërvalla-Schwarz würde die Zu-
vor illegaler Migration laut Gërvalla-Schwarz ein   stimmung in Kosovo für einen Beitritt zur NATO
großes Unrecht, da man dabei auch Geschäfts-        sogar noch höher sein als diejenige zu einem
leuten, Sportlern und Sportlerinnen, Kunstschaf-    EU-Beitritt. Die meisten NATO-Mitgliedstaaten
fenden und Besuchern und Besucherinnen die          hätten Kosovo anerkannt. Für einige wenige, die
Einreise erschwere. Es könne nicht sein, so die     dies noch nicht getan hätten, würden täglich
Außenministerin, dass Eltern ihre Kinder in         Anstrengungen unternommen, um zu zeigen,
Deutschland nicht besuchen könnten, obwohl          dass das Land ein seriöser bilateraler Partner
ihre Kinder die finanziellen Mittel haben würden,   sei. „Deswegen: NATO? – Ja, unbedingt!, mit Aus-
ihnen die Tickets zu bezahlen.                      rufezeichen und KFOR-Präsenz auch: Ja!, mit
                                                    Ausrufezeichen“ fasste die Außenministerin ihre
Die Voraussetzungen für eine Liberalisierung        Position unmissverständlich zusammen.
seien „doppelt erfüllt“ worden. Als Außenminis-
terin müsse Gërvalla-Schwarz mit Frankreich,        Die KFOR-Präsenz sei der Garant für die Sicher-
den Niederlanden und anderen Skeptikern ei-         heit der Menschen in Kosovo. Ungeachtet der
ner Visa-Liberalisierung sprechen, um Zweifel       Tatsache, dass die serbische Seite durch die
aus der Welt zu schaffen. Wie große Drogenfun-      Lieferungen schwerer Waffen aus Russland oder
de in der letzten Zeit gezeigt hätten, würden je-   China Propaganda betreibe, könnten die koso-
den Tag Signale gesendet, dass man die Verbre-      varischen Bürger und Bürgerinnen dank der
chensbekämpfung in Kosovo ernst nehme. Im           Präsenz von NATO-Truppen in Gestalt der KFOR
Endeffekt sei es für Gërvalla-Schwarz eine Frage    nachts ruhig schlafen. Ohne NATO und KFOR im
Südosteuropa Mitteilungen | 04 | 2021                                                  Berichte    79

Land wäre die Sicherheitslage in Kosovo eine        wegen ihres Geschlechts. Es sei der Außenmi-
ganz andere und man müsste fürchten, dass           nisterin allerdings klar, dass es einige Zeit dau-
Serbien einmarschieren könnte. „Also, bitte         ern werde, bis die Geschlechtergerechtigkeit
KFOR nicht antasten!“ appellierte Gërvalla-         von den höchsten politischen Ebenen des Staa-
Schwarz und betonte die Rolle der KFOR als          tes bis in die Gesellschaft übernommen werden
­Garant für Frieden und Stabilität in der Region.   könne. Kosovo von 2021 sei nicht mehr derjeni-
                                                    ge von 1990 – Frauen hätten in der Gesellschaft
Die letzte Frage aus dem Publikum betraf den        viel mehr zu sagen als früher.
gesellschaftlichen Bereich und richtete sich an
der Geschlechtergerechtigkeit im Land aus: Als      Jedoch sei nach wie vor die Arbeitslosigkeit bei
weibliche Außenministerin in Kosovo neben ei-       Frauen mit über 80 Prozent sehr hoch, was Gër-
ner weiblichen Staatspräsidentin – was können       valla-Schwarz als „völlig inakzeptabel“ bezeich-
Sie als wichtige Frauen auch für die Frauen in      nete. Wenige Frauen würden in Kosovo Familie
Kosovo verändern? Gërvalla-Schwarz erklärte,        und Arbeit vereinbaren. Dort jedoch, wo Frauen
dass die Liste der von ihrer Koalition zur Wahl     in Kosovo arbeiten würden, würden sie dies
aufgestellten Abgeordneten bei den letzten          besser tun als die Männer. Unabhängig davon,
Wahlen die festgesetzte Frauen-Quote von            dass in den höchsten politischen Ebenen Frau-
30 Prozent auf dem Stimmzettel mit über 40          en sehr sichtbar seien und viel eigenes politi-
Prozent zur Wahl aufgestellter Frauen bei wei-      sches Gewicht hätten, würde es noch viel Arbeit
tem übertroffen habe.                               brauchen und ein langer Weg sein, bis Frauen in
                                                    Kosovo gleichberechtigt wären und Mädchen
In der obersten Ebene der Politik habe Kosovo       und Jungen die gleichen Chancen hätten.
einen Status von Frauen erreicht, in dem nichts
mehr erklärt werden müsse. Die Staatspräsi-         Mit einer Danksagung und Verabschiedung
dentin zum Beispiel sei aufgrund ihrer Haltung,     durch Manuel Sarrazin endete das Online-­
Werte und Prinzipien gewählt worden und nicht       Gespräch.

