Kurzfassung der S2e-Leitlinie "Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen" - (AWMF-030/124) - GNP

 
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https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   S2e-Leitlinie

                                                                                                                                                                                                                                   Kurzfassung der S2e-Leitlinie
                                                                                                                                                                                                                                   „Diagnostik und Therapie von
                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörungen bei
                                                                                                                                                                                                                                   neurologischen Erkrankungen“
                                                                                                                                                                                                                                   (AWMF-030/124)
                                                                                                                                                                                                                                   Federführend: Dr. Angelika Thöne-Otto, Leipzig

                                                                                                                                                                                                                                   Unter Mitwirkung des Redaktionskomitees:
                                                                                                                                                                                                                                   Prof. Dr. Hermann Ackermann (DGNR), Fachkliniken Hohenurach, Bad Urach, Hertie Institute for Clinical Brain Research, Tübingen,
                                                                                                                                                                                                                                   Universität Tübingen, Department of General Neurology, Tübingen
                                                                                                                                                                                                                                   Dr. Thomas Benke (ÖGN), Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck
                                                                                                                                                                                                                                   Regina Bezold (DVE), Deutscher Verband der Ergotherapeuten, Karlsbad
                                                                                                                                                                                                                                   Prof. Dr. Helmut Hildebrandt (GNP), Klinikum Bremen-Ost, Bremen, Carl von Ossietzky Universität, Institut für Psychologie, Oldenburg
                                                                                                                                                                                                                                   Claudia Meiling (DVE), Deutscher Verband der Ergotherapeuten, Karlsbad
                                                                                                                                                                                                                                   Prof. Dr. Sandra Verena Müller (GNP), Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fakultät Soziale Arbeit, Wolfenbüttel
                                                                                                                                                                                                                                   Prof. Dr. Thomas Nyffeler (SNG), Luzerner Kantonsspital, Klinik für Neurologie und Neurorehabilitation, Luzern
                                                                                                                                                                                                                                   Dr. Karin Schoof-Tams (GNP), Neuropsychologisches Zentrum, Praxis für Neuropsychologie und Psychotherapie, Kassel
                                                                                                                                                                                                                                   Prof. Dr. Claus-W. Wallesch (DGN, DGNR), BDH-Klinik Elzach, Elzach

                                                                                                                                                                                                                                   Die Langfassung der Leitlinie ist online erschienen unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-124.html

                                                                                                                                                                                                                                    Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick

                                                                                                                                                                                                                                    Zusammenfassung: Diagnostik. Zur Basisuntersuchung der Gedächtnisleistung gehören die Untersuchung der Orientierung, verbaler und figu-
                                                                                                                                                                                                                                    raler Merkspannen sowie des Arbeitsgedächtnisses, ein Lernparadigma (z.B. Wortliste) mit verzögertem Abruf sowie die unmittelbare und ver-
                                                                                                                                                                                                                                    zögerte Wiedergabe komplexer verbaler und figuraler Informationen. Die Ergebnisse der neuropsychologischen Untersuchung sollten dem Pa-
                                                                                                                                                                                                                                    tienten, und (soweit das Einverständnis des Patienten vorliegt) seinen Angehörigen sowie dem Behandlungsteam mitgeteilt werden. Therapie:
                                                                                                                                                                                                                                    Die Evidenz für die Wirksamkeit des übenden Funktionstrainings konnte für Patienten mit leichten bis mittelschweren Gedächtnisstörungen in
                                                                                                                                                                                                                                    einer Reihe randomisierter Kontrollgruppenstudien erhärtet werden. Daher sollen diese Patienten ein spezifisches funktions- oder strategieo-
                                                                                                                                                                                                                                    rientiertes kognitives Training erhalten. Elektronische Gedächtnishilfen stellen wichtige Hilfsmittel dar, um die Auswirkungen von Gedächtnis-
                                                                                                                                                                                                                                    störungen im Alltag zu kompensieren. Bei Menschen mit schweren Gedächtnisstörungen sollte der Fokus der Therapie auf dem Erlernen von
                                                                                                                                                                                                                                    Kompensationsstrategien liegen. Für den Aufbau von Routinen spielt das fehlerfreie Lernen (Errorless Learning) dabei eine wichtige Rolle.
                                                                                                                                                                                                                                    Während für Neurostimulationsverfahren bislang keine Wirksamkeit zur Verbesserung des episodischen Gedächtnisses nachgewiesen konnte,
                                                                                                                                                                                                                                    wird im Einsatz virtueller Realität ein hohes Potential für Diagnostik und Therapie gesehen.

                                                                                                                                                                                                                                    Schlüsselwörter: Gedächtnis, Amnesie, Gedächtnistraining, Kognitive Rehabilitation, Assistive Technologie, elektronische Gedächtnishilfen

                                                                                                                                                                                                                                   Im Artikel verwendete Abkürzungen                                         AWMF           Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
                                                                                                                                                                                                                                   ADL         Aktivitäten des täglichen Lebens                                             Medizinischen Fachgesellschaften
                                                                                                                                                                                                                                               (Activities of Daily Living)                                  ÄZQ            Ärztliches Zentrum für Qualität in
                                                                                                                                                                                                                                   AGI         Autobiografisches Gedächtnisinventar                                         der Medizin

                                                                                                                                                                                                                                   © 2020 Hogrefe                                                                           Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000298
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   108                                                                           Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie

                                                                                                                                                                                                                                   BRB-N   Brief Repeatable Battery of                               fehlungsstärke C). Für Patienten mit schwerer globaler
                                                                                                                                                                                                                                           Neuropsychological Tests                                  Amnesie kann aufgrund fehlender Wirksamkeitsnach-
                                                                                                                                                                                                                                   COWAT   Controlled Oral Word Association Test                     weise keine Empfehlung für ein funktionsorientiertes
                                                                                                                                                                                                                                   CVLT    California Verbal Learning Test                           Gedächtnistraining ausgesprochen werden.
                                                                                                                                                                                                                                   DBS     Tiefenhirnstimulation (Deep Brain                      2. Assistive Technologien (elektronische Gedächtnis-
                                                                                                                                                                                                                                           Stimulation)                                              hilfen) sind durch die weite Verbreitung von Smart-
                                                                                                                                                                                                                                   DCS     Diagnostikum für Cerebralschäden                          phones für die Patienten inzwischen leicht verfügbar.
                                                                                                                                                                                                                                   DemTect Demenz-Detektionstest                                     Sie stellen wichtige Hilfsmittel dar, um die Auswirkung
                                                                                                                                                                                                                                   DSM     Diagnostic and Statistical Manual of Mental               von Gedächtnisstörungen im Alltag zu kompensieren
                                                                                                                                                                                                                                           Disorders                                                 und die Teilhabe zu verbessern. Trotz mäßiger Evi-
                                                                                                                                                                                                                                   GCS-E   Glasgow Coma Scale-Extended                               denz wird aufgrund der klinischen Relevanz der Ein-
                                                                                                                                                                                                                                   HSE     Herpes-simplex-Enzephalitis                               satz empfohlen (LoE II–III; Empfehlungsstärke A). Ein
                                                                                                                                                                                                                                   ICD     International Statistical Classification of               angepasster Einsatz sollte in der Therapie thematisiert
                                                                                                                                                                                                                                           Diseases and Related Health Problems                      werden.
                                                                                                                                                                                                                                   ICF     International Classification of Function               3. Bei Menschen mit schweren Gedächtnisstörungen
                                                                                                                                                                                                                                   IGD     Inventar zur Gedächtnisdiagnostik                         sollte der Fokus der Therapie auf dem Erlernen von
                                                                                                                                                                                                                                   MACFIMS Minimal Assessment of Cognitive Function                  Kompensationsstrategien liegen, mit dem Ziel der Ver-
                                                                                                                                                                                                                                           in MS                                                     besserung von Aktivitäten und Teilhabe (Experten-
                                                                                                                                                                                                                                   MMST    Mini-Mental Status Test                                   konsens; Empfehlungsstärke B). Für den Aufbau von
                                                                                                                                                                                                                                   MoCA    Montreal Cognitive Assessment                             Routinen spielt das fehlerfreie Lernen (Errorless
                                                                                                                                                                                                                                   MS      Multiple Sklerose                                         Learning) bei Menschen mit schwerer Amnesie eine
                                                                                                                                                                                                                                   MTL     Medialer Temporallappen                                   wichtige Rolle. Dabei sollten Fehler durch eindeutige
                                                                                                                                                                                                                                   NAI     Nürnberger Altersinventar                                 Hinweise möglichst vermieden werden (fehlerarmes
                                                                                                                                                                                                                                   NICE    National Institute for Health and Care                    Lernen) und ein aktiver Abruf angeregt werden, indem
                                                                                                                                                                                                                                           Excellence                                                das Abrufintervall zunächst kurz, im weiteren Verlauf
                                                                                                                                                                                                                                   PASAT   Paced Auditory Serial Addition Test                       länger gestaltet wird (Spaced Retrieval; LoE II–III;
                                                                                                                                                                                                                                   PTA     Posttraumatische Amnesie                                  Empfehlungsstärke B).
                                                                                                                                                                                                                                   RBMT    Rivermead Behavioral Memory Test
                                                                                                                                                                                                                                   SHT     Schädel-Hirn-Trauma
                                                                                                                                                                                                                                   tDCS    transkranielle Gleichstromstimulation
                                                                                                                                                                                                                                           (transcranial direct current stimulation)              Begriffsdefinition
                                                                                                                                                                                                                                   TGA     transiente globale Amnesie
                                                                                                                                                                                                                                   TLE     Temporallappen-Epilepsie                               Der Begriff „Amnesie“ bedeutet eine isolierte, schwere
                                                                                                                                                                                                                                   VLMT    Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest                  Störung des Lernens und Behaltens, während andere ko-
                                                                                                                                                                                                                                   VR      Virtuelle Realität                                     gnitive Funktionen wie z. B. Sprache oder Intelligenz-
                                                                                                                                                                                                                                   VVM     Visueller und Verbaler Merkfähigkeitstest              funktionen weitgehend erhalten sind. Man unterscheidet
                                                                                                                                                                                                                                   WMS     Wechsler Memory Scale                                  die „anterograde“ von der „retrograden“ Amnesie, eine
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Unterscheidung, die sich auf den Zeitpunkt der Hirn-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  schädigung bezieht. Eine anterograde Amnesie ist die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Unfähigkeit, Informationen und Erlebnisse zu behalten,
                                                                                                                                                                                                                                   Was gibt es Neues?                                             die nach einer Hirnschädigung gelernt bzw. erfahren wer-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  den, während eine retrograde Amnesie die Unfähigkeit
                                                                                                                                                                                                                                   1. Die Evidenz für die Wirksamkeit des übenden Funkti-         beschreibt, Erinnerungen wieder abzurufen, die vor der
                                                                                                                                                                                                                                      onstrainings konnte für Patienten mit leichten bis mit-     Hirnschädigung ins Gedächtnis gelangten. Die meisten
                                                                                                                                                                                                                                      telschweren Gedächtnisstörungen in einer Reihe ran-         Patienten mit Gedächtnisstörungen, insbesondere nach
                                                                                                                                                                                                                                      domisierter Kontrollgruppenstudien erhärtet werden.         Schädel-Hirn-Trauma (SHT), haben eine ausgeprägte an-
                                                                                                                                                                                                                                      Daher sollen Patienten mit leichten bis mittelschweren      terograde Amnesie, ihre retrograde Amnesie weist hinge-
                                                                                                                                                                                                                                      Gedächtnisstörungen ein spezifisches funktions- oder        gen häufig einen zeitlichen Gradienten auf und umfasst
                                                                                                                                                                                                                                      strategieorientiertes kognitives Training erhalten (z. B.   vor allem die Gedächtnisinhalte, die kurz vor dem hirn-
                                                                                                                                                                                                                                      bildhafte Vorstellungen; Level of Evidence [LoE] Ib;        schädigenden Ereignis erworben wurden, während län-
                                                                                                                                                                                                                                      Empfehlungsstärke A). Die Wirksamkeit der Methode           ger zurückliegende Ereignisse unbeeinträchtigt abgeru-
                                                                                                                                                                                                                                      hängt von der Trainingshäufigkeit ab (mindesten 10          fen werden können. Es finden sich jedoch auch Patienten,
                                                                                                                                                                                                                                      Sitzungen gelten als gute klinische Praxis; LoE Ib; Emp-    die bei erhaltenem Neugedächtniserwerb nahezu aus-

