Biopsychosoziale Einheit - eine neue Perspektive - Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 - verlag ...

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Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1

Biopsychosoziale                                                           Die Suche nach Ganzheit. Das Wort Ganzheit lässt sich
                                                                           laut der Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington
                                                                           bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Menschen

Einheit – eine                                                             suchen also schon lange danach. Harringtons wis-
                                                                           senschaftliche Abhandlung mit dem Titel «Die Suche
                                                                           nach Ganzheit» zeigt die lange Tradition dieses Rufes

neue Perspektive                                                           nach «Ganzheit» oder «Ganzheitlichkeit» auf. Auch
                                                                           im 19. Jahrhundert haben PhilosophInnen kritisiert,
                                                                           dass die Welt als allzu mechanistisch erklärt und ge-
                                                                           sehen werde. Sie führten die mechanische Sichtweise
Autor: Stefan Knobel                                                       auf den Einfluss der klassischen Mechanik von Isaac
                                                                           Newton zurück: «Nach Ansicht dieser Wissenschaft-
                                                                           ler und Philosophen hatte Newton nicht geruht, bis er
                                                                           das Universum voll Farbe, Qualität und Spontanität, in
                                                                           das er hineingeboren war, in das kalte, qualitätslose
                                                                           und unpersönliche Reich eines homogenen und dreidi-
                                                                           mensionalen Raums verwandelt hatte, in dem die Teil-
                                                                           chen der Materie wie Marionetten nach mathematisch
                                                                           berechenbaren Gesetzen tanzten» (Harrington 2002,
                                                                           S. 32 f.).

                                                                           Versuche, ganzheitlich zu leben und zu denken. Immer
                                                                           wieder versuchten Menschen in den letzten 120 Jahren
                                                                           «ganzheitliche Lebensformen» zu verwirklichen oder
                                                                           haben «ganzheitliches Denken» eingefordert. Beispie-
Sehr viele Menschen sind sich einig: Themen wie Pflege, Medizin             le dafür sind die alternative KünstlerInnen-Siedlung
oder Pädagogik müssen «ganzheitlicher» angegangen werden.                  auf dem Monte Verità von 1900 – 1940 oder die weltwei-
Auch globale Herausforderungen wie die Klimakrise fordern                  ten Experimente der 1968er-Bewegung, die allesamt
ganzheitliches Denken. Bei der Frage: Was heißt ganzheitliche              nach einer neuen Ganzheitlichkeit gesucht haben. Im
Sicht in einem jeweiligen Bereich, schwindet die Einigkeit. Denn           Jahr 1983 hat der österreichisch-amerikanische Phy-
das Menschenbild des Individuums beeinflusst die Vorstellung der            siker Fritjof Capra mit seinem Buch «Wendezeit» einen
Ganzheitlichkeit. Das Konzept der biopsychosozialen Einheit                ganzheitlich-systemischen Denkansatz eingefordert,
eröffnet die Möglichkeit, das Trennende zwischen Geist und                 um eine nachhaltige, ökologische Lebensweise zu er-
Körper zu überwinden und als verschränktes Zusammenspiel der               möglichen. Im Jahr 1999 wurde das Buch des bekann-
verschiedenen Ebenen des Menschseins zu verstehen.                         ten deutschen Kybernetikers Frederic Vester mit dem
                                                                           Titel «Die Kunst, vernetzt zu denken» als Bericht des
                                                                           «Club of Rome» veröffentlicht. Lesefreudige konnten
                       Der Ruf nach Ganzheit                               also den Ruf nach Ganzheitlichkeit auch in jüngerer
                                                                           Zeit nachverfolgen.
                   Menschenbilder. Wenn wir Fragen des Menschseins
                   im beruflichen oder privaten Umfeld diskutieren, tun     Gegen den Dualismus. Menschen jeder Generation der
                   wir das immer auf der Basis unseres bewussten oder      letzten zweihundert Jahre suchten mit der Forderung
                   oft auch weniger bewussten Menschenbildes. Oder         nach «Ganzheitlichkeit» immer dasselbe. Sie wollten
                   besser: unserer Menschenbilder. Denn wir verfügen       gegen dualistische und trennende Gedankenmodelle
                   vermutlich über einen ganzen Strauß von inneren Bil-    antreten. Das wissenschaftliche Paradigma zu Beginn
                   dern, was Menschsein bedeutet. Diese Bilder sind        des 19. Jahrhunderts war geprägt von den Erkenntnis-
                   beeinflusst durch unseren kulturellen Hintergrund,       sen der Physik und der Chemie. Fasziniert von den Er-
                   durch unsere Erfahrungen, durch Paradigmen unseres      folgen dieser mathematisch genauen Wissenschaften
                   Umfeldes und so weiter. Bevor wir uns mit dem Kon-      wurde versucht, mit dieser kausal-mechanistischen
                   zept der biopsychosozialen Einheit auseinanderset-      Denkweise auch alle Lebensprozesse zu beschreiben.
                   zen, geht es um Menschenbilder, die uns auf der Suche   Der bekannteste Ausdruck dieses Glaubens findet
                   nach Ganzheit begleiten.                                sich in einem jugendlichen Manifest der organischen