Online-Diskussion
25 Jahre nach Dayton: Bosnien und Herzegowina zwischen
Ethnonationalismus und Bürgergesellschaft
Veranstalterin: Südosteuropa-Gesellschaft, Online via Zoom, 04. Mai 2021

Bericht von Stephani Streloke, Bonn

Die Online-Veranstaltungen der SOG sind auf YouTube nachzuverfolgen und nachzuhören unter
dem Link: https://tinyurl.com/y7r8zgso.

Einleitung                                          Veranstaltung über die aktuellen Herausforde-
Ende 1995 konnte mit dem Friedensabkommen           rungen des Landes zwischen Ethno-Nationalis-
von Dayton der Krieg in Bosnien und Herzego-        mus und Bürgergesellschaft diskutiert: Welche
wina endlich beendet werden. Bis heute ist das      Veränderungen braucht es, damit Bosnien und
Land jedoch ein in weiten Teilen dysfunktiona-      Herzegowina sich zu einer Bürgergesellschaft
ler Staat, in dem nicht alle Bürgerinnen und        mit gleichen Rechten für alle Bürgerinnen und
Bürger über die gleichen Rechte verfügen. Die       Bürger entwickeln kann?
ethnische Spaltung der Gesellschaft schreitet
voran, die Glorifizierung von Kriegsverbrechen      Auf dem Podium diskutierten darüber Dr. Valen-
gehört keineswegs der Vergangenheit an.             tin Inzko, Hoher Repräsentant für Bosnien und
25 Jahre nach Dayton wurde auf dieser Online-       Herzegowina, Sarajevo; Botschafterin Susanne
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Schütz, Beauftragte für Südosteuropa, die Türkei,    Bürgerinnen- und Bürgergesellschaft eingefor-
OSZE und Europarat, Auswärtiges Amt, Berlin;         dert und gefördert wird. Eine Verfassungsreform
Mirsad Hadžikadić, Vorsitzender und Gründer der      einschließlich des Wahlgesetzes müsse dafür
Platform for Progress, Sarajevo; Dr. Majda Ruge,     sorgen, dass die ethnische Spaltung überwun-
Senior Policy Fellow, Western Balkans, European      den werde. Nur ein multi-ethnisches und multi-
Council on Foreign Relations, Berlin und Prof. Dr.   kulturelles Bosnien könne in Europa, in einer
Joseph Marko, ehemaliger internationaler Richter     Europäischen Union bestehen. Dies wolle er der
am Verfassungsgerichtshof von Bosnien und            Diskussion vorausschicken.
Herzegowina, Universität Graz. Moderatorin der
Veranstaltung war Adelheid Wölfl, Südosteuropa-      Notwendige Schritte hin zur
Korrespondentin, Der Standard, Sarajevo.             Bürgergesellschaft
                                                     Moderatorin Adelheid Wölfl dankte Sarrazin für
In seinem (aufgrund von Wahlkampf-Terminen           seine einführenden Worte. Nach 25 Jahren be-
vorab aufgezeichneten) Grußwort sagte Manuel         finde sich BuH in der Situation, dass wieder
Sarrazin, MdB, Sprecher für Osteuropapolitik         einmal über Gesetzesänderungen gesprochen
der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grü-         werde und individuelle Bürgerrechte eingefor-
nen und Präsident der Südosteuropa-Gesell-           dert würden. Was braucht es, um gleiche Rechte
schaft: „Wir alle wissen, wie wichtig das Dayto-     für alle zu erhalten, wie kann man dies unter-
ner Abkommen von 1995 war, es beendete end-          stützen, und welche Rolle kommt der Zivilge-
lich den blutigen Bosnienkrieg. […] Abwesenheit      sellschaft dabei zu? Sie begrüßte das hochkarä-
von Krieg bedeutet nicht unbedingt auch Frie-        tig besetzte Panel und wandte sich als erstes an
den. Wir wissen, dass Bosnien und Herzegowina        Valentin Inzko: Er sei als OHR vor Ort, zusam-
bis heute in weiten Teilen ein dysfunktionaler       men mit Repräsentant*innen der EU und ande-
Staat ist.“ Nicht alle Bürgerinnen und Bürger        ren wichtigen Playern. In der Vergangenheit ha-
hätten die gleichen Rechte. Auch die ethnische       be man gesehen, dass es Fortschritte gibt, wenn
Spaltung sei noch lange nicht überwunden. Die        alle gut zusammenarbeiten. Wie kann so eine
Glorifizierung von Kriegsverbrechen gehöre zur       Zusammenarbeit aussehen, damit es schrittwei-
Tagesordnung. „Wie können wir uns gemeinsam          se in Richtung Bürgergesellschaft vorangeht?
