Biopsychosoziale Einheit - eine neue Perspektive - Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 - verlag ...
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Biopsychosoziale Einheit Mensch, Teil 1 Biopsychosoziale Die Suche nach Ganzheit. Das Wort Ganzheit lässt sich laut der Wissenschaftshistorikerin Anne Harrington bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Menschen Einheit – eine suchen also schon lange danach. Harringtons wis- senschaftliche Abhandlung mit dem Titel «Die Suche nach Ganzheit» zeigt die lange Tradition dieses Rufes neue Perspektive nach «Ganzheit» oder «Ganzheitlichkeit» auf. Auch im 19. Jahrhundert haben PhilosophInnen kritisiert, dass die Welt als allzu mechanistisch erklärt und ge- sehen werde. Sie führten die mechanische Sichtweise Autor: Stefan Knobel auf den Einfluss der klassischen Mechanik von Isaac Newton zurück: «Nach Ansicht dieser Wissenschaft- ler und Philosophen hatte Newton nicht geruht, bis er das Universum voll Farbe, Qualität und Spontanität, in das er hineingeboren war, in das kalte, qualitätslose und unpersönliche Reich eines homogenen und dreidi- mensionalen Raums verwandelt hatte, in dem die Teil- chen der Materie wie Marionetten nach mathematisch berechenbaren Gesetzen tanzten» (Harrington 2002, S. 32 f.). Versuche, ganzheitlich zu leben und zu denken. Immer wieder versuchten Menschen in den letzten 120 Jahren «ganzheitliche Lebensformen» zu verwirklichen oder haben «ganzheitliches Denken» eingefordert. Beispie- Sehr viele Menschen sind sich einig: Themen wie Pflege, Medizin le dafür sind die alternative KünstlerInnen-Siedlung oder Pädagogik müssen «ganzheitlicher» angegangen werden. auf dem Monte Verità von 1900 – 1940 oder die weltwei- Auch globale Herausforderungen wie die Klimakrise fordern ten Experimente der 1968er-Bewegung, die allesamt ganzheitliches Denken. Bei der Frage: Was heißt ganzheitliche nach einer neuen Ganzheitlichkeit gesucht haben. Im Sicht in einem jeweiligen Bereich, schwindet die Einigkeit. Denn Jahr 1983 hat der österreichisch-amerikanische Phy- das Menschenbild des Individuums beeinflusst die Vorstellung der siker Fritjof Capra mit seinem Buch «Wendezeit» einen Ganzheitlichkeit. Das Konzept der biopsychosozialen Einheit ganzheitlich-systemischen Denkansatz eingefordert, eröffnet die Möglichkeit, das Trennende zwischen Geist und um eine nachhaltige, ökologische Lebensweise zu er- Körper zu überwinden und als verschränktes Zusammenspiel der möglichen. Im Jahr 1999 wurde das Buch des bekann- verschiedenen Ebenen des Menschseins zu verstehen. ten deutschen Kybernetikers Frederic Vester mit dem Titel «Die Kunst, vernetzt zu denken» als Bericht des «Club of Rome» veröffentlicht. Lesefreudige konnten Der Ruf nach Ganzheit also den Ruf nach Ganzheitlichkeit auch in jüngerer Zeit nachverfolgen. Menschenbilder. Wenn wir Fragen des Menschseins im beruflichen oder privaten Umfeld diskutieren, tun Gegen den Dualismus. Menschen jeder Generation der wir das immer auf der Basis unseres bewussten oder letzten zweihundert Jahre suchten mit der Forderung oft auch weniger bewussten Menschenbildes. Oder nach «Ganzheitlichkeit» immer dasselbe. Sie wollten besser: unserer Menschenbilder. Denn wir verfügen gegen dualistische und trennende Gedankenmodelle vermutlich über einen ganzen Strauß von inneren Bil- antreten. Das wissenschaftliche Paradigma zu Beginn dern, was Menschsein bedeutet. Diese Bilder sind des 19. Jahrhunderts