6   thema                                                                                                                 02 |20
Biopsychosoziale Einheit - eine neue Perspektive - Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 - verlag ...
Physik von 1847, in dem unter anderem steht: «Keine       Das sogenannte «mentale Bewusstsein» wird durch
anderen Kräfte als die allgemeinen physisch-chemi-        das «integrale Bewusstsein» abgelöst. Interessant ist,
schen können innerhalb des Organismus tätig sein. In      dass in den letzten fünfzig Jahren viele Wissenschaft-
den Fällen, die nicht mit diesen Kräften erklärt wer-     lerInnen entdeckt haben, dass der Dualismus und die
den können, muss man die besondere Art oder Form          Trennung von Körper und Geist, die das «mentale Be-
ihrer Beschaffenheit entweder mit Hilfe physisch-ma-      wusstsein» prägten und ermöglichten, auch aus wis-
thematischer Methoden erklären oder neue Kräfte           senschaftlicher Sicht nicht mehr aufrechtzuerhalten
annehmen, die den chemisch-physischen Kräften der         sind. Drei Vertreter der Kritik am Dualismus seien hier
Materie gleichrangig sind, die auf die Kraft der Anzie-   kurz vorgestellt.
hung und Abstoßung zurück zu führen sind» (Harring-           Gregory Bateson. In seinem Buch «Die Ökologie des
ton 2002, S. 38). Gegen diese Denkweise zu rebellieren    Geistes» postuliert Bateson, dass das Geistige weder
war schwierig, weil das Denken der meisten Menschen       einem bestimmten Organ, zum Beispiel dem Gehirn,
durch die Erfolge der Industrialisierung geprägt war,     noch einem Individuum zugeordnet werden kann. Das
die sich durch die immer differenzierteren Erkenntnis-    Geistige ist ein Informationsverarbeitungsprozess.
se der Mechanik auszeichnete.                             Diese Informationsverarbeitung ist eben nicht das Re-
                                                          sultat einer «Instanz», sondern manifestiert sich als
Tief verankerte Trennung. Die Auswirkung der Körper-      Prozess des Gesamtsystems. Er drückt es so aus: «In
Geist-Trennung der «mentalen Bewusstseinsphase»           keinem System, das geistige Charakteristika aufweist,
(vgl. Hennessey, Knobel 2019) ist in unserem Denken       kann also irgendein Teil einseitige Kontrolle über das
und Leben tief verankert und hat sich als Lebenswei-      Ganze haben. Mit anderen Worten, die geistigen Cha-
se etabliert. So unterscheiden wir zwischen körper-       rakteristika des Systems sind nicht einem Teil im-
lichen (somatischen) und psychischen Erkrankungen,        manent, sondern dem System als Ganzem» (Bateson
zwischen objektiver und subjektiver Sichtweise, zwi-      1985, S. 409). Demnach könnte man behaupten, dass
schen Leib und Seele, zwischen Fakten und Erfahrun-       zum Beispiel Denken nicht im Gehirn stattfindet, son-
gen und so weiter.                                        dern sich durch das Zusammenspiel des motorischen,
    Diese Unterscheidungen haben sich so tief in unser    des sensorischen und des zentralen Nervensystems
Denken und Handeln eingeprägt, dass die Menschen          ergibt und natürlich vom sozialen Umfeld mit beein-
tatsächlich aus der Psychologie, die per Definition das    flusst wird.
«Verhalten» studiert, eine Psyche konstruiert haben,          Francisco Varela. Auch der chilenische Biologe und
die sich neben dem Körper als eigenständiges Irgend-      Verhaltensforscher Francisco Varela verlangte die
etwas etabliert hat. Freud verwendete den Begriff         Aufhebung der strikten Trennung von Erkennendem
«psychischer Apparat». Wir tun so, als hätten unsere      (Subjekt) und Erkanntem (Objekt). Viele Menschen er-
