Central Park West von Woody Allen - Theater Kanton Zürich

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Central

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Park West
von Woody Allen
Central Park West von Woody Allen - Theater Kanton Zürich
bis zum Äussersten
gehn
dann wird Lachen entstehn
Samuel Beckett
Central Park West von Woody Allen - Theater Kanton Zürich
Woody Allen
Allen Stewart Konigsberg kam 1935 als        Seine frühen Filme waren oftmals eine
Sohn des jüdischen Diamantschleifers         Aneinanderreihung von komischen Epi-
Martin Konigsberg und seiner Frau Net-       soden. «Love and Death» (Die letzte
tie im New Yorker Stadtteil Brooklyn auf     Nacht des Boris Grushenko) von 1975 gilt
die Welt. Obwohl die Eltern selbst nicht     als Übergang zu den ernsteren Filmen.
orthodox waren, schickten sie ihren          «Annie Hall» (Der Stadtneurotiker) wur-
Sohn auf eine hebräische Schule. Als         de 1977 zum künstlerischen Triumph
Jugendlicher verdiente er, bereits unter     und bescherte Woody Allen zwei Oscars
dem Pseudonym Woody Allen, Geld als          in den Kategorien «Beste Regie» und
Gagschreiber. Von dem von ihm bewun-         «Bestes Originaldrehbuch». Der Film be-
derten Jazz-Klarinettisten Woody Her-        trat inhaltlich wie formal Neuland und
man übernahm er den Vornamen. Er             der Autorenfilmer schuf hier ein eigenes
begann Theaterstücke zu schreiben und        Genre – den Woody-Allen-Film.
versuchte sich als Stand-up-Comedian.
Nachdem er 1965 erfolgreich das Dreh-        Die New-York-Trilogie
buch zu dem Film «Was gibt's Neues,          Mit dem zweiten Film der New-York-Tri-
Pussy?» geschrieben hatte, übernahm          logie «Manhattan» knüpfte Woody Allen
Allen 1969 erstmals auch die Regie bei       1979 an den Erfolg von «Der Stadtneuro-
einem Film. «Woody der Unglücksrabe»         tiker» an. Wieder stand ein jüdischer In-
war die erste Mockumentary der Film-         tellektueller mit einem komplizierten
geschichte, ein Film, der wie ein echter     Beziehungsleben im Zentrum. Der dritte
Dokumentarfilm daherkam, aber fiktiv         Film der Trilogie kam 1980 mit «Stardust
war und das Genre parodierte.                Memories» in die Kinos.

Mit dem Episodenfilm «Was Sie schon          Seit 1980 war Woody Allen mit der
immer über Sex wissen wollten, aber bis-     Schauspielerin Mia Farrow liiert. Sie
her nicht zu fragen wagten» erlangte         spielte zwischen 1982 und 1992 in zahl-
Allen 1972 Kultstatus. Die satirische Ver-   reichen seiner Filme die Hauptrolle, z. B.
filmung eines damals berühmten Sexu-         in «Hannah und ihre Schwestern», für
alkunde-Buches, nahm den gesamten            den Woody Allen 1987 den dritten Oscar
Aufklärungswahn der 70er Jahre aufs          («Bestes Originaldrehbuch»), bekam, so-
Korn. Hier zeigte sich erstmals der starke   wie in «The Purple Rose of Cairo».
Einfluss Sigmund Freuds auf Woody
Allens Schaffen. Bereits während seiner      Die Beziehung endete 1992 in einem Ro-
Studienzeit hatte Allen auf Rat seines De-   senkrieg. Es war nach den kurzen Ehen
kans einen Psychoanalytiker aufgesucht.      mit der Philosophiestudentin Harlene