                                                                                                                                                                                                                                   Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128                                                     © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie                                                                                 109

                                                                                                                                                                                                                                   schließlich retrograde Gedächtnisstörungen aufweisen          Untergliederung verschiedener
                                                                                                                                                                                                                                   (Kopelman, 2002a; Markowitsch & Staniloiu, 2012).             Gedächtnisprozesse
                                                                                                                                                                                                                                      Ein allgemeinerer Begriff ist der der „Gedächtnisstö-
                                                                                                                                                                                                                                   rung“. Er kann als Oberbegriff für alle Einbußen des Ler-     Im Lernprozess werden die Phasen der Enkodierung, der
                                                                                                                                                                                                                                   nens, Behaltens und des Abrufs gelernter Information an-      Konsolidierung oder Speicherung sowie des Abrufs un-
                                                                                                                                                                                                                                   gesehen werden. Dieser Terminus ist sehr unspezifisch. Er     terschieden. Dabei findet sich häufig eine enge Konfundie-
                                                                                                                                                                                                                                   sagt nichts über die Ursache dieser Störung aus und darü-     rung von gestörten Aufmerksamkeits- oder Exekutivfunk-
                                                                                                                                                                                                                                   ber, ob es sich um isolierte Gedächtnisstörungen handelt      tionen und unzureichender Enkodierung. Ist nur die
                                                                                                                                                                                                                                   oder diese in Kombination mit anderen kognitiven Störun-      Enkodierung gestört, können Informationen, die hinrei-
                                                                                                                                                                                                                                   gen auftreten. Subjektive Gedächtnisstörungen sind häu-       chend enkodiert wurden, oft nach Intervall annähernd
                                                                                                                                                                                                                                   fig und nehmen mit höherem Alter zu. Luck et al. (2018)       vollständig abgerufen werden. Im Gegensatz dazu zeigt
                                                                                                                                                                                                                                   konnten zeigen, dass in einer gesunden Population von         sich eine gestörte Konsolidierung, wenn auch verschiede-
                                                                                                                                                                                                                                   40- bis 79-Jährigen 53 % der Befragten in irgendeiner         ne Abrufhilfen den Informationsabruf nach Intervall nicht
                                                                                                                                                                                                                                   Form über Gedächtnisprobleme klagten. Ob subjektive           verbessern. Auch bei gelungener Konsolidierung oder
                                                                                                                                                                                                                                   Klagen über eine Verschlechterung der Gedächtnisleis-         Speicherung kann der Informationsabruf vielfältig beein-
                                                                                                                                                                                                                                   tung ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Demen-        trächtigt sein. Zur Untersuchung bietet sich der Abruf mit
                                                                                                                                                                                                                                   zerkrankung sind, wird aktuell diskutiert (Jonker, Geer-      verschiedenen gestuften Hilfen (z. B. freier Abruf, Abruf
                                                                                                                                                                                                                                   lings & Schmand, 2000; Luck et al., 2018).                    mit Hinweisreizen, Wiedererkennen) an.
                                                                                                                                                                                                                                      Der Begriff „Demenz“ bezeichnet ein Krankheitsbild,
                                                                                                                                                                                                                                   bei dem es zu einer schweren Beeinträchtigung verschiede-
                                                                                                                                                                                                                                   ner kognitiver Funktionen kommt, wobei die Gedächtnis-
                                                                                                                                                                                                                                   störung nur bei einigen Demenzformen (z. B. der Alzhei-       Klassifikation
                                                                                                                                                                                                                                   merkrankheit) das Leitsymptom darstellt. Die kognitiven
                                                                                                                                                                                                                                   Störungen sind so schwerwiegend, dass es zu Einschrän-        Gedächtnisstörungen gehören im DSM-5 zu den neuro-
                                                                                                                                                                                                                                   kungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens kommt, Meist      kognitiven Störungen. Dabei wird nach der Schwere der
                                                                                                                                                                                                                                   assoziiert der Begriff eine progrediente Neurodegenerati-     kognitiven Störung zwischen „majorer“ und „minorer“
                                                                                                                                                                                                                                   on, im Prinzip kann die Demenz i. S. von schweren kogniti-    kognitiver Störung unterschieden. Darüber hinaus ist zu
                                                                                                                                                                                                                                   ven Störungen in mehreren Domänen aber auch Ergebnis          unterscheiden, ob die neurokognitive Störung mit oder
                                                                                                                                                                                                                                   anderer nicht progredienter Erkrankungen des Gehirns          ohne Verhaltensstörung auftritt, schließlich wird die Ur-
                                                                                                                                                                                                                                   sein (z. B. Demenz nach SHT). Im DSM-5 wird der Begriff       sache der kognitiven Störung klassifiziert (Maier & Barni-
                                                                                                                                                                                                                                   der Demenz aufgegeben und durch den Begriff der „schwe-       kol, 2014).
                                                                                                                                                                                                                                   ren neurokognitiven Störung“ ersetzt. In der ICD-11 wird         In der Klassifikation der ICD-10 finden sich Gedächtnis-
                                                                                                                                                                                                                                   er erhalten bleiben.                                          störungen im Kapitel Organische, einschließlich symptomati-
                                                                                                                                                                                                                                      Das „Delir“ stellt einen akuten Verwirrtheitszustand       sche psychische Störungen (F00–F09) (s. Abbildung 1). Unter
                                                                                                                                                                                                                                   dar, der bei älteren Patienten häufig auftritt und regelmä-   der Codierung F00–F03 werden alle demenziellen Erkran-
                                                                                                                                                                                                                                   ßig ebenfalls mit Gedächtnisstörungen einhergeht (In-         kungsbilder kodiert. Das Organisch amnestische Syndrom
                                                                                                                                                                                                                                   ouye, Westerndorp & Saczynski, 2014).                         mit schweren anterograden und retrograden Gedächtnis-
                                                                                                                                                                                                                                      Nach unterschiedlichen Modellen und Theorien lassen        störungen wird unter der F04 klassifiziert. In der Ziffer
                                                                                                                                                                                                                                   sich Gedächtnisfunktionen zum einen zeitlich unterglie-       F06 finden sich Andere psychische Störungen aufgrund einer
                                                                                                                                                                                                                                   dern (Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis; Neugedächtnis         Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer kör-
                                                                                                                                                                                                                                   und Altgedächtnis; prospektives Gedächtnis), zum ande-        perlichen Krankheit, wobei kognitive Störungen am ehesten
                                                                                                                                                                                                                                   ren inhaltlich (deklaratives Gedächtnis, weiter unterteilt    unter der F06.7 Leichte kognitive Störung oder der F06.8
                                                                                                                                                                                                                                   in semantisches und episodisches Gedächtnis, und nonde-       sonstige näher bezeichnete organische psychische Störung… zu
                                                                                                                                                                                                                                   klaratives Gedächtnis, weiter unterteilt in prozedurales      klassifizieren sind. Treten die kognitiven Störungen in Ver-
                                                                                                                                                                                                                                   Lernen, Priming sowie klassische und operante Konditio-       bindung mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
                                                                                                                                                                                                                                   nierung). Diese können unabhängig voneinander gestört         aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstö-
                                                                                                                                                                                                                                   sein können (für eine Übersicht siehe Markowitsch, 2017).     rung des Gehirns auf, so ist diese unter der F07 Organische
                                                                                                                                                                                                                                   Der Begriff des Arbeitsgedächtnisses impliziert schon im      Persönlichkeitsstörung, F07.1 Postenzephalitisches Syndrom
                                                                                                                                                                                                                                   Namen seine Gedächtnisfunktion, es ist gleichzeitig auch      oder F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-
                                                                                                                                                                                                                                   Teil der zentralen Exekutive. Störungen des Arbeitsge-        Trauma zu kodieren. Wenn die diagnostischen Kriterien
                                                                                                                                                                                                                                   dächtnisses werden daher in der Leitlinie „Exekutive Dys-     für eine F0-Diagnose nicht zutreffen, können auch Sympto-
                                                                                                                                                                                                                                   funktionen“ (AWMF 030/125; Müller, Klein et al., 2019)        me, die das Erkennungs- und Wahrnehmungsvermögen, die
                                                                                                                                                                                                                                   behandelt.                                                    Stimmung und das Verhalten betreffen (R40–R49) beschrie-