Gedanken und Emotionen nichts mit dem Körper zu           klären den Prozess des menschlichen Erkennens ana-
tun und wundern uns über die Einsicht, dass wir mit       log zur Datenverarbeitung eines Computers. Varela
Gedanken den Körper beeinflussen können. So schrei-        stellt sich gegen diese Vereinfachung. Das menschli-
ben zum Beispiel die beiden Wissenschaftsjournalis-       che Erkennen ist das Resultat eines dynamisch orga-
tinnen Hauschild und Wüstenhagen in der Rubrik «Zeit      nisierten Systems, das sich aus dem Zusammenspiel
Wissen» in der Einleitung eines wissenschaftlichen        von Neuronen und nicht aus Computerprogrammen er-
Artikels: «Neue Studien offenbaren verblüffende Ver-      gibt. Die Beziehungen dieser Neuronen verändern sich
bindungen zwischen Körper und Psyche: Nicht nur           durch den Prozess des Lebens ständig. Dieser zirkulä-
kann seelisches Leid der Gesundheit schaden, auch         re Prozess lässt sich mit dem Aphorismus «Jedes Tun
der Körper steuert umgekehrt unsere Gefühle» (Hau-        ist Erkennen – und jedes Erkennen ist Tun» beschrei-
schild; Wüstenhagen 2013, S. 1). Die Ganzheit verblüfft   ben.
auch im 21. Jahrhundert noch immer.                           Zusammen mit dem Biologen Humberto Maturana
                                                          führte Varela den Begriff der Autopoiesis als wichtiges
                                                          Merkmal des Lebendigen ein. Autopoiesis heißt «sich
   Vom mentalen ins integrale Bewusstsein                 selbst erzeugend». Ein Mensch erzeugt sich also stän-
                                                          dig selbst. Das ist nur in einer zirkulären Organisa-
Die Trennung hebt sich auf. Kulturphilosophen wie         tionsform möglich, wie sie KybernetikerInnen mit der
Jean Gebser oder Charles Eisenstein kommen in ihren       «feedback control theory» beschrieben haben. Zwar
Analysen zum Schluss, dass sich die Menschheit der-
zeit in einer Phase des Bewusstseinswandels befindet.                                                          >
                                                                                                                    thema   7
Biopsychosoziale Einheit - eine neue Perspektive - Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 - verlag ...
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                      müssen sich Lebewesen Materie und Energie von au-          hochkomplexe Einheit oder Ganzheit personaler, bio-
                      ßen zuführen. In Bezug auf Information ist ein Lebewe-     tischer und psychischer Zustände oder Prozesse, ein-
                      sen aber geschlossen – es kann keine Informationen         gebettet in soziokulturelle Kontexte und Vorgänge, zu
                      aufnehmen, sondern erschafft oder konstruiert diese        betrachten» (Wessel 2015, S. 27). Die Daseinsform des
                      Informationen durch die Verarbeitung der «Perturba-        Menschen ist also ein ständiger Entwicklungsprozess,
                      tionen» (Störungen im neutralen Sinne) von außen und       der sich aus dem Zusammenspiel der biotischen, psy-
                      innen selbst.                                              chischen und sozialen Lebensprozesse ergibt.
                          Charles Eisenstein. Der US-amerikanische Kultur-
                      philosoph postuliert, dass die Zeit der Separation des     Die Einheit ist mehr als die Summe seiner Teile. Der Be-
                      Menschen von seiner Umwelt an ihr Ende gelangt ist.        griff biopsychosozial ist nicht neu. Er wird zum Beispiel
