Kurzfassung der S2e-Leitlinie "Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen" - (AWMF-030/124) - GNP
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https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 S2e-Leitlinie Kurzfassung der S2e-Leitlinie „Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen“ (AWMF-030/124) Federführend: Dr. Angelika Thöne-Otto, Leipzig Unter Mitwirkung des Redaktionskomitees: Prof. Dr. Hermann Ackermann (DGNR), Fachkliniken Hohenurach, Bad Urach, Hertie Institute for Clinical Brain Research, Tübingen, Universität Tübingen, Department of General Neurology, Tübingen Dr. Thomas Benke (ÖGN), Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck Regina Bezold (DVE), Deutscher Verband der Ergotherapeuten, Karlsbad Prof. Dr. Helmut Hildebrandt (GNP), Klinikum Bremen-Ost, Bremen, Carl von Ossietzky Universität, Institut für Psychologie, Oldenburg Claudia Meiling (DVE), Deutscher Verband der Ergotherapeuten, Karlsbad Prof. Dr. Sandra Verena Müller (GNP), Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, Fakultät Soziale Arbeit, Wolfenbüttel Prof. Dr. Thomas Nyffeler (SNG), Luzerner Kantonsspital, Klinik für Neurologie und Neurorehabilitation, Luzern Dr. Karin Schoof-Tams (GNP), Neuropsychologisches Zentrum, Praxis für Neuropsychologie und Psychotherapie, Kassel Prof. Dr. Claus-W. Wallesch (DGN, DGNR), BDH-Klinik Elzach, Elzach Die Langfassung der Leitlinie ist online erschienen unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-124.html Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick Zusammenfassung: Diagnostik. Zur Basisuntersuchung der Gedächtnisleistung gehören die Untersuchung der Orientierung, verbaler und figu- raler Merkspannen sowie des Arbeitsgedächtnisses, ein Lernparadigma (z.B. Wortliste) mit verzögertem Abruf sowie die unmittelbare und ver- zögerte Wiedergabe komplexer verbaler und figuraler Informationen. Die Ergebnisse der neuropsychologischen Untersuchung sollten dem Pa- tienten, und (soweit das Einverständnis des Patienten vorliegt) seinen Angehörigen sowie dem Behandlungsteam mitgeteilt werden. Therapie: Die Evidenz für die Wirksamkeit des übenden Funktionstrainings konnte für Patienten mit leichten bis mittelschweren Gedächtnisstörungen in einer Reihe randomisierter Kontrollgruppenstudien erhärtet werden. Daher sollen diese Patienten ein spezifisches funktions- oder strategieo- rientiertes kognitives Training erhalten. Elektronische Gedächtnishilfen stellen wichtige Hilfsmittel dar, um die Auswirkungen von Gedächtnis- störungen im Alltag zu kompensieren. Bei Menschen mit schweren Gedächtnisstörungen sollte der Fokus der Therapie auf dem Erlernen von Kompensationsstrategien liegen. Für den Aufbau von Routinen spielt das fehlerfreie Lernen (Errorless Learning) dabei eine wichtige Rolle. Während für Neurostimulationsverfahren bislang keine Wirksamkeit zur Verbesserung des episodischen Gedächtnisses nachgewiesen konnte, wird im Einsatz virtueller Realität ein hohes Potential für Diagnostik und Therapie gesehen. Schlüsselwörter: Gedächtnis, Amnesie, Gedächtnistraining, Kognitive Rehabilitation, Assistive Technologie, elektronische Gedächtnishilfen Im Artikel verwendete Abkürzungen AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen ADL Aktivitäten des täglichen Lebens Medizinischen Fachgesellschaften (Activities of Daily Living) ÄZQ Ärztliches Zentrum für Qualität in AGI Autobiografisches Gedächtnisinventar der Medizin © 2020 Hogrefe Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128 https://doi.org/10.1024/1016-264X/a000298
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 108 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie BRB-N Brief Repeatable Battery of fehlungsstärke C). Für Patienten mit schwerer globaler Neuropsychological Tests Amnesie kann aufgrund fehlender Wirksamkeitsnach- COWAT Controlled Oral Word Association Test weise keine Empfehlung für ein funktionsorientiertes CVLT California Verbal Learning Test Gedächtnistraining ausgesprochen werden. DBS Tiefenhirnstimulation (Deep Brain 2. Assistive Technologien (elektronische Gedächtnis- Stimulation) hilfen) sind durch die weite Verbreitung von Smart- DCS Diagnostikum für Cerebralschäden phones für die Patienten inzwischen leicht verfügbar. DemTect Demenz-Detektionstest Sie stellen wichtige Hilfsmittel dar, um die Auswirkung DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental von Gedächtnisstörungen im Alltag zu kompensieren Disorders und die Teilhabe zu verbessern. Trotz mäßiger Evi- GCS-E Glasgow Coma Scale-Extended denz wird aufgrund der klinischen Relevanz der Ein- HSE Herpes-simplex-Enzephalitis satz empfohlen (LoE II–III; Empfehlungsstärke A). Ein ICD International Statistical Classification of angepasster Einsatz sollte in der Therapie thematisiert Diseases and Related Health Problems werden. ICF International Classification of Function 3. Bei Menschen mit schweren Gedächtnisstörungen IGD Inventar zur Gedächtnisdiagnostik sollte der Fokus der Therapie auf dem Erlernen von MACFIMS Minimal Assessment of Cognitive Function Kompensationsstrategien liegen, mit dem Ziel der Ver- in MS besserung von Aktivitäten und Teilhabe (Experten- MMST Mini-Mental Status Test konsens; Empfehlungsstärke B). Für den Aufbau von MoCA Montreal Cognitive Assessment Routinen spielt das fehlerfreie Lernen (Errorless MS Multiple Sklerose Learning) bei Menschen mit schwerer Amnesie eine MTL Medialer Temporallappen wichtige Rolle. Dabei sollten Fehler durch eindeutige NAI Nürnberger Altersinventar Hinweise möglichst vermieden werden (fehlerarmes NICE National Institute for Health and Care Lernen) und ein aktiver Abruf angeregt werden, indem Excellence das Abrufintervall zunächst kurz, im weiteren Verlauf PASAT Paced Auditory Serial Addition Test länger gestaltet wird (Spaced Retrieval; LoE II–III; PTA Posttraumatische Amnesie Empfehlungsstärke B). RBMT Rivermead Behavioral Memory Test SHT Schädel-Hirn-Trauma tDCS transkranielle Gleichstromstimulation (transcranial direct current stimulation) Begriffsdefinition TGA transiente globale Amnesie TLE Temporallappen-Epilepsie Der Begriff „Amnesie“ bedeutet eine isolierte, schwere VLMT Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest