DAS MAGAZIN DER SSBL - Kultur der Selbst-bestimmung fördern - Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL
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DAS MAGAZIN DER SSBL Kultur der Selbst- bestimmung fördern Selbstbestimmung bedeutet, eine Wahl zu haben. Was heisst das im Alltag von Menschen mit Behinderung? AB SEITE 4 ZURÜCK IN EINE HIMMELHOCH NEUE NORMALITÄT JAUCHZEND, ZU TODE BETRÜBT Einblicke in den ungewohnten Alltag Das Recht auf Beziehung AUSGABE 3 SEPTEMBER 2020 während Corona. SEITE 24 und Sexualität. SEITE 20
ANSICHTEN Ein Kompass für das Handeln aller Beteiligten Im Gespräch mit Regierungsrat Guido Graf SEITE 18 DAS MAGAZIN DER SSBL EINSICHTEN Editorial SEITE 4 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG Himmelhoch jauchzend, Kultur der Selbst- zu Tode betrübt bestimmung fördern Drei Liebespaare unter einem Dach SEITE 20 Umsetzbarkeit im Leben von Menschen mit Beeinträchtigung SEITE 4 «Lass uns gemeinsam kochen!» Die Sinne anregen SEITE 23 Senfschnitten und Lebensmittelpyramiden Zurück in eine neue Normalität Ausgewogene Ernährung nach Fünf Kurzgeschichten SEITE 24 individuellen Vorlieben SEITE 7 Jahresbericht 2019 SEITE 28 AUSSICHTEN « aussergewöhnlichen Menschen Wir ermöglichen Selber sagen, was gefällt Kleidung ist Geschmackssache. Veranstaltungen SEITE 29 » SEITE 10 News SEITE 30 Impressum SEITE 31 Gewöhnliches. Selbstbestimmung beginnt mit Selbstwahrnehmung Kinder sollen sich wohlfühlen. SEITE 13 Selbstbestimmung dank künstlicher Intelligenz TITELBILD | Annemarie Fischer, Bewohnerin im Striterhof in Pfaffnau, mag praktische und KOMMUNIZIEREN . LERNEN . ARBEITEN . WOHNEN Ein Blick in die Zukunft SEITE 15 bequeme Kleidung. Assistive Technologien für mehr Teilhabe und Selbstbestimmung «Kann mich besser und QR-CODE | Zu den mit einem QR-Code versehenen Artikeln schneller verständigen» finden Sie online vertiefte Ein Chatprotokoll SEITE 16 Informationen. Active Communication AG CH-6312 Steinhausen Ein Unternehmen der Schweizer Paraplegiker-Stiftung www.activecommunication.ch
EDITORIAL FOKUSTHEMA Das Recht auf Selbstbestimmung ist so bedeutsam, weil es gleichermassen das Recht auf die Entwick- lung des Ichs fördert. Doch wie sieht Selbstbestim- Kultur der Professionalität Selbstbestim- Wir erklären uns zuständig für Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderun- mung im Leben von Menschen aus, deren Selbst- gen und orientieren uns dabei an fundierten bestimmung in manchen Lebensbereichen fast Erkenntnissen und der bestmöglichen mung fördern Anwendung. Wir leisten unseren Beitrag nicht wahrnehmbar angeboten und ausgeübt wird? zur Umsetzung der UN-Behinderten- Was kann eine soziale Organisation wie die SSBL rechtskonvention. Sie fordert uns Lebensraum Mitarbeitende heraus, unser Handeln zu refl ek- unternehmen, um möglichst jenen mit sehr unter- Die Mitarbeitenden tieren und weiterzuentwickeln. Wir ermöglichen verschiedene Formen schiedlichen Selbstbestimmungsressourcen mög- Nationalrätin Marianne Streiff-Feller übernehmen Verantwor- der Betreuung und des tung. Sie sind Botschafter/ lichst viel Selbstbestimmung zu ermöglichen? (Präsidentin INSOS Schweiz) und -innen unserer Werte Zusammenlebens. Wir und der Schlüssel zum vermitteln Orientierung Nationalrat Laurent Wehrli (Präsident Erfolg. Wir pfl egen und Schutz für ein Leben Selbstbestimmung bedeutet, eine Wahl zu haben. eine Kultur der in Vielfalt. CURAVIVA Schweiz) engagieren Wertschätzung. Entscheiden zu können zwischen Passendem und Unpassendem, Angenehmem und Unangenehmem, sich auch auf politischer Ebene für Gutem und Schlechtem. Ein selbstbestimmtes Le- Menschen mit Behinderung. Wir Mission Wir gestalten Lebensraum ben ist auch ein anspruchsvolles Leben. Entschei- haben die beiden gefragt, wie Selbst- für Menschen mit Behinderung dungen brauchen Zeit, Wissen und Fähigkeiten, bestimmung im Leben von Menschen und schaffen Räume, in um mit den Konsequenzen einer Wahl umgehen mit Beeinträchtigung umsetzbar ist. denen sie ihre persönlichen zu können. Selbstbestimmung muss sich somit an Möglichkeiten leben und Zusammenarbeit Gesellschaft den individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen Wir verstehen uns entwickeln können. Wir erfüllen einen von Personen orientieren. als Teil eines Netzwerkes gesellschaftlichen und pfl egen den Austausch Auftrag. Ein Mensch mit Behinderung muss seinen Willen mit Bezugspersonen, Wir bieten Arbeits- Selbstbestimmung hat immer auch Grenzen: Diese gegenüber seinen Mitmenschen direkt ausdrücken Organisationen und und Ausbildungsplätze Diensten. Wir sind an und vermitteln liegen bei den individuellen Grenzen der Person, können, sei es verbal oder nonverbal – darin sind Dienstleister/-innen Fachkompetenz. Wir und vermitteln im Interesse informieren aktiv und der Umgebung und dort, wo die Rechte und die sich Marianne Streiff-Feller und Laurent Wehrli einig. der betreuten Personen. schaffen Räume für Integrität eines anderen Menschen durch ein be- Falls nötig, brauche es Hilfsmittel wie Unterstützte Wir führen verbindlich Begegnungen. und beziehen dabei die stimmtes Verhalten verletzt werden. Der Auftrag Kommunikation und die kompetente Begleitung Mitarbeitenden mit ein. Selbstbestimmung der SSBL besteht darin, den Klientinnen und Klien- von Bezugspersonen im Sinne von «Hilfe zur Selbst- Selbstbestimmung Mit Selbstbestimmung Engagement und Kompetenz ten die bestmögliche Autonomie und Selbstbe- hilfe». «Menschen mit Behinderung müssen Wahl- Mit Engagement befähigen undmit wir Menschen Kompetenz Behinderung, Mit Engagement und Kompetenz ihre eigenenwir befähigen Entscheidungen Menschen mitzu treffen. Dazu Behinderung, stimmung zu gewährleisten. Wir befähigen sie so möglichkeiten haben», sagt Laurent Wehrli. Und befähigen wirwir schaffen Menschen mit Behinderung, Wahlmöglichkeiten und Dazu ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. weit wie möglich, ihre eigenen Entscheidungen zu Marianne Streiff-Feller ergänzt: «Dabei geht es so- ihre eigenen Entscheidungen Entwicklungsfelder. zu treffen. Diese ermöglichen Dazu wichtige schaffen wir Wahlmöglichkeiten und schaffen wir Wahlmöglichkeiten Lebenserfahrungen, und treffen, schaffen Entwicklungsfelder und Wahl- wohl um die kleinen alltäglichen Entscheidungen Entwicklungsfelder. Diese die dabei helfen, ermöglichen wichtige Entwicklungsfelder. Diese ermöglichen auch Rückschläge zu wichtige Lebenserfahrungen, diebewältigen. dabei helfen, möglichkeiten. Das beginnt schon bei alltäglichen wie auch um grosse Entscheidungen: Wo und mit Lebenserfahrungen, die dabei helfen, auch