                                                                                                                                                                                                                                   © 2020 Hogrefe                                                             Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   110                                                                           Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie

                                                                                                                                                                                                                                   ben werden, wobei unter R41.1 die anterograde und unter        Ätiologie
                                                                                                                                                                                                                                   R41.2 die retrograde Amnesie klassifiziert wird. In der ICD-
                                                                                                                                                                                                                                   11 wird es im Kapitel 08 Erkrankungen des Nervensystems        Gedächtnisstörungen können eine große Vielfalt von Ursa-
                                                                                                                                                                                                                                   eine Subgruppe geben: Erkrankungen mit neurokognitiven         chen haben. Die Spannbreite reicht von Gedächtnisstörun-
                                                                                                                                                                                                                                   Störungen als wesentliches Merkmal.                            gen im Rahmen eines allgemeinen und schleichend pro-
                                                                                                                                                                                                                                      Die ICF-Klassifikation (Internationale Klassifikation       gredienten intellektuellen Leistungsverlusts, wie z. B. bei
                                                                                                                                                                                                                                   der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit)            der Alzheimerkrankheit, über umgrenzte verbale und/oder
                                                                                                                                                                                                                                   erlaubt die umfassende Betrachtung des Patienten mit           figurale Neu- oder Altgedächtnisstörungen nach fokalen
                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörung im Kontext eines bio-psycho-sozialen         Hirnschädigungen bis hin zu psychisch bedingten Erinne-
                                                                                                                                                                                                                                   Modells. Gedächtnisfunktionen gehören in der Klassifi-         rungsausfällen im Rahmen einer funktionellen oder disso-
                                                                                                                                                                                                                                   kation zu den „Globalen mentalen Funktionen“ (b110–            ziativen Amnesie. Auch verschiedene internistische (z. B.
                                                                                                                                                                                                                                   b139, insbesondere b114 Funktionen der Orientierung)           Schilddrüsenerkrankungen) und psychiatrische Erkran-
                                                                                                                                                                                                                                   bzw. zu den „Spezifischen mentalen Funktionen“ (b140–          kungen (z. B. Schizophrenie und Depression) können mit
                                                                                                                                                                                                                                   b189). Hier werden unter b144 Funktionen des Gedächt-          Gedächtnisstörungen assoziiert sein. Nicht zuletzt geht der
                                                                                                                                                                                                                                   nisses beschrieben (b1440 Kurzzeitgedächtnis, b1441            gesunde Alterungsprozess mit Veränderungen in der Lern-
                                                                                                                                                                                                                                   Langzeitgedächtnis, b1442 Abrufen von Gedächtnisin-            und Gedächtnisleistung einher. Da sich die Leitlinie auf die
                                                                                                                                                                                                                                   halten, b1448 Funktionen des Gedächtnis anders be-             neurologischen Erkrankungen beschränkt, werden in Ta-
                                                                                                                                                                                                                                   zeichnet bzw. b1449 nicht näher bezeichnet). In Ergän-         belle 1 nur die häufigsten neurologischen Erkrankungen
                                                                                                                                                                                                                                   zung zur ICD ermöglicht die ICF auch die Betrachtung           erwähnt, die mit Gedächtnisstörungen einhergehen.
                                                                                                                                                                                                                                   der mit der Schädigung einhergehenden Einschränkun-
                                                                                                                                                                                                                                   gen der Aktivitäten und Teilhabe, wobei diese nicht als
                                                                                                                                                                                                                                   lineare Folge der Gedächtnisstörungen verstanden wer-
                                                                                                                                                                                                                                   den dürfen. Vielmehr ergeben sich die Einschränkungen          Diagnostik
                                                                                                                                                                                                                                   nach dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF aus der
                                                                                                                                                                                                                                   Wechselwirkung aller Komponenten von Gesundheit.               Die Diagnose von Gedächtnisstörungen setzt den Einsatz
                                                                                                                                                                                                                                   Dazu gehören neben den Körperfunktionen und -struktu-          ausreichend spezifischer und sensibler Untersuchungsver-
                                                                                                                                                                                                                                   ren auch die Kontextfaktoren eines Menschen, die sich          fahren voraus. Es sei hervorgehoben, dass eine einzelne
                                                                                                                                                                                                                                   wiederum aus seiner Persönlichkeit (personbezogene             kognitive Funktion, z. B. das Gedächtnis, nicht isoliert zu
                                                                                                                                                                                                                                   Faktoren) und seiner Umwelt (umweltbezogene Fakto-             betrachten ist, sondern stets im Kontext anderer kogniti-
                                                                                                                                                                                                                                   ren) ergeben (vgl. Abbildung 2).                               ver Funktionen, der psychischen Befindlichkeit sowie des
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Verhaltens zu sehen ist. Daher soll die Untersuchung der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Gedächtnisleistung stets in eine ausführlichere neuro-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                  psychologische Testung auch anderer kognitiver Leis-

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Abbildung 1. Klassifikationsmöglichkeiten
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      von Gedächtnisstörungen in der ICD-10.

                                                                                                                                                                                                                                   Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128                                                       © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie                                                                                           111

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Gesundheitsproblem
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              (Gesundheitsstörung oder Krankheit)

                                                                                                                                                                                                                                                                                    Körperfunktionen                                                            Partizipation
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Aktivitäten
                                                                                                                                                                                                                                                                                     und -strukturen                                                             (Teilhabe)
                                                                                                                                                                                                                                           Abbildung 2. Das bio-psycho-soziale
                                                                                                                                                                                                                                    Modell der ICF, entnommen aus: Internatio-
                                                                                                                                                                                                                                     nale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
                                                                                                                                                                                                                                      Behinderung und Gesundheit ICF, Heraus-
                                                                                                                                                                                                                                    gegeben vom Deutschen Institut für Medizi-
                                                                                                                                                                                                                                        nische Dokumentation und Information
                                                                                                                                                                                                                                                           (DIMDI), 2005, S. 21.                       Umweltfaktoren               personenbezogene Faktoren