Störung des Lernens und Behaltens, während andere ko- VR Virtuelle Realität gnitive Funktionen wie z. B. Sprache oder Intelligenz- VVM Visueller und Verbaler Merkfähigkeitstest funktionen weitgehend erhalten sind. Man unterscheidet WMS Wechsler Memory Scale die „anterograde“ von der „retrograden“ Amnesie, eine Unterscheidung, die sich auf den Zeitpunkt der Hirn- schädigung bezieht. Eine anterograde Amnesie ist die Unfähigkeit, Informationen und Erlebnisse zu behalten, Was gibt es Neues? die nach einer Hirnschädigung gelernt bzw. erfahren wer- den, während eine retrograde Amnesie die Unfähigkeit 1. Die Evidenz für die Wirksamkeit des übenden Funkti- beschreibt, Erinnerungen wieder abzurufen, die vor der onstrainings konnte für Patienten mit leichten bis mit- Hirnschädigung ins Gedächtnis gelangten. Die meisten telschweren Gedächtnisstörungen in einer Reihe ran- Patienten mit Gedächtnisstörungen, insbesondere nach domisierter Kontrollgruppenstudien erhärtet werden. Schädel-Hirn-Trauma (SHT), haben eine ausgeprägte an- Daher sollen Patienten mit leichten bis mittelschweren terograde Amnesie, ihre retrograde Amnesie weist hinge- Gedächtnisstörungen ein spezifisches funktions- oder gen häufig einen zeitlichen Gradienten auf und umfasst strategieorientiertes kognitives Training erhalten (z. B. vor allem die Gedächtnisinhalte, die kurz vor dem hirn- bildhafte Vorstellungen; Level of Evidence [LoE] Ib; schädigenden Ereignis erworben wurden, während län- Empfehlungsstärke A). Die Wirksamkeit der Methode ger zurückliegende Ereignisse unbeeinträchtigt abgeru- hängt von der Trainingshäufigkeit ab (mindesten 10 fen werden können. Es finden sich jedoch auch Patienten, Sitzungen gelten als gute klinische Praxis; LoE Ib; Emp- die bei erhaltenem Neugedächtniserwerb nahezu aus- Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128 © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie 109 schließlich retrograde Gedächtnisstörungen aufweisen Untergliederung verschiedener (Kopelman, 2002a; Markowitsch & Staniloiu, 2012). Gedächtnisprozesse Ein allgemeinerer Begriff ist der der „Gedächtnisstö- rung“. Er kann als Oberbegriff für alle Einbußen des Ler- Im Lernprozess werden die Phasen der Enkodierung, der nens, Behaltens und des Abrufs gelernter Information an- Konsolidierung oder Speicherung sowie des Abrufs un- gesehen werden. Dieser Terminus ist sehr unspezifisch. Er terschieden. Dabei findet sich häufig eine enge Konfundie- sagt nichts über die Ursache dieser Störung aus und darü- rung von gestörten Aufmerksamkeits- oder Exekutivfunk- ber, ob es sich um isolierte Gedächtnisstörungen handelt tionen und unzureichender Enkodierung. Ist nur die oder diese in Kombination mit anderen kognitiven Störun- Enkodierung gestört, können Informationen, die hinrei- gen auftreten. Subjektive Gedächtnisstörungen sind häu- chend enkodiert wurden, oft nach Intervall annähernd fig und nehmen mit höherem Alter zu. Luck et al. (2018) vollständig abgerufen werden. Im Gegensatz dazu zeigt konnten zeigen, dass in einer gesunden Population von sich eine gestörte Konsolidierung, wenn auch verschiede- 40- bis 79-Jährigen 53 % der Befragten in irgendeiner ne Abrufhilfen den Informationsabruf nach Intervall nicht Form über Gedächtnisprobleme klagten. Ob subjektive verbessern. Auch bei gelungener Konsolidierung oder Klagen über eine Verschlechterung der Gedächtnisleis- Speicherung kann der Informationsabruf vielfältig beein- tung ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Demen- trächtigt sein. Zur Untersuchung bietet sich der Abruf mit zerkrankung sind, wird aktuell diskutiert (Jonker, Geer- verschiedenen gestuften Hilfen (z. B. freier Abruf, Abruf lings & Schmand, 2000; Luck et al., 2018). mit Hinweisreizen, Wiedererkennen) an. Der Begriff „Demenz“ bezeichnet ein Krankheitsbild, bei dem es zu einer schweren Beeinträchtigung verschiede- ner kognitiver Funktionen kommt, wobei die Gedächtnis- störung nur bei einigen Demenzformen (z. B. der Alzhei- Klassifikation merkrankheit) das Leitsymptom darstellt. Die kognitiven Störungen sind so schwerwiegend, dass es zu Einschrän- Gedächtnisstörungen gehören im DSM-5 zu den neuro- kungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens kommt, Meist kognitiven Störungen. Dabei wird nach der Schwere der assoziiert der Begriff eine progrediente Neurodegenerati- kognitiven Störung zwischen „majorer“ und „minorer“ on, im Prinzip kann die Demenz i. S. von schweren kogniti- kognitiver Störung unterschieden. Darüber hinaus ist zu ven Störungen in mehreren Domänen aber auch Ergebnis unterscheiden, ob die neurokognitive Störung mit oder anderer nicht progredienter Erkrankungen des Gehirns ohne Verhaltensstörung auftritt, schließlich wird die Ur- sein (z. B. Demenz nach SHT). Im DSM-5 wird der Begriff sache der kognitiven Störung klassifiziert (Maier & Barni- der Demenz aufgegeben und durch den Begriff der „schwe- kol, 2014). ren neurokognitiven Störung“ ersetzt. In der ICD-11 wird In der Klassifikation der ICD-10 finden sich Gedächtnis- er erhalten bleiben. störungen im Kapitel Organische, einschließlich symptomati- Das „Delir“ stellt einen akuten Verwirrtheitszustand sche psychische Störungen (F00–F09) (s. Abbildung 1). Unter dar, der bei älteren Patienten häufig auftritt und regelmä- der Codierung F00–F03 werden alle demenziellen Erkran- ßig ebenfalls mit Gedächtnisstörungen einhergeht (In- kungsbilder kodiert. Das Organisch amnestische Syndrom ouye, Westerndorp & Saczynski, 2014). mit schweren anterograden und retrograden Gedächtnis- Nach unterschiedlichen Modellen und Theorien lassen störungen wird unter der F04 klassifiziert. In der Ziffer sich Gedächtnisfunktionen zum einen zeitlich unterglie- F06 finden sich Andere psychische Störungen aufgrund einer dern (Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis; Neugedächtnis Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer kör- und Altgedächtnis; prospektives Gedächtnis), zum ande- perlichen Krankheit, wobei kognitive Störungen am ehesten ren inhaltlich (deklaratives Gedächtnis, weiter unterteilt unter der F06.7 Leichte kognitive Störung oder der F06.8 in semantisches und episodisches Gedächtnis, und nonde- sonstige näher bezeichnete organische