Rückschläge zu bewältigen. auch Rückschläge zu bewältigen. kleinen Entscheidungen: Dort, wo das Rivella der wem möchte ich wohnen, was möchte und kann ich heissen Schokolade vorgezogen wird, und dort, wo arbeiten, wo möchte und kann ich meine Gaben der rote und nicht der grüne Pullover ausgesucht und Talente einbringen?» wird. Auch wenn er für andere Augen nicht zu der orangen Hose passt. Selbstbestimmung ist oft ein Balanceakt INSOS UND CURAVIVA «Bedeutend ist die Haltung», sagt Marianne Streiff- Feller. «Letztendlich wissen wir nicht, was für «Bedeutend ist Die beiden Verbände streben eine verbes- einen anderen Menschen das Richtige und gut die Haltung.» serte und intensivierte Zusammenarbeit ist – auch wenn wir diesen zu kennen glauben.» Was mit den Behindertenorganisationen an. Sie es auch brauche, sind Wahlmöglichkeiten setzen sich auf politischer Ebene für gute, für Menschen mit Behinderung. Menschen, die zielführende Rahmenbedingungen für ihre sich nicht verbal äussern können und allein nicht abgestimmte Dienstleistungen anbietet und finan- Mitglieder ein, damit diese sich ganz direkt die gleiche Vielfalt an Erfahrungen machen können, zierbar ist.» Er sieht aber auch die Grenzen der der konkreten und gewollten Unterstüt- brauchen die Unterstützung von anderen Men- Selbstbestimmung: Sie höre einerseits da auf, wo zung widmen können. schen. Laurent Wehrli ist überzeugt: «Wenn Wohn- der nächste Mensch beginnt, und andererseits im- und Unterstützungsangebote stärker an den indi- mer dann, wenn eine Selbst- oder Fremdgefähr- Details zur Informations- und viduellen Bedürfnissen ausgerichtet werden, lassen dung besteht. Wenn Menschen mit Unterstützungs- Sensibilisierungsarbeit der sich die Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes bedarf in Organisationen begleitet werden, sei beiden Verbände finden Sie auf Leben weiter verbessern. So beispielsweise mit immer ein sorgender und begleitender Auftrag zu der Website: Pius Bernet www.aktionsplan-un-brk.ch ganz konkreten Wohnangeboten wie betreutem erfüllen. «Das ist oft ein Balanceakt, der viel Finger Geschäftsführer Wohnen, das auf die individuellen Bedürfnisse spitzengefühl erfordert.» WEITER AUF SEITE 6 4 EDITORIAL FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 5
Marianne Streiff-Feller betont, dass es hilfreich sei, zu ermöglichen, braucht es vielfältige, durchlässige sich immer wieder die Frage zu stellen, wo sich und Gemeinwesen-basierte Angebote, die gemein- Menschen nach dem institutionellen Rahmen rich- sam mit Menschen mit Beeinträchtigung (weiter) ten und nicht entsprechend ihren Bedürfnissen entwickelt werden», sagt Marianne Streiff-Feller. leben können. «Es ist zu prüfen, wo und wie dieser «Flexible Rahmenbedingungen und geeignete Fi- Rahmen ausgeweitet werden kann, und wir müssen nanzierungssysteme, die nicht primär von einer immer auch nach Wegen suchen, damit die Men- ‹Kassenlogik› ausgehen, sind notwendig.» Damit schen ausserhalb des institutionellen Rahmens dies gelingt, ist die konstruktive Zusammenarbeit Kontakte knüpfen, Beziehungen erleben und viel- der verschiedenen Player wie Bund, Kantone, Ver- fältige Erfahrungen machen können.» Und Laurent sicherungen, Behinderten organisationen, Dienst- Wehrli ergänzt: «Institutionen sind in der Pflicht, leister und Menschen mit Beeinträchtigungen not- die Kultur der Selbstbestimmung zu fördern und wendig. «Und es braucht unabdingbar den diese in der Praxis mit entsprechenden Angeboten politischen Willen und die Überzeugung, dass eine inner- und ausserhalb der Institution im Sozialraum Gesellschaft nur dann lebenswert für alle ist, wenn umzusetzen.» sich auch alle Menschen beteiligen und einbringen können.» ELISABETH GEBISTORF KÄCH Flexible Bedingungen, geeignete Finanzierung Der Paradigmenwechsel vom «Umsorgtwerden» zum «selbstbestimmten Unterwegssein» gelinge nicht von heute auf morgen, betont Laurent W ehrli. Dazu AUSFÜHRLICHE FASSUNG braucht es nicht nur die Dienstleistungs anbieter, Die ausführlichen Antworten von sondern auch Bund und Kantone als verantwortli- M arianne Streiff-Feller und Laurent Adrian Stalder isst gerne alleine. che Partner in der Umsetzung einer kohärenten Wehrli auf unsere Fragen finden Sie Behindertenpolitik sowie diverse Sozialpartner für auf unserer Website: www.ssbl.ch/KulturderSelbstbestimmung die Integration in die Arbeitswelt. «Um Menschen mit Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben Senfschnitten GRATWANDERUNG ZWISCHEN Im Leitbild der SSBL steht zum Leitsatz der Selbst- und Lebensmittel- FÜRSORGE, SICHERHEIT UND SELBSTBESTIMMUNG bestimmung, dass wir mit Engagement und Kom- petenz Menschen mit Behinderung befähigen, ihre pyramiden eigenen Entscheidungen zu treffen. Damit dies Die Klientinnen und Klienten der SSBL brauchen – gelingt, schaffen wir Wahl- und Entwicklungsmög- Eine ausgewogene Ernährung soll gleich- wie jeder Mensch – ihren individuellen Raum für lichkeiten, die sowohl positive Erfahrungen als zeitig auch dem individuellen Geschmack Selbstbestimmung. Wir haben den Auftrag, ihnen im auch die Bewältigung von Rückschlägen ermögli- entsprechen. Damit das auch bei Menschen Alltag die bestmögliche Autonomie und Selbstbe- chen. Das Prinzip der Selbstbestimmung fliesst mit einer Beeinträchtigung gelingt, braucht stimmung zu gewährleisten, was auch beinhaltet, massgeblich in alle Grundlagendokumente sowie dass sie positive wie kritische Lernerfahrungen ma- Betreuungskonzepte der SSBL ein. es Fingerspitzengefühl. Und Fachwissen. chen dürfen. Wir haben jedoch auch einen Fürsorge auftrag – wir sind verantwortlich dafür, dass sie und Die Gratwanderung liegt darin, dass dies in der die Mitbewohner/-innen sicher leben können. Umsetzung nicht immer möglich ist und Entschei- Mit einer roten Strickmütze auf dem Kopf steht nicht auf m einer Wunschliste, aber essen tu ich es dungen darüber zu fällen nicht immer einfach ist. drian Stalder vor seiner Wohngruppe Linden- A schon», gibt er Auskunft über seine Vorlieben und Mit der diesen Aufträgen innewohnenden Verant- In der Zusammenarbeit unserer Fachpersonen ist berg 1 in Rathausen und ist bestens gelaunt. Es ist Abneigungen. Das bespricht er auch regelmässig wortung einher gehen immer auch Entscheidungen das Prüfen unserer Leistungen ein wesentlicher neun Uhr, sein Tag ist gut gestartet: Gerade ist ihm mit der Ernährungsberaterin Brigitte Christen- darüber, welche konkreten Leistungen wir erbrin- Bestandteil der Reflexionsprozesse. Dies führt zu seine Freundin begegnet, sie hatten Zeit für einen Hess (siehe Kasten auf Seite 8): Zusammen hecken gen. Eine