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Rosen (1956–1962) und der Schauspiele-      folgten weitere London-Filme, darunter
rin Louise Lasser (1966–1969) seine drit-   «Scoop – der Knüller», «Cassandras
te Ehe. Grund für die Trennung war Woo-     Traum» und «Ich sehe den Mann deiner
dy Allens Beziehung mit der damals          Träume». Für die Komödie «Midnight in
22-jährigen Soon-Yi Previn, der Adoptiv-    Paris» mit Owen Wilson erhielt er 2012
tochter von Mia Farrow und ihrem vorhe-     seinen vierten Oscar. Woody Allen reali-
rigen Ehemann André Previn. In den USA      siert im Schnitt jedes Jahr einen Film,
war die Beziehung ein Skandal. Dazu         zuletzt «A rainy day in New York» (2019).
kam, dass untersucht wurde, ob Allen
die gemeinsame Adoptivtochter Dylan         Im Zuge der #MeToo-Debatte wurden
missbraucht habe. Ein Gerichtsverfah-       die Vorwürfe gegen Allen wieder laut:
ren kam wegen dem Fehlen hinreichen-        Seine Filme fanden in den USA keine
der Beweise nie zustande. 1997 heiratete    Verleiher mehr, Amazon kündigte einen
er Soon-Yi Previn. Später adoptierten sie   Vertrag über vier Filme von Allen mit
zwei Kinder.                                dem Hinweis auf die Missbrauchsvor-
                                            würfe, Schauspielerinnen und Schau-
In der Folge des Skandals von 1992 dreh-    spieler distanzierten sich von ihm und
te Woody Allen ab 1996 oft außerhalb        seinem Werk. Zuletzt erschien seine
der USA. Der Musicalfilm «Alle sagen: I     Autobiografie «Ganz nebenbei»
love you» spielte mit der Starbesetzung
Julia Roberts, Goldie Hawn und Drew         Die meisten Theaterstücke Woody Al-
Barrymore unter anderem in Venedig          lens sind Adaptionen seiner Filme für die
und Paris. Für seinen Film «Celebrity»      Bühne. Der Einakter «Central Park West»
konnte er zwei Jahre später Leonardo        gehört zu seinen wenigen Stücken, die
DiCaprio, Charlize Theron, Melanie Grif-    genuin für die Bühne geschrieben wur-
fith, Winona Ryder und Kenneth Branagh      den und keine Verfilmung erlebten.
gewinnen. Mit «Match point» (2005) er-      «Central Park West» wurde 1995 zusam-
fand sich Woody Allen noch einmal neu       men mit je einem Einakter von David
und drehte, inspiriert von Scarlett Jo-     Mamet und Elaine May Off-Broadway
hansson, einen düsteren Thriller. Es        uraufgeführt.

«Ich wurde im hebräischen Glauben
geboren, aber als ich älter wurde bin ich
zum Narzissmus konvertiert.»
Scoop – Der Knüller

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Versuch über das Komische
Mit der Entwicklung eines feineren mo-     Andererseits gibt es eine konstruktivere
ralischen Sinnes und eines feineren In-    und weisere Form, diese Bosheit zu bän-
tellekts muss das Lachen problema-         digen, weil sie die Befriedigung des un-
tisch geworden sein. Irgendwann in der     ausrottbaren und grundsätzlich ver-
menschlichen Geschichte muss man           nünftigen menschlichen Impulses zu
begonnen haben, es als vulgär anzuse-      lachen noch zulässt, nämlich die Kulti-
hen, z. B. über eine ärmere oder hässli-   vierung des Sinnes für das Komische
chere Person zu lachen (wie dies auch in   durch jene komischen Schauspieler und
der Entwicklung der meisten Individuen     Schriftsteller, die subtiler als andere wa-
geschieht, denen beigebracht wird, ihre    ren und die sich über die Vulgarität ihrer
Schadenfreude und ihre oft grausamen       Kollegen ärgerten, die schnelle Erfolge
oder schmutzigen Formen des Lachens        erzielten, z. B. indem sie einfach bucklige
zu begrenzen, denen sich als Kinder hin-   oder fette Personen nachahmten – man
gaben). Die Bosheit, die, wie Bergson zu   muss nur die Parabasen einiger Komö-
Recht bemerkt, dem Lachen inhärent ist,    dien des Aristophanes oder den Prolog
wurde moralischer und ästhetischer Kri-    zu Ben Jonsons «Volpone» lesen, um zu
tik unterworfen. Das konnte auf eine       sehen, wie Ekel über billigen Humor we-
doppelte Weise geschehen: Einerseits       sentlich zu den grossen Komikern ge-
gibt es den ausschliesslich negativen      hört. Ihnen verdanken wir weit mehr, als
Zugang, den man bei jenen Moralisten       man gewöhnlich meint, nämlich die Hu-
findet, die jedes Sinnes für Humor er-     manisierung unserer Gefühle.
mangeln und die am liebsten das La-
chen im Allgemeinen verboten hätten.                                    Vittorio Hösle