psychische Störung… zu klaratives Gedächtnis, weiter unterteilt in prozedurales klassifizieren sind. Treten die kognitiven Störungen in Ver- Lernen, Priming sowie klassische und operante Konditio- bindung mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nierung). Diese können unabhängig voneinander gestört aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstö- sein können (für eine Übersicht siehe Markowitsch, 2017). rung des Gehirns auf, so ist diese unter der F07 Organische Der Begriff des Arbeitsgedächtnisses impliziert schon im Persönlichkeitsstörung, F07.1 Postenzephalitisches Syndrom Namen seine Gedächtnisfunktion, es ist gleichzeitig auch oder F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn- Teil der zentralen Exekutive. Störungen des Arbeitsge- Trauma zu kodieren. Wenn die diagnostischen Kriterien dächtnisses werden daher in der Leitlinie „Exekutive Dys- für eine F0-Diagnose nicht zutreffen, können auch Sympto- funktionen“ (AWMF 030/125; Müller, Klein et al., 2019) me, die das Erkennungs- und Wahrnehmungsvermögen, die behandelt. Stimmung und das Verhalten betreffen (R40–R49) beschrie- © 2020 Hogrefe Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 110 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie ben werden, wobei unter R41.1 die anterograde und unter Ätiologie R41.2 die retrograde Amnesie klassifiziert wird. In der ICD- 11 wird es im Kapitel 08 Erkrankungen des Nervensystems Gedächtnisstörungen können eine große Vielfalt von Ursa- eine Subgruppe geben: Erkrankungen mit neurokognitiven chen haben. Die Spannbreite reicht von Gedächtnisstörun- Störungen als wesentliches Merkmal. gen im Rahmen eines allgemeinen und schleichend pro- Die ICF-Klassifikation (Internationale Klassifikation gredienten intellektuellen Leistungsverlusts, wie z. B. bei der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) der Alzheimerkrankheit, über umgrenzte verbale und/oder erlaubt die umfassende Betrachtung des Patienten mit figurale Neu- oder Altgedächtnisstörungen nach fokalen Gedächtnisstörung im Kontext eines bio-psycho-sozialen Hirnschädigungen bis hin zu psychisch bedingten Erinne- Modells. Gedächtnisfunktionen gehören in der Klassifi- rungsausfällen im Rahmen einer funktionellen oder disso- kation zu den „Globalen mentalen Funktionen“ (b110– ziativen Amnesie. Auch verschiedene internistische (z. B. b139, insbesondere b114 Funktionen der Orientierung) Schilddrüsenerkrankungen) und psychiatrische Erkran- bzw. zu den „Spezifischen mentalen Funktionen“ (b140– kungen (z. B. Schizophrenie und Depression) können mit b189). Hier werden unter b144 Funktionen des Gedächt- Gedächtnisstörungen assoziiert sein. Nicht zuletzt geht der nisses beschrieben (b1440 Kurzzeitgedächtnis, b1441 gesunde Alterungsprozess mit Veränderungen in der Lern- Langzeitgedächtnis, b1442 Abrufen von Gedächtnisin- und Gedächtnisleistung einher. Da sich die Leitlinie auf die halten, b1448 Funktionen des Gedächtnis anders be- neurologischen Erkrankungen beschränkt, werden in Ta- zeichnet bzw. b1449 nicht näher bezeichnet). In Ergän- belle 1 nur die häufigsten neurologischen Erkrankungen zung zur ICD ermöglicht die ICF auch die Betrachtung erwähnt, die mit Gedächtnisstörungen einhergehen. der mit der Schädigung einhergehenden Einschränkun- gen der Aktivitäten und Teilhabe, wobei diese nicht als lineare Folge der Gedächtnisstörungen verstanden wer- den dürfen. Vielmehr ergeben sich die Einschränkungen Diagnostik nach dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF aus der Wechselwirkung aller Komponenten von Gesundheit. Die Diagnose von Gedächtnisstörungen setzt den Einsatz Dazu gehören neben den Körperfunktionen und -struktu- ausreichend spezifischer und sensibler Untersuchungsver- ren auch die Kontextfaktoren eines Menschen, die sich fahren voraus. Es sei hervorgehoben, dass eine einzelne wiederum aus seiner Persönlichkeit (personbezogene kognitive Funktion, z. B. das Gedächtnis, nicht isoliert zu Faktoren) und seiner Umwelt (umweltbezogene Fakto- betrachten ist, sondern stets im Kontext anderer kogniti- ren) ergeben (vgl. Abbildung 2). ver Funktionen, der psychischen Befindlichkeit sowie des Verhaltens zu sehen ist. Daher soll die Untersuchung der Gedächtnisleistung stets in eine ausführlichere neuro- psychologische Testung auch anderer kognitiver Leis- Abbildung 1. Klassifikationsmöglichkeiten von Gedächtnisstörungen in der ICD-10. Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128 © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie 111 Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit) Körperfunktionen Partizipation Aktivitäten und -strukturen (Teilhabe) Abbildung 2. Das bio-psycho-soziale Modell der ICF, entnommen aus: Internatio- nale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ICF, Heraus- gegeben vom Deutschen Institut für Medizi- nische Dokumentation und Information (DIMDI), 2005, S. 21. Umweltfaktoren personenbezogene Faktoren Tabelle 1. Übersicht über die häufigsten Neurologischen Erkrankun- buch neuropsychologischer Testverfahren“ (Schellig, gen, die mit Störungen des Gedächtnisses einhergehen. Drechsler, Heinemann & Sturm, 2009). Die Ergebnisse Schädel-Hirn-Trauma der neuropsychologischen Untersuchung sollten dem Pati- enten und (soweit das Einverständnis des Patienten vor- Zerebrovaskuläre Erkrankungen – Ischämischer Infarkt liegt) seinen Angehörigen sowie dem übrigen Behand- – Intrazerebrale und subdurale Blutung lungsteam mitgeteilt werden (National Institute for Health – Subarachnoidalblutung and Care Excellence, 2013). Psychometrische Verfahren – Ruptur von Aneurysmen dienen vor allem der Erfassung der Gedächtnisfunktion Transiente globale Amnesie (vgl. AWMF-Leitlinie 030/083) als Körperfunktion. Um Aussagen über deren Auswirkun- Entzündliche Erkrankungen des Gehirns gen auf Aktivitäten und Teilhabe machen zu können, sind – Multiple Sklerose Fragebögen, Selbst- und Fremdeinschätzung sowie die – Herpes-simplex-Enzephalitis Verhaltensbeobachtung von großer Relevanz. Die Validi- – Autoimmunenzephalitis tät psychometrischer Befunde sollte stets durch die Ver- Chronischer Alkoholmissbrauch haltensbeobachtung, eine kritische Betrachtung der Kon- – Korsakow-Syndrom sistenz des Störungsprofils