                                                                                                                                                                                                                                   Tabelle 1. Übersicht über die häufigsten Neurologischen Erkrankun-      buch neuropsychologischer Testverfahren“ (Schellig,
                                                                                                                                                                                                                                   gen, die mit Störungen des Gedächtnisses einhergehen.                  Drechsler, Heinemann & Sturm, 2009). Die Ergebnisse
                                                                                                                                                                                                                                    Schädel-Hirn-Trauma
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          der neuropsychologischen Untersuchung sollten dem Pati-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          enten und (soweit das Einverständnis des Patienten vor-
                                                                                                                                                                                                                                    Zerebrovaskuläre Erkrankungen
                                                                                                                                                                                                                                    – Ischämischer Infarkt                                                liegt) seinen Angehörigen sowie dem übrigen Behand-
                                                                                                                                                                                                                                    – Intrazerebrale und subdurale Blutung                                lungsteam mitgeteilt werden (National Institute for Health
                                                                                                                                                                                                                                    – Subarachnoidalblutung                                               and Care Excellence, 2013). Psychometrische Verfahren
                                                                                                                                                                                                                                    – Ruptur von Aneurysmen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          dienen vor allem der Erfassung der Gedächtnisfunktion
                                                                                                                                                                                                                                    Transiente globale Amnesie (vgl. AWMF-Leitlinie 030/083)              als Körperfunktion. Um Aussagen über deren Auswirkun-
                                                                                                                                                                                                                                    Entzündliche Erkrankungen des Gehirns                                 gen auf Aktivitäten und Teilhabe machen zu können, sind
                                                                                                                                                                                                                                    – Multiple Sklerose                                                   Fragebögen, Selbst- und Fremdeinschätzung sowie die
                                                                                                                                                                                                                                    – Herpes-simplex-Enzephalitis
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Verhaltensbeobachtung von großer Relevanz. Die Validi-
                                                                                                                                                                                                                                    – Autoimmunenzephalitis
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          tät psychometrischer Befunde sollte stets durch die Ver-
                                                                                                                                                                                                                                    Chronischer Alkoholmissbrauch
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          haltensbeobachtung, eine kritische Betrachtung der Kon-
                                                                                                                                                                                                                                    – Korsakow-Syndrom
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          sistenz des Störungsprofils über verschiedene Verfahren
                                                                                                                                                                                                                                    Epilepsie                                                             sowie ggf. durch gezielte Beschwerdevalidierungsverfah-
                                                                                                                                                                                                                                    Tumorerkrankungen, ins besondere Tumoren des dritten Ventrikels       ren geprüft werden.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Indikation
                                                                                                                                                                                                                                   tungsparameter eingebunden sein (siehe Leitlinie „Auf-
                                                                                                                                                                                                                                   merksamkeitsstörungen“ AWMF 030/135 und „Exekutive                     Typische Klagen von Menschen mit vermuteten Gedächt-
                                                                                                                                                                                                                                   Dysfunktionen“ AWMF 030/125). Die eingehende diag-                     nisdefiziten beziehen sich auf Vergesslichkeit im Alltag.
                                                                                                                                                                                                                                   nostische Untersuchung der unterschiedlichen Gedächt-                  Dinge werden verlegt, Termine nicht zuverlässig eingehal-
                                                                                                                                                                                                                                   nisfunktionen ist Aufgabe qualifizierter Neuropsycholo-                ten oder zu Terminen werden relevante Unterlagen nicht
                                                                                                                                                                                                                                   gen, da nur eine genaue Kenntnis der psychologischen und               mitgenommen. Auch beim Lesen stellen die Betroffenen
                                                                                                                                                                                                                                   neuropsychologischen Theorien und der Paradigmen, die                  häufig ein Nachlassen der Gedächtnisleistung fest. Infor-
                                                                                                                                                                                                                                   den Untersuchungsverfahren zugrunde liegen, sowie                      mationen können nicht hinreichend aufgenommen wer-
                                                                                                                                                                                                                                   der funktionellen Netzwerke, die Gedächtnisleistungen                  den oder gehen schnell wieder verloren. Ein weiteres häu-
                                                                                                                                                                                                                                   kontrollieren, eine kompetente Diagnosestellung ge-                    fig berichtetes Symptom ist das Nicht-Erinnern vertrauter
                                                                                                                                                                                                                                   währleisten. Die hypothesengeleitete Auswahl geeigneter                Namen, wobei dieses Symptom sehr unspezifisch zu sein
                                                                                                                                                                                                                                   Untersuchungsinstrumente unter Berücksichtigung der                    scheint und nicht notwendig mit einer klinisch relevanten
                                                                                                                                                                                                                                   Schwere der kognitiven Beeinträchtigung, der Fragestel-                Gedächtnisstörung einhergeht.
                                                                                                                                                                                                                                   lung, der Ätiologie und Untersuchbarkeit des Patienten                    Nicht immer beklagen die Patienten selbst die Gedächt-
                                                                                                                                                                                                                                   obliegt daher der klinischen Neuropsychologie. Für die                 nisstörung. Teilweise ist eine eingeschränkte Selbstwahr-
                                                                                                                                                                                                                                   Untersuchung unterschiedlicher Gedächtnisaspekte liegt                 nehmung Teil des Störungsbildes. In diesen Fällen sind es
                                                                                                                                                                                                                                   eine Fülle psychometrischer Testverfahren vor. Eine Über-              eher die Angehörigen, die Gedächtnisprobleme berichten,
                                                                                                                                                                                                                                   sicht mit Angaben der jeweiligen Testgütekriterien und                 z. B. dass die Patienten sich in einer eigentlich bekannten
                                                                                                                                                                                                                                   Hinweisen zum Anwendungsgebiet findet sich im „Hand-                   Umgebung verlaufen oder bereits nach kurzer Zeit Ge-

                                                                                                                                                                                                                                   © 2020 Hogrefe                                                                       Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   112                                                                                          Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie

                                                                                                                                                                                                                                   sprächsinhalte nicht mehr erinnern. Es können auch Kon-                    Hentschel, 2015), alkoholassoziierter kognitiver Störun-
                                                                                                                                                                                                                                   fabulationen auftreten oder die Patienten erinnern zwar                    gen und eines Korsakow-Syndroms (Oudman et al., 2014).
                                                                                                                                                                                                                                   richtige Inhalte, ordnen sie aber zeitlich oder inhaltlich in              Doch auch mit dem MoCA werden diskrete kognitive Stö-
                                                                                                                                                                                                                                   den falschen Kontext ein.                                                  rungen unterschätzt (Chan et al., 2014).
                                                                                                                                                                                                                                      Eine Evidenzgradierung des diagnostischen Vorgehens
                                                                                                                                                                                                                                   ist aufgrund der Literatur nur bei wenigen Aussagen mög-                   Basisdiagnostik
                                                                                                                                                                                                                                   lich. Der überwiegende Teil der Empfehlungen basiert auf                   Da Gedächtnis- und Behaltensleistungen abhängig von der
                                                                                                                                                                                                                                   Expertenkonsens (vgl. Tabelle 2).                                          Dauer des Behaltensintervalls (kurzfristige vs. längerfristi-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              ge Behaltensleistung) und modalitätsspezifisch beeinträch-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              tigt sein können, ist eine Untersuchung sowohl in verschie-
                                                                                                                                                                                                                                   Screening                                                                  denen zeitlichen Intervallen als auch mit unterschiedlichem
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Material (sprachlich, figural) erforderlich. Darüber hinaus
                                                                                                                                                                                                                                   Screening-Verfahren können in Einzelfällen zum Aus-                        können im Verlauf des Lernprozesses unterschiedliche Pa-
                                                                                                                                                                                                                                   schluss gravierender Defizite eingesetzt werden. Insbe-                    rameter (z. B. eine erhöhte Interferenzanfälligkeit, die Stei-
                                                                                                                                                                                                                                   sondere bei Patienten mit überdurchschnittlichem prä-                      gung der Lernkurve etc.) beobachtet werden, die vor allem
                                                                                                                                                                                                                                   morbiden Bildungsniveau ist das Risiko, in solchen                         für das Verständnis der Qualität der Gedächtnisstörung von
                                                                                                                                                                                                                                   Verfahren unauffällige Werte zu erhalten und damit tat-                    Bedeutung sind und Hinweise dafür geben können, welche
                                                                                                                                                                                                                                   sächlich bestehende Defizite zu übersehen, jedoch groß.                    Kompensationsstrategien für den Patienten geeignet sind
                                                                                                                                                                                                                                   Auch können auf Basis von Screening-Verfahren die spezi-                   oder nicht (Thöne-Otto et al., 2010).
                                                                                                                                                                                                                                   fischen kognitiven Probleme und Ressourcen nur sehr                           Am Anfang steht immer eine sorgfältige Anamnese der
                                                                                                                                                                                                                                   grob beschrieben werden. Geben Screening-Verfahren                         vorhandenen Beschwerden, ihres Verlaufs sowie bereits
                                                                                                                                                                                                                                   Hinweise auf kognitive Defizite, sollte eine ausführlichere                verwendeter Kompensationsstrategien. Werden Patienten
                                                                                                                                                                                                                                   Diagnostik erfolgen, um diese genauer zu differenzieren                    wiederholt untersucht, sollte sorgfältig darauf geachtet
                                                                                                                                                                                                                                   und ggf. Behandlungsempfehlungen abzuleiten. Der Ein-                      werden, ob die Verfahren der vorbehandelnden Klinik er-
                                                                                                                                                                                                                                   satz eines Screening-Verfahrens kann eine ausführliche                     neut eingesetzt werden können, da Testwiederholungsef-
                                                                                                                                                                                                                                   neuropsychologische Diagnostik nicht ersetzen.
                                                                                                                                                                                                                                      Typische, für den Ausschluss von Demenzen entwi-
                                                                                                                                                                                                                                   ckelte Screening-Verfahren (z. B. MMST [Mini-Mental                        Tabelle 3. Empfehlungen zum Einsatz von Screening-Verfahren.

                                                                                                                                                                                                                                   Status Test] oder DemTect [Demenz-Detektionstest]) rei-                     – Screening-Verfahren, die für den Ausschluss einer Demenz
                                                                                                                                                                                                                                   chen nicht aus, um leichte bis mittelschwere Gedächtnis-                      entwickelt wurden, sind für die Identifikation leichter bis mittel-
                                                                                                                                                                                                                                   störungen zu identifizieren (vgl. Tabelle 3). Verschiedene                    schwerer Gedächtnisstörungen nicht geeignet (LoE II; Empfeh-
                                                                                                                                                                                                                                   Studien konnten zeigen, dass der MoCA (Montreal Cogni-                        lungsstärke A; ↑↑).

                                                                                                                                                                                                                                   tive Assessment; http://www.mocatest.org) gegenüber                         – Bei auffälligem Screening-Befund soll eine eingehende neuro-
                                                                                                                                                                                                                                   dem MMST eine höhere Sensitivität und Validität als                           psychologische Untersuchung durch einen entsprechend
                                                                                                                                                                                                                                   Screening-Instrument hat, z. B. zur Detektion kognitiver                      qualifizierten Neuropsychologen erfolgen (LoE II; Empfehlungs-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 stärke A; ↑↑).
                                                                                                                                                                                                                                   Störungen nach Schlaganfall (van Heugten, Walton &

                                                                                                                                                                                                                                   Tabelle 2. Empfehlungen zur neuropsychologischen Diagnostik bei Störungen des Gedächtnisses.