Gratwanderung, die die Mitarbeitenden einer hohen Lebensqualität für die Klientinnen und kurzen Flirt. «So hübsch ist sie! Ich bin ein verlieb- sie Ideen und Tipps aus, wie Adrian gesund essen in der Begleitung und Betreuung von Klientinnen Klienten der SSBL. ter Mann!», ruft der 29-Jährige übermütig. Jetzt kann und trotzdem nicht auf seine Lieblingsspei- und Klienten tagtäglich machen. Damit diese Grat geht es ins Atelier, er hat nur kurz Zeit für Fragen. sen und Süssigkeiten verzichten muss. wanderung gelingt, prüfen wir immer wieder, ob «Was ich zum Zmorge esse? Das weiss doch jeder: DR. ISABELLE EGGER TRESCH (Leiterin Leistungs das, was wir machen, das Richtige ist, und ob die management) MANUELA SCHLECHT-HUBER (Leiterin eine Senfschnitte!» Und ja: Auf das Mittagessen Der junge Mann will bei den Mahlzeiten ausserdem Lebensqualität dabei im Fokus steht. Wohnen und Arbeiten) freue er sich auch. Am liebsten wäre ihm, wenn es alleine sein. «Das ist mir zu viel, mit den anderen Kartoffelstock oder Schnitzel und Pommes geben am Tisch zu sitzen», erklärt er. Solche und andere würde. Mit Ketchup. «Rüebli und Spinat stehen WEITER AUF SEITE 9 6 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 7
INTERVIEW MIT Bedürfnisse werden in der Stiftung für Schwerbe- Aufgabe des Teams sei es, gute Rahmenbedingun- BRIGITTE CHRISTEN-HESS hinderte SSBL ernst genommen und individuell gen zu schaffen, damit es allen wohl ist – das betrifft umgesetzt. Zu einer guten Ernährung tragen viele unter anderem den Lärmpegel oder den individuell Brigitte Christen-Hess ist Ernährungs- Komponenten bei – dazu gehört auch eine stimmi- bevorzugten Sitzplatz. Bis das funktioniere, sei es beraterin SVDE mit eigener Praxis in ge Atmosphäre beim Essen. Und diese sieht nicht ein langer Prozess, der auch immer wieder hinter- Luzern. Die erfahrene Fachfrau wird für alle gleich aus: Manche essen lieber alleine, wie fragt und angepasst werde. Essen ist auch ein bei Fragen rund ums Thema Ernährung Adrian, andere wollen gemeinsam am Tisch sitzen. emotionales Thema: Jede und jeder hat seine eige- und Essverhalten zugezogen. Auch von nen Ideen von gesunder Ernährung, Essrituale oder einzelnen Wohngruppen der Stiftung Breite Palette an Auswahlmöglichkeiten Hausrezepte bei Beschwerden. «Die Mitarbeiten- für Schwerbehinderte Luzern SSBL. An erster Stelle stillt Nahrung ein Grundbedürfnis den müssen diesbezüglich ihre eigenen Vorstellun- und hat entsprechend für alle ihre Wichtigkeit. Wie gen zurückstellen. Eine professionelle Haltung bei vielen Leuten liegt bei Menschen mit einer rund um das Thema Selbstbestimmung und Ernäh- Beeinträchtigung häufig auch ein medizinischer rung zu entwickeln, ist eine grosse Herausforde- Befund oder ein auffälliges Essverhalten vor. «Die- rung», sagt Kalbhenn und betont, dass sich die sen individuellen Voraussetzungen wird natürlich fachliche Expertise durch eine Ernährungsberaterin Rechnung getragen», sagt Peter Kalbhenn, Grup- in mancherlei Hinsicht positiv auswirke und eine penleiter Lindenberg 1, und betont, dass nichts gute Unterstützung sowohl für das Team wie die destotrotz alle Bewohnenden in die Menüplanung Bewohnerinnen und Bewohner sei. einbezogen werden: Im Turnus können Essens wünsche gemacht werden, Vorlieben und Abnei- INTERVIEW VON CHRISTINE WEBER macht und sich damit auch neue Lebenswelten gungen werden so gut wie möglich berücksichtigt. Frau Christen-Hess, welche spezifischen Themen gibt es rund um das Thema Ernährung bei Men- eröffnen können. Wenn jemand zum Beispiel seine Süssigkeiten aus schlechtem Gewissen heimlich «Eine grosse Herausforderung ist das insbesondere bei jenen, die sich verbal nicht mitteilen können», An erster Stelle schen mit einer Beeinträchtigung/Behinderung? Ich werde unter anderem beigezogen, wenn ein isst, suchen wir nach selbstbestimmten Lösungen: Eine Box, wo er oder sie sich selber in einem sagt Kalbhenn und erklärt, wie Unterstützende Kommunikation eingesetzt wird: mit Piktogrammen, stillt Nahrung ein ärztlicher Befund vorliegt, etwa Herz-/Kreislauf- gewissen Rahmen bedienen kann. Oder die Cerve- Bildern, Kochbüchern, Gestik und Mimik. Als Basis Grundbedürfnis und störungen, Untergewicht /Übergewicht oder eine lats, anstatt auf die Schnelle im Zimmer zu ver- für eine ausgewogene Ernährung orientiert man Lebensmittelunverträglichkeit. Unterschiedlicher En- schlingen, mit den anderen beim Zvieri teilen oder sich an der Lebensmittelpyramide, auch diese wird ist für alle wichtig. ergiebedarf und auffälliges Essverhalten sind eben- in einer geeigneten Form ins Nachtessen zu integ- zur Verdeutlichung visuell eingesetzt. Wichtig sei es, falls bestimmende Themen. Mein professionelles rieren. Die Ernährungsberatung gibt ein positives mit unterschiedlichen Hilfsmitteln eine möglichst Fachwissen im Bereich Ernährung und Diätetik un- Erlebnis: Sie bricht Muster auf und zeigt auf eine breite Palette an Wahlmöglichkeiten aufzuzeigen. terstützt die Bewohner/-innen sowie die Mitarbei- gute Art a ndere/erweiterte Möglichkeiten punkto Statt einfach «Kartoffeln» werde die Auswahl erwei- Das sieht auch Adrian Stalder so: Die Einzelgesprä- tenden auf den Wohngruppen bei der gemeinsamen Ernährung und Essverhalten. tert, zum Beispiel mit Bildern von Rösti, Bratkartof- che mit Brigitte Christen-Hess tragen dazu bei, Suche nach kreativen Lösungs ansätzen, Abläufen feln oder Kartoffelstock. Auf offene Fragen wie dass er selbst mitbestimmt, welches Essen ihm in und Strukturen, die dann gemeinsam ausprobiert Wie arbeiten Sie konkret an den jeweiligen The- etwa: «Was magst du heute essen?», komme sonst welcher Menge und zu welchem Zeitpunkt gut tut – und stetig weiterentwickelt werden. men? Zuerst werden die Eckdaten bezüglich des oft eine Standardantwort von dem, was am besten zum Beispiel das Zmittag, das soeben im Wägeli medizinischen Befunds/des anstehenden Themas/ bekannt ist: Pizza, Spaghetti oder Wurst. vom Restaurant pro nobis an Adrian vorbei gerollt Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren? Problemfeldes sowie die individuellen Kommuni- wird. Bis zur Essenszeit dauert es allerdings noch Im Einzelnen kann durch kleine Anpassungen viel er- kationsmöglichkeiten und -wege geklärt und im Das Mittagessen für die neun Bewohnerinnen und eine Weile. «Zuerst muss ich jetzt sowieso noch reicht werden: Kaffeerähmli anstelle einer Milch-/ Anschluss entsprechende Ziele und Lösungsansät- Bewohner wird an vier Tagen in der Woche vom schaffe, schaffe, Häusle bauen!», ruft er fröhlich Kaffeerahmflasche, kleinere oder grössere Teller/ ze angedacht. Danach