über verschiedene Verfahren Epilepsie sowie ggf. durch gezielte Beschwerdevalidierungsverfah- Tumorerkrankungen, ins besondere Tumoren des dritten Ventrikels ren geprüft werden. Indikation tungsparameter eingebunden sein (siehe Leitlinie „Auf- merksamkeitsstörungen“ AWMF 030/135 und „Exekutive Typische Klagen von Menschen mit vermuteten Gedächt- Dysfunktionen“ AWMF 030/125). Die eingehende diag- nisdefiziten beziehen sich auf Vergesslichkeit im Alltag. nostische Untersuchung der unterschiedlichen Gedächt- Dinge werden verlegt, Termine nicht zuverlässig eingehal- nisfunktionen ist Aufgabe qualifizierter Neuropsycholo- ten oder zu Terminen werden relevante Unterlagen nicht gen, da nur eine genaue Kenntnis der psychologischen und mitgenommen. Auch beim Lesen stellen die Betroffenen neuropsychologischen Theorien und der Paradigmen, die häufig ein Nachlassen der Gedächtnisleistung fest. Infor- den Untersuchungsverfahren zugrunde liegen, sowie mationen können nicht hinreichend aufgenommen wer- der funktionellen Netzwerke, die Gedächtnisleistungen den oder gehen schnell wieder verloren. Ein weiteres häu- kontrollieren, eine kompetente Diagnosestellung ge- fig berichtetes Symptom ist das Nicht-Erinnern vertrauter währleisten. Die hypothesengeleitete Auswahl geeigneter Namen, wobei dieses Symptom sehr unspezifisch zu sein Untersuchungsinstrumente unter Berücksichtigung der scheint und nicht notwendig mit einer klinisch relevanten Schwere der kognitiven Beeinträchtigung, der Fragestel- Gedächtnisstörung einhergeht. lung, der Ätiologie und Untersuchbarkeit des Patienten Nicht immer beklagen die Patienten selbst die Gedächt- obliegt daher der klinischen Neuropsychologie. Für die nisstörung. Teilweise ist eine eingeschränkte Selbstwahr- Untersuchung unterschiedlicher Gedächtnisaspekte liegt nehmung Teil des Störungsbildes. In diesen Fällen sind es eine Fülle psychometrischer Testverfahren vor. Eine Über- eher die Angehörigen, die Gedächtnisprobleme berichten, sicht mit Angaben der jeweiligen Testgütekriterien und z. B. dass die Patienten sich in einer eigentlich bekannten Hinweisen zum Anwendungsgebiet findet sich im „Hand- Umgebung verlaufen oder bereits nach kurzer Zeit Ge- © 2020 Hogrefe Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 112 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie sprächsinhalte nicht mehr erinnern. Es können auch Kon- Hentschel, 2015), alkoholassoziierter kognitiver Störun- fabulationen auftreten oder die Patienten erinnern zwar gen und eines Korsakow-Syndroms (Oudman et al., 2014). richtige Inhalte, ordnen sie aber zeitlich oder inhaltlich in Doch auch mit dem MoCA werden diskrete kognitive Stö- den falschen Kontext ein. rungen unterschätzt (Chan et al., 2014). Eine Evidenzgradierung des diagnostischen Vorgehens ist aufgrund der Literatur nur bei wenigen Aussagen mög- Basisdiagnostik lich. Der überwiegende Teil der Empfehlungen basiert auf Da Gedächtnis- und Behaltensleistungen abhängig von der Expertenkonsens (vgl. Tabelle 2). Dauer des Behaltensintervalls (kurzfristige vs. längerfristi- ge Behaltensleistung) und modalitätsspezifisch beeinträch- tigt sein können, ist eine Untersuchung sowohl in verschie- Screening denen zeitlichen Intervallen als auch mit unterschiedlichem Material (sprachlich, figural) erforderlich. Darüber hinaus Screening-Verfahren können in Einzelfällen zum Aus- können im Verlauf des Lernprozesses unterschiedliche Pa- schluss gravierender Defizite eingesetzt werden. Insbe- rameter (z. B. eine erhöhte Interferenzanfälligkeit, die Stei- sondere bei Patienten mit überdurchschnittlichem prä- gung der Lernkurve etc.) beobachtet werden, die vor allem morbiden Bildungsniveau ist das Risiko, in solchen für das Verständnis der Qualität der Gedächtnisstörung von Verfahren unauffällige Werte zu erhalten und damit tat- Bedeutung sind und Hinweise dafür geben können, welche sächlich bestehende Defizite zu übersehen, jedoch groß. Kompensationsstrategien für den Patienten geeignet sind Auch können auf Basis von Screening-Verfahren die spezi- oder nicht (Thöne-Otto et al., 2010). fischen kognitiven Probleme und Ressourcen nur sehr Am Anfang steht immer eine sorgfältige Anamnese der grob beschrieben werden. Geben Screening-Verfahren vorhandenen Beschwerden, ihres Verlaufs sowie bereits Hinweise auf kognitive Defizite, sollte eine ausführlichere verwendeter Kompensationsstrategien. Werden Patienten Diagnostik erfolgen, um diese genauer zu differenzieren wiederholt untersucht, sollte sorgfältig darauf geachtet und ggf. Behandlungsempfehlungen abzuleiten. Der Ein- werden, ob die Verfahren der vorbehandelnden Klinik er- satz eines Screening-Verfahrens kann eine ausführliche neut eingesetzt werden können, da Testwiederholungsef- neuropsychologische Diagnostik nicht ersetzen. Typische, für den Ausschluss von Demenzen entwi- ckelte Screening-Verfahren (z. B. MMST [Mini-Mental Tabelle 3. Empfehlungen zum Einsatz von Screening-Verfahren. Status Test] oder DemTect [Demenz-Detektionstest]) rei- – Screening-Verfahren, die für den Ausschluss einer Demenz chen nicht aus, um leichte bis mittelschwere Gedächtnis- entwickelt wurden, sind für die Identifikation leichter bis mittel- störungen zu identifizieren (vgl. Tabelle 3). Verschiedene schwerer Gedächtnisstörungen nicht geeignet (LoE II; Empfeh- Studien konnten zeigen, dass der MoCA (Montreal Cogni- lungsstärke A; ↑↑). tive Assessment; http://www.mocatest.org) gegenüber – Bei auffälligem Screening-Befund soll eine eingehende neuro- dem MMST eine höhere Sensitivität und Validität als psychologische Untersuchung durch einen entsprechend Screening-Instrument hat, z. B. zur Detektion kognitiver qualifizierten Neuropsychologen erfolgen (LoE II; Empfehlungs- stärke A; ↑↑). Störungen nach Schlaganfall (van Heugten, Walton & Tabelle 2. Empfehlungen zur neuropsychologischen Diagnostik bei Störungen des Gedächtnisses. Klagen Patienten oder Angehörige über relevante Gedächtnisstörungen im Alltag, sollte 1) unabhängig davon, ob eine neurologische Erkrankung erkennbar ist, eine orientierende Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit mit standardisierten psychometrischen Verfahren erfolgen. 