                                                                                    5
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Allens heilige
Dreifaltigkeit: Gott, Tod
und die Sinnfrage
Die Existenz oder Nichtexistenz eines        zen. In «Boris Gruschenko» taucht er als
verantwortlichen Gottes beschäftigt          weisser Sensenmann auf. Boris gewinnt
Woody Allen durch sein gesamtes Werk.        ihm trotz der Bedrohung positive Seiten
In dem Theaterstück «Gott» zum Bei-          ab: Es ist für ihn eine Möglichkeit, weni-
spiel erscheint Gott zum Schluss zwar,       ger Geld auszugeben. Im übrigen be-
hat aber einen Unfall und stirbt. «Es gibt   hauptet er: «Es gibt schlimmere Dinge
nicht nur keinen Gott, sondern versuch       als den Tod. Wer einmal einen Abend
mal am Wochenende einen Klempner             mit einem Versicherungsvertreter ver-
zu kriegen».                                 bracht hat, weiss genau, was ich mei-
                                             ne.» – «Wie ist das, tot?» wird er an an-
Die Suche nach Gott ist in Allens Filmen     derer Stelle gefragt. «Du kennst doch die
anwesend, ohne dass die dargestellten        Hühner in Tresky’s Restaurant. Es ist
Personen religiös wären. Boris Gru-          schlimmer.» Ganz so gelassen, wie es
schenko zweifelt an Gottes Existenz,         nach diesen Zitaten scheinen mag, ist
solange dieser kein Zeichen gibt. Ein        das Verhältnis Allens zum Tod nicht. Ge-
kleines Wunder, etwa «ein brennender         rade ihn, der in seinen Filmen häufig ei-
Busch, wie sich das Meer vor mir teilt,      nen Hypochonder spielt, lässt die Angst
wie mein Onkel eine Rechnung be-             vor dem Ende nicht los. In «Schläfer»
zahlt» würde dem Glauben eine we-            scheint er mit einem eingefrorenen und
sentlich verbesserte Rechtfertigungs-        wieder aufgetauten Helden die Aufer-
grundlage geben. Er bezweifelt auch,         stehung zu proben. Alle nur möglichen
dass er, wie alle Menschen nach Gottes       Varianten des Sterbens tauchen in Al-
Ebenbild geschaffen wurde, weil das          lens Filmen auf: Durch Irrtum, wie bei
bedeutete, «dass Gott eine Brille tragen     «Boris Gruschenko», Herzschlag beim
würde».                                      Liebesakt in der «Sommernachts-Sex-
                                             komödie» bis zum Mord in «Verbrechen
Das Thema «Tod» ist bei dieser Frage         und andere Kleinigkeiten». Zudem hat er
nach Gottes Existenz natürlicherweise        auf seine späten Jahre die Liebe für die
integriert und Allen widmet sich diesem      Kriminalkomödie entdeckt: «Manhattan
ausgiebig. Gott schickt den Tod häufig in    Murder Mystery», «Bullets over Broad-
Allens Filme, um die Probleme anzuhei-       way» oder sein Film «Schmalspur-

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«Sei doch nicht
    so pessimistisch!
    Du siehst das Glas
    immer halb leer!»