                                                                                                                                                                                                                                    Klagen Patienten oder Angehörige über relevante Gedächtnisstörungen im Alltag, sollte
                                                                                                                                                                                                                                       1) unabhängig davon, ob eine neurologische Erkrankung erkennbar ist, eine orientierende Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit
                                                                                                                                                                                                                                          mit standardisierten psychometrischen Verfahren erfolgen.
                                                                                                                                                                                                                                       2) Zeigen sich dabei Auffälligkeiten, ist die Ursache der Defizite zu ergründen (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑)

                                                                                                                                                                                                                                    Bei neurologischen Erkrankungen mit Läsionen im Bereich der gedächtnisrelevanten Hirnstrukturen (medialer Temporallappen, mediales
                                                                                                                                                                                                                                    Diencephalon, basales Vorderhirn) sollte eine neuropsychologische Untersuchung auch dann angeboten werden, wenn die Patienten selbst
                                                                                                                                                                                                                                    keine kognitiven Defizite beklagen, insbesondere wenn die Patienten eine kognitiv anspruchsvolle berufliche Tätigkeit wiederaufnehmen wol-
                                                                                                                                                                                                                                    len (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑).

                                                                                                                                                                                                                                    Einzelne kognitive Funktionen, z. B. das Gedächtnis, sind nicht isoliert zu betrachten, sondern stets im Kontext andere kognitiver Funktionen,
                                                                                                                                                                                                                                    der psychischen Befindlichkeit sowie des Verhaltens. Daher soll die Untersuchung der Gedächtnisleistung stets in eine ausführlichere neuro-
                                                                                                                                                                                                                                    psychologische Untersuchung eingebunden sein (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke A; ↑↑).

                                                                                                                                                                                                                                    Die Ergebnisse der neuropsychologischen Untersuchung sollten dem Patienten und (soweit das Einverständnis des Patienten vorliegt) seinen
                                                                                                                                                                                                                                    Angehörigen sowie dem Behandlungsteam mitgeteilt werden. Das Patientenrechtegesetz ist zu berücksichtigen(Expertenkonsens; Empfeh-
                                                                                                                                                                                                                                    lungsstärke B; ↑).

                                                                                                                                                                                                                                   Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128                                                                          © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie                                                                                                113

                                                                                                                                                                                                                                   fekte die Interpretierbarkeit der Testwerte beeinflussen.                  •   unmittelbare Reproduktion expliziter verbaler und figu-
                                                                                                                                                                                                                                   Die Auswahl orientiert sich an den Testgütekriterien und                       raler Informationen, die im Umfang die Aufnahmeka-
                                                                                                                                                                                                                                   an einer hinreichend vorhandenen Normstichprobe für                            pazität des Kurzzeitgedächtnisses übersteigen (z. B.
                                                                                                                                                                                                                                   die relevante Altersgruppe sowie im relevanten Sprach-                         Wiedergabe eines Textes oder geometrischer Figuren,
                                                                                                                                                                                                                                   raum (für einige Verfahren existieren nur englischsprachi-                     z. B. Subtests „Logisches Gedächtnis“ und „Visuelle Re-
                                                                                                                                                                                                                                   ge Normen; vgl. Schellig et al., 2009). Teilweise liegen nur                   produktion“ aus der WMS-IV1; Text und Stadtplan aus
                                                                                                                                                                                                                                   experimentelle oder vorläufige Testversionen vor, die für                      dem Visuellen und Verbalen Merkfähigkeitstest [VVM])
                                                                                                                                                                                                                                   eine systematische Verhaltensbeobachtung und eine qua-                     •   verzögerte Wiedergabe der unmittelbar reproduzierten
                                                                                                                                                                                                                                   litative Abschätzung der Leistung eingesetzt werden kön-                       Informationen nach einem Intervall von 20 bis 30 Minu-
                                                                                                                                                                                                                                   nen. Die Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe                         ten (z. B. Subtests „Logisches Gedächtnis II“ und „Visu-
                                                                                                                                                                                                                                   aufgrund der Gedächtnisstörungen wird durch Selbst- und                        elle Reproduktion II“ aus der WMS-IV), ggf. auch nach
                                                                                                                                                                                                                                   Fremdeinschätzung der Alltagsleistung sowie durch die                          24 Stunden (z. B. Text und Stadtplan aus dem VVM)
                                                                                                                                                                                                                                   Verhaltensbeobachtung erhoben.                                             •   Durchführung eines Lernparadigmas (z. B. Lernen einer
                                                                                                                                                                                                                                   Folgende Teilfunktionen sollten erhoben werden, vgl.                           Wortliste, visueller Muster) zur Untersuchung des Lern-
                                                                                                                                                                                                                                   auch Tabelle 4:                                                                zuwachses mit Wiederholung sowie Darstellung proak-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  tiver und retroaktiver Interferenzeffekte (z. B. Auditiv-
                                                                                                                                                                                                                                   Orientierung (insbesondere bei                                                 Verbaler Lerntest [AVLT], California Verbal Learning
                                                                                                                                                                                                                                   schwer betroffenen Patienten)                                                  Test [CVLT], Diagnostikum für Cerebralschäden [DCS
                                                                                                                                                                                                                                   • örtlich-geografische Orientierung                                            II], Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest [VLMT])
                                                                                                                                                                                                                                   • zeitlich-kalendarische Orientierung                                      •   Überprüfung verschiedener Abrufmodalitäten (freier
                                                                                                                                                                                                                                   • situative Orientierung                                                       Abruf, Abruf mit Hinweisreizen, Wiedererkennen)
                                                                                                                                                                                                                                   • Orientierung zur Person
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Altgedächtnis (retrograde Amnesie)
                                                                                                                                                                                                                                   Kurzzeit- / Arbeitsgedächtnis                                              • im Rahmen des Anamnesegespräches durch Arzt oder
                                                                                                                                                                                                                                   • kurzfristiges Behalten und mentales Manipulieren ver-                      Neuropsychologen zu erfragen; differenzierte Untersu-
                                                                                                                                                                                                                                     baler und figuraler Informationen (z. B. Zahlen- oder                      chung nur bei Anhalt für Einschränkungen
                                                                                                                                                                                                                                     Blockspannen aus der Wechsler Memory Scale-Revised                       • Wiedergabe von autobiografischen und öffentlichen se-
                                                                                                                                                                                                                                     [WMS-R] oder der Wechsler Adults Intelligence Scale                        mantischen und episodischen Informationen aus ver-
                                                                                                                                                                                                                                     [WAIS-IV])                                                                 schiedenen Lebensabschnitten (z. B. Autobiografisches
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Gedächtnisinventar [AGI], Inventar zur Gedächtnisdia-
                                                                                                                                                                                                                                   Langzeitgedächtnis (Lern- und Behaltensleistung,                             gnostik [IGD])
                                                                                                                                                                                                                                   Neugedächtnis)                                                             • subjektiv relevantes domänenspezifisches Wissen (z. B.
                                                                                                                                                                                                                                   Die Gedächtnisleistung setzt sich aus unterschiedlichen                      berufliches Fachwissen)
                                                                                                                                                                                                                                   Komponenten zusammen, die daher mit unterschiedli-                         • Die vorliegenden standardisierten Verfahren eignen
                                                                                                                                                                                                                                   chen Testaufgaben untersucht werden sollten. Selbst in-                      sich zur Differenzierung von biografischen und seman-
                                                                                                                                                                                                                                   nerhalb verschiedener verbaler Gedächtnistests gibt es                       tischen Altgedächtnisstörungen. Zur Eingrenzung des
                                                                                                                                                                                                                                   einerseits überlappende Komponenten, andererseits                            zeitlichen Umfangs der retrograden Amnesie sind sie
                                                                                                                                                                                                                                   auch differenzierende, sodass die Aufgaben nicht gegen-                      oft nicht geeignet, da in der Regel die letzten zurücklie-
                                                                                                                                                                                                                                   seitig austauschbar sind (Helmstaedter, Wietzke & Lutz,                      genden Jahre vorrangig betroffen sind und es hierzu kei-
                                                                                                                                                                                                                                   2009).                                                                       ne publizierten Vergleichsdaten (z. B. zum Wissen über

                                                                                                                                                                                                                                   Tabelle 4. Übersicht der psychometrischen Untersuchung von Gedächtnisteilfunktionen

                                                                                                                                                                                                                                       Für eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung der Gedächtnisleistung sollten folgende Teilfunktionen untersucht werden
                                                                                                                                                                                                                                       (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑):
                                                                                                                                                                                                                                       – Orientierung
                                                                                                                                                                                                                                       – verbale und figurale Merkspannen
                                                                                                                                                                                                                                       – Arbeitsgedächtnis
                                                                                                                                                                                                                                       – Lernparadigma (z. B. Wortliste) mit verzögertem Abruf
                                                                                                                                                                                                                                       – unmittelbare und verzögerte Wiedergabe komplexer verbaler und figuraler Informationen

                                                                                                                                                                                                                                   1
                                                                                                                                                                                                                                        Alle hier genannten Verfahren sind Beispiele. Die Auswahl der geeigneten Verfahren obliegt der Untersucherin oder dem Untersucher.