                      Der Versuch des Menschen, die Natur zu kontrollie-         auch in sogenannten «biopsychosozialen Modellen»
                      ren und die Welt zu objektivieren, ist gescheitert, weil   verwendet. Dabei geht es darum, die medizinischen
                      der Mensch dadurch auch sich selbst, als ein Teil der      Welten der «somatischen» und jene der «psychischen
                      Natur, zum Objekt machte. Die Krisen, die unsere Ge-       Erkrankungen» zusammenzuführen und ein «psycho-
                      sellschaft durchlebt, sind Zeichen des Scheiterns          somatisches» Verständnis des Krankheitsgeschehens
                      des separierenden Bewusstseins. Den Ausweg sieht           zu etablieren.
                      Eisenstein in der Aufhebung der künstlichen Trennung           Das Konzept der biopsychosozialen Einheit geht
                      der Lebensbereiche, die nur durch ein integrales Be-       aber, wie oben erwähnt, viel weiter. Es geht nicht nur
                      wusstsein der Menschen möglich werden wird – also          darum, Krankheiten zu erklären, sondern den Men-
                      die Hinwendung zu einer ökologischen, vom gewinn-          schen als ein Entwicklungswesen zu begründen. Gün-
                      orientierten Geldsystem unabhängigen, kreativen            ter Tembrock (1918 – 2011), einer der Begründer der
                      Lebensweise. In seinem neuesten Buch mit dem Titel         Humanontogenetik, beschrieb die biopsychosoziale
                      «Wut, Mut, Liebe!» (Eisenstein 2020) deutet er die ak-     Einheit wie folgt:
                      tuellen politischen Protestbewegungen als erste Zei-
                      chen, dass die Menschen nicht mehr bereit sind, die        1. «‹bio-› weist das biologische Fundament der
                      Ausbeutung der Natur und Teile der Gesellschaft hin-          menschlichen Existenz aus und damit auch die
                      zunehmen. Er fordert die Leser in einem leidenschaft-         evolutionäre Herkunft des Menschen als biologi-
                      lichen Aufruf dazu auf, Wut in Liebe umzuwandeln.             sche Art: Homo sapiens L. (Mammalia, Primates).
                                                                                    Diese Zuordnung leitet sich aus den konstitutiven
                                                                                    Eigenschaften des Menschen ab,
                           Biopsychosoziale Einheit                              2. ‹psycho-› kennzeichnet die eigene Qualität des
                                                                                    menschlichen Verhaltens, die sich aus den
                       Der Mensch ein Entwicklungswesen. Das Konzept der            spezifischen Umwelt-Interaktionen ableitet,
                       biopsychosozialen Einheit ist ein wichtiger Bestand-      3. ‹sozial-› charakterisiert die besondere Form der
                       teil der Humanontogenetik. Diese Wissenschaft be-            sozialen Interaktion mit allen sich daraus ablei-
                       fasst sich mit der Entwicklung des Individuums von           tenden Folgerungen,
                       der Konzeption (Befruchtung) bis zum Tod. Wessel          4. ‹Einheit› kennzeichnet den Sachverhalt, dass
                       umschreibt den Forschungsgegenstand so: «Somit               diese drei Bedingungsgefüge ein Systemganzes
                       ist der Mensch als Prozess der eine Ausgangspunkt,           konstituieren, das mehr ist als die Summe seiner
                       während der andere darin besteht, den Menschen als           Teile» (Tembrock 1987, S. 576).