«Das stimmt doch
gar nicht! Ich seh das
Glas immer ganz voll!
Voller Gift!»
Scoop – Der Knüller

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ganoven» beschäftigen sich mit genau          das alles Teil irgendeines unergründli-
diesem Thema.                                 chen, kosmischen Plans.» Und in «Star-
                                              dust Memories» erläutert Sandy Bates
«Alle Bücher über Tod und Sterben ge-         die Sinnfrage so: «Wenn Du nichts zu
hören Dir» erklärt Annie Hall im «Stadt-      essen hast, wird das zu Deinem Haupt-
neurotiker», als sie Alvy (Allen) verlässt.   problem. Aber was passiert, wenn Du in
Dieser bekennt: «Der Tod ist die grosse       einer Wohlstandsgesellschaft lebst, wo
Obsession hinter allem, was ich ge-           Du Dich zum Glück nicht darum küm-
macht habe».                                  mern musst, zu überleben und so tau-
                                              chen ganz andere Probleme auf, zum
Angesichts dieser ständigen Bewusst-          Beispiel: Wie kann ich mich verlieben,
werdung der Sterblichkeit rückt auch          oder warum werde ich älter und sterbe
die Frage nach dem Sinn des Lebens in         und welche Bedeutung hat mein Leben
den Vordergrund. «Natürlich ist alles         überhaupt?» Die existenziellen Fragen
psychisch» wie Leonard Zelig meint,           schlagen bei Allen mitunter haarscharf
«aber was ist mit der Berufung des Men-       in den Alltag durch: «Gibt es eine Welt
schen? Sind die Menschen dazu be-             des Unsichtbaren? Und wie weit ist sie
stimmt, sich, wenn sie essen, hin und         vom Stadtzentrum Manhattans ent-
wieder zu verschlucken? Vielleicht ist        fernt?»
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Die Psychoanalyse                            lich hatte ich einen Orgasmus, aber
Ohne Psychoanalyse kommt Woody Al-           mein Arzt sagte mir, es war der falsche.»
len nicht aus. Sein Verhältnis zu den        oder «Mein Analytiker warnte mich, aber
Vertretern dieses Berufsstandes ist al-      Du warst so schön, dass ich mir einen
lerdings sehr zwiespältig. Der Erfolg ih-    anderen Analytiker nahm.» – doch darin
rer Arbeit besteht meist in einer noch       deutet sich bereits Kritik an der Bereit-
grösseren Verwirrung des Patienten.          willigkeit der Patienten an, die Allen spä-
Und viel Verstand traut Allen dem Psy-       ter sein Film-Ego Isaac Davis wie folgt
chiater sowieso nicht zu. Der Arzt, der in   formulieren lässt: «Die Menschen in
die Neigung eines Patienten zu einem         Manhattan schaffen sich dauernd selbst
Schaf heilend eingreifen soll, verliebt      ihre Probleme, die sie davon abhalten,
sich selbst in das Tier und ruiniert         sich mit erschreckenderen, unlösbaren
schliesslich aus unglücklicher Liebe         Problemen der Welt zu befassen.»
seine eigene Existenz («Alles, was Sie
schon immer über Sex wissen wollten»).                                   Bertram Hacke
«Manhattan» schliesslich geht einen
entscheidenden Schritt weiter: Zwar wie-
derholen sich Allens bissige Witze gegen
die Psychiatrie in Sätzen wie «Schliess-
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«Alle guten
Psychiater sind
besetzt.»
Stadtneurotiker
Midlife- Crisis
Geschichte eines miss-
verstandenen Konzepts
Die Midlife-Crisis wird heute zumeist        schen im Alter zwischen 40 und 50 un-
auf Männer bezogen. Dabei beginnt            zufriedener und neigen stärker zu De-
ihre Geschichte mit der Frauenbewe-          pressionen als in den Jahren davor oder
gung in den 1970er-Jahren. Mit ihrem         danach. Primatologen wollen sogar he-
Buch «Passages» (In der Mitte des            rausgefunden haben, dass selbst
Lebens) machte die New Yorker Jour-          Schimpansen und Orang-Utans mit der
nalistin Gail Sheehy die Midlife-Crisis      Lebensmitte kämpfen.
bekannt als ein Konzept, das auf
Frauen und Männer gleichermassen             Andere hingegen sehen in der Midlife-
zutrifft und das Ende traditioneller         Crisis nichts als eine Erfindung und lä-
Geschlechterrollen im mittleren Al-          cherliche Entschuldigung für verantwor-
ter beschreibt. Ihr Buch wurde ein           tungsloses Verhalten. Sie spotten über
Bestseller, der sich über Jahre hin-         das Klischee vom roten Sportwagen und
weg millionenfach verkaufte. Heute           Affären mit jüngeren Frauen. Doch aus
ist Sheehys ursprüngliche Idee der           ihrem Lachen spricht oft bittere Erfah-
Midlife-Crisis nahezu vergessen.             rung. In einem vielbeachteten Essay hat
                                             die amerikanische Publizistin Susan
Gibt es die «Midlife-Crisis» wirklich, je-   Sontag von der gesellschaftlichen
nen plötzlichen Drang, mitten in den         «Doppelmoral des Alterns» gespro-
besten Jahren noch einmal ganz von           chen: Die «besten Jahre» gereichen vie-
vorn zu beginnen? Frauen, Männer und         len Männern zum Vorteil, sind aber für
Wissenschaftler streiten darüber seit        Frauen häufig mit Problemen verbun-
Jahrzehnten. Einige behaupten, es            den. Nicht selten sind sie die Leidtragen-
handle sich um eine biologisch vorpro-       den, wenn Männer zu neuen Ufern auf-
grammierte Umbruchsphase, die alle           brechen.
Menschen durchlebten – gewissermas-
sen eine zweite Pubertät. Diese Position     Doch selbst Kritikerinnen und Kritiker
wird nicht nur am Stammtisch vertreten,      des Konzepts fragen nicht, woher die
sondern auch in der Wissenschaft, wo         Idee der Krise in der Lebensmitte eigent-
Verhaltensforscher eine «U-Kurve» des        lich kommt und wer sie geprägt hat. Der
Lebens berechnen. Demnach sind Men-          Blick zurück in die Geschichte wirft neu-