2) Zeigen sich dabei Auffälligkeiten, ist die Ursache der Defizite zu ergründen (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑) Bei neurologischen Erkrankungen mit Läsionen im Bereich der gedächtnisrelevanten Hirnstrukturen (medialer Temporallappen, mediales Diencephalon, basales Vorderhirn) sollte eine neuropsychologische Untersuchung auch dann angeboten werden, wenn die Patienten selbst keine kognitiven Defizite beklagen, insbesondere wenn die Patienten eine kognitiv anspruchsvolle berufliche Tätigkeit wiederaufnehmen wol- len (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑). Einzelne kognitive Funktionen, z. B. das Gedächtnis, sind nicht isoliert zu betrachten, sondern stets im Kontext andere kognitiver Funktionen, der psychischen Befindlichkeit sowie des Verhaltens. Daher soll die Untersuchung der Gedächtnisleistung stets in eine ausführlichere neuro- psychologische Untersuchung eingebunden sein (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke A; ↑↑). Die Ergebnisse der neuropsychologischen Untersuchung sollten dem Patienten und (soweit das Einverständnis des Patienten vorliegt) seinen Angehörigen sowie dem Behandlungsteam mitgeteilt werden. Das Patientenrechtegesetz ist zu berücksichtigen(Expertenkonsens; Empfeh- lungsstärke B; ↑). Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128 © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie 113 fekte die Interpretierbarkeit der Testwerte beeinflussen. • unmittelbare Reproduktion expliziter verbaler und figu- Die Auswahl orientiert sich an den Testgütekriterien und raler Informationen, die im Umfang die Aufnahmeka- an einer hinreichend vorhandenen Normstichprobe für pazität des Kurzzeitgedächtnisses übersteigen (z. B. die relevante Altersgruppe sowie im relevanten Sprach- Wiedergabe eines Textes oder geometrischer Figuren, raum (für einige Verfahren existieren nur englischsprachi- z. B. Subtests „Logisches Gedächtnis“ und „Visuelle Re- ge Normen; vgl. Schellig et al., 2009). Teilweise liegen nur produktion“ aus der WMS-IV1; Text und Stadtplan aus experimentelle oder vorläufige Testversionen vor, die für dem Visuellen und Verbalen Merkfähigkeitstest [VVM]) eine systematische Verhaltensbeobachtung und eine qua- • verzögerte Wiedergabe der unmittelbar reproduzierten litative Abschätzung der Leistung eingesetzt werden kön- Informationen nach einem Intervall von 20 bis 30 Minu- nen. Die Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe ten (z. B. Subtests „Logisches Gedächtnis II“ und „Visu- aufgrund der Gedächtnisstörungen wird durch Selbst- und elle Reproduktion II“ aus der WMS-IV), ggf. auch nach Fremdeinschätzung der Alltagsleistung sowie durch die 24 Stunden (z. B. Text und Stadtplan aus dem VVM) Verhaltensbeobachtung erhoben. • Durchführung eines Lernparadigmas (z. B. Lernen einer Folgende Teilfunktionen sollten erhoben werden, vgl. Wortliste, visueller Muster) zur Untersuchung des Lern- auch Tabelle 4: zuwachses mit Wiederholung sowie Darstellung proak- tiver und retroaktiver Interferenzeffekte (z. B. Auditiv- Orientierung (insbesondere bei Verbaler Lerntest [AVLT], California Verbal Learning schwer betroffenen Patienten) Test [CVLT], Diagnostikum für Cerebralschäden [DCS • örtlich-geografische Orientierung II], Verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest [VLMT]) • zeitlich-kalendarische Orientierung • Überprüfung verschiedener Abrufmodalitäten (freier • situative Orientierung Abruf, Abruf mit Hinweisreizen, Wiedererkennen) • Orientierung zur Person Altgedächtnis (retrograde Amnesie) Kurzzeit- / Arbeitsgedächtnis • im Rahmen des Anamnesegespräches durch Arzt oder • kurzfristiges Behalten und mentales Manipulieren ver- Neuropsychologen zu erfragen; differenzierte Untersu- baler und figuraler Informationen (z. B. Zahlen- oder chung nur bei Anhalt für Einschränkungen Blockspannen aus der Wechsler Memory Scale-Revised • Wiedergabe von autobiografischen und öffentlichen se- [WMS-R] oder der Wechsler Adults Intelligence Scale mantischen und episodischen Informationen aus ver- [WAIS-IV]) schiedenen Lebensabschnitten (z. B. Autobiografisches Gedächtnisinventar [AGI], Inventar zur Gedächtnisdia- Langzeitgedächtnis (Lern- und Behaltensleistung, gnostik [IGD]) Neugedächtnis) • subjektiv relevantes domänenspezifisches Wissen (z. B. Die Gedächtnisleistung setzt sich aus unterschiedlichen berufliches Fachwissen) Komponenten zusammen, die daher mit unterschiedli- • Die vorliegenden standardisierten Verfahren eignen chen Testaufgaben untersucht werden sollten. Selbst in- sich zur Differenzierung von biografischen und seman- nerhalb verschiedener verbaler Gedächtnistests gibt es tischen Altgedächtnisstörungen. Zur Eingrenzung des einerseits überlappende Komponenten, andererseits zeitlichen Umfangs der retrograden Amnesie sind sie auch differenzierende, sodass die Aufgaben nicht gegen- oft nicht geeignet, da in der Regel die letzten zurücklie- seitig austauschbar sind (Helmstaedter, Wietzke & Lutz, genden Jahre vorrangig betroffen sind und es hierzu kei- 2009). ne publizierten Vergleichsdaten (z. B. zum Wissen über Tabelle 4. Übersicht der psychometrischen Untersuchung von Gedächtnisteilfunktionen Für eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung der Gedächtnisleistung sollten folgende Teilfunktionen untersucht werden (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑): – Orientierung – verbale und figurale Merkspannen – Arbeitsgedächtnis – Lernparadigma (z. B. Wortliste) mit verzögertem Abruf – unmittelbare und verzögerte Wiedergabe komplexer verbaler und figuraler Informationen 1 Alle hier genannten Verfahren sind Beispiele. Die Auswahl der geeigneten Verfahren obliegt der Untersucherin oder dem Untersucher. © 2020 Hogrefe Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 114 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie öffentliche Ereignisse) gibt. Die Erinnerung an relevan- • Störungswahrnehmung des Patienten (Awareness) und te biografische Ereignisse aus verschiedenen Lebens- seine subjektive Wünsche, Prioritätensetzung epochen des Patienten sollte daher am besten mithilfe • Veränderungen von Affekt und Verhalten (z. B. Depres- der Angehörigen untersucht werden. sion, Antrieb, Konfabulationen) • andere Aspekte, die die Funktionsfähigkeit beeinflussen