                                                                                 Verschachtelung der Ebenen. Wessel (2015) betonte,
                                                                                 dass die drei Ebenen «enkaptisch», also ineinander
                       BIOLOGISCHE EBENE                                         verschachtelt sind (siehe Abbildung 1). Es geht darum,
                                                                                 dass die biologischen Grundlagen den Rahmen bilden
                       PSYCHISCHE EBENE
                                                                                 für das menschliche Verhalten – die psychischen Pro-
                           SOZIALE EBENE
                                                                                 zesse also nicht von den der biotischen Grundlagen
                                                                                 separiert vonstatten gehen können. Zusätzlich sollte
                                                                                 die soziale Ebene nicht gegen die psychische Ebene
                                                                                 verstoßen. Wessel merkt zur Eigenschaft dieser Ver-
Abb. 1.: Die enkaptische Verbindung der drei Ebenen der                          schachtelung unter anderem Folgendes an: «Der Pro-
biopsychosozialen Einheit                                                        zess der gegenseitigen Beeinflussung ist evolutionärer

8   thema                                                                                                                          02 |20
Biopsychosoziale Einheit - eine neue Perspektive - Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 - verlag ...
Art. Auf jeder Stufe der Entwicklung sind spezifische      gung und Berührung. Wenn wir nun den Menschen als
Bedingungen für Wirkung und Rückwirkung der Ebe-          biopsychosoziale Einheit betrachten, kann eine Inter-
nen aufeinander gesetzmäßig vorhanden. Die jeweilige      aktion mit einem Menschen nie isoliert körperlich (bio-
Ebene muss ‹reif› sein für eine entsprechende Bean-       tisch), psychisch oder sozial sein. Denn ich treffe im-
spruchung. Die biotische Ebene kann für bestimmte         mer den ganzen Menschen. Der Zugang mag körperlich
kognitive Prozesse erst in Anspruch genommen wer-         sein – in der Interaktion begegnet man aber immer der
den, wenn ein entsprechender ‹Reifezustand› erreicht      individuellen, biopsychosozialen Einheit Mensch.
ist. Anders ausgedrückt: Was die biotische Ebene in
einem bestimmten Zustand nicht zulässt, ist nicht er-     Entwicklungsmuster. Die Kinästhetik sucht nach Mus-
reichbar. Das Gehirn muss einen entsprechenden Ent-       tern der Individualentwicklung, die dem Menschen
wicklungsstand erreicht haben, damit das Individuum       helfen, das eigene Verhalten und die eigene Entwick-
gewünschte soziale Beziehungen eingehen kann. Jeder       lung selbst zu beobachten und zu beeinflussen. Dabei
Verstoß gegen die ‹natürlichen› Bedingungen führt zu      gehen wir davon aus, dass die biotischen Möglichkei-
einer Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwick-        ten des Menschen die Grundlage bieten für die Poten-
lung, im Extremfall zur Zerstörung des Individuums»       ziale, die ein Mensch auf den psychischen und sozialen
(ebd., S. 115).                                           Ebenen entfalten kann. Dies im Wissen, dass die drei
                                                          Ebenen synergetisch zusammenspielen. Dass also
Störungen der Einheit. Wessel weist darauf hin, dass      psychische Prozesse direkt auf biotische Geschehnis-
Störungen der Einheit der drei Ebenen gravierende         se zurückwirken und soziale Interaktionen direkt und