für die Idee einer multi-ethnischen Bürgerge-
sellschaft einsetzen?“, fragte Sarrazin.             Valentin Inzko bestätigte, dass fast alles, was es
                                                     auf der Welt an internationalen Organisationen
Sarrazin wandte sich dann den sogenannten            gibt, vor Ort ist, einschließlich der Weltbank, ei-
„Non-Papers“ zu, welche seit dem Frühjahr 2021       ner UNO-Vertretung und des UNHCR. Als größte
kursieren und die eine ethnische Grenzziehung        Organisation sei die OSZE mit rund 300 Mitar-
für Bosnien und Herzegowina fordern. Die Poli-       beiter*innen vor Ort. Insgesamt seien ein-
tik habe sich in den letzten Wochen damit be-        schließlich der Botschaften rund 2.000 Organi-
schäftigen müssen. „Über die reden alle, aber        sationen im Land vertreten. Der Output jedoch
keiner will sie geschrieben haben“, sagte Sarra-     sei nicht gut, hier müsse mehr geliefert werden.
zin. Er bedankte sich bei Bundesaußenminister        Der OHR hatte anfangs die Leadership. Ein gro-
Heiko Maas und Staatsminister Michael Roth,          ßer Schritt hin zur Normalität seien die einheit-
dass diese sich so offen gegen ethnische Grenz-      lichen Nummernschilder, Fahnen und eine ge-
ziehungen positionierten. Sarrazin sagte, diese      meinsame Währung gewesen. Aus drei Armeen
Papiere gehörten in den „historischen Schred-        sei eine, aus zwei Verteidigungsministerien ei-
der“. Die Verfasser der „Non-Papers“ wollten         nes geworden.
nicht erreichte Kriegsziele heute am Grünen
Tisch verwirklichen. Es werde immer noch ge-         Statt der „Bonn Powers“ des OHR spreche man
testet, wie weit man gehen kann und sondiert,        heute von „Pool Powers“. Inzko sagte, er sehe zu
wie die EU auf solche Versuche reagiert.             wenig von diesen und auch zu wenig von der
                                                     Perspektive der EU-Mitgliedschaft. Die EU habe
Die Grenzen von Bosnien und Herzegowina sei-         bereits 2003 in Thessaloniki europäische Pers-
en unantastbar, sagt Sarrazin. In diesem Kon-        pektiven in Aussicht gestellt. Wenn BuH 2033 in
text sei es auch wichtig, dass der Aufbau einer      die EU kommen sollte, habe es lange 30 Jahre
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darauf gewartet. „Eine Perspektive von 30 Jah-         nig ausholen, sagte Schütz. Wie auch Außenmi-
ren verändert sich in eine Fata Morgana“, da ha-       nister Heiko Maas auf seiner Reise nach Kosovo,
be man keine Lust mehr, zu warten, stellte Inzko       Serbien und Nordmazedonien gesagt habe, lie-
fest. Die Menschen sagten also, wir lieben die         gen Deutschland die Länder des westlichen Bal-
EU, wir gehen jetzt nach Deutschland oder nach         kans als künftige Mitglieder der EU sehr am Her-
Österreich, wir wollen die EU sofort haben und         zen. Die Situation in BuH sei derzeit aber Anlass
nicht erst in 30 Jahren.                               zur Sorge. Der Reformprozess stoppe. Provokatio-
                                                       nen und Spaltungsversuche lenkten Aufmerk-
Politiker*innen sähen das anders: Sie wüssten,         samkeit und Ressourcen von den Reformaufga-
dass sie bei einem solchen Zeithorizont keinen         ben ab. Allzu oft seien es Machtinteressen und
Posten in der EU bekommen werden; deshalb              Einzelne, die Zugriff auf diese Ressourcen haben
machten sie nur Lippenbekenntnisse. Sie woll-          wollten. Das oben angesprochene, angeblich slo-
ten keine europäischen Werte. „Warum sollten           wenische „Non-Paper“ zeige dies.