können (z. B. Schmerzen, Fatigue, Schlaf, Medikamente) Weiterführende Diagnostik • bisherige Therapie, bisher eingesetzte Kompensations- strategien und die Erfahrungen damit Zusätzlich je nach Fragestellung und Beschwerden zu un- • Erfassung der auf die Person bezogenen Faktoren (prä- tersuchende Gedächtnisfunktionen: morbide Persönlichkeit, Biographie, Lebensstil, Bil- • Paarassoziationslernen (z. B. aus der WMS-IV, IGD) dungsniveau etc.) • prospektives Gedächtnis (zeit- oder situationsgerechte Er- • Erfassung der Umweltfaktoren entsprechend der ICF innerung einer zu erledigenden Aufgabe, z. B. Subtests (Alltagsanforderungen, sozialer Hintergrund, berufliche aus dem Rivermead Behavioural Memory Test [RBMT], Situation, sozialrechtlicher Status, familiäre Einbettung) IGD) • inzidentelles Lernen (Abfrage von Informationen, bei de- nen der Patient zuvor keine Lerninstruktion erhalten hat, Neuere Entwicklungen z. B. Subtest aus dem Nürnberger Altersinventar [NAI]) • nondeklaratives Gedächtnis (Priming, prozedurales Ler- Bislang gibt es zwei Hauptmethoden, um kognitive Funk- nen, z. B. IGD) tionen psychometrisch zu untersuchen: Klassische Papier- • längerfristige Konsolidierung Die standardisierte Untersu- Bleistiftaufgaben und computergestützte Testverfahren. chung der längerfristigen Behaltensleistung bildet nicht In den letzten Jahren wurden zunehmend Aufgaben in vir- immer die von den Patienten beklagten und im Alltag zu tueller Realität entwickelt. Dabei wird dem Probanden beobachtenden Gedächtnisprobleme ab. Insbesondere über eine spezielle Brille oder auf dem Bildschirm eine bei Patienten mit Epilepsie werden Veränderungen der dreidimensionale Welt präsentiert, mit der er so interagie- längerfristigen Konsolidierung und damit ein erhöhtes ren kann, dass das Gefühl entsteht, in der realen Welt zu Vergessen im längerfristigen Verlauf (rapid forgetting, ak- agieren („Immersion“; für einen Überblick siehe Negut, zeleriertes Vergessen) und eine erhöhte Rate autobiografi- Silviu-Andrei, Sava & David, 2015). Der Vorteil der Prä- scher Gedächtnisdefizite berichtet (Rayner, Jackson & sentation in der virtuellen Welt liegt darin, dass eine höhe- Wilson, 2015). Zur Evaluation dieser langfristigen Behal- re ökologische Validität durch die Nähe zur realen Welt tensleistung kann die erneute Testung z. B. eines Lernpa- hergestellt wird, gleichzeitig aber eine hohe Kontrolle der radigmas nach 1 und 4 Wochen empfohlen werden (Visser Rahmenbedingungen besteht und die Reaktionen des et al., 2019). Geurts, van der Werf, Kwa und Kessels (2019) Probanden anders als in der realen Welt automatisiert do- konnten zeigen, dass die Untersuchung längerfristiger In- kumentiert werden können (Negut et al., 2015). Aufgaben tervalle (nach 1 Woche) auch bei Patienten nach Schlagan- in virtueller Realität werden in Zukunft das neuropsycho- fall oder TIA, die zwar über Gedächtnisprobleme klagen, logische Methodeninventar ergänzen. Eine Checkliste, die bei denen diese jedoch psychometrisch nicht nachweisbar die Auswahl geeigneter VR-Paradigmen erleichtert, findet sind, diskrete kognitive Defizite aufdecken konnte (siehe sich bei Krohn et al. (2019). auch van der Werf, Geurts & de Wird, 2016). Besondere Empfehlungen Weitere Untersuchungsfragen für einzelne Störungsbilder Um die Gedächtnisleistungen in verschiedenen Tests an- Schädel-Hirn-Trauma gemessen interpretieren, über die Körperfunktionsebene Da der Dauer der posttraumatischen Amnesie (PTA) sowohl hinaus Einschränkungen der Aktivitäten und Teilhabe bei leichtem als auch bei schwerem SHT eine wichtige prog- einschätzen und Therapieziele und -methoden ablei- nostische Rolle zugesprochen wird, sollte diese auf der ten zu können, sind folgende weitere Gesichtspunkte Akutstation engmaschig und wiederholt erhoben werden, einzubeziehen: vgl. Tabelle 5. Drake, McDonald, Magnus, Gray und Gotts- • Informationen aus der Anamnese sowie der Bildgebung hall (2006) empfehlen die Erweiterung der Glasgow-Coma- über Art und Ausmaß der Hirnschädigung Scale (Glasgow Coma Scale-Extended, GCS-E; Nell, Yates & • relevante andere kognitive Defizite (z. B. Wahrneh- Kruger, 2000). Dabei werden für unterschiedliche Dauern mung, Sprache, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen) der Amnesie (meist überprüft über das erste Ereignis nach Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128 © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie 115 dem Unfall, das der Patient angeben kann) Skalenwerte ver- der Diagnostik in den letzten Jahren zunehmend in den geben. Auch die Überprüfung der verzögerten Lernleistung Aufmerksamkeitsfokus gerückt. Bei der Diagnostik sollte für 3 Worte hat sich als Indikator für die Dauer der PTA be- daher stets die Validität der Befunde und die Anstren- währt (Andriessen, de Jong, Jacobs, van der Werf & Vos, gungsbereitschaft mit standardisierten Verfahren über- 2009). International hat sich die Nutzung der Westmead prüft werden (z. B. Merten, 2011), vgl. Tabelle 6. Post-Traumatic Amnesia Scale etabliert. (WPTAS: Ponsford et al. 2004; Abbreviated Westmead PTA Scale AWPTAS: Meares, Shores, Taylor, Lammel & Batchelor, 2011; siehe Therapie auch http://www.psy.mq.edu.au/pta/index.html) Therapeutische Methoden Multiple Sklerose Die Therapieziele sowie die auszuwählenden Therapieme- Bei der Multiplen Sklerose ist wegen der Progredienz des thoden richten sich nach der Schwere der Gedächtnisstö- Verlaufes vor allem auf die Wiederholbarkeit der Untersu- rung, danach, ob weitere kognitive Funktionen beeinträch- chungen zu achten. Eine Experten-Kommission hat daher tigt sind, sowie nach dem Ausmaß der Krankheitseinsicht zwei Testbatterien mit z. T. überschneidenden Verfahren (Awareness) bezüglich der eigenen Störung. Darüber hin- als besonders empfehlenswert erarbeitet (Langdon, 2011): aus spielen persönliche Ziele des Patienten und die indivi- • Die Brief Repeatable Battery of Neuropsychological duellen Alltagsanforderungen einschließlich möglicher Tests (BRB-N; Boringa et al., 2001) enthält den Selecti- beruflicher Anforderungen eine wesentliche Rolle für die ve Reminding Test (SRT), 10/36 Spatial Recall Test, Prioritätensetzung. Abbildung 3 zeigt eine Übersicht der Symbol Digit