Berlin 2010: Angekommen und unterwegs, 20 Jahre Einheit und Freiheit - Rede von Joachim Gauck 2. Oktober 2010 im Abgeordnetenhaus Berlin
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Rede von Joachim Gauck 2. Oktober 2010 im Abgeordnetenhaus Berlin Berlin 2010: Angekommen und unterwegs, 20 Jahre Einheit und Freiheit Es gilt das gesprochene Wort!!
Anrede Die zwanzig Jahre sind es nicht, die in uns besondere Gefühle hervorrufen könnten. Wir sind ja alle viel älter, haben höhere Geburtstage gefeiert. Auch diese Stadt hat oft ihr beträchtliches Alter gefeiert – eine 20 als Jubiläumszahl – was ist das schon? Im Leben eines Menschen ist das zwanzigste Lebensjahr bei den allermeisten immer noch Anfang, manche haben zwar schon das erste Geld verdient und die erste Liebe hinter sich. Viele haben alles noch vor sich – mehr Zukunftswünsche als gestaltetes Leben prägen die zwanzigjährigen. Alle behaupten sie mit guten Grund, sie seinen erwachsen. Und gleichzeitig fürchten sie sich davor, zu werden wie die Eltern, von Arbeit aufgefressen zu werden und tägliche Verantwortung zu übernehmen. Einigen erscheint in diesem Alter die Zukunft wie eine dunkle Drohung oder zumindest als endlose Unsicherheit. Anderen, den meisten, erscheint sie als Versprechen: so vieles wartet darauf besucht oder gemeistert und gestaltet zu werden – Spannung, Erwartung. Wir hier in Berlin haben immer von allem etwas. Und so verbinden sie vielen unterschiedlichen Töne sich zu einem Klangteppich, aus dem nur zu besonderen Zeiten eine deutlich dominierende Melodie zu vernehmen ist. Tatsächlich war das vor einem Jahr so, als das Gedenken an 20 Jahre Mauerfall und friedliche Revolution die Menschen hier zum Innehalten und zur Freude brachten. Wir haben mit all unseren Gästen aus der weiten Welt und mit vielen Jungen, die erst nach 1989 geboren waren, erfüllte Erinnerungstage erlebt. Die Menschen, so spürten wir es deutlich, wollten noch einmal und untereinander diese reflexhafte Bezogenheit aufeinander erleben, das alle verwandelnde Wunder der umfassenden Freude. Einst hatte ein bekannter Berliner seine Stadt noch aufgefordert „Berlin – nun freue dich“ – aber die waren ja schon alle in der hellsten und schönsten Freude, die die Stadt je erlebt hatte. Und nun 2009 war ein Nachhall dieser Freude unter uns, der wie ein Auftanken in Zeiten von Krise und Unsicherheit wirkte.
Vielleicht spürten wir ja, wer sich nicht freuen kann, kann auch nicht dankbar sein. Und wer nicht dankbar sein kann, hat auch etwas verloren, was er braucht, um ein Grundvertrauen zu entwickeln: zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen, dem „Volk“, das man so leicht unter‐ wie überschätzen kann. Der Blick auf die großen, gutenTage der deutschen Geschichte ist nicht deshalb so wichtig, weil er die dunklen und bösen Tage und Taten löschen könnte. Er ist vielmehr Nahrung für das Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis Einzelner wie der gesamten Bevölkerung. Der Blick auf 1989 bringt uns an unserem Nationalfeiertag in so gänzlich anderer Weise zu uns selbst, wie es Kaiser‐ und Führergeburtstage vergangener Epochen niemals konnten. Denn diese waren eine Einladung zu Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung. Unser Feiertag gründet aber darin, dass Menschen zu ihrem Menschenmaß zurückfanden. Erniedrigte und an Ohnmacht gewöhnte entdeckten für sich Maß und Form der Bürgerexistenz. Der so lange