arbeite ich – wenn möglich – SSBL-internen Restaurant pro nobis bezogen, alle und macht sich eilig auf ins Atelier. Tassen, auf dem Teller direkt oder mit Bildern sicht- direkt mit den Betroffenen im Einzelsetting, aber anderen Mahlzeiten und Zwischenverpflegungen CHRISTINE WEBER bar machen, wo welche Nahrung drauf kommt. auch mit dem Team selbst: Gemeinsam entwickeln werden auf der Gruppe zubereitet. Auch das sei ein Überhaupt ist das Sichtbarmachen wichtig: Mit Mo- wir die angedachten Ansätze und Umsetzungs- wichtiges Ritual, sagt Kalbhenn: «Viele sind sehr dellen, Bildern oder Attrappen – es gibt tausend schritte weiter. In einem nächsten Schritt probieren gerne aktiv oder passiv beim Kochen dabei: Ge- kleine Sachen, die ein gesundes und angepasstes die Mitarbeitenden, diese zusammen mit den Klien- müse schneiden, Einkaufen oder einfach in die Essen unterstützen und die Selbstbestimmung trotz- ten/-innen im Alltag anzuwenden. Nach einer Kochtöpfe schauen.» Die Küche ist darum auch of- dem garantieren. mehrwöchigen Zeitspanne erfolgt die Auswertung. fen und für alle einsehbar. Es ist wichtig, dass dabei alle am gleichen Strick Sie sind also keine Gesundheitspolizistin, die einem ziehen und die Mitarbeitenden sensibilisiert sind: Fachliche Unterstützung als Bereicherung die Pommes klaut? Überhaupt nicht! Aber ich be- Eine Fachexpertise durch die Ernährungsberaterin Die Essenszeiten geben zudem automatisch eine wege mich ganz klar im Spannungsfeld zwischen klärt Fragen und Unsicherheiten und unterstützt Tagesstruktur vor, das ist auf der Wohngruppe Selbstbestimmung und Schutz. Dabei ist es wichtig, damit das Team in seinem professionellen Handeln, Lindenberg 1 besonders gefragt. «Die Abläufe sind dass das Essen lustvoll und vielfältig bleibt, Spass das sie täglich auf den Gruppen anwenden. Rituale, die den Bewohner/-innen Sicherheit und Orientierung geben», sagt Kalbhenn. Auf Essenswünsche eingehen mit Hilfe von Piktogrammen. 8 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 9
Individuell Selber sagen, was gefällt von der Socke Kleidung muss bequem und praktisch sein. Kleidung ist bis zum aber auch Geschmackssache und betont die individuelle Persönlichkeit. Auf eine selbstbestimmte Kleiderwahl Haarschnitt. wird in der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL Wert gelegt. Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner akzep- Annemarie Fischer trägt Jeans, bequeme Schuhe tiere. «Es muss ja ihnen gefallen und nicht mir», sagt und ein knalliges Shirt in Pink. «Aber meine Lieb- Jasmin Huber. Die individuelle und selbstbestimmte lingsfarbe ist Blau. Und Grau auch», sagt sie. Röcke Auswahl gilt nicht nur für Kleider und Haarschnitt, mag sie nicht und am liebsten sind ihr bequeme sondern auch für Pflegeprodukte. «Wenn zum Bei- Sachen wie eben die Bluejeans. Die 57-Jährige lebt spiel bei jemandem das Duschmittel aufgebraucht in der Wohngruppe Striterhof in Pfaffnau, wo neun ist, machen wir nicht einfach den Schrank auf und Menschen mit einer Beeinträchtigung daheim sind. stellen irgendeine neue Tube hin, sondern gehen Welche Kleider ihnen gefallen, was sie anziehen zusammen in den Dorfladen und kaufen eines nach und kaufen, bestimmen sie selbst. «Ist ja logisch! Wahl», erklärt die Sozialpädagogin an einem Bei- Wenn mir etwas nicht gefällt, würde ich es gar nicht spiel. Das ist punkto Selbstbestimmung gut und anziehen und das bringt’s ja überhaupt nicht», sagt zudem ein schönes Einkaufserlebnis. Annemarie Fischer und erklärt, wie das mit dem Kleiderkaufen funktioniert: Wenn sie etwas Neues Unterwegs mit Stiefeln und Regenmantel braucht, fährt sie mit einer Betreuerin entweder Wie oft neue Kleider gekauft werden und wie viel nach Langenthal oder Oftringen. In den Kleider Budget dafür vorhanden ist, sei unterschiedlich. läden schaut sie sich um und probiert die Sachen «In der Regel gehen wir dann zum Einkaufen, wenn an. «Ich muss immer probieren, ob es passt, weil der Bedarf für eine Neuanschaffung vorhanden ist. ich Übergrösse brauche», sagt sie. Die Sachen aus- Das Budget dafür wird jährlich mit der jeweiligen wählen und anprobieren sei anstrengend, es mache Vertretung überprüft und variiert leicht von Bewoh- sie müde und darum sei es gut, dass sie alleine mit Annemarie Fischer kauft nur, was ihr gefällt. nerin zu Bewohner», sagt Jasmin Huber. Auch die der Betreuerin unterwegs ist. «Mit andern zusam- Angehörigen kümmern sich teils um das Thema men wäre mir das zu viel», sagt sie. Entspannt geht es hingegen beim Coiffeur zu und Kleidung und kaufen mit manchen Bewohnerinnen her, dort lässt sie sich alle zwei Monate die Haare und Bewohnern ein oder bringen Pullover & Co. bei schneiden. «Ganz kurz. Das gefällt mir und ist Besuchen mit. Apropos Besuch: Annemarie Fischer praktisch.» serviert nach dem Gespräch rund um Kleider einen GRENZEN DER SELBSTBESTIMMUNG Kaffee mit Milch. «Eigentlich ist mir nicht wichtig, Die SSBL hat den Auftrag, die Bewoh- Selbstbestimmung fängt bei kleinen Dingen an was ich für Sachen anhabe», sagt sie. Ausser nerinnen und Bewohner zu schützen. Nicht alle auf der Wohngruppe können so eigen- dienstags, wenn sie jeweils das Beschäftigungs- Um diesen Auftrag zu erfüllen, braucht ständig und verständlich wie Annemarie Fischer programm im Wald habe. «Dann muss ich mich es auch Grenzen der Selbstbestimmung. sagen, welche Kleider ihnen gefallen. «Dann macht warm anziehen. Manchmal auch Stiefel und Regen- Beispielsweise wenn es draussen schneit es Sinn, eine Vorauswahl zu treffen», erklärt Jasmin mantel. Dort arbeiten wir nämlich auch, wenn es und jemand eine kurze Hose Hosen Huber, Sozialpädagogin und Ressortverantwortli- nicht schönes Wetter ist.» CHRISTINE WEBER und Sandalen anziehen möchte. Ebenso che Agogik in der Wohngruppe Striterhof. Zum gehört es beispielsweise zu unserer Beispiel mehrere Pullis in verschiedenen Farben Aufgabe, die Klientinnen und Klienten zusammenstellen und den Bewohner oder die Be- zu unterstützen, wenn sie sich vor dem wohnerin auswählen lassen – verbal, mit Zeichen FÜNF TONNEN WÄSCHE PRO WOCHE Gang in halböffentliche oder öffentliche oder Mimik. Das gelte für alle Kleidungsstücke bis Die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern Bereiche gar nicht anziehen möchten. hin zu den Socken: Manche mögen sie mit Punkten SSBL sorgt auch für frisch gewaschene drauf, andere geringelt. «Selbstbestimmung fängt Kleider sowie Bett- und Frotteewäsche. Beachten Sie dazu auch den Artikel bei kleinen Dingen an. Gerade Kleidung ist ein Be- Dazu gehören ebenfalls 1100 Garnituren «Gratwanderung zwischen Fürsorge, reich, in dem die Leute – teils mit Unterstützung – Bettwäsche. Lesen Sie auf der Folgeseite Sicherheit und Selbstbestimmung» gut wählen und bestimmen können», sagt Jasmin das Interview mit Ursina Schürmann, auf Seite 6. Huber. Wichtig sei dabei, dass man nicht vom eige- Leiterin Hauswirtschaft. nen Stil und Geschmack ausgehe, sondern die 10 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 11