Modalities Test, Paced Auditory Serial Ad- verfügbaren Therapiestrategien. dition Test (PASAT) sowie den List Generation Test. • Außerdem hat die Cognitive Function Study Group of National Multiple Sclerosis Society ebenfalls eine Test- Training spezifischer Gedächtnisfunktionen batterie festgelegt: Minimal Assessment of Cognitive oder -strategien Function in MS (MACFIMS; Foley, Benedict, Gro- misch & DeLuca, 2012). In dieser Batterie sind enthal- Beschreibung der Methode ten: Paced Auditory Serial Addition Test (PASAT), Sym- Das kognitive Training wird seit vielen Jahren in der The- bol Digit Modalities Test, California Verbal Learning rapie von Menschen mit Gedächtnisstörungen eingesetzt Test (CVLT), Brief Visuospatial Memory Test, Delis-Ka- und ist auch in den letzten Jahren in vielen Studien unter- plan Executive Function Scale Sorting Test, Judgment sucht worden. Allerdings verbergen sich hinter diesem of Line Orientation Test und Controlled Oral Word As- Begriff sehr unterschiedliche Herangehensweisen und sociation Test (COWAT). Aufgaben. Häufig wird die Art der Aufgaben in den Studi- en nur unzureichend beschrieben. Computergestütztes Beschwerdevalidierung Vorgehen ist häufig vor allem auf die Gedächtnisfunktion Da fast alle psychometrischen Testleistungen von der Mo- selbst gerichtet (z. B. das Lernen einer Wortliste oder die tivation und Mitarbeit der zu Untersuchenden abhängen, Beantwortung von Fragen zu Geschichten), z. T. wird ist die Frage der ausreichenden Anstrengung im Rahmen auch der Einsatz von Lernstrategien geübt, wobei zu dis- kutieren ist, ob das Üben von Lernstrategien zu einer Ver- Tabelle 5. Empfehlung zur Erfassung der posttraumatischen Amnesie. besserung der Funktion an sich führt oder eher eine Kompensationsstrategie darstellt. In gruppenbasierten Die posttraumatische Amnesie nach einem SHT sollte auf der Programmen spielen darüber hinaus die Psychoedukati- Akutstation engmaschig und wiederholt erhoben und dokumen- tiert werden, bis ein vollständiges Tag-zu-Tag-Gedächtnis gegeben on sowie der Austausch der Patienten zu aktivitätsspezifi- ist (Expertenkonsens; Empfehlungsstärke B; ↑). schen und teilhabebezogenen Kompensationsstrategien eine wichtige Rolle. Tabelle 6. Empfehlung zur Beschwerdenvalidierung. Übersicht über die Evidenz Wir fanden 14 systematische Reviews bzw. Metaanalysen, Erhobene Befunde sollten mit entsprechenden psychometrischen die die Wirksamkeit von kognitivem Training auf die Ge- Verfahren zur Beschwerdevalidierung, eingebetteten Indizes und unter Einbezug der Verhaltensbeobachtung kritisch hinsichtlich dächtnisleistung und andere Outcome-Parameter unter- ihrer Validität überprüft werden. Dazu gehört auch die Prüfung auf suchten (Klasse Ia). Darüber hinaus konnten Einzel-Studi- Inkonsistenzen innerhalb des Testprofils oder zwischen Testleis- en zu kognitivem Training identifiziert werden, davon 11 tung, Anamnese und Alltagsbeobachtung (Expertenkonsens; Emp- Klasse-I-, eine Klasse-II- und zwei Klasse-III-Studien. Wir fehlungsstärke B; ↑). sprechen insgesamt von 11 Klasse-I-Studien, da in den Pub- © 2020 Hogrefe Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 116 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie Abbildung 3. Flussdiagramm zur Auswahl geeigneter Therapiestrategien. likationen von Chiaravalloti et al. (2012–2016) z. T. mehre- Stewart, Gascoigne und Lah (2018) bei Patienten mit Epi- re Publikationen zu denselben Daten erschienen sind. Un- lepsie und das Nair, Cogger, Worthington und Lincoln ter den Übersichtsarbeiten fanden wir zwei systematische [2016] bei Schlaganfallpatienten). Die große Heterogeni- Reviews, die die Auswirkung kognitiver Rehabilitations- tät der eingesetzten Trainingsverfahren und der Patien- maßnahmen auf die berufliche Integration von Patienten tengruppen, die sich nicht nur hinsichtlich der Ätiologie nach SHT untersuchten (Kumar, Samuelkamaleshkumar, sondern auch hinsichtlich Alter, Dauer der Hirnschädi- Viswanathan & Macaden, 2017; Radomski, Anheluk, Bart- gung und Schwere der Gedächtnisbeeinträchtigung unter- zen & Zola, 2016). scheiden, erschwert den Vergleich. Es liegt eine Reihe von Studien vor, die für verschiedene Unter Teilhabe-Gesichtspunkten besonders relevant Patientengruppen belegen, dass funktions- oder strategie- sind zwei Reviews zur Untersuchung von kognitivem orientiertes kognitives Training zu einer Verbesserung in Training mit Hinblick auf die berufliche Leistungsfähig- gedächtnisspezifischen Outcome-Maßen führt. Darüber keit von Patienten nach SHT (Kumar et al., 2017; Radom- hinaus werden Verbesserungen in Fragebögen zur Alltags- ski et al., 2016). Beide können keine eindeutige Evi- beeinträchtigung (z. B. Chiaravalloti, Sandry, Moore & De- denz für die Wirksamkeit des kognitiven Trainings für die Luca, 2016) sowie hinsichtlich des prospektiven Gedächt- berufliche Rehabilitation aufzeigen, wobei aus klini- nisses (Richter, Mödden, Eling & Hildebrandt, 2015, 2018) scher Perspektive das kognitive Training allenfalls einen berichtet, sofern das prospektive Gedächtnis Inhalt der Baustein im Rahmen einer therapeutisch begleiteten be- Trainingsaufgabe war. Des Weiteren konnten auf Basis ruflichen Wiedereingliederung darstellen kann. Welche von fMRT nach dem Training Veränderungen der Hirnak- Bedeutung eine gezielte plastizitäts-orientierte Funkti- tivität sowohl bei Patienten mit MS (Chiaravalloti, Wylie, onsverbesserung in den ersten Monaten nach einer Hirn- Leavitt & DeLuca, 2012; Leavitt, Wylie, Girgis, DeLuca & schädigung für eine berufliche Wiedereingliederung Chiaravalloti, 2014) als auch bei solchen mit SHT (Chiara- möglicherweise Monate später hat, lässt sich sicher nicht valloti et al., 2016) nachgewiesen werden. Höhere Aktivie- linear untersuchen. rung in frontalen bzw. fronto-temporalen Netzwerken Neben der Wirksamkeit auf die Gedächtnisleistung wird als Hinweis auf einen verbesserten Strategiegebrauch wurden für Gruppenangebote weitergehende Effekte be- interpretiert. Obwohl in den einzelnen Studien durchaus richtet. So konnten das Nair, Martin und Sinclair (2015) Effekte eines Trainings berichtet werden, werden diese Ef- zeigen, dass die Teilnehmenden vor allem Verbesserun- fekte in der zusammenfassenden Bewertung der systema- gen der Einsicht und Akzeptanz der neurologischen und tischen Reviews oder Metaanalysen als eher klein einge- kognitiven Beeinträchtigungen berichteten. Gruppen, in schätzt (Fetta, Starkweather und Gill [2017] sowie Spreij, denen auch die soziale Unterstützung eine Rolle spielte, Visser-Meily, van Heugten und Nijboer [2014] bei SHT; führten darüber hinaus zu mehr Selbstvertrauen der Pa- Gromisch, Fiszdon und Kurtz [2018], Rosti-Otajärvi und tienten und hatten positive Auswirkungen auf Faktoren Hämäläinen [2014] sowie das Nair, Martin und Lincoln wie die Stimmung und Fatigue (Chouliara & Lincoln, [2016] und Dardiotis et al. [2018]bei MS-Patienten; Joplin, 2016). Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128 © 2020 Hogrefe