vermisste Citoyen war da – erschienen in Massen am 4. November in Berlin, wie am 9. Oktober in Leipzig. Sein „Wir sind das Volk“ verwandelt seine eingeübte Angst in Ermächtigung und Taten der Befreiung folgen. Jetzt zieht die Angst der Vielen um in die Gemüter und Gebäude der Herrscher und ihrer Gefolgsleute. Können Deutsche wirklich Revolution? Staunend haben wir diese Frage bejaht, haben uns zumindest zum Teil verabschiedet von jenem lärmenden Narrativ, wir seien eben nur eine Nation des Gehorsams, würden zu Unterwerfung und Gefolgschaft neigen, der Freiheit nicht genug Liebe und den Freiheitskämpfern nie genug Unterstützung geben. Und trotz all dieser Zuschreibungen , die sich in den Jahren der kommunistischen Unterdrückung Jahr für Jahr erneut als zutreffend erweisen haben, hat die Welt gesehen, was Berliner, Sachsen, Brandenburger vermochten, als sie ihrer Angst den Abschied gegeben hatten und Bürger wurden. Mit ihrem „Wir sind das Volk“ hatten sie nicht nur den stärksten und schönsten Satz der deutschen Politik formuliert, sie hatten mit der Wiederentdeckung der eigenen Kräfte die Freiheit zurückgehlot in den so lange eingemauerten Teil im Osten Europas. Der Mauerfall war danach die logische Folge. Wer Herren
stürzen kann, vor dem stürzen Mauern ein – so erlebten wir es staunend, besonders augenfällig hier in Berlin. Und mit uns erlebten es die Menschen aus ganz Deutschland und der ganzen Welt. Berlin war doch über Jahrzehnte ein Denkmal der Willkür. Dass unbewaffnete Menschen dies beendeten und die Schandtat der Mauer obsolet machten, wollen wir den Menschen von 1989 nie vergessen – nie und nimmer! Nie vergessen wollen wir auch unseren polnischen Nachbarn ihre Freiheitsliebe. Dort hatten Intellektuelle und Arbeiter zusammengefunden und trotz der Niederlage von 1956 früher wieder Mut gefasst als wir in Ostdeutschland nach der Niederlage von 1953. Schon Jahre vor dem Ende des Staatssozialismus haben uns polnische Oppositionelle erklärt, dass wenn einmal die Demokratie käme, selbstverständlich die deutsche Einheit folgen würde. Deutsche in Ost und West pflegten in solchen Zeiten solch einen Freiheitsoptimismus als Wahnvorstellung abzutun. Wir waren noch in der Angst, sie hatte uns die Augen wie die Erwartungen kleiner gemacht. Wie schön für Europa, dass nicht alle Menschen gleich ängstlich waren. Und wie schön für Berlin und Deutschland, dass wir eben dies auch hier bei uns erlebt haben! Sie spüren, wie mich dieser Rückblick, dieser Feiertag zu einer Freiheitsnostalgie hinreißt. Anfang Oktober ist immer Erntedank in meiner Kirche. Und der Festtag erzeugt regelmäßig auch das Gefühl, dass ich einen politischen Erntedanktag erlebe. Ehrlich gesagt geht es mir schon des Öfteren so in den wiederkehrenden Herbsten seit 1989. Auch in diesem Jahr! Natürlich muss jetzt ein „obwohl“ folgen. Können wir feiern, uns freuen, wenn uns die aktuelle Politik ärgert, verdrießlich macht, die einen lähmt und die anderen zu zornigem Protest anstachelt? Nicht dass ich behaupten wollte, in Zeiten von Verunsicherung, Zorn und Protest gebe es keinen Grund zu Freude und Dank. Aber wir müssen es ertragen, dass wir uns in einem posteuphorischen Zeitraum befinden. Wenn wir heute von Freude und Glück sprechen, dann soll dies nicht bedeuten, dass wir uns eine Gartenlaube aus Früchten der Freiheit bauen, ein Refugium seliger Zufriedenheit in das wir flüchten vor all den Problemen der Zeit.