war geprägt von den Erkenntnis- beeinflusst durch unseren kulturellen Hintergrund, sen der Physik und der Chemie. Fasziniert von den Er- durch unsere Erfahrungen, durch Paradigmen unseres folgen dieser mathematisch genauen Wissenschaften Umfeldes und so weiter. Bevor wir uns mit dem Kon- wurde versucht, mit dieser kausal-mechanistischen zept der biopsychosozialen Einheit auseinanderset- Denkweise auch alle Lebensprozesse zu beschreiben. zen, geht es um Menschenbilder, die uns auf der Suche Der bekannteste Ausdruck dieses Glaubens findet nach Ganzheit begleiten. sich in einem jugendlichen Manifest der organischen 6 thema 02 |20
Physik von 1847, in dem unter anderem steht: «Keine Das sogenannte «mentale Bewusstsein» wird durch anderen Kräfte als die allgemeinen physisch-chemi- das «integrale Bewusstsein» abgelöst. Interessant ist, schen können innerhalb des Organismus tätig sein. In dass in den letzten fünfzig Jahren viele Wissenschaft- den Fällen, die nicht mit diesen Kräften erklärt wer- lerInnen entdeckt haben, dass der Dualismus und die den können, muss man die besondere Art oder Form Trennung von Körper und Geist, die das «mentale Be- ihrer Beschaffenheit entweder mit Hilfe physisch-ma- wusstsein» prägten und ermöglichten, auch aus wis- thematischer Methoden erklären oder neue Kräfte senschaftlicher Sicht nicht mehr aufrechtzuerhalten annehmen, die den chemisch-physischen Kräften der sind. Drei Vertreter der Kritik am Dualismus seien hier Materie gleichrangig sind, die auf die Kraft der Anzie- kurz vorgestellt. hung und Abstoßung zurück zu führen sind» (Harring- Gregory Bateson. In seinem Buch «Die Ökologie des ton 2002, S. 38). Gegen diese Denkweise zu rebellieren Geistes» postuliert Bateson, dass das Geistige weder war schwierig, weil das Denken der meisten Menschen einem bestimmten Organ, zum Beispiel dem Gehirn, durch die Erfolge der Industrialisierung geprägt war, noch einem Individuum zugeordnet werden kann. Das die sich durch die immer differenzierteren Erkenntnis- Geistige ist ein Informationsverarbeitungsprozess. se der Mechanik auszeichnete. Diese Informationsverarbeitung ist eben nicht das Re- sultat einer «Instanz», sondern manifestiert sich als Tief verankerte Trennung. Die Auswirkung der Körper- Prozess des Gesamtsystems. Er drückt es so aus: «In Geist-Trennung der «mentalen Bewusstseinsphase» keinem System, das geistige Charakteristika aufweist, (vgl. Hennessey, Knobel 2019) ist in unserem Denken kann also irgendein Teil einseitige Kontrolle über das und Leben tief verankert und hat sich als Lebenswei- Ganze haben. Mit anderen Worten, die geistigen Cha- se etabliert. So unterscheiden wir zwischen körper- rakteristika des Systems sind nicht einem Teil im- lichen (somatischen) und psychischen Erkrankungen, manent, sondern dem System als Ganzem» (Bateson zwischen objektiver und subjektiver Sichtweise, zwi- 1985, S. 409). Demnach könnte man behaupten, dass schen Leib und Seele, zwischen Fakten und Erfahrun- zum Beispiel Denken nicht im Gehirn stattfindet, son- gen und so weiter. dern sich durch das Zusammenspiel des motorischen, Diese Unterscheidungen haben sich so tief in unser des sensorischen und des zentralen Nervensystems Denken und Handeln eingeprägt, dass die Menschen ergibt und natürlich vom sozialen Umfeld mit beein- tatsächlich aus der Psychologie, die per Definition das flusst wird. «Verhalten» studiert, eine Psyche konstruiert haben, Francisco Varela. Auch der chilenische