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es Licht auf die Midlife-Crisis. Denn zur    Der Philosoph Kieran Setiya, der am
Debatte steht nicht nur die Existenz der     Massachusetts Institute of Technology
Midlife-Crisis, sondern vielmehr ihre De-    lehrt, präsentiert in seinem 2017 veröf-
finition. Wer hat eine Midlife-Crisis, wie   fentlichten, vielbeachteten Buch «Mid-
sieht sie aus – und wer darf darüber ent-    life» die Frage nach dem Sinn des Le-
scheiden?                                    bens als eine, die in erster Linie Männer
                                             zu betreffen scheint: den Autor selbst –
New Yorker Geschichten                       der im Alter von 35 Jahren in eine Krise
Die meisten Midlife-Geschichten han-         stürzte – sowie eine Reihe grosser Phi-
deln von Männern. Frauen spielten in         losophen von John Stuart Mill bis Arthur
diesen Schilderungen nur illustrative        Schopenhauer, dazu zahlreiche Roman-
Nebenrollen – die Verlassene, der Sei-       charaktere. Als Leser Leo Tolstois inter-
tensprung. Eine Midlife Crisis hatten die    essiert den Moralphilosophen Setiya
Männer. Wenig hat sich seitdem geän-         das Schicksal Alexej Wronskijs, nicht das
dert.                                        der Titelheldin Anna Karenina.