                                                                                                                                                                                                                                   © 2020 Hogrefe                                                                            Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   114                                                                               Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie

                                                                                                                                                                                                                                      öffentliche Ereignisse) gibt. Die Erinnerung an relevan-      •   Störungswahrnehmung des Patienten (Awareness) und
                                                                                                                                                                                                                                      te biografische Ereignisse aus verschiedenen Lebens-              seine subjektive Wünsche, Prioritätensetzung
                                                                                                                                                                                                                                      epochen des Patienten sollte daher am besten mithilfe         •   Veränderungen von Affekt und Verhalten (z. B. Depres-
                                                                                                                                                                                                                                      der Angehörigen untersucht werden.                                sion, Antrieb, Konfabulationen)
                                                                                                                                                                                                                                                                                                    •   andere Aspekte, die die Funktionsfähigkeit beeinflussen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                        können (z. B. Schmerzen, Fatigue, Schlaf, Medikamente)
                                                                                                                                                                                                                                   Weiterführende Diagnostik                                        •   bisherige Therapie, bisher eingesetzte Kompensations-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                        strategien und die Erfahrungen damit
                                                                                                                                                                                                                                   Zusätzlich je nach Fragestellung und Beschwerden zu un-          •   Erfassung der auf die Person bezogenen Faktoren (prä-
                                                                                                                                                                                                                                   tersuchende Gedächtnisfunktionen:                                    morbide Persönlichkeit, Biographie, Lebensstil, Bil-
                                                                                                                                                                                                                                   • Paarassoziationslernen (z. B. aus der WMS-IV, IGD)                 dungsniveau etc.)
                                                                                                                                                                                                                                   • prospektives Gedächtnis (zeit- oder situationsgerechte Er-     •   Erfassung der Umweltfaktoren entsprechend der ICF
                                                                                                                                                                                                                                      innerung einer zu erledigenden Aufgabe, z. B. Subtests            (Alltagsanforderungen, sozialer Hintergrund, berufliche
                                                                                                                                                                                                                                      aus dem Rivermead Behavioural Memory Test [RBMT],                 Situation, sozialrechtlicher Status, familiäre Einbettung)
                                                                                                                                                                                                                                      IGD)
                                                                                                                                                                                                                                   • inzidentelles Lernen (Abfrage von Informationen, bei de-
                                                                                                                                                                                                                                      nen der Patient zuvor keine Lerninstruktion erhalten hat,     Neuere Entwicklungen
                                                                                                                                                                                                                                      z. B. Subtest aus dem Nürnberger Altersinventar [NAI])
                                                                                                                                                                                                                                   • nondeklaratives Gedächtnis (Priming, prozedurales Ler-         Bislang gibt es zwei Hauptmethoden, um kognitive Funk-
                                                                                                                                                                                                                                      nen, z. B. IGD)                                               tionen psychometrisch zu untersuchen: Klassische Papier-
                                                                                                                                                                                                                                   • längerfristige Konsolidierung Die standardisierte Untersu-     Bleistiftaufgaben und computergestützte Testverfahren.
                                                                                                                                                                                                                                      chung der längerfristigen Behaltensleistung bildet nicht      In den letzten Jahren wurden zunehmend Aufgaben in vir-
                                                                                                                                                                                                                                      immer die von den Patienten beklagten und im Alltag zu        tueller Realität entwickelt. Dabei wird dem Probanden
                                                                                                                                                                                                                                      beobachtenden Gedächtnisprobleme ab. Insbesondere             über eine spezielle Brille oder auf dem Bildschirm eine
                                                                                                                                                                                                                                      bei Patienten mit Epilepsie werden Veränderungen der          dreidimensionale Welt präsentiert, mit der er so interagie-
                                                                                                                                                                                                                                      längerfristigen Konsolidierung und damit ein erhöhtes         ren kann, dass das Gefühl entsteht, in der realen Welt zu
                                                                                                                                                                                                                                      Vergessen im längerfristigen Verlauf (rapid forgetting, ak-   agieren („Immersion“; für einen Überblick siehe Negut,
                                                                                                                                                                                                                                      zeleriertes Vergessen) und eine erhöhte Rate autobiografi-    Silviu-Andrei, Sava & David, 2015). Der Vorteil der Prä-
                                                                                                                                                                                                                                      scher Gedächtnisdefizite berichtet (Rayner, Jackson &         sentation in der virtuellen Welt liegt darin, dass eine höhe-
                                                                                                                                                                                                                                      Wilson, 2015). Zur Evaluation dieser langfristigen Behal-     re ökologische Validität durch die Nähe zur realen Welt
                                                                                                                                                                                                                                      tensleistung kann die erneute Testung z. B. eines Lernpa-     hergestellt wird, gleichzeitig aber eine hohe Kontrolle der
                                                                                                                                                                                                                                      radigmas nach 1 und 4 Wochen empfohlen werden (Visser         Rahmenbedingungen besteht und die Reaktionen des
                                                                                                                                                                                                                                      et al., 2019). Geurts, van der Werf, Kwa und Kessels (2019)   Probanden anders als in der realen Welt automatisiert do-
                                                                                                                                                                                                                                      konnten zeigen, dass die Untersuchung längerfristiger In-     kumentiert werden können (Negut et al., 2015). Aufgaben
                                                                                                                                                                                                                                      tervalle (nach 1 Woche) auch bei Patienten nach Schlagan-     in virtueller Realität werden in Zukunft das neuropsycho-
                                                                                                                                                                                                                                      fall oder TIA, die zwar über Gedächtnisprobleme klagen,       logische Methodeninventar ergänzen. Eine Checkliste, die
                                                                                                                                                                                                                                      bei denen diese jedoch psychometrisch nicht nachweisbar       die Auswahl geeigneter VR-Paradigmen erleichtert, findet
                                                                                                                                                                                                                                      sind, diskrete kognitive Defizite aufdecken konnte (siehe     sich bei Krohn et al. (2019).
                                                                                                                                                                                                                                      auch van der Werf, Geurts & de Wird, 2016).

                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Besondere Empfehlungen
                                                                                                                                                                                                                                   Weitere Untersuchungsfragen                                      für einzelne Störungsbilder

                                                                                                                                                                                                                                   Um die Gedächtnisleistungen in verschiedenen Tests an-           Schädel-Hirn-Trauma
                                                                                                                                                                                                                                   gemessen interpretieren, über die Körperfunktionsebene           Da der Dauer der posttraumatischen Amnesie (PTA) sowohl
                                                                                                                                                                                                                                   hinaus Einschränkungen der Aktivitäten und Teilhabe              bei leichtem als auch bei schwerem SHT eine wichtige prog-
                                                                                                                                                                                                                                   einschätzen und Therapieziele und -methoden ablei-               nostische Rolle zugesprochen wird, sollte diese auf der
                                                                                                                                                                                                                                   ten zu können, sind folgende weitere Gesichtspunkte              Akutstation engmaschig und wiederholt erhoben werden,
                                                                                                                                                                                                                                   einzubeziehen:                                                   vgl. Tabelle 5. Drake, McDonald, Magnus, Gray und Gotts-
                                                                                                                                                                                                                                   • Informationen aus der Anamnese sowie der Bildgebung            hall (2006) empfehlen die Erweiterung der Glasgow-Coma-
                                                                                                                                                                                                                                     über Art und Ausmaß der Hirnschädigung                         Scale (Glasgow Coma Scale-Extended, GCS-E; Nell, Yates &
                                                                                                                                                                                                                                   • relevante andere kognitive Defizite (z. B. Wahrneh-            Kruger, 2000). Dabei werden für unterschiedliche Dauern
                                                                                                                                                                                                                                     mung, Sprache, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen)             der Amnesie (meist überprüft über das erste Ereignis nach

                                                                                                                                                                                                                                   Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128                                                         © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie                                                                                        115