Biologe und die sich neben dem Körper als eigenständiges Irgend- Verhaltensforscher Francisco Varela verlangte die etwas etabliert hat. Freud verwendete den Begriff Aufhebung der strikten Trennung von Erkennendem «psychischer Apparat». Wir tun so, als hätten unsere (Subjekt) und Erkanntem (Objekt). Viele Menschen er- Gedanken und Emotionen nichts mit dem Körper zu klären den Prozess des menschlichen Erkennens ana- tun und wundern uns über die Einsicht, dass wir mit log zur Datenverarbeitung eines Computers. Varela Gedanken den Körper beeinflussen können. So schrei- stellt sich gegen diese Vereinfachung. Das menschli- ben zum Beispiel die beiden Wissenschaftsjournalis- che Erkennen ist das Resultat eines dynamisch orga- tinnen Hauschild und Wüstenhagen in der Rubrik «Zeit nisierten Systems, das sich aus dem Zusammenspiel Wissen» in der Einleitung eines wissenschaftlichen von Neuronen und nicht aus Computerprogrammen er- Artikels: «Neue Studien offenbaren verblüffende Ver- gibt. Die Beziehungen dieser Neuronen verändern sich bindungen zwischen Körper und Psyche: Nicht nur durch den Prozess des Lebens ständig. Dieser zirkulä- kann seelisches Leid der Gesundheit schaden, auch re Prozess lässt sich mit dem Aphorismus «Jedes Tun der Körper steuert umgekehrt unsere Gefühle» (Hau- ist Erkennen – und jedes Erkennen ist Tun» beschrei- schild; Wüstenhagen 2013, S. 1). Die Ganzheit verblüfft ben. auch im 21. Jahrhundert noch immer. Zusammen mit dem Biologen Humberto Maturana führte Varela den Begriff der Autopoiesis als wichtiges Merkmal des Lebendigen ein. Autopoiesis heißt «sich Vom mentalen ins integrale Bewusstsein selbst erzeugend». Ein Mensch erzeugt sich also stän- dig selbst. Das ist nur in einer zirkulären Organisa- Die Trennung hebt sich auf. Kulturphilosophen wie tionsform möglich, wie sie KybernetikerInnen mit der Jean Gebser oder Charles Eisenstein kommen in ihren «feedback control theory» beschrieben haben. Zwar Analysen zum Schluss, dass sich die Menschheit der- zeit in einer Phase des Bewusstseinswandels befindet. > thema 7
> müssen sich Lebewesen Materie und Energie von au- hochkomplexe Einheit oder Ganzheit personaler, bio- ßen zuführen. In Bezug auf Information ist ein Lebewe- tischer und psychischer Zustände oder Prozesse, ein- sen aber geschlossen – es kann keine Informationen gebettet in soziokulturelle Kontexte und Vorgänge, zu aufnehmen, sondern erschafft oder konstruiert diese betrachten» (Wessel 2015, S. 27). Die Daseinsform des Informationen durch die Verarbeitung der «Perturba- Menschen ist also ein ständiger Entwicklungsprozess, tionen» (Störungen im neutralen Sinne) von außen und der sich aus dem Zusammenspiel der biotischen, psy- innen selbst. chischen und sozialen Lebensprozesse ergibt. Charles Eisenstein. Der US-amerikanische Kultur- philosoph postuliert, dass die Zeit der Separation des Die Einheit ist mehr als die Summe seiner Teile. Der Be- Menschen von seiner Umwelt an ihr Ende gelangt ist. griff biopsychosozial ist nicht neu. Er wird zum Beispiel Der Versuch des Menschen, die Natur zu kontrollie- auch in sogenannten «biopsychosozialen Modellen» ren und die Welt zu objektivieren, ist gescheitert, weil verwendet. Dabei geht es darum, die medizinischen der Mensch dadurch auch sich selbst, als ein Teil der Welten der «somatischen» und jene der «psychischen Natur, zum Objekt machte. Die Krisen, die unsere Ge- Erkrankungen» zusammenzuführen und ein «psycho- sellschaft