https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/1016-264X/a000298 - Angelika Thöne-Otto - Tuesday, September 01, 2020 12:35:05 AM - Universitätsbibliothek Leipzig IP Address:139.18.224.1 Gedächtnisstörungen – Diagnostik und Therapie 117 Wer profitiert von einem übungsorientierten Training? fand Thöne-Otto (2017) einen deutlichen Dosis-Wir- Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Patienten mit kungszusammenhang und empfahl mindestens 15 Sitzun- besseren Aufmerksamkeitsleistungen (Chiaravalloti, gen. Auch schien ein verteiltes Training effizienter als ein Dobryakova, Wylie & DeLuca, 2015) bzw. besseren Ar- massiertes. Für genaue Angaben zur Häufigkeit des Trai- beitsgedächtnisleistungen (Sandry, Chiou, DeLuca & nings scheinen die Belege trotz einzelner systematischer Chiaravalloti, 2016) mehr vom Training profitieren. Reviews nicht ausreichend, daher sprechen wir hier ledig- Das könnte bei Patienten mit einer progredienten Er- lich von guter klinischer Praxis. krankung wie z. B. einer MS dafür sprechen, eine früh- Die Arbeitsgruppe um Chiaravalloti hat einen Groß- zeitige Therapie bei Auftreten kognitiver Störungen zu teil der Studien mit der sogenannten „Story Memory empfehlen. Technique“ duchgeführt, einem Verfahren, bei dem Be- Darüber hinaus gaben verschiedene Studien an, griffe semantisch assoziiert und mit bildhaften Vorstel- dass die Schwere der Gedächtnisstörung keinen Einfluss lungen verknüpft werden, Methoden, die eine lange Tra- auf die Wirksamkeit des Trainings hätte (Radford, Lah, dition zur Verbesserung von Lernleistungen haben. Ein Thayer & Miller, 2011; Stringer, 2011). Allerdings wer- TED-Talk der Autorin zur Story Memory Technique fin- den in der Regel nur Patienten mit leichten oder mittel- det sich unter https://www.youtube.com/watch?v=JbLA schweren Gedächtnisstörungen in die Trainingsstudien GpQ9RXg eingeschlossen, während Patienten mit schwerer Am- nesie wie z. B. Korsakow-Patienten gar nicht erst zur Ziel- gruppe dieser Studien gehören. Ein Mindestmaß län- Auf dem impliziten Gedächtnis basierende gerfristiger Behaltensleistung ist als Voraussetzung dafür Methoden (Errorless Learning, Spaced anzusehen, dass trainingsorientierte Verfahren wirk- Retrieval, prozedurales Lernen) sam sind. Um andere Wirkmechanismen besser zu ver- stehen, fehlt es hingegen weiterhin an Studien. Für Pati- Beschreibung der Methode enten mit schwerer globaler Amnesie kann aufgrund Das Fehlerfreie Lernen (Errorless Learning) ist eine fehlender Wirksamkeitsnachweise keine Empfehlung für Technik, die vor allem für Menschen mit schwerer Amne- ein funktionsorientiertes Training ausgesprochen wer- sie entwickelt wurde. Dabei liegt das Ziel darin, beim Ab- den, vgl. Tabelle 7. ruf so gut wie möglich das Auftreten von Fehlern zu ver- hindern. Mithilfe der Methode können auch Menschen Dauer des Trainings. Die Studien aus der Arbeitsgruppe um mit sehr schweren Gedächtnisstörungen domänenspezi- Chiaravalloti et al. (2012–2016) zeigen nach 10 Sitzungen fische Informationen und neue Fertigkeiten erlernen. Es Einzeltherapie signifikante Verbesserungen in den durch- geht dabei nicht um eine Verbesserung der Gedächtnis- geführten Gedächtnistest. Weicker et al. (2020) fanden leistung als Körperfunktion, vielmehr ist die Methode ge- nach 20 nicht jedoch nach 10 Sitzungen computergestütz- eignet, den Patienten umschriebene, für sie relevante In- tem Training eine Verbesserung der Arbeitsgedächtnis- formationen zu vermitteln oder Routinen aufzubauen, leistung. In einem Review zum Einfluss der Trainingsdau- und somit Aktivitäten oder Teilhabe zu verbessern. Um er auf die Wirksamkeit von Arbeitsgedächtnistraining das Auftreten von Fehlern zu vermeiden, werden entwe- der sehr kurze Abrufintervalle gewählt, oder die gesuch- ten Informationen sollen unmittelbar wiederholt werden. Tabelle 7. Empfehlung zum funktions- oder strategieorientierten kog- Im Gegensatz dazu gehört zu einer Gedächtnisübung nitiven Training. normalerweise essentiell dazu, die relevante Information auch längerfristig zu behalten. Beim Abruf nach Intervall – Patienten mit Gedächtnisstörungen sollen ein spezifisches entsteht jedoch auch die Möglichkeit, dass Fehler entste- funktions- oder strategieorientiertes kognitives Training erhal- ten (LoE Ib; Empfehlungsstärke A; ↑↑). hen. Der Spagat zwischen Fehlervermeidung auf der ei- nen und abrufgesteuertem Lernen auf der anderen Seite – Die Wirksamkeit der Methode hängt von der Trainingshäufigkeit wird in der Frage der differenziellen Wirksamkeit der ab. Mindestens 10 Sitzungen gelten als gute klinische Praxis (LoE Ib;Empfehlungsstärke C; ←→). Strategie intensiv diskutiert (Middleton & Schwartz, 2012). – Für Patienten mit schwerer globaler Amnesie kann aufgrund fehlender Wirksamkeitsnachweise keine Empfehlung für ein funktionsorientiertes Training ausgesprochen werden. Bei die- Übersicht über die Evidenz sen Patienten sollte daher der Fokus der Therapie auf dem Er- Wir fanden seit 2012 keine Studie, die den Kriterien für lernen von Kompensationsstrategien liegen, mit dem Ziel der Klasse Ia entspricht. Es gibt verschiedene Reviews, die Verbesserung von Aktivitäten und Teilhabe (Expertenkonsens; sich theoretisch mit der Methode auseinandersetzen, je- Empfehlungsstärke B; ↑). doch nicht kritisch die Wirksamkeit überprüfen (Hayes, © 2020 Hogrefe Zeitschrift für Neuropsychologie (2020), 31 (3), 107–128
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