«Der Trick ist, das Leben zu geniessen,
indem man vorher akzeptiert, dass es
keinerlei Bedeutung hat.»
Vicky Cristina Barcelona

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Dabei waren die Erfahrungen von Frauen       ihre Erfahrungen und Perspektiven auf
zentral für die Anfänge der Idee einer       Ehe und Partnerschaft, Familie und Be-
Midlife-Crisis. Es war die New Yorker        ruf. Die meisten der Befragten lebten in
Journalistin Gail Sheehy, die die Midlife-   New York, andere in Los Angeles, Wa-
Crisis in den USA und international be-      shington, DC und Dayton, Ohio – der
kannt machte. Geboren 1937, schrieb          Stadt, die unter Meinungsforschern als
Sheehy seit den 1960er-Jahren für meh-       Heimat des durchschnittlichen amerika-
rere Zeitungen und Zeitschriften, insbe-     nischen Paares galt. Doch wo Sheehy
sondere für die «New York Herald Tribu-      30- und 40-jährige befragte, dominier-
ne». Seit 1968 war sie Redakteurin des       ten Unzufriedenheit und ein Gefühl der
neu gegründeten «New York Magazine».         Stagnation.

Sheehys Buch hiess «Passages», zu            Sheehy erschien dieses Unbehagen be-
Deutsch «In der Mitte des Lebens». Sie       deutungsvoll. In der Fachliteratur stiess
interviewte dafür 115 Frauen und Männer      sie auf einen Begriff, den der Londoner
im Alter zwischen 17 und Ende 50 über        Psychoanalytiker und Berater Elliott
Jaques 20 Jahre zuvor geprägt hatte, der    Mutterschaft und legte zugleich nahe,
jedoch weitgehend unbeachtet geblie-        dass auch Männer davon profitierten,
ben war: «mid life crisis». Jaques unter-   ihre Prioritäten und Lebensmuster zu
suchte unter anderem die Lebensläufe        überdenken. Zusammengenommen
Dantes und Raphaels, Beethovens und         markierten die weibliche und männli-
Goethes und beschrieb ein Muster einer      che Midlife-Crisis das Ende der klassi-
Schaffenskrise, die Künstler im Alter von   schen Rollenverteilung.
ungefähr 35 Jahren durchlebten. Viele
der Männer gingen aus dieser Krise ge-      Sheehys Buch «Passages» war eine
stärkt hervor. Für den Psychoanalytiker     Sensation. In mehr als 25 Sprachen
war die «mid-life crisis» deshalb weniger   übersetzt zog Sheehys Buch Kreise weit
ein Problem, sondern vielmehr Aus-          über die USA hinaus.
druck eines Entwicklungsschubes.
                                            Als die deutsche Übersetzung von
Sheehy wandte die Idee der Midlife Crisis   Sheehys Buch Anfang des Jahres 1977
auf Frauen und Männer an und definier-      erschien, war Sheehys Konzeption der
te den Begriff damit komplett neu: Sie      Midlife-Crisis nicht zuletzt deshalb er-
beschrieb eine Veränderung der Ge-          folgreich, weil sie in Zeiten des gesell-
schlechterrollen.                           schaftlichen Umbruchs von Aufbruch
                                            und Neubeginn kündete.
Im Alter von ungefähr 35 Jahren über-
dachten die Frauen, die Sheehy inter-       Doch die einflussreichste Kritik an Shee-
viewte, ihr Leben. Viele von ihnen hatten   hys Modell der Midlife-Crisis kam aus
die Rolle der Hausfrau und Mutter satt.     den Reihen der Psychologie, Psychiatrie
Wie damals verbreitet, hatten sie mit       und Psychoanalyse. Sie richtete sich
Anfang 20 geheiratet, oft ohne ihr Studi-   nicht gegen die Midlife-Crisis an sich,
um zu beenden. Selbst das jüngste Kind      sondern eignete sich die Idee an und
besuchte mittlerweile die weiterführen-     stellte sie auf den Kopf.
de Schule. Jetzt wollten die Frauen ihr
Leben in die Hand nehmen: Studienab-        Psychologie und die Krise
schlüsse nachholen, Weiterbildungskur-      der Männlichkeit
se belegen oder sich neu orientieren, ins   Im Gefolge von Sheehys Buch veröffent-
Berufsleben zurückkehren.                   lichten die Psychiater George Vaillant
                                            und Roger Gould und der Psychologe
In Sheehys Darstellung war die Unzufrie-    Daniel Levinson ihre eigenen Studien
denheit der Mittdreissiger der Beginn       zum Thema. Doch sie beschrieben eine
eines Neuanfangs. Ihr Konzept der Mid-      völlig andere «Midlife-Crisis». Wie Shee-
life-Crisis normalisierte die Lebensent-    hy schilderten die drei Experten einen
würfe von Frauen jenseits von Ehe und       tiefgreifenden Wandel der Lebensein-