                                                                                                                                                                                                                                   dem Unfall, das der Patient angeben kann) Skalenwerte ver-            der Diagnostik in den letzten Jahren zunehmend in den
                                                                                                                                                                                                                                   geben. Auch die Überprüfung der verzögerten Lernleistung              Aufmerksamkeitsfokus gerückt. Bei der Diagnostik sollte
                                                                                                                                                                                                                                   für 3 Worte hat sich als Indikator für die Dauer der PTA be-          daher stets die Validität der Befunde und die Anstren-
                                                                                                                                                                                                                                   währt (Andriessen, de Jong, Jacobs, van der Werf & Vos,               gungsbereitschaft mit standardisierten Verfahren über-
                                                                                                                                                                                                                                   2009). International hat sich die Nutzung der Westmead                prüft werden (z. B. Merten, 2011), vgl. Tabelle 6.
                                                                                                                                                                                                                                   Post-Traumatic Amnesia Scale etabliert. (WPTAS: Ponsford
                                                                                                                                                                                                                                   et al. 2004; Abbreviated Westmead PTA Scale AWPTAS:
                                                                                                                                                                                                                                   Meares, Shores, Taylor, Lammel & Batchelor, 2011; siehe               Therapie
                                                                                                                                                                                                                                   auch http://www.psy.mq.edu.au/pta/index.html)
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Therapeutische Methoden
                                                                                                                                                                                                                                   Multiple Sklerose                                                     Die Therapieziele sowie die auszuwählenden Therapieme-
                                                                                                                                                                                                                                   Bei der Multiplen Sklerose ist wegen der Progredienz des              thoden richten sich nach der Schwere der Gedächtnisstö-
                                                                                                                                                                                                                                   Verlaufes vor allem auf die Wiederholbarkeit der Untersu-             rung, danach, ob weitere kognitive Funktionen beeinträch-
                                                                                                                                                                                                                                   chungen zu achten. Eine Experten-Kommission hat daher                 tigt sind, sowie nach dem Ausmaß der Krankheitseinsicht
                                                                                                                                                                                                                                   zwei Testbatterien mit z. T. überschneidenden Verfahren               (Awareness) bezüglich der eigenen Störung. Darüber hin-
                                                                                                                                                                                                                                   als besonders empfehlenswert erarbeitet (Langdon, 2011):              aus spielen persönliche Ziele des Patienten und die indivi-
                                                                                                                                                                                                                                   • Die Brief Repeatable Battery of Neuropsychological                  duellen Alltagsanforderungen einschließlich möglicher
                                                                                                                                                                                                                                      Tests (BRB-N; Boringa et al., 2001) enthält den Selecti-           beruflicher Anforderungen eine wesentliche Rolle für die
                                                                                                                                                                                                                                      ve Reminding Test (SRT), 10/36 Spatial Recall Test,                Prioritätensetzung. Abbildung 3 zeigt eine Übersicht der
                                                                                                                                                                                                                                      Symbol Digit Modalities Test, Paced Auditory Serial Ad-            verfügbaren Therapiestrategien.
                                                                                                                                                                                                                                      dition Test (PASAT) sowie den List Generation Test.
                                                                                                                                                                                                                                   • Außerdem hat die Cognitive Function Study Group of
                                                                                                                                                                                                                                      National Multiple Sclerosis Society ebenfalls eine Test-           Training spezifischer Gedächtnisfunktionen
                                                                                                                                                                                                                                      batterie festgelegt: Minimal Assessment of Cognitive               oder -strategien
                                                                                                                                                                                                                                      Function in MS (MACFIMS; Foley, Benedict, Gro-
                                                                                                                                                                                                                                      misch & DeLuca, 2012). In dieser Batterie sind enthal-             Beschreibung der Methode
                                                                                                                                                                                                                                      ten: Paced Auditory Serial Addition Test (PASAT), Sym-             Das kognitive Training wird seit vielen Jahren in der The-
                                                                                                                                                                                                                                      bol Digit Modalities Test, California Verbal Learning              rapie von Menschen mit Gedächtnisstörungen eingesetzt
                                                                                                                                                                                                                                      Test (CVLT), Brief Visuospatial Memory Test, Delis-Ka-             und ist auch in den letzten Jahren in vielen Studien unter-
                                                                                                                                                                                                                                      plan Executive Function Scale Sorting Test, Judgment               sucht worden. Allerdings verbergen sich hinter diesem
                                                                                                                                                                                                                                      of Line Orientation Test und Controlled Oral Word As-              Begriff sehr unterschiedliche Herangehensweisen und
                                                                                                                                                                                                                                      sociation Test (COWAT).                                            Aufgaben. Häufig wird die Art der Aufgaben in den Studi-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         en nur unzureichend beschrieben. Computergestütztes
                                                                                                                                                                                                                                   Beschwerdevalidierung                                                 Vorgehen ist häufig vor allem auf die Gedächtnisfunktion
                                                                                                                                                                                                                                   Da fast alle psychometrischen Testleistungen von der Mo-              selbst gerichtet (z. B. das Lernen einer Wortliste oder die
                                                                                                                                                                                                                                   tivation und Mitarbeit der zu Untersuchenden abhängen,                Beantwortung von Fragen zu Geschichten), z. T. wird
                                                                                                                                                                                                                                   ist die Frage der ausreichenden Anstrengung im Rahmen                 auch der Einsatz von Lernstrategien geübt, wobei zu dis-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         kutieren ist, ob das Üben von Lernstrategien zu einer Ver-
                                                                                                                                                                                                                                   Tabelle 5. Empfehlung zur Erfassung der posttraumatischen Amnesie.    besserung der Funktion an sich führt oder eher eine
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Kompensationsstrategie darstellt. In gruppenbasierten
                                                                                                                                                                                                                                    Die posttraumatische Amnesie nach einem SHT sollte auf der
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Programmen spielen darüber hinaus die Psychoedukati-
                                                                                                                                                                                                                                    Akutstation engmaschig und wiederholt erhoben und dokumen-
                                                                                                                                                                                                                                    tiert werden, bis ein vollständiges Tag-zu-Tag-Gedächtnis gegeben    on sowie der Austausch der Patienten zu aktivitätsspezifi-
                                                                                                                                                                                                                                    ist (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑).                       schen und teilhabebezogenen Kompensationsstrategien
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         eine wichtige Rolle.

                                                                                                                                                                                                                                   Tabelle 6. Empfehlung zur Beschwerdenvalidierung.                     Übersicht über die Evidenz
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Wir fanden 14 systematische Reviews bzw. Metaanalysen,
                                                                                                                                                                                                                                    Erhobene Befunde sollten mit entsprechenden psychometrischen         die die Wirksamkeit von kognitivem Training auf die Ge-
                                                                                                                                                                                                                                    Verfahren zur Beschwerdevalidierung, eingebetteten Indizes und
                                                                                                                                                                                                                                    unter Einbezug der Verhaltensbeobachtung kritisch hinsichtlich
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         dächtnisleistung und andere Outcome-Parameter unter-
                                                                                                                                                                                                                                    ihrer Validität überprüft werden. Dazu gehört auch die Prüfung auf   suchten (Klasse Ia). Darüber hinaus konnten Einzel-Studi-
                                                                                                                                                                                                                                    Inkonsistenzen innerhalb des Testprofils oder zwischen Testleis-      en zu kognitivem Training identifiziert werden, davon 11
                                                                                                                                                                                                                                    tung, Anamnese und Alltagsbeobachtung (Expertenkonsens; Emp-         Klasse-I-, eine Klasse-II- und zwei Klasse-III-Studien. Wir
                                                                                                                                                                                                                                    fehlungsstärke B; ↑).
                                                                                                                                                                                                                                                                                                         sprechen insgesamt von 11 Klasse-I-Studien, da in den Pub-

                                                                                                                                                                                                                                   © 2020 Hogrefe                                                                    Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   116                                                                           Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie

                                                                                                                                                                                                                                       Abbildung 3. Flussdiagramm zur Auswahl
                                                                                                                                                                                                                                                 geeigneter Therapiestrategien.

                                                                                                                                                                                                                                   likationen von Chiaravalloti et al. (2012–2016) z. T. mehre-   Stewart, Gascoigne und Lah (2018) bei Patienten mit Epi-
                                                                                                                                                                                                                                   re Publikationen zu denselben Daten erschienen sind. Un-       lepsie und das Nair, Cogger, Worthington und Lincoln
                                                                                                                                                                                                                                   ter den Übersichtsarbeiten fanden wir zwei systematische       [2016] bei Schlaganfallpatienten). Die große Heterogeni-
                                                                                                                                                                                                                                   Reviews, die die Auswirkung kognitiver Rehabilitations-        tät der eingesetzten Trainingsverfahren und der Patien-
                                                                                                                                                                                                                                   maßnahmen auf die berufliche Integration von Patienten         tengruppen, die sich nicht nur hinsichtlich der Ätiologie
                                                                                                                                                                                                                                   nach SHT untersuchten (Kumar, Samuelkamaleshkumar,             sondern auch hinsichtlich Alter, Dauer der Hirnschädi-
                                                                                                                                                                                                                                   Viswanathan & Macaden, 2017; Radomski, Anheluk, Bart-          gung und Schwere der Gedächtnisbeeinträchtigung unter-
                                                                                                                                                                                                                                   zen & Zola, 2016).                                             scheiden, erschwert den Vergleich.
                                                                                                                                                                                                                                      Es liegt eine Reihe von Studien vor, die für verschiedene      Unter Teilhabe-Gesichtspunkten besonders relevant
                                                                                                                                                                                                                                   Patientengruppen belegen, dass funktions- oder strategie-      sind zwei Reviews zur Untersuchung von kognitivem
                                                                                                                                                                                                                                   orientiertes kognitives Training zu einer Verbesserung in      Training mit Hinblick auf die berufliche Leistungsfähig-
                                                                                                                                                                                                                                   gedächtnisspezifischen Outcome-Maßen führt. Darüber            keit von Patienten nach SHT (Kumar et al., 2017; Radom-
                                                                                                                                                                                                                                   hinaus werden Verbesserungen in Fragebögen zur Alltags-        ski et al., 2016). Beide können keine eindeutige Evi-
                                                                                                                                                                                                                                   beeinträchtigung (z. B. Chiaravalloti, Sandry, Moore & De-     denz für die Wirksamkeit des kognitiven Trainings für die
                                                                                                                                                                                                                                   Luca, 2016) sowie hinsichtlich des prospektiven Gedächt-       berufliche Rehabilitation aufzeigen, wobei aus klini-
                                                                                                                                                                                                                                   nisses (Richter, Mödden, Eling & Hildebrandt, 2015, 2018)      scher Perspektive das kognitive Training allenfalls einen
                                                                                                                                                                                                                                   berichtet, sofern das prospektive Gedächtnis Inhalt der        Baustein im Rahmen einer therapeutisch begleiteten be-
                                                                                                                                                                                                                                   Trainingsaufgabe war. Des Weiteren konnten auf Basis           ruflichen Wiedereingliederung darstellen kann. Welche
                                                                                                                                                                                                                                   von fMRT nach dem Training Veränderungen der Hirnak-           Bedeutung eine gezielte plastizitäts-orientierte Funkti-
                                                                                                                                                                                                                                   tivität sowohl bei Patienten mit MS (Chiaravalloti, Wylie,     onsverbesserung in den ersten Monaten nach einer Hirn-
                                                                                                                                                                                                                                   Leavitt & DeLuca, 2012; Leavitt, Wylie, Girgis, DeLuca &       schädigung für eine berufliche Wiedereingliederung
                                                                                                                                                                                                                                   Chiaravalloti, 2014) als auch bei solchen mit SHT (Chiara-     möglicherweise Monate später hat, lässt sich sicher nicht
                                                                                                                                                                                                                                   valloti et al., 2016) nachgewiesen werden. Höhere Aktivie-     linear untersuchen.
                                                                                                                                                                                                                                   rung in frontalen bzw. fronto-temporalen Netzwerken               Neben der Wirksamkeit auf die Gedächtnisleistung
                                                                                                                                                                                                                                   wird als Hinweis auf einen verbesserten Strategiegebrauch      wurden für Gruppenangebote weitergehende Effekte be-
                                                                                                                                                                                                                                   interpretiert. Obwohl in den einzelnen Studien durchaus        richtet. So konnten das Nair, Martin und Sinclair (2015)
                                                                                                                                                                                                                                   Effekte eines Trainings berichtet werden, werden diese Ef-     zeigen, dass die Teilnehmenden vor allem Verbesserun-
                                                                                                                                                                                                                                   fekte in der zusammenfassenden Bewertung der systema-          gen der Einsicht und Akzeptanz der neurologischen und
                                                                                                                                                                                                                                   tischen Reviews oder Metaanalysen als eher klein einge-        kognitiven Beeinträchtigungen berichteten. Gruppen, in
                                                                                                                                                                                                                                   schätzt (Fetta, Starkweather und Gill [2017] sowie Spreij,     denen auch die soziale Unterstützung eine Rolle spielte,
                                                                                                                                                                                                                                   Visser-Meily, van Heugten und Nijboer [2014] bei SHT;          führten darüber hinaus zu mehr Selbstvertrauen der Pa-
                                                                                                                                                                                                                                   Gromisch, Fiszdon und Kurtz [2018], Rosti-Otajärvi und         tienten und hatten positive Auswirkungen auf Faktoren
                                                                                                                                                                                                                                   Hämäläinen [2014] sowie das Nair, Martin und Lincoln           wie die Stimmung und Fatigue (Chouliara & Lincoln,
                                                                                                                                                                                                                                   [2016] und Dardiotis et al. [2018]bei MS-Patienten; Joplin,    2016).