INTERVIEW MIT URSINA SCHÜRMANN Ursina Schürmann ist Leiterin Hauswirt- schaft und erklärt, wie die Bewohnerinnen und Bewohner bei der Auswahl von Mustern und Designs der Bettwäsche mitbestimmen. INTERVIEW VON CHRISTINE WEBER Frau Schürmann, wie viel Bettwäsche braucht es nun eingeführt. Zudem werden wir alle Garnituren in der SSBL? Es braucht Bettwäsche für 370 Liege-, in Doubleface – eine Seite gemustert, die andere Entspannungs- und Schlafmöglichkeiten. Um einen uni – herstellen lassen. Und damit noch mehr Indivi- regelmässigen Wechsel zu ermöglichen, benöti- dualität möglich ist, gibt es Kissen und Fixleintuch gen wir drei komplette Garnituren pro Bett – das in verschiedenen Unifarben. So kann man immer bedeutet also mehr als 1100 Bettgarnituren. wieder neu zusammenstellen. Selbstbestimmung Werden alle Gruppen beliefert oder schaffen eini- Wichtig ist nebst dem Design auch, dass das Mate- ge Bettwäsche individuell an? Es ist vorgesehen, rial pflegeleicht und robust ist – die Beanspruchung dass alle Bewohnerinnen und Bewohner damit aus- ist viel grösser als bei normalem Hausgebrauch. gestattet werden – ausser im Kinderhaus Weid- matt, dort sind die Bedürfnisse ganz anders. Damit Worauf muss geachtet werden? Die verwendeten beginnt mit Selbst- diese Textilien und auch die Kleider der Klienten/- innen richtig zugeordnet werden können, müssen wir sie mit Namen und Wohngruppe kennzeich- Textilien müssen chlor- und bleichecht sein. Wir ver- wenden im Waschprozess einen Anteil Chemie, da- durch werden Keime abgetötet. Allerdings ist nur wahrnehmung nen – das ist unumgänglich bei rund fünf Tonnen so viel Chemie drin, wie wirklich notwendig ist – wir Die Heilpädagogin Céline Zwyssig sorgt wie Wäsche, die wir nur schon hier in Rathausen pro wollen ja Sorge zur Umwelt tragen. Praktisch sind alle Fachpersonen im Kinderhaus Weidmatt Woche verarbeiten. an Duvets und Kissen auch Reissverschlüsse. Aller- dings müssen sie mangeltauglich sein, damit sie bei mit Empathie und Respekt dafür, dass sich Haben alle die gleiche Bettwäsche – oder wer den hohen Temperaturen nicht schmelzen. die Kinder mit einer (schweren) Beeinträchti- wählt Material und Muster aus? Natürlich gibt es gung wohlfühlen können. Das hat viel mit eine Auswahl: Bei einer Umfrage mit Bildern* und Selbstbestimmung zu tun. visuellen Beispielen haben die Bewohnenden mit- bestimmt, was ihnen gefällt. Wir haben für eine Umfrage mit Unterstützung aus dem Fachbereich Es knistert. Die kleine Alina* (Name geändert) Beeinträchtigung genau artikuliert, ist selbst für Begleiten und Betreuen total neun Muster ausge- horcht auf und dreht ihren Kopf. Sie liegt auf eine die Betreuerinnen nicht immer leicht zu erkennen. sucht. Die fünf meistgenannten Designs werden weiche Decke gebettet. Ihr Körper ist in Bewegung, «Immer wieder müssen wir interpretieren. Und eine aber das Knistern scheint ihn kurz innehalten zu Situation mehrmals wiederholen, bis eine Reaktion lassen. Jetzt nimmt das Mädchen mit den Augen klarer wird und eingeordnet werden kann.» Kontakt auf. Céline Zwyssig, die Heilpädagogin, sitzt bei ihr und raschelt nochmals mit der Knister- Ein Recht auf Selbstverwirklichung Bildumfragen helfen, folie. Etwas passiert. Was empfindet Alina? Céline Im Heilpädagogischen Kinderhaus Weidmatt wer- die Wünsche der Zwyssig kann es nicht sicher sagen, sie weiss nur: Sie ist mit dem Kind in Kontakt. Es reagiert. Es den ungefähr 30 Kinder über das Jahr in unter- schiedlicher Intensität betreut und gefördert. Es Bewohner/-innen scheint sich wohlzufühlen. Vertrauen baut sich auf. gibt Kinder, die 365 Tage in der Weidmatt in Wol- husen zuhause sind. Andere kommen regelmässig zu ergründen. Es sind manchmal winzige Schritte, die in der Be- für ein paar Tage oder einmal die Woche. In drei treuung von Kindern mit teils schweren mehr Wohngruppen, die maximal je sechs Kinder auf- fachen Beeinträchtigungen so etwas wie eine Ver- nehmen, finden die Kinder eine vertrauensvolle ständigung signalisieren. «Eine positive Beziehung Umgebung und zahlreiche Förderangebote, durch *Mit derartigen Umfragen (hier ist ein Auszug abgebildet) ist die Grundlage, dass ein Kind sich wohlfühlt. die ihre Entwicklung auch unter schwierigen Um- ermöglichen wir auch wichtige Lernerfahrungen: Dann getraut es sich auch, aktiv zu werden und ständen Schritt für Schritt unterstützt werden kann. Die Klientinnen und Klienten lernen, dass bei Mehrheits- zu zeigen, was es möchte», sagt Céline Zwyssig. entscheidungen manchmal nicht ihre persönliche Wahl berücksichtigt werden kann. Welche Bedürfnisse ein Kind mit einer schweren WEITER AUF SEITE 14 12 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 13
EIN BLICK IN DIE TECHNIKABTEILUNG DER FIRMA ACTIVE COMMUNICATION Selbstbestimmung «Jedes Kind hat ein Recht auf Unterstützung, wo Computern. Auch «Ursache-Wirkung-Spiele» brin- Hilfe notwendig ist. Aber genauso auch ein Recht gen Austausch in Gang. Durch einen Tastendruck auf Freiraum für Entscheidungen, Selbstverwirkli- können Kinder ein Ereignis oder eine Reaktion des chung und Selbstständigkeit», fasst Céline Zwyssig ein Grundprinzip ihrer Arbeit zusammen. Die Heil- Gegenübers auslösen und so mit der Zeit die Selbstwirksamkeit erfahren. Céline Zwyssig: «Sie dank künstlicher Intelligenz und Sozialpädagogin arbeitet seit fast neun Jahren merken mit diesen Geräten, dass sie etwas machen im Kinderhaus Weidmatt. Seit sieben Jahren ist sie und signalisieren können: Ich will etwas. Das ist Assistive Technologien tragen massgeblich zur Selbstbestimmung für die Einzelförderung der Kinder zuständig, im eine Grundlage für Selbstbestimmung.» von Menschen mit Beeinträchtigung bei. Je länger, je mehr. Im Zentrum Team mit Janine Jost. In ihrem Alltag spielt die stehen die individuellen Bedürfnisse dieses Menschen – es gilt heraus Selbstbestimmung eine grosse Rolle. Sie offenbart Bei allen Interaktionen mit den Kindern steht das zufinden, wie er oder sie ein Signal auslösen und damit seinen/ihren Facetten, die in der herkömmlichen Betriebsamkeit Wohlbefinden im Vordergrund. Auch Kinder mit Willen kundtun kann. Damit gewinnt dieser Mensch die Kontrolle über des Lebens oft vergessen gehen. schwersten und