Folgen haben: «Viele Störungen im Wohlbefinden der         indirekt auf das zirkuläre biopsychische Spiel einwir-
Persönlichkeit sind Störungen der Beziehung zwi-          ken. Das Wort Synergie bedeutet «Zusammenwirken»
schen den Ebenen, die entweder reversibel (unter-         im Sinne von «sich gegenseitig fördern» – oder nach
schiedlichen Grades) oder irreversibel sind. Es ist die   Aristoteles, These: «Das Ganze ist mehr als die Summe
humane Pflicht der Gesellschaft beziehungsweise            seiner Teile.»
der Gemeinschaft und der Einzelnen, damit souverän
umzugehen» (ebd., S. 115). Die Separation der drei Be-    Es geht um das Zusammenspiel. Einer der wichtigen
reiche birgt also die Gefahr, die biopsychosoziale Ent-   Denker, die die Entwicklung der Kinästhetik nachhal-
wicklungseinheit «Mensch» nachhaltig zu stören oder       tig beeinflusst haben, ist Richard Buckminster Fuller.
gar zu zerstören.                                         Die Perspektiven des sechsten Konzepts des Kinaes-
                                                          thetics-Konzeptsystems «Umgebung» gehen auf den
                                                          US-amerikanischen Philosophen, Visionär und Desig-
   Kinästhetik und die                                    ner zurück. Er hat aber auch die Suche nach kinästhe-
   biopsychosoziale Einheit                               tischen Wirkungszusammenhängen nachhaltig beein-
                                                          flusst. Er beobachtete, dass das Verhalten komplexer
Die biopsychosoziale Einheit denken. Unser Denken         Systeme nicht durch das individuelle Verhalten ein-
orientiert sich so stark an der Trennung von Körper und   zelner Teile vorhergesagt werden kann. Daraus hat er
Geist, dass es nicht einfach ist, die Konsequenzen der    geschlossen, dass Systeme nur dann verstanden wer-
biopsychosozialen Einheit zu verstehen und zu integ-      den können, wenn die Wechselwirkungen oder die Be-
rieren. In vielen Diskussionen über die Bedeutung der     ziehungen der einzelnen Teile eines Systems studiert
Bewegungskompetenz für die menschliche Entwick-           werden. Er nannte die Wissenschaft der Beziehungen
lung oder Genesung begegnet man Argumenten wie:           «Synergetics» und ist somit der Vater des Wortes Sy-
«Aber die Bewegung kann nicht alles richten. Die Psy-     nergie. Buckminster forderte die Menschen also auf,
che spielt auch eine wichtige Rolle.» Ich gehe davon      nicht nur die einzelnen Teile eines Systems immer ge-
aus, dass die Kinästhetik einen guten Zugang bietet,      nauer zu untersuchen, sondern die Beziehungen und
um die Einheit der biopsychosozialen Ebenen zuerst        Wechselwirkungen der Systemteile zu erforschen. Er
zu erfahren und mit der Zeit auch zu verstehen.           forderte dazu auf, aus diesen synergetischen Mustern
                                                          zu lernen (vgl. Buckminster 1998, S. 228 f.).
Körperlicher Zugang. Auf den ersten Blick befasst sich
die Kinästhetik mit dem menschlichen Körper. Es geht      Entwicklung der biopsychosozialen Einheit. Die
um die Aktivitäten des täglichen Lebens. Es geht dar-     menschliche Individualentwicklung oder Ontogene-
um, die Bewegungsaspekte dieser Aktivitäten besser
zu verstehen und zu beschreiben. Es geht um Bewe-                                                             >
                                                                                                                    thema   9
Biopsychosoziale Einheit - eine neue Perspektive - Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 - verlag ...
.verlag-lq.ne
                                                                                                                   www             t