Nein, unsere Bürgerfreude und unser Bürgerstolz suchen an unserem Feiertag das Schloss auf dem Berg über der Ebene auf. Wir betrachten dort, was wir nach all unseren Niederlagen und Nöten, was wir trotz Schande, Schuld und Absturz gebaut haben. Wir ziehen wie unsere freiheitsliebenden Vorfahren aufs Hambacher Schloss, feiern dort, dass wir zusammen Bürger sind. Und nehmen beim Aufstieg wie beim Abstieg wahr, wie angefüllt die Ebene ist mit Problemen und Menschen, die unglücklich sind. Wir übersehen an diesem Tag nicht die Problemfülle – nur wir schauen an den besonderen Tagen unserer Freiheitsgeschichte nach den Problemen die Zeiten und Taten der Vergangenheit an, die uns glauben machen, wir könnten immer wieder als Ermächtigte auftreten, könnten zukunftsmächtig werden, wo andere in Untergangsszenarien schwelgen. Wir sehen die Boten ganz unterschiedlicher Ängste unter uns. Und wir fürchten uns auch oft, weil die Angst in der Bevölkerung riesige Wellen auslösen kann, manche tatsächlich bedrohlich wie ein Tsunami. Aber unser Innehalten an dem historischen Aussichtspunkt könnte uns die so verwegene wie realistische Hoffnung der 89er neu schenken: wir seien in der Lage, mit Mut, Phantasie und einer demokratischen Bezogenheit aufeinander auch den Problemen der heutigen Zeit entgegenzutreten. Nicht angstgesteuert, denn Angst macht kleine Augen, kleinen Mut und kleine Herzen, sondern einfach, weil wir vielleicht wieder sein könnten, was wir schon einmal waren, als wir nicht fürchteten, sondern standhielten. Wir sagen uns einfach wieder, dass wir die Freiheiten der Selbstverwirklichung begleitet sehen wollen von der Freiheit der Erwachsenen, der Verantwortung. Wenn das geschieht, legt sich die so weit verbreitet Furcht vor der Freiheit. Die existiert nämlich auch, obwohl es doch eigentlich paradox ist, dass wir uns vor dem fürchten, was wir so lange und so intensiv ersehnt haben. Aber wenn sich auch alle freuen konnten, alles zu dürfen, als ihnen Freiheit Befreiung war, so wagten es später viele nicht, die Freiheit zu leben, als sie sie als Freiheit für etwas, zu etwas erlebten – eben als Verantwortung. Dabei macht uns doch nichts so menschlich wie gelebte Verantwortung. Und nichts lässt uns so verkümmern, wie ein Leben in Verantwortungslosigkeit.
Dieses Wissen ist uns eigentlich zugänglich. Historische und politische Erfahrungen bekräftigen es genauso wie die privaten Lebensgeschichten mit ihren Erfahrungen von Glück, Gelingen und Scheitern. Angesichts der Debatten um die Abgehängten unserer Gesellschaft wäre zum Beispiel eine Politik, die Hilfen zur Selbsthilfe, zum Wiedererlangen von Eigenverantwortung betont, noch stärker auszubauen. Miteinander müssen Gebende wie Empfänger begreifen, dass durch die Bereitstellung von Stützen allein zwar Not gemindert, aber das vorhandene Potential zu Selbsthilfe und Eigenverantwortung auch minimiert werden kann. Es sind doch nicht nur bestimmte Migrantengruppen, die von der Solidarität der Gemeinschaft leben, ohne selbst aktiv zu werden für die Gemeinschaft! Wir brauchen insgesamt mehr Ressourcen bei der Wiedereingliederung in Arbeit, bei der Ausbildung von Ungelernten und bei der Reaktivierung von Langzeitarbeitslosen. Und wir müssen uns nicht fürchten, auch in den Problemzonen der Abgehängten Forderungen an diese zu stellen. Es schwächt die Schwachen, wenn niemand mehr irgendetwas von ihnen erwartet. Auch tun wir generell Menschen nichts Gutes, wenn wir die in ihnen liegenden Potentiale nicht abrufen. Es ist unmenschlich, Schwachen etwas abzuverlangen, was sie total überfordert. Es ist unbarmherzig, ihnen die erforderlichen Hilfen zu verweigern. Aber es ist gedankenlos und zynisch, so zu tun, als könnten alle die Menschen, nichts tun, die im Moment nichts haben. Nichts zu fordern kann sehr menschenfeindlich sein, denn Menschen erleben Glück und Erfüllung, wenn sie sich fordern und ihre Potentiale einbringen. Wir hatten bei der Betrachtung der friedlichen Revolution die Ermächtigung der einst Ohnmächtigen gepriesen. Diese Ermächtigung zur Bürgerexistenz mussten aber nicht nur die Osteuropäer lernen, als die Diktatur überwunden war. Ohnmacht gibt es auch ohne Diktatur. Sie ist nicht ausgestorben in den freien Gesellschaften. In der Regel schafft diese nicht der Stat. Vielmehr übersieht er gelegentlich Notlagen, Bildungsdefizite und Kompetenzmängel besonders in