mehrfachen Einschränkungen sein Umfeld – die Lebensqualität steigt nachhaltig. erfahren eine liebevolle Aufmerksamkeit. Mit der In der Begleitung und Betreuung von Kindern mit Unterstützung von Kinaesthetics, Klangschalen, teils schwersten mehrfachen Beeinträchtigungen Vibrationskissen, Klangwiege oder auch einer Mas- ist es in erster Linie die Kommunikation, die am An- sage lernen sie, ihren Körper und die Umgebung Mit Hilfe assistiver Technologien lässt sich schon fang jeder Selbstbestimmung steht. «Wir unter- wahrzunehmen und auszudrücken, wie sie empfin- heute die allergrösste Mehrheit an motorischen stützen die Kinder mit verschiedenen Methoden, den. «Selbstbestimmung beginnt mit der Selbst- Einschränkungen so weit kompensieren, als dass damit sie ausdrücken können, was sie wollen und wahrnehmung», sagt Céline Zwyssig. ein Computer bedient werden kann. Auch mit kog- wie sie sich fühlen. Andererseits müssen auch die nitiven Einschränkungen ist dies je nach Situation Betreuungspersonen spüren und deuten können, Die Selbstbestimmung ist zentral. Die Kinder wäh- möglich. Mit Umfeldsteuerungssystemen können was ein Kind für Bedürfnisse äussert und ihm len selber aus, welche Kleider sie tragen wollen. Telefon, Licht, Türen, Fenster oder Unterhaltungs- gleichzeitig auch Möglichkeiten dazu bieten», sagt «Stärkere Kinder gehen selbstständig zum Kleider- elektronik bedient werden und Personenrufsysteme Céline Zwyssig. Erst wenn diese kommunikativen schrank und nehmen sich ein T-Shirt oder eine erhöhen die Sicherheit. Brücken gebaut sind, kann das selbstbestimmte Hose, die ihnen gefällt. Den Kindern mit schwere- Wahrnehmen und Handeln zum Ausdruck kommen. ren Einschränkungen zeigen wir zwei oder drei Umfeldsteuerungen können je nach Anforderung Kleidungsstücke und schauen, auf welches sie wie und Grad der Beeinträchtigung über grosse, leicht- Ein breites Ausdrucksrepertoire reagieren.» Das gleiche Prozedere erfolgt bei den gängige und übersichtliche Tasten, per Sprach Entsprechend den unterschiedlichen Einschrän- Spielsachen. «Wir probieren verschiedene Sachen befehl, mit einem Saug-Blas-Schalter oder direkt kungen, mit denen die Kinder leben, werden spezi- aus und beobachten, worauf ein Kind eingeht oder über den Rollstuhljoystick bedient werden. So nut- fisch angepasste und vor allem nonverbale Kom- nicht.» Auch beim Essen können sie mit ihren Ge- zen auch Menschen mit stark eingeschränkter Fein- munikationsformen eingesetzt. Mimik und Gestik bärden und Signalen zu verstehen geben, ob sie motorik diese Hilfsmittel problemlos. spielen eine grosse Rolle, aber auch Weinen, La- etwas gerne haben oder nicht. chen, bestimmte Laute oder das Wahrnehmen der Es gibt auch schon erste Systeme in der Testphase, Körperspannung. Weitere Verständigungsmög- Beziehung ist das Elementare die Benutzern/-innen helfen, eine Auswahl zu tref- lichkeiten erfolgen mit den PORTA-Gebärden, mit Aussenstehende staunen oft, mit welcher Hingabe fen. Der Betreuer/die Betreuerin fragt jemanden Piktogrammen, Fotos, iPad und teils speziellen und Sorgfalt die Fachpersonen im Kinderhaus ihre beispielsweise: «Willst du Cola oder Fanta?» Das Aufgaben wahrnehmen. Wo steht das Kind? Was Gerät versteht die Frage und zeigt automatisch die kann es? Was ist der nächste Schritt für seine Ent- Bilder von Cola und Fanta. Der beeinträchtigte wicklung und wie kann ich es dabei unterstützen Mensch muss somit nur noch das gewünschte Feld und begleiten? Das sind für Céline Zwyssig die Leit- anwählen – und es nicht mehr, wie bislang, mühsam linien in ihrem Arbeitsalltag. «Jeder Schritt zählt. in der Symbolsammlung suchen. Egal, wie gross er ist. Schon der kleinste Fortschritt MEHR TEILHABE UND SELBSTBESTIMMUNG bereitet Freude.» Blick in die Zukunft In fünf bis zehn Jahren wird künstliche Intelligenz Ein konkreter Einblick, wie assistive Technologien das Leben erleichtern Mit diesen Erfahrungen finde sie eine grosse Erfül- (KI) mehr und mehr zum Einsatz kommen und können. lung in ihrer Arbeit, sagt die Heilpädagogin. Der vieles erleichtern. KI wird immer stärker in die Blickwinkel verändere sich, andere Wichtigkeiten Systeme eingebunden und macht deren Nutzung youtu.be/7QhD37-8duE des Lebens rückten in den Vordergrund. «In unse- einfacher, weil das System schon vieles weiss. rer Gesellschaft wollen wir immer mehr, so dass wir Steht man vor einer Türe fragt es beispielsweise: manchmal zu vergessen scheinen, was wir wirklich «Soll ich die Türe öffnen?» Fällt jemand um, merkt indem sie automatisch Dingen ausweichen. Geräte brauchen. Die Beziehung ist wichtig, das Miteinan- das System das und fordert selbstständig Hilfe an. werden Alltägliches – wie beispielsweise die Reser- der. Es ist für mich das Elementare.» Im Kinderhaus Es wird künftig auch einfache Systeme geben, die vationen eines Coiffeurtermins – selbstständig er- Unterstützung Schritt für Schritt. Weidmatt wird das nicht nur postuliert, sondern Gebärdensprache in Lautsprache umsetzen und ledigen können. FIORE CAPONE (Geschäftsführer auch so gelebt. PIRMIN BOSSART umgekehrt. Rollstühle werden immer intelligenter, Active Communication) 14 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 15
«Kann mich Sie verstehen mich gut, wenn ich spreche. Zum Antworten benutzen Sie Hilfsmittel. Welche sind das? IHRE GARAGE besser und Ich verwende die Unterstützte Kommunikation (UK), die Piktogramme von dieser Kommunikationsform befinden sich auf meinem Sprachcomputer. Auf IN EMMEN. meiner Sprachtafel befinden sich mir bekannte Wörter. Auf meinem Tablet schneller schreibe ich mit Hilfe des Sprachcomputers, da ich selbst nicht gut schreiben kann. DIE ZUSAMMENARBEIT MIT DER SSBL ERFÜLLT UNS verständigen» Was brauchen Sie am liebsten: Das iPad, den Sprachcomputer oder die Sprachtafel? MIT STOLZ UND FREUDE. Am liebsten die Sprachtafel, da ich mit dieser Form von UK begonnen Unterstützte Kommunikation, Pikto habe zu kommunizieren. Mit dieser bin ich am geübtesten und kann gramme, Gebärden und Sprachcomputer auch mehr Zeit und Geduld einsparen, da ich mich schneller verständigen kann, und die anderen mich schneller verstehen. sind in der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL alltäglich. Der Einsatz der Sie haben mir bei einem Besuch gezeigt, wie Ihr Sprachcomputer funktioniert. Das optimalen Hilfsmittel hängt von den vor- ist gar nicht so einfach! Wer hat Ihnen geholfen, den Sprachcomputer einzurichten? handenen Ressourcen der Klienten/-innen ab. Das Erreichen einer grösstmöglichen Die Heilpädagogische Schule Rodtegg half mir, meine Hilfsmittel einzurichten und auf mich