durchlebt, sind Zeichen des Scheiterns somatisches» Verständnis des Krankheitsgeschehens des separierenden Bewusstseins. Den Ausweg sieht zu etablieren. Eisenstein in der Aufhebung der künstlichen Trennung Das Konzept der biopsychosozialen Einheit geht der Lebensbereiche, die nur durch ein integrales Be- aber, wie oben erwähnt, viel weiter. Es geht nicht nur wusstsein der Menschen möglich werden wird – also darum, Krankheiten zu erklären, sondern den Men- die Hinwendung zu einer ökologischen, vom gewinn- schen als ein Entwicklungswesen zu begründen. Gün- orientierten Geldsystem unabhängigen, kreativen ter Tembrock (1918 – 2011), einer der Begründer der Lebensweise. In seinem neuesten Buch mit dem Titel Humanontogenetik, beschrieb die biopsychosoziale «Wut, Mut, Liebe!» (Eisenstein 2020) deutet er die ak- Einheit wie folgt: tuellen politischen Protestbewegungen als erste Zei- chen, dass die Menschen nicht mehr bereit sind, die 1. «‹bio-› weist das biologische Fundament der Ausbeutung der Natur und Teile der Gesellschaft hin- menschlichen Existenz aus und damit auch die zunehmen. Er fordert die Leser in einem leidenschaft- evolutionäre Herkunft des Menschen als biologi- lichen Aufruf dazu auf, Wut in Liebe umzuwandeln. sche Art: Homo sapiens L. (Mammalia, Primates). Diese Zuordnung leitet sich aus den konstitutiven Eigenschaften des Menschen ab, Biopsychosoziale Einheit 2. ‹psycho-› kennzeichnet die eigene Qualität des menschlichen Verhaltens, die sich aus den Der Mensch ein Entwicklungswesen. Das Konzept der spezifischen Umwelt-Interaktionen ableitet, biopsychosozialen Einheit ist ein wichtiger Bestand- 3. ‹sozial-› charakterisiert die besondere Form der teil der Humanontogenetik. Diese Wissenschaft be- sozialen Interaktion mit allen sich daraus ablei- fasst sich mit der Entwicklung des Individuums von tenden Folgerungen, der Konzeption (Befruchtung) bis zum Tod. Wessel 4. ‹Einheit› kennzeichnet den Sachverhalt, dass umschreibt den Forschungsgegenstand so: «Somit diese drei Bedingungsgefüge ein Systemganzes ist der Mensch als Prozess der eine Ausgangspunkt, konstituieren, das mehr ist als die Summe seiner während der andere darin besteht, den Menschen als Teile» (Tembrock 1987, S. 576). Verschachtelung der Ebenen. Wessel (2015) betonte, dass die drei Ebenen «enkaptisch», also ineinander BIOLOGISCHE EBENE verschachtelt sind (siehe Abbildung 1). Es geht darum, dass die biologischen Grundlagen den Rahmen bilden PSYCHISCHE EBENE für das menschliche Verhalten – die psychischen Pro- SOZIALE EBENE zesse also nicht von den der biotischen Grundlagen separiert vonstatten gehen können. Zusätzlich sollte die soziale Ebene nicht gegen die psychische Ebene verstoßen. Wessel merkt zur Eigenschaft dieser Ver- Abb. 1.: Die enkaptische Verbindung der drei Ebenen der schachtelung unter anderem Folgendes an: «Der Pro- biopsychosozialen Einheit zess der gegenseitigen Beeinflussung ist evolutionärer 8 thema 02 |20