                                                                                                            Eine Kooperationsprodukt von:
                                                                                                                stiftung lebensqualität
                                                                                                          European Kinaesthetics Association
                                                                                                              Kinaesthetics Deutschland
                                                                                                                 Kinaesthetics Italien
                                                                                                               Kinaesthetics Österreich
                                                                                                                Kinaesthetics Schweiz

                                                                                                              ww                                      t
                                                                                                                   w.ki                        .n e
                        >                                                                                               nae   s t h e ti c s

                       se ist immer das synergetische Zusammenspiel der            Vorsilbe «psycho-») und verändert die Möglichkei-
                       biotischen, psychischen und sozialen Ebenen. Diese          ten im sozialen Verhalten (Stichwort «-sozial»). Nicht
                       Ebenen sind, wie erwähnt, so ineinander verwoben,           nur die Kinästhetik als Erfahrungswissenschaft kann
                       dass sie einerseits eine untrennbare Einheit bilden.        diese Zusammenhänge aufzeigen. Die oben zitierten
                       Andererseits ermöglichen sie im Zusammenspiel eben          AutorInnen Hauschild und Wüstenhagen schreiben:
                       mehr als die Summe der Möglichkeiten der einzel-            «Auch die experimentelle Psychologie hat den Körper
                       nen Ebenen. Entwicklung kann also nie nur auf einer         entdeckt und zeigt mit verblüffenden Studien, wie
                       Ebene stattfinden und auf diese reduziert beobachtet         selbst unbewusste Bewegungen unsere Gefühle und
                       werden. Das belegen mittlerweile sehr viele qualita-        Gedanken steuern» (Hauschild; Wüstenhagen 2013).
                       tive Wirkungsbelege von Kinästhetik-AnwenderInnen:
                       Wenn zum Beispiel ein Mensch, der in eine Demenz            Biopsychosoziale Einheit erfahren. Man kann sagen:
                       verstrickt ist, durch gezielte Unterstützung in einer ge-   Die Kinästhetik schafft eine «Lernumgebung», die
                       meinsamen Bewegung (Stichwort «-sozial«) die eigene         Menschen die verschränkte Einheit der biopsychoso-
                       Muskelspannung besser anpassen kann (Stichwort              zialen Ebenen erfahren lässt. Menschen können durch
                       Vorsilbe «bio-»), hat das Einfluss auf die emotionalen       die Beobachtung der eigenen Bewegungsmuster sen-
                       und kognitiven Reaktionsmöglichkeiten (Stichwort            sibel werden für ihre eigene, individuelle Innenwelt.
                                                                                   Sie können lernen, ihre individuellen Bewegungsmus-
                                                                                   ter zu erfahren und zu beschreiben. Dadurch können
                                                                                   sie entdecken und verstehen, dass «sich bewegen»,
Quellen:                                                                           «emotionieren» und «denken» nicht unabhängig von-
>    Buckminster Fuller, Richard (1998): Bedienungsanleitung für das               einander und von sozialen Interaktionen stattfinden
     Raumschiff Erde und andere Schriften. Amsterdam/Dresden:                      können.
     Verlag der Kunst. ISBN 90-5705-015-3
>    Harrington, Anna (2002): Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte
     biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis               Ein langer Weg. Es ist nicht einfach, unser Leben als
     zur New-Age-Bewegung. Rowohlts Enzyklopädie (Rowohlts                         synergetisches Zusammenspiel der biopsychosozia-
     Enzyklopädie 55577). Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
     ISBN 978-3-4995-5577-0.                                                       len Einheit und in diesem Sinne als «ganzheitlichen»
>    Hauschild, Jana; Wüstenhagen, Claudia (2013): Körper und                      Prozess zu verstehen. Ich bemerke das jeden Tag.
     Seele – nur gemeinsam stark. https://www.zeit.de/zeit-wis-                    Auch nach dreißig Jahren Auseinandersetzung mit der
     sen/2013/03/koerper-psyche-gefuehle-gesundheit (Zugriff:
     14.06.2020).                                                                  Kinästhetik ertappe ich mich immer wieder, eigene ge-
>    Hennessey, Richard; Knobel, Stefan (2019): Warum brauchen wir                 sundheitliche Herausforderungen mit Körper und Geist
     ein neues Lebensqualitätsmodell? Lebensqualität, Teil 1. In: LQ.              trennenden Gedankenmustern zu erklären. Vermut-
     Kinaesthetics – zirkuläres Denken – Lebensqualität. Heft 1.
     S. 6 – 11.                                                                    lich bin ich als Individuum überfordert, diesen Schritt,
>    Maturana, Humberto, R. (2018): Der Baum der Erkenntnis. Die                   mich als das zu verstehen, was Richard Buckminster
     biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. 7. Auflage.                       Fuller auszudrücken vermochte, allein zu machen:
     Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. ISBN 978-3-596-17855-1.
>    Tembrock, Günther (1987): Verhaltensbiologie und Humanwissen-
     schaften. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humbold Universi-                       I live on Earth at present,
     tät. S. 576 – 585.                                                                     and I don’t know what I am.
>    Vester, Frederic (2019): Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und
     Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht                       I know that I am not a category.
     an den Club of Rome. Erste Auflage 1999. München: Pantheon                                I am not a thing – a noun.
     Verlag. ISBN 978-3-570-55429-6.                                                              I seem to be a verb,
>    Wessel, Karl Friedrich (2015): Der ganze Mensch. Der ganze
     Mensch. Eine Einführung in die Humanontogenetik oder Die                                an evolutionary process –
     biopsychosoziale Einheit Mensch von der Konzeption bis zum                                  an integral functon
     Tode. Berlin: Logos Verlag. ISBN 978-3-8325-3996-2.                                            of the universe.