                                                                                   15
stellung im mittleren Alter. Doch dabei     zierung eines Mannes von seiner Familie
beschrieben sie die Midlife-Crisis als      verlangte und das Ende der Monogamie
ein ausschliesslich männliches Phäno-       bedeutete, entsprechend der Ablösung
men und verteidigten traditionelle Ge-      des Jugendlichen vom Elternhaus. Da-
schlechterverhältnisse.                     bei war die Abwendung eines Mannes
                                            von seiner Ehefrau zentral. Wie ein Kind
In seinem Buch «Werdegänge: Erkennt-        sich von den Eltern löst, sollte sich ein
nisse der Lebenslaufforschung», veröf-      Mann von seiner Frau lösen.
fentlicht 1977, beschrieb der Harvard-
Psychiater George Vaillant Männer in        Vaillants Beobachtungen schlossen an
den besten Jahren, die ihre Jobs kündig-    die Studien des Psychologen Daniel Le-
ten und ihre Familien verliessen, um sich   vinson an, dem einflussreichsten der
mit aufregenden Affären, extravaganten      drei Fachmänner. Der stellte die Tren-
Autos, Bauprojekten und Reisen an exo-      nung eines Mannes von seiner Frau als
tische Orte Lebensträume zu erfüllen.       ein Zeichen von Reife und Erkenntnis
Der Psychiater stellte die Midlife-Crisis   dar. Wie er in seinem Buch «Das Leben
als eine «zweite Adoleszenz» dar: eine      des Mannes» schrieb, war es für einen
Phase der Selbstfindung, die die Distan-    Mann in der Lebensmitte endlich mög-

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«So eine Beziehung ist wie ein Fluss,
sie muss sich ständig weiter bewegen,
oder sie versiegt. Und, äh, ich denke,
das, was wir haben, ist ein toter Arm.»
Stadtneurotiker

lich zu sehen, dass «die Ehe von Anfang      verständnis. Dies wurde besonders dar-
an Mängel hatte. Er hat nicht aus grosser    an deutlich, wie die drei Experten über
Liebe, sondern aus anderen Gründen           Frauen sprachen. Sie betonten die Be-
geheiratet, sei es, dass die Familie ihn     deutung von Ehe und Familie für die Kar-
drängte oder dass die Konvention es          riere eines Mannes.
erforderte, dass er aufbegehrte, sich den
sozialen Aufstieg erhoffte oder einfach      Levinson unterstrich die Unterschiede
Schuldgefühle hatte. Nun ist plötzlich       zwischen getrennten Lebensaufgaben –
der grosse Nebel der Illusion verflogen.»    männlicher Versorger, weibliche Fürsor-
                                             gerin – für die berufliche Entwicklung
Der Psychologe berief sich auf C. G. Jungs   eines Mannes, indem er die «besonde-
Konzept der psychischen Polaritäten,         re» mit der «emanzipierten» Frau kont-
um für die psychodynamische Bedeu-           rastierte, deren Einbindung in eine Kar-
tung von Affären mit jüngeren Frauen zu      riere zu ehelichen Konflikten führe und
argumentieren:                               dem Lebensglück entschieden im Wege
                                             stehe:
«Wenn wir die aussereheliche Bezie-
hung (mit einer jüngeren Frau) besser        «Es ist schwierig genug, eine Lebens-
verstehen wollen, müssen wir sie von         struktur auf dem Traum einer Person
der Entwicklung her betrachten. Sie re-      aufzubauen. Eine Struktur aufzubauen,
flektiert das Ringen eines Mannes mit        die die Träume beider Partner enthalten
der Polarität von JUNG und ALT: Er de-       kann, ist tatsächlich eine gewaltige
monstriert seine jugendliche Vitalität zu    Aufgabe, auf die Evolution und Ge-
einem Zeitpunkt, wo er fürchtet, dass        schichte uns nur unzureichend vorberei-
das JUNGE in ihm von dem vertrockne-         tet haben.»
ten, sterbenden ALTEN zugedeckt wird.»
                                             Die drei Experten nahmen Frauen von
Das neue, psychologische Konzept der         ihrem Konzept der Midlife-Crisis aus-
männlichen Midlife-Crisis zementierte        drücklich aus. Sie gingen nicht einfach
und verteidigte ein traditionelles Rollen-   davon aus, dass Männer den Massstab