                                                                                                                                                                                                                                   Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128                                                     © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto  - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1

                                                                                                                                                                                                                                   Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie                                                                                          117

                                                                                                                                                                                                                                   Wer profitiert von einem übungsorientierten Training?                  fand Thöne-Otto (2017) einen deutlichen Dosis-Wir-
                                                                                                                                                                                                                                   Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Patienten mit                kungszusammenhang und empfahl mindestens 15 Sitzun-
                                                                                                                                                                                                                                   besseren Aufmerksamkeitsleistungen (Chiaravalloti,                     gen. Auch schien ein verteiltes Training effizienter als ein
                                                                                                                                                                                                                                   Dobryakova, Wylie & DeLuca, 2015) bzw. besseren Ar-                    massiertes. Für genaue Angaben zur Häufigkeit des Trai-
                                                                                                                                                                                                                                   beitsgedächtnisleistungen (Sandry, Chiou, DeLuca &                     nings scheinen die Belege trotz einzelner systematischer
                                                                                                                                                                                                                                   Chiaravalloti, 2016) mehr vom Training profitieren.                    Reviews nicht ausreichend, daher sprechen wir hier ledig-
                                                                                                                                                                                                                                   Das könnte bei Patienten mit einer progredienten Er-                   lich von guter klinischer Praxis.
                                                                                                                                                                                                                                   krankung wie z. B. einer MS dafür sprechen, eine früh-                    Die Arbeitsgruppe um Chiaravalloti hat einen Groß-
                                                                                                                                                                                                                                   zeitige Therapie bei Auftreten kognitiver Störungen zu                 teil der Studien mit der sogenannten „Story Memory
                                                                                                                                                                                                                                   empfehlen.                                                             Technique“ duchgeführt, einem Verfahren, bei dem Be-
                                                                                                                                                                                                                                      Darüber hinaus gaben verschiedene Studien an,                       griffe semantisch assoziiert und mit bildhaften Vorstel-
                                                                                                                                                                                                                                   dass die Schwere der Gedächtnisstörung keinen Einfluss                 lungen verknüpft werden, Methoden, die eine lange Tra-
                                                                                                                                                                                                                                   auf die Wirksamkeit des Trainings hätte (Radford, Lah,                 dition zur Verbesserung von Lernleistungen haben. Ein
                                                                                                                                                                                                                                   Thayer & Miller, 2011; Stringer, 2011). Allerdings wer-                TED-Talk der Autorin zur Story Memory Technique fin-
                                                                                                                                                                                                                                   den in der Regel nur Patienten mit leichten oder mittel-               det sich unter https://www.youtube.com/watch?v=JbLA
                                                                                                                                                                                                                                   schweren Gedächtnisstörungen in die Trainingsstudien                   GpQ9RXg
                                                                                                                                                                                                                                   eingeschlossen, während Patienten mit schwerer Am-
                                                                                                                                                                                                                                   nesie wie z. B. Korsakow-Patienten gar nicht erst zur Ziel-
                                                                                                                                                                                                                                   gruppe dieser Studien gehören. Ein Mindestmaß län-                     Auf dem impliziten Gedächtnis basierende
                                                                                                                                                                                                                                   gerfristiger Behaltensleistung ist als Voraussetzung dafür             Methoden (Errorless Learning, Spaced
                                                                                                                                                                                                                                   anzusehen, dass trainingsorientierte Verfahren wirk-                   Retrieval, prozedurales Lernen)
                                                                                                                                                                                                                                   sam sind. Um andere Wirkmechanismen besser zu ver-
                                                                                                                                                                                                                                   stehen, fehlt es hingegen weiterhin an Studien. Für Pati-              Beschreibung der Methode
                                                                                                                                                                                                                                   enten mit schwerer globaler Amnesie kann aufgrund                      Das Fehlerfreie Lernen (Errorless Learning) ist eine
                                                                                                                                                                                                                                   fehlender Wirksamkeitsnachweise keine Empfehlung für                   Technik, die vor allem für Menschen mit schwerer Amne-
                                                                                                                                                                                                                                   ein funktionsorientiertes Training ausgesprochen wer-                  sie entwickelt wurde. Dabei liegt das Ziel darin, beim Ab-
                                                                                                                                                                                                                                   den, vgl. Tabelle 7.                                                   ruf so gut wie möglich das Auftreten von Fehlern zu ver-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          hindern. Mithilfe der Methode können auch Menschen
                                                                                                                                                                                                                                   Dauer des Trainings. Die Studien aus der Arbeitsgruppe um              mit sehr schweren Gedächtnisstörungen domänenspezi-
                                                                                                                                                                                                                                   Chiaravalloti et al. (2012–2016) zeigen nach 10 Sitzungen              fische Informationen und neue Fertigkeiten erlernen. Es
                                                                                                                                                                                                                                   Einzeltherapie signifikante Verbesserungen in den durch-               geht dabei nicht um eine Verbesserung der Gedächtnis-
                                                                                                                                                                                                                                   geführten Gedächtnistest. Weicker et al. (2020) fanden                 leistung als Körperfunktion, vielmehr ist die Methode ge-
                                                                                                                                                                                                                                   nach 20 nicht jedoch nach 10 Sitzungen computergestütz-                eignet, den Patienten umschriebene, für sie relevante In-
                                                                                                                                                                                                                                   tem Training eine Verbesserung der Arbeitsgedächtnis-                  formationen zu vermitteln oder Routinen aufzubauen,
                                                                                                                                                                                                                                   leistung. In einem Review zum Einfluss der Trainingsdau-               und somit Aktivitäten oder Teilhabe zu verbessern. Um
                                                                                                                                                                                                                                   er auf die Wirksamkeit von Arbeitsgedächtnistraining                   das Auftreten von Fehlern zu vermeiden, werden entwe-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          der sehr kurze Abrufintervalle gewählt, oder die gesuch-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          ten Informationen sollen unmittelbar wiederholt werden.
                                                                                                                                                                                                                                   Tabelle 7. Empfehlung zum funktions- oder strategieorientierten kog-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Im Gegensatz dazu gehört zu einer Gedächtnisübung
                                                                                                                                                                                                                                   nitiven Training.                                                      normalerweise essentiell dazu, die relevante Information
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          auch längerfristig zu behalten. Beim Abruf nach Intervall
                                                                                                                                                                                                                                    – Patienten mit Gedächtnisstörungen sollen ein spezifisches            entsteht jedoch auch die Möglichkeit, dass Fehler entste-
                                                                                                                                                                                                                                      funktions- oder strategieorientiertes kognitives Training erhal-
                                                                                                                                                                                                                                      ten (LoE Ib; Empfehlungsstärke A; ↑↑).
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          hen. Der Spagat zwischen Fehlervermeidung auf der ei-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          nen und abrufgesteuertem Lernen auf der anderen Seite
                                                                                                                                                                                                                                    – Die Wirksamkeit der Methode hängt von der Trainingshäufigkeit        wird in der Frage der differenziellen Wirksamkeit der
                                                                                                                                                                                                                                      ab. Mindestens 10 Sitzungen gelten als gute klinische Praxis
                                                                                                                                                                                                                                      (LoE Ib;Empfehlungsstärke C; ←→).
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Strategie intensiv diskutiert (Middleton & Schwartz,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          2012).
                                                                                                                                                                                                                                    – Für Patienten mit schwerer globaler Amnesie kann aufgrund
                                                                                                                                                                                                                                      fehlender Wirksamkeitsnachweise keine Empfehlung für ein
                                                                                                                                                                                                                                      funktionsorientiertes Training ausgesprochen werden. Bei die-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Übersicht über die Evidenz
                                                                                                                                                                                                                                      sen Patienten sollte daher der Fokus der Therapie auf dem Er-       Wir fanden seit 2012 keine Studie, die den Kriterien für
                                                                                                                                                                                                                                      lernen von Kompensationsstrategien liegen, mit dem Ziel der         Klasse Ia entspricht. Es gibt verschiedene Reviews, die
                                                                                                                                                                                                                                      Verbesserung von Aktivitäten und Teilhabe (Expertenkonsens;         sich theoretisch mit der Methode auseinandersetzen, je-
                                                                                                                                                                                                                                      Empfehlungsstärke B; ↑).
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          doch nicht kritisch die Wirksamkeit überprüfen (Hayes,

                                                                                                                                                                                                                                   © 2020 Hogrefe                                                                      Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
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