Randgruppen beziehungsweise unter Immigranten oder Flüchtlingen. Zudem gibt es Tendenzen der selbstgewählten Ohnmacht in Teilen der Bevölkerung. Wenn eingewanderte Familien noch nach Jahren die Landessprache nichtsprechen, werden alle Integrationsbemühungen scheitern. Bei der Versorgung aber wollen selbst jene integriert sein, die unsere Kultur ablehnen, sie sogar bekämpfen und denunzieren. Hier darf und muss der Staat Forderungen stellen, Respektierung unserer Ordnungen und unseres Rechtes erwarten und wo nötig auch durchsetzen. Der Staat, den sich die Demokratiebewegung Europas geschaffen hat, darf sich nicht selbst zur Disposition stellen indem er die eigenen Normen nicht ernst nimmt. Menschen wie Kirsten Heisig aus Berlin haben das seit langem betont. Staatliches Handeln könnte einen Teil der Integrationsdefizite abbauen, wenn es gelänge möglichst früh Kinder, die in ihren Familien ohne die deutsche Sprache aufwachsen, möglichst früh und möglichst kostengünstig in Krippen oder in Kindergärten zu schicken. Die Bürgergesellschaft ist nicht dann am interessantesten, wenn Angst die Debattentemperatur entfacht, sondern wenn wache Bürgerinnen und Bürger selbst aktiv mithelfen, Menschen einzuladen. Christian Pfeiffer hat jüngst auf einen Bürgerverein hingewiesen, der in Hannover 1000 Menschen als kostenlose Nachhilfelehrer einsetzt. Es gibt viele ähnliche Bemühungen überall im Land. Wenn von Seiten der Bürger stadtteilnahe Integrationsbemühungen existieren, zeigt das Folgen bei den nächsten Statistiken über Schulerfolge und Abschlüsse. Und wenn Bürgermeister Buschkowsky über Problemstadtteile spricht, fällt auf, dass er zwar Defizite benennt, die viele verschweigen. Aber er repräsentiert auch ein lernfähiges und handlungswilliges System. In Berlin, wo so viel unterschiedliche Sprachen, Kulturen, Haltungen, und Lebensstile nebeneinander existieren, zeigt sich besonders deutlich, dass ein Verschweigen der Integrationsdefizite das Problem nicht beseitigt, sondern verschärft. Natürlich wird sich wenig bewegen, wenn in Parallelgesellschaften Familien die Integration ihrer Kinder ausdrücklich ablehnen, die Schulpflicht negieren und Fanatikern mehr Einfluss auf ihre Jugendlichen geben als Deutschlehrern. Aber wir wissen alle, dass die Zahl solcher Familien begrenzt ist und wir mit
einladenden Sport‐ und Bürgervereinen, mit freiwilligen Feuerwehren oder Stadtteilinitiativen das unsere für ein besseres Miteinander beitragen können. Wir sehen in Berlin, was in weiten Teilen Europas zu gestalten ist: ein friedliches Miteinander der verschiedenen Kulturen. Dabei sind die ethnischen Unterschiede ja nicht alles. Religiöse Unterschiede und das Nebeneinander sehr verschiedener politischer Traditionen kommen ja noch hinzu. Wer in Diktaturen oder Despotien lebte, bringt oft ein Grundmisstrauen gegen den Staat, auch gegen die Rechtspflege ein, betrachtet gar Distanz zu ihnen als Tugend. Diese Distanz abzubauen fällt übrigens nicht nur Immigranten aus nichtdemokratischen Ländern schwer. Wir hatten ja auch jahrzehntelang ein nichtdemokratisches Berlin. Immer, wenn wir hier Wahlen haben, kann man die Grenzen ja noch deutlich am Wahlverhalten erkennen. Und wir merken hier in Berlin ja überdeutlich, was in Deutschland das Zusammenwachsen von Ost und West erschwert: die Langsamkeit des Mentalitätswandels, ein oft zähes Festhalten an jenen Haltungen und Einstellungen, die im Kommunismus nützlich waren, in der freien Gesellschaft aber als Fremdheit gegenüber der Zivilgesellschaft erscheinen müssen. So gibt es neben ethnischer und kultureller Fremdheit auch die politische, deutsche Fremde derer, die die Demokratie nicht glauben, sie denunzieren und diffamieren. Auch ohne den Blick auf extremistische