Art. Auf jeder Stufe der Entwicklung sind spezifische gung und Berührung. Wenn wir nun den Menschen als Bedingungen für Wirkung und Rückwirkung der Ebe- biopsychosoziale Einheit betrachten, kann eine Inter- nen aufeinander gesetzmäßig vorhanden. Die jeweilige aktion mit einem Menschen nie isoliert körperlich (bio- Ebene muss ‹reif› sein für eine entsprechende Bean- tisch), psychisch oder sozial sein. Denn ich treffe im- spruchung. Die biotische Ebene kann für bestimmte mer den ganzen Menschen. Der Zugang mag körperlich kognitive Prozesse erst in Anspruch genommen wer- sein – in der Interaktion begegnet man aber immer der den, wenn ein entsprechender ‹Reifezustand› erreicht individuellen, biopsychosozialen Einheit Mensch. ist. Anders ausgedrückt: Was die biotische Ebene in einem bestimmten Zustand nicht zulässt, ist nicht er- Entwicklungsmuster. Die Kinästhetik sucht nach Mus- reichbar. Das Gehirn muss einen entsprechenden Ent- tern der Individualentwicklung, die dem Menschen wicklungsstand erreicht haben, damit das Individuum helfen, das eigene Verhalten und die eigene Entwick- gewünschte soziale Beziehungen eingehen kann. Jeder lung selbst zu beobachten und zu beeinflussen. Dabei Verstoß gegen die ‹natürlichen› Bedingungen führt zu gehen wir davon aus, dass die biotischen Möglichkei- einer Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwick- ten des Menschen die Grundlage bieten für die Poten- lung, im Extremfall zur Zerstörung des Individuums» ziale, die ein Mensch auf den psychischen und sozialen (ebd., S. 115). Ebenen entfalten kann. Dies im Wissen, dass die drei Ebenen synergetisch zusammenspielen. Dass also Störungen der Einheit. Wessel weist darauf hin, dass psychische Prozesse direkt auf biotische Geschehnis- Störungen der Einheit der drei Ebenen gravierende se zurückwirken und soziale Interaktionen direkt und Folgen haben: «Viele Störungen im Wohlbefinden der indirekt auf das zirkuläre biopsychische Spiel einwir- Persönlichkeit sind Störungen der Beziehung zwi- ken. Das Wort Synergie bedeutet «Zusammenwirken» schen den Ebenen, die entweder reversibel (unter- im Sinne von «sich gegenseitig fördern» – oder nach schiedlichen Grades) oder irreversibel sind. Es ist die Aristoteles, These: «Das Ganze ist mehr als die Summe humane Pflicht der Gesellschaft beziehungsweise seiner Teile.» der Gemeinschaft und der Einzelnen, damit souverän umzugehen» (ebd., S. 115). Die Separation der drei Be- Es geht um das Zusammenspiel. Einer der wichtigen reiche birgt also die Gefahr, die biopsychosoziale Ent- Denker, die die Entwicklung der Kinästhetik nachhal- wicklungseinheit «Mensch» nachhaltig zu stören oder tig beeinflusst haben, ist Richard Buckminster Fuller. gar zu zerstören. Die Perspektiven des sechsten Konzepts des Kinaes- thetics-Konzeptsystems «Umgebung» gehen auf den US-amerikanischen Philosophen, Visionär und Desig- Kinästhetik und die ner zurück. Er hat aber auch die Suche nach kinästhe- biopsychosoziale Einheit tischen Wirkungszusammenhängen nachhaltig beein- flusst. Er beobachtete, dass das Verhalten komplexer Die biopsychosoziale Einheit denken. Unser Denken Systeme nicht durch das individuelle Verhalten ein- orientiert sich so stark an der Trennung von Körper und zelner Teile vorhergesagt werden kann. Daraus hat er Geist, dass es nicht einfach ist, die Konsequenzen der geschlossen, dass Systeme nur dann verstanden wer- biopsychosozialen Einheit zu verstehen und zu integ- den können, wenn die Wechselwirkungen oder die Be- rieren. In vielen Diskussionen über die Bedeutung der ziehungen der einzelnen Teile eines Systems studiert Bewegungskompetenz für die menschliche Entwick- werden. Er nannte die Wissenschaft der Beziehungen lung oder Genesung begegnet man Argumenten wie: «Synergetics» und ist somit der Vater des Wortes Sy- «Aber die Bewegung kann nicht alles richten. Die Psy- nergie. Buckminster forderte die Menschen also auf, che spielt auch eine wichtige Rolle.» Ich gehe davon nicht