                                                                                   Bleiben wir in Kontakt mit uns. ●

                        Stefan Knobel ist tätig als Kinaesthetics-
                        Ausbilder und Leiter des Wirkungsfeldes
                        «Kinaesthetics Projekte neue Länder». Er
                        arbeitet aktiv mit am netzwerk lebensqualität.

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                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             01 20
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                                                                                                                                                                                                                             – zirkuläres
                                                                                                                                                                                                                                            denken – lebens                                                      kinae
                                                                                                                                                                                                                                                                 qualität                                                stheti
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  cs –
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         zirku
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 läres
                                                                                                                        squalität                                                                                                                                                                                                                        denk
                                                                                                            n – leben                                                                                                                                                                                                                                        en –
                                                                                               äres denke                                                                                                                                                                                                                                                           leben
                                                                                ics – zirkul
                                                                   kinaesthet                                                                                                                                                                                                                                                                                               squa
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   lität

                                                                                                                                                                                                                                                  03 20
                                                                                                                                                                                                                                                       |

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                                                                                                                                                                                                                                            kinaesth
                                                                                                                                                                                                                                                       etics –
                                                                                                                                                                                                                                                                 zirkulär
                                                                                                                                                                                                                                                                            es den
                                                                                                                                                                                                                                                                                     ken –
                                                                                                                                                                                                                                                                                             lebensq
                                                                                                                                                                                                                                                                                                       ualität
                                                                                                                                                                                                   ualität
                                                                                                                                                                                         lebensq
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                                                                                                                                                                        es den
                                                                                                                                                             zirkulär
                                                                                                                                                   etics –
                                                                                                                                        kinaesth

kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität

In der Zeitschrift LQ können die LeserInnen am Knowhow teilhaben, das Kinaesthetics-AnwenderInnen und
Kinaesthetics-TrainerInnen in zahllosen Projekten und im Praxisalltag gesammelt haben. Ergebnisse aus
der Forschung und Entwicklung werden hier in verständlicher Art und Weise zugänglich gemacht. Es wird
zusammengeführt. Es wird auseinander dividiert. Unterschiede werden deutlich gemacht. Neu entdeckte
Sachverhalte werden dargestellt und beleuchtet. Fragen werden gestellt. Geschichten werden erzählt.

Die LQ leistet einen Beitrag zum gemeinsamen analogen und digitalen Lernen.

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