Randgruppen, von denen Berlin auch etwas zu bieten hat, ist die tatsächliche Differenz der Milieus beträchtlich. Aber Differenz ist nicht Bedrohung. Die Gesellschaft der USA etwa kann uns lehren, dass sehr viel Immigration und Differenz keinesfalls zum Scheitern des Staates führen muss. Wenn über den Unterschieden jenes verbindliche Band, das die Bürger eint, existiert, dann vermindert sich die Gefahr, die von der Differenz ausgeht. Und unser aller Aufgabe ist es, dies zu schaffen und beständig zu erneuern. Im Moment fragen sich viele besorgt, ob dieser Grundkonsens in unserer Gesellschaft wirklich für alle verbindlich ist. Hier in Berlin, wo neben demokratischen Parteien und Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Vereinen alte Kommunisten und junge Fundamentalisten auf jene stoßen, die überhaupt keine Neigung mehr entwickeln, Bürger zu sein
und Lebenserfüllung allein in hedonistischem Konsum sehen, hier muss vielleicht zuerst in Deutschland jener Grundkonsens formuliert werden, der in Amerika immer noch ein verbindendes Band zwischen auseinanderdriftenden Bevölkerungsteilen bildet. Wir haben doch schon gelebt, was uns die Demokratie ans Herz wachsen ließ. Wir wissen doch, dass das Land nicht nur das ist, was kommunikationsscheue und ängstliche Politiker immer wieder mal abbilden, wenn sie aus Furcht vor dem Wähler die Information über das, was sie in der Sache entschieden haben, portionieren, aufhübschen oder gar verschleiern. Natürlich wirkt die Politik mit am Politikverdruss. Aber auf der anderen Seite ist eben nicht jeder Bürger bereit, sich wirklich zu informieren, die Vielfalt und Komplexität von Politik in Zeiten von Krisen und Globalisierung zu begreifen und neigt zur Frustration, wenn ihm nicht einfache Wahrheiten angeboten werden. So wird die Konsensbildung der Aufgeklärten natürlich doppelt erschwert. Aber es hat sich gezeigt, dass trotz all der Defizite, die wir mit Recht zu benennen haben, Festtage der Demokratie gefeiert werden dürfen. ‐ Regelmäßig wählen wir in freien Wahlen unsere Regierungen – in einem Teil Berlin erst seit zwanzig Jahren, aber auf Dauer gesichert. ‐ Unsere Grundrechte stehen uns unvermindert zu, wir müssen nicht privilegierten Schichten angehören, um sie zu leben ‐ Unser Grundgesetz ist sogar doppelt beglaubigt – zwar konnten wir bei der Wiedervereinigung nicht darüber abstimmen, aber es waren doch die in ihm festgeschriebenen Menschenrechte, die wir in den östlichen Demokratiebewegungen anstrebten. ‐ Unser recht schützt unsere Schwachen. Nicht immer ist das deutlich. Aber wir können den Staat verklagen und haben einen Helfer, der arm und reich gleichermaßen beisteht, wenn es um die Grundrechte geht – unser Verfassungsgericht.
‐ Unser Land ist immer noch ein Sozialstaat – für den Erhalt dieses Sozialstates setzt er die meisten seiner Mittel ein. Er muss zwar kritische Debatten bedürftiger, nicht aber den internationalen Vergleich fürchten. ‐ Unsere Soldaten werden nicht ausgeschickt wie früher deutsche Heere. Sie sollen nirgendwo Land erobern und Menschen unterdrücken. Solche Soldaten der Demokratie, das hätte ich in meinem früheren Leben gerne gesehen. Soll ich den Katalog fortsetzen, wen wir doch immer noch beständig bilden können? Es wäre möglich und zwar trotz der bestehenden Konflikte und Nöte. An Tagen wie diesem aber erheben wir unseren Blick. Wir übersehen dabei nicht, was als Last auf der Gesellschaft liegt. Aber wir befinden uns zusammen mit unseren Problemen in diesem Berlin, das seine Freiheit einst im Westen zusammen mit den Alliierten so entschlossen verteidigt hat, wie das Volk sie im Osten entschlossen selbst erkämpft hat. Wir können Freiheit – doppelt! Und wenn wir diese Freiheit nicht verwandeln in billige Beliebigkeit, sie nicht verwandeln in die Asche der Gleichgültigkeit, dann werden wir sie weiter entwickeln. Sie hat ja einen Namen, den wir mögen, einen der Zukunft verspricht. Sie heißt für die 20‐jährigen, wie sie einst für die 60‐ jährtigen hieß – Verantwortung.
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