nur die einzelnen Teile eines Systems immer ge- aus, dass die Kinästhetik einen guten Zugang bietet, nauer zu untersuchen, sondern die Beziehungen und um die Einheit der biopsychosozialen Ebenen zuerst Wechselwirkungen der Systemteile zu erforschen. Er zu erfahren und mit der Zeit auch zu verstehen. forderte dazu auf, aus diesen synergetischen Mustern zu lernen (vgl. Buckminster 1998, S. 228 f.). Körperlicher Zugang. Auf den ersten Blick befasst sich die Kinästhetik mit dem menschlichen Körper. Es geht Entwicklung der biopsychosozialen Einheit. Die um die Aktivitäten des täglichen Lebens. Es geht dar- menschliche Individualentwicklung oder Ontogene- um, die Bewegungsaspekte dieser Aktivitäten besser zu verstehen und zu beschreiben. Es geht um Bewe- > thema 9
.verlag-lq.ne www t Eine Kooperationsprodukt von: stiftung lebensqualität European Kinaesthetics Association Kinaesthetics Deutschland Kinaesthetics Italien Kinaesthetics Österreich Kinaesthetics Schweiz ww t w.ki .n e > nae s t h e ti c s se ist immer das synergetische Zusammenspiel der Vorsilbe «psycho-») und verändert die Möglichkei- biotischen, psychischen und sozialen Ebenen. Diese ten im sozialen Verhalten (Stichwort «-sozial»). Nicht Ebenen sind, wie erwähnt, so ineinander verwoben, nur die Kinästhetik als Erfahrungswissenschaft kann dass sie einerseits eine untrennbare Einheit bilden. diese Zusammenhänge aufzeigen. Die oben zitierten Andererseits ermöglichen sie im Zusammenspiel eben AutorInnen Hauschild und Wüstenhagen schreiben: mehr als die Summe der Möglichkeiten der einzel- «Auch die experimentelle Psychologie hat den Körper nen Ebenen. Entwicklung kann also nie nur auf einer entdeckt und zeigt mit verblüffenden Studien, wie Ebene stattfinden und auf diese reduziert beobachtet selbst unbewusste Bewegungen unsere Gefühle und werden. Das belegen mittlerweile sehr viele qualita- Gedanken steuern» (Hauschild; Wüstenhagen 2013). tive Wirkungsbelege von Kinästhetik-AnwenderInnen: Wenn zum Beispiel ein Mensch, der in eine Demenz Biopsychosoziale Einheit erfahren. Man kann sagen: verstrickt ist, durch gezielte Unterstützung in einer ge- Die Kinästhetik schafft eine «Lernumgebung», die meinsamen Bewegung (Stichwort «-sozial«) die eigene Menschen die verschränkte Einheit der biopsychoso- Muskelspannung besser anpassen kann (Stichwort zialen Ebenen erfahren lässt. Menschen können durch Vorsilbe «bio-»), hat das Einfluss auf die emotionalen die Beobachtung der eigenen Bewegungsmuster sen- und kognitiven Reaktionsmöglichkeiten (Stichwort sibel werden für ihre eigene, individuelle Innenwelt. Sie können lernen, ihre individuellen Bewegungsmus- ter zu erfahren und zu beschreiben. Dadurch können sie entdecken und verstehen, dass «sich bewegen», Quellen: «emotionieren» und «denken» nicht unabhängig von- > Buckminster Fuller, Richard (1998): Bedienungsanleitung für das einander und von sozialen Interaktionen stattfinden Raumschiff Erde und andere Schriften. Amsterdam/Dresden: können. Verlag der Kunst. ISBN 90-5705-015-3 > Harrington, Anna (2002): Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis Ein langer Weg. Es ist nicht einfach, unser Leben als zur New-Age-Bewegung. Rowohlts Enzyklopädie (Rowohlts synergetisches Zusammenspiel der biopsychosozia- Enzyklopädie 55577). Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. ISBN 978-3-4995-5577-0. len Einheit und in diesem Sinne als «ganzheitlichen» > Hauschild, Jana; Wüstenhagen, Claudia (2013): Körper und Prozess zu verstehen. Ich bemerke das jeden Tag. Seele – nur gemeinsam stark. https://www.zeit.de/zeit-wis- Auch nach dreißig Jahren Auseinandersetzung mit der sen/2013/03/koerper-psyche-gefuehle-gesundheit (Zugriff: 14.06.2020). Kinästhetik ertappe ich mich immer wieder, eigene ge- > Hennessey, Richard; Knobel, Stefan (2019): Warum brauchen wir sundheitliche Herausforderungen mit Körper und Geist ein neues Lebensqualitätsmodell? Lebensqualität, Teil 1. In: LQ. trennenden Gedankenmustern zu erklären. Vermut- Kinaesthetics – zirkuläres Denken – Lebensqualität. Heft 1. S. 6 – 11. lich bin ich als Individuum überfordert, diesen Schritt, > Maturana, Humberto, R. (2018): Der Baum der Erkenntnis. Die mich als das zu verstehen, was Richard Buckminster biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. 7. Auflage. Fuller auszudrücken vermochte, allein zu machen: Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch. ISBN 978-3-596-17855-1. > Tembrock, Günther (1987): Verhaltensbiologie und Humanwissen- schaften. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humbold Universi- I live on Earth at present, tät. S. 576 – 585. and I don’t know what I am. > Vester, Frederic (2019): Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht I know that I am not a category. an den Club of Rome. Erste Auflage 1999. München: Pantheon I am not a thing – a noun. Verlag. ISBN 978-3-570-55429-6. I seem to be a verb, > Wessel, Karl Friedrich (2015): Der ganze Mensch. Der ganze Mensch. Eine Einführung in die Humanontogenetik oder Die an evolutionary process – biopsychosoziale Einheit Mensch von der Konzeption bis zum an integral functon Tode. Berlin: Logos Verlag. ISBN 978-3-8325-3996-2. of the universe. Bleiben wir in Kontakt mit uns. ● Stefan Knobel ist tätig als Kinaesthetics- Ausbilder und Leiter des Wirkungsfeldes «Kinaesthetics Projekte neue Länder». Er arbeitet aktiv mit am netzwerk lebensqualität. 10 thema 02 |20
| 01 21 01 20 | | 02 20 kinaesthetics – zirkuläres denken – lebens kinae qualität stheti cs – zirku läres squalität denk n – leben en – äres denke leben ics – zirkul kinaesthet squa lität 03 20 | 04 20 | kinaesth etics – zirkulär es den ken – lebensq ualität ualität lebensq ken – es den zirkulär etics – kinaesth kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität In der Zeitschrift LQ können die LeserInnen am Knowhow teilhaben, das Kinaesthetics-AnwenderInnen und Kinaesthetics-TrainerInnen in zahllosen Projekten und im Praxisalltag gesammelt haben. Ergebnisse aus der Forschung und Entwicklung werden hier in verständlicher Art und Weise zugänglich gemacht. Es wird zusammengeführt. Es wird auseinander dividiert. Unterschiede werden deutlich gemacht. Neu entdeckte Sachverhalte werden dargestellt und beleuchtet. Fragen werden gestellt. Geschichten werden erzählt. Die LQ leistet einen Beitrag zum gemeinsamen analogen und digitalen Lernen. Bestellen Sie die Zeitschrift LQ unter www.verlag-lq.net oder per Post verlag lebensqualität verlag@pro-lq.net nordring 20 www.verlag-lq.net ch-8854 siebnen +41 55 450 25 10 Print-Ausgaben plus Zugang zur Online-Plattform Bestellung Abonnement LQ – kinaesthetics – zirkuläres denken – lebensqualität Ich schenke lebensqualität mir selbst einer anderen Person Meine Adresse: Geschenkabonnement für: Vorname Vorname Name Name Firma Firma Adresse Adresse PLZ Ort PLZ Ort Land Land eMail eMail
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