abzustimmen. und vielfältigen Kommunikationskompe- tenz ist dabei höchstes Ziel. Verstehen die Betreuer/-innen, was Sie mit dem Sprachcomputer oder der Sprachtafel sagen? Grünmattstrasse 2 | 6032 Emmen Ja, aber manchmal brauche ich viel Zeit und Geduld mit den Betreuer/-innen. Wenn ich Der 38-jährige Stefan Duner hat keine aktive Laut- nicht verstanden werde, warte ich auf jemanden, der mich besser kennt und versteht. Tel. 041 260 80 38 | info@unterdorf-garage-ag.ch www.unterdorf-garage-ag.ch sprache und nutzt darum technische/multimediale Hilfsmittel. Dieses Interview wurde daher nicht Gibt es auf Ihrer Gruppe auch andere Bewohner/-innen, die mündlich, sondern per E-Mail-Chat geführt. mit dem Sprachcomputer oder einer Sprachtafel sprechen? CHRISTINE WEBER Ja, eine andere Person, die nicht sprechen kann. Mit dem iPad können Sie E-Mails schreiben. Ist das schwierig? Unsere Dienstleistungen: Stefan Duner, ich bin Journalistin und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Ist das gut für Sie? Früher war es einfacher, nun merke ich mein «Alter», und es funktioniert nicht mehr so gut, wie ich es möchte. Solange es noch geht, möchte ich es weiterhin machen. Ja, gerne. Von welchen Leuten bekommen Sie Nachrichten? Für dieses Interview möchten wir gerne Hauptsächlich von meiner Familie. Ich hatte aber auch Besuchs- und Hilfsmittel ein Foto von Ihnen. Finden Sie das gut? Begleitdienst mit dem Fachbereich der SSBL per E-Mail Kontakt. Ja, ich mache eines und schicke es Ihnen. Schreiben Sie mir doch, was Ihnen auf der Wohngruppe Mythen 3 besonders gut gefällt. Mir gefällt, dass ich einen Schlüssel habe, mit dem ich die Türen selbst öffnen kann. Im Mythen 3 hat es auch mehr gleichartige Bewohner, mit Entlastungsdienste Kinderbetreuung zu Hause denen ich mich mehr identifizieren kann. Mein Zimmer gefällt mir sehr gut. Beim Tagesplan sehen Sie auf Bildern, was Sie für ein Programm haben. Können Sie mir zwei Bilder schicken und sagen, was das bedeutet? Ich habe Ihnen im Anhang ein Bild von meinem Plan Fahrdienste Rotkreuz-Notruf geschickt. Ich denke, die Bilder sind selbsterklärend. Super, dass Sie meine Fragen www.srk-luzern.ch 041 418 70 10 IM CHAT MIT beantwortet haben. Vielen Dank! Gern geschehen, bei Fragen können Sie mir gerne STEFAN DUNER noch eine E-Mail schreiben. Gruss von Stefan Duner 16 FOKUS SELBSTBESTIMMUNG FOKUS SELBSTBESTIMMUNG 17
INTERVIEW | Im Gespräch mit Regierungsrat Guido Graf, Vorsteher des Gesundheits- und Sozialdepartements des Kantons Luzern Ein Kompass für das Das Kantonsparlament hat am 21. Oktober 2019 zu bedarfsgerechter Lösungen zum Wohle von Men- null Stimmen das teilrevidierte Gesetz über soziale schen mit Behinderungen in der Schweiz beitragen. Einrichtungen gutgeheissen. In der Botschaft da- Handeln aller Beteiligten zu wird der Grundsatz «ambulant und stationär» stipuliert. Ist der Kanton Luzern in der Vorreiter- Die Behindertenrechtskonvention der UNO (UN- BRK) stipuliert auch Wahlfreiheit für Menschen rolle für zeitgerechte Lösungen und Angebote für mit Behinderungen – das heisst dass ihnen diverse Das Verständnis von Behinderung verändert sich von einer Menschen mit Behinderungen? Angebote zur Abdeckung ihrer Bedürfnisse offen- defizit- zu einer ressourcenorientierten Betrachtung. Es freut mich sehr, dass das Parlament die Vorlage stehen müssten. Wie schafft der Kanton Luzern Ist der Kanton Luzern in der Vorreiterrolle für zeitgerechte einstimmig verabschiedet hat. In diesem Ergebnis die Balance zwischen Angebotsvielfalt und Opti- Lösungen und Angebote für Menschen mit Behinderung? zeigt sich der breit getragene Konsens zum Para- mierung der Sozialkosten? digmenwechsel. Das Verständnis von Behinderung Bedarfsgerechte Angebote und Leistungen müs- Regierungsrat Guido Graf nimmt Stellung. verändert sich von einer defizit- zu einer ressour- sen nicht per se zu Mehrkosten führen. Wahlfreiheit cenorientierten Betrachtung. Das bedeutet auch, ist vielmehr im Rahmen der individuellen Bedürf- dass der Mensch mit seinen Fähigkeiten und nisse und Fähigkeiten zu verstehen. Die staatlich Bedürfnissen im Zentrum steht. finanzierten Leistungen werden sich auch zukünf- tig nach dem Bedarf der einzelnen Menschen orien- INTERVIEW VON ELISABETH GEBISTORF KÄCH tieren. Heute weiss man, dass der Bedarf an Unter- Herr Regierungsrat Graf, Mitte 2018 haben Sie die stützung für ein selbstbestimmtes Leben noch nicht Informationsbroschüre «Leben mit Behinderun- gedeckt ist. Es ist im Interesse von uns allen, dass gen – Leitbild für das Zusammenleben im Kanton jede/r Einzelne im Rahmen seiner, ihrer Fähigkeiten Luzern» publiziert. Was waren die Rückmeldungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beiträgt und und welche Massnahmen wurden in der Zwischen Verantwortung übernimmt. Wenn es uns gelingt, zeit bereits erfolgreich gestartet beziehungsweise die Angebote besser auf die Ressourcen der Men- abgeschlossen? Das Leitbild entstand in engem Dialog mit sozialen «Wahlfreiheit ist schen mit Behinderungen abzustimmen, werden wir auch eine wirtschaftlich optimale Lösung fin- Einrichtungen und Behindertenorganisationen und ist breit abgestützt. Die Rückmeldungen sind posi- im Rahmen der den. Alle vier Jahre zeigt der Regierungsrat in ei- nem Planungsbericht die Entwicklung des Bedarfs tiv. Das Leitbild hat die Funktion, als Kompass für individuellen und zieht Schlüsse zur Angebotsentwicklung. das Handeln aller Beteiligten zu dienen. Die Ver- netzung und Koordination ist bei Querschnitts Bedürfnisse und Wie sehen Sie die Weiterentwicklung der Angebo- themen ein Erfolgsfaktor, damit bedarfsgerechte und zielgerichtete Massnahmen ergriffen werden Fähigkeiten zu te für Menschen mit Beeinträchtigung im Kanton Luzern? Mehr Staat oder mehr Markt? können. Seit der Veröffentlichung des Leitbildes «Leben mit Behinderungen» arbeiten die Stellen verstehen.» Zwei Entwicklungen prägen die zukünftige Ange- botsentwicklung: Einerseits steigt die Nachfrage innerhalb und ausserhalb der Verwaltung intensi- nach intensiver Betreuung und andererseits nach ver zusammen. Auf der Website der Dienststelle Angeboten, welche selbstbestimmte Lebensformen Soziales und Gesellschaft finden Sie gesammelt unterstützen. Stationäre Wohn- und Tagesstruktur- Best-Practice-Beispiele, die das vielseitige Enga- angebote für Menschen mit hohem Betreuungs gement für und mit Menschen mit Behinderungen bedarf zählen somit ebenso zur Weiterentwicklung aufzeigen. Ein wichtiger Meilenstein zur Förderung wie die ambulanten Fach- und Unterstützungs der Selbstbestimmung ist die Revision des Geset- leistungen. Die Förderung oder der Erhalt der zes über soziale Einrichtungen. Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen erfordern eine Balance zwischen staatlicher Regu- lierung und unternehmerischem Handeln. Der Staat Gesund heits- und Der Grundsatz «ambulant und stationär» trägt dem hat die Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Sozialdepa Leben m personenzentrierten Ansatz Rechnung. Bereits ei- bedarfsgerechte, wirkungsvolle und finanzierbare rtement it – Leitbild Behinderungen für das Zusamm enleben nige Kantone richten ihre Behindertenpolitik an Leistungen erbracht werden. Die sozialen Einrich- Luzern im Kanto n diesem Grundsatz aus. tungen sind ebenso gefordert, die gesellschaftli- LEITBILD «LEBEN MIT BEHINDERUNGEN» Mit der gesetzlichen Verankerung der Subjekt chen und wirtschaftlichen Veränderungen zu er- finanzierung ambulant erbrachter Leistungen in kennen und auf die höhere Lebenserwartung oder Hier kann das Leitbild als PDF heruntergeladen den Bereichen Wohnen und Arbeit gehört der die zunehmende Erwerbstätigkeit von privaten oder als Broschüre bestellt werden. Auch ein Video in Gebärdensprache steht zur Verfügung. Kanton Luzern zu den Vorreitern. Der Kanton Bezugs personen von Menschen mit Behinderun- disg.lu.ch/themen/Menschen_mit_Behinderungen/ Luzern darf einerseits von den Erkenntnissen in gen zu reagieren. Es handelt sich um einen ge- Gleichstellung/Leitbild anderen Kantonen profitieren und andererseits meinsamen Auftrag von öffentlicher Hand und mit eigenen Erfahrungen zur Weiterentwicklung Leistungserbringer. 1 Soziale Dien s und Ges ststelle ellschaft 18 ANSICHTEN ANSICHTEN 19
«Es ist immer sofort sehr intensiv und emotional.» verbringen, bestimmten sie selber. Voraussetzung je nach Situation intensiv.» Dazu gehöre etwa, die dafür sind zwei Sachen: Die Vertretung muss eigenen Gefühle zu erforschen und zu benennen: grundsätzlich ihr Einverständnis dazu geben und Bin ich wütend? Traurig? Eifersüchtig? Und wie Himmelhoch die Verhütung muss geklärt sein. «Andernfalls könnte ich kein Auge mehr zu tun», sagt Myriam gehe ich damit um? Zudem wird das Wissen rund um Körperlichkeit und Sexualität mit anschaulichen jauchzend, zu Harries, die für das Thema eine grosse Sensibilität und viel fachliches Know-how hat. Noch gibt es nämlich eher wenige Erfahrungen mit Paarbezie- Hilfsmitteln vermittelt (siehe Kasten). Rasantes Tempo in der Liebe Tode betrübt hungen auf den Gruppen, Harries hat viele Ideen und Inputs in Eigenregie, mit ihrem Team und und Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung würden oft ein rasantes Tempo und einen grossen durch fachliche Unterstützung erarbeitet. «Wir Enthusiasmus an den Tag legen, das sei auch rund Auf der Wohngruppe Titlis 3 der haben einen Bildungsauftrag rund um die an- um die Liebe so – allerdings ohne sich immer der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern spruchsvollen Themen Beziehung, Sexualität und Konsequenzen bewusst zu sein, erzählt die Grup- SSBL leben neun Bewohnerinnen und Körper. Das nehmen wir sehr ernst und daran ar- penleiterin. Bewohner. Speziell ist, dass hier gleich beiten wir mit den Bewohnerinnen und Bewohnern WEITER AUF SEITE 22 drei Liebespaare daheim sind. DAS RECHT AUF BEZIEHUNG UND SEXUALITÄT nebst den interessierten Bewohnerinnen und Be- Turbulent sei es manchmal, die Dynamik grösser Dass Liebespaare in der SSBL unter einem Dach Jede und jeder soll seine Wünsche und Bedürfnisse wohnern auch von Mitarbeitenden zur internen als auf anderen Gruppen. «Es fliegen auch mal die zusammenleben können, ist nicht neu und war aus- im Bereich Liebe selbstbestimmt leben dürfen. In Schulung und von Gruppierungen, die sich vertieft Fetzen, im positiven wie im negativen Sinn», sagt drücklicher Wunsch und Bedürfnis der Betroffe- der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL mit einem Thema rund um den Körper auseinan- Myriam Harries, Gruppenleiterin Titlis 3. «Die Be- nen. Nach einer sorgfältigen Konzeptphase woh- gibt man den Themen Körper, Liebe, Sexualität da- dersetzen wollen. wohnerinnen und Bewohner äussern Gefühle sehr nen nun seit 2017 auch drei Paare in der rum wortwörtlich Raum. Den Menschen mit einer direkt, es ist immer sofort sehr intensiv und emo- Wohngruppe Titlis 3. Und es funktioniere gut, sagt Behinderung stehen zwei spezielle Zimmer zur Ver- Das Erlebniszimmer bietet Einzelpersonen oder tional. Oder anders gesagt: himmelhoch jauchzend, Harries und betont: «Wichtig ist eine enge agogi- fügung, die sie benutzen können: das Wissenszim- Paaren eine Rückzugsmöglichkeit: Das gemütliche zu Tode betrübt.» sche Betreuung der Liebenden, damit es für alle mer und das Erlebniszimmer. und zugleich praktisch ausgestattete Zimmer kann Betroffenen stimmt.» Gemeint sind damit nicht nur für intime Begegnungen gebucht werden. Genutzt Kein Wunder, hier leben die Leute 365 Tage im Jahr die Verliebten selbst, sondern auch die ande- Im Wissenszimmer dreht sich alles darum, was wird es beispielsweise von Paaren, die auf unter- zusammen, man ist sich sehr nahe und bekommt ren Gruppenmitglieder. Öffentliches Knutschen und wie der Körper und die Gefühle funktionieren – schiedlichen Gruppen leben, oder von Männern alles mit: Der Partner muss beispielsweise zum nervt zum Beispiel. Darum haben alle gemeinsam insbesondere, wenn es um Zärtlichkeiten, Berüh- und Frauen, die sich im Erlebniszimmer mit einer Arzt, das kann Angst auslösen. Die Freundin flirtet Regeln ausgearbeitet, an die man sich halten muss: rungen und Sex geht. Vermittelt und erfahrbar Berührerin oder einem Berührer treffen. Das Erleb- beim Essen mit jemand anderem, das kann eifer- Händchen halten im Gemeinschaftsraum ist ok, ein gemacht, wird dieses Wissen mit anschaulichen niszimmer kann aber auch von Einzelpersonen be- süchtig machen. Darum sei ein eingespieltes Team Küsschen geht auch noch – aber alles andere Hilfsmitteln, die verschiedene Sinne ansprechen. ansprucht werden, die sich einfach mal in ungestör- wichtig, sagt Harries. «Wir wissen, wo die Brenn- punkto Intimität spielt sich im Zimmer ab. Damit Dazu gehören Fototafeln und anatomische Pup- ter Atmosphäre einen Film anschauen wollen. punkte sind, und können viele Gefühlsschwankun- die Rückzugsmöglichkeit dort garantiert ist, kann pen genauso wie plastische Modelle einer Brust gen rechtzeitig auffangen oder in andere Bahnen eine «Stopp-Tafel» an der Tür angebracht werden. oder eines Penis. Genutzt wird das Wissenszimmer lenken.» Ob und wann die Paare die Nacht gemeinsam 20 EINSICHTEN EINSICHTEN 21
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