diese Politiker ‚Rule of Law‘ haben wollen? Das
bringt sie ja direkt ins Gefängnis“, folgerte Inzko.   Deutschland lehne Grenzveränderungen ent-
„Wenn wir in BuH gar nichts hinterlassen wür-          lang ethnischer Kriterien auf dem Westbalkan
den, keine Straßen, keine Infrastruktur, aber da-      ab, betonte Schütz. Dies würde die Instabilität
für Rechtsstaatlichkeit, dann könnten wir nach         in der Region erhöhen und neue Krisen herauf-
Hause gehen, dann hätten wir viel hinterlas-           beschwören. Vielmehr seien regionale Zusam-
sen.“ Ein Grundwert sei sicher Rule of Law, ein        menarbeit und Multiethnizität Garanten für
anderes das Bildungssystem. Bürgerrechte und           Frieden, Demokratie und Wohlstand. BuH ­
Wahlrecht müssten geändert werden, die Zivil-          müsse auf seinem Weg von Dayton nach Brüs-
gesellschaft gestärkt. In BuH, so Inzko, gibt es       sel schneller vorankommen und einen Grad
keine Staatsbürger*innen – nur Serb*innen,             an ­Stabilität erreichen, durch den es in eige­-
Kroat*innen, Bosniak*innen. Als Staatsbürger*in        ner Ownership seinen Weg gehen könne.
kann man nicht für ein politisches Amt kandi-          Dafür müsse das Land echte und nachhaltige
dieren (Angehörige der Rom oder jüdische Bür-          Strukturreformen durchführen.
ger*innen könnten also auch nicht kandidie-
ren). Dann gebe es die Wohnortregelung: Wenn           „In dieser Hinsicht war der letzte Länderbericht
man den falschen Meldezettel habe, könne man           der EU-Kommission ein Warnsignal“, sagte
auch nicht kandidieren (Serb*innen aus Saraje-         Schütz. Die Lokalwahlen 2020 hätten gezeigt,
vo zum Beispiel oder Bosniak*innen aus Sre-            dass politische Veränderungen möglich sind. In
brenica). Auch Menschen aus gemischten Ehen            einigen Wahlkreisen seien lokale Politiker*in-
könnten nicht kandidieren.                             nen gewählt worden, welche ethnische Grenzen
                                                       überwinden wollten. Unter den 14 von der EU
Inzko befürchtet, dass bei der Wahlrechtsreform        formulierten unverzichtbaren Kernprioritäten
gemogelt werden soll. Niemand spräche im Vor-          sei eine die Reform des Wahlrechts. Klar sei,
feld mit Jakob Finci, dem Juristen und Präsiden-       dass die Schaffung einer dritten Entität nicht
ten der Jüdischen Gemeinschaft von Bosnien             das Ziel der Reformen sein dürfe. „Wir unter-
und Herzegowina, alle sprächen mit dem Vorsit-         stützen den Wunsch auch der Zivilgesellschaft,
zenden der bosnisch-kroatischen HDZ BiH, Dra-          eine Bürgergesellschaft jenseits ethnischer Ka-
gan Čović. Die Central Election Commission wol-        tegorien zu schaffen“, sagte Schütz. Die Owner-
le man ebenfalls nicht dabeihaben. Die Opposi-         ship für die Reformen liege auf Seiten BuHs.
tion werde allerdings auf Verlangen des OHR            Zusätzlich habe der OHR bei der Umsetzung der
dabei sein, dies sei ganz wichtig. Er wolle nichts     Reformen eine wichtige Rolle inne. Deutschland
anderes, als dass BuH ein ganz normales Land           habe die Kandidatur von Christian Schmidt als
wird, sagte Inzko.                                     Nachfolger für den scheidenden OHR Inzko vor-
                                                       geschlagen, um BuH wieder verstärkt auf die
Wie können Deutschland und die EU bei der Um-          europäische Agenda zu bringen.
setzung der Reformen helfen?, richtete Modera-
torin Wölfl die Frage an Susanne Schütz. Sie
müsse für die Beantwortung dieser Frage ein we-
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