                                                                                   17
der menschlichen Natur bildeten. Son-
dern sie begrenzten die Idee der Per-
sönlichkeitsentwicklung auf Männer.
Levinson, Vaillant und Gould untersag-
ten es Frauen, ihr Leben zu überdenken
und zu verändern. Damit stellten sie die
Prämissen von Sheehys ursprünglicher
Idee der Midlife-Crisis auf den Kopf.

Je länger man sich mit der Geschichte
der Midlife-Crisis befasst, desto klarer
wird: Die Krise in der Lebensmitte ist nur
nicht ein psychologisches, sondern
auch ein politisches Konzept. Wenn
heute in wissenschaftlichen Studien, in
Diskussionsrunden und beim Smalltalk
von der «Midlife-Crisis» die Rede ist, geht
es meistens um die Definition von Levin-
son, Vaillant und Gould. Selten ist den-
jenigen, die die männliche Midlife-Crisis
verteidigen, deren antifeministische Ver-
gangenheit bewusst. Der Blick zurück ist
auch deshalb aufschlussreich, denn er
fördert ein alternatives Verständnis der
Midlife-Crisis zutage, dass wir nahezu
vergessen haben. Viel hat sich seit den
1970er-Jahren verändert. Doch wenn
sich Sheehys ursprüngliche Idee auch
nicht eins zu eins auf heute übertragen
lassen mag, so ermutigt sie doch dazu,
unsere Vorstellung von der Lebensmit-
te-Krise zu überdenken.

                          Susanne Schmidt

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Central Park West
von Woody Allen
Deutsch von Nils Tabert. Schweizer Erstaufführung

Phyllis                      Katharina von Bock      Premiere am
Carol                        Miriam Wagner           18. September 2020 im
Howard                       Andreas Storm           Theater Kanton Zürich
Sam                          Pit Arne Pietz          Dauer der Aufführung:
Juliet                       Julka Duda              ca. 1½ Stunden, keine Pause.

Regie                        Rüdiger Burbach         Die Aufführungsrechte liegen
Bühne & Kostüme              Beate Fassnacht         beim S. Fischer Verlag,
Licht                        Patrick Hunka           Frankfurt a. Main.
Dramaturgie                  Ann-Marie Arioli
                                                     Wir bitten Sie ganz herzlich,
Regieassistenz               Katharina Stark
                                                     während der Vorstellung auf
Hospitanz                    Katja Natterer          Bild- und Tonaufnahmen zu
                                                     verzichten.
Technische Leitung           Flurin Ott
                             Stefan Schwarzbach
                                                     Probenfotos: Tanja Dorendorf
Bühnenbau                    Stefan Schwarzbach
Beleuchtung                  Janos von Kwiatkowski   Impressum: «Versuch über das
                             Benno Kick              Komische», aus: Woody Allen:
Ton                          Patrick Schneider       Versuch über das Komische,
                             Janne Wrigstedt         Vittorio Hösle, München, 2001;
Gewandmeisterinnen           Graziella Galli         «Allens heilige Dreifaltigkeit:
                             Franziska Lehmann       Gott, Tod und die Sinnfrage,
Mitarbeit Kostümatelier      Iris Barmet             Vortrag von Bertram Hacke,
Requisite                    Moira Rodriguez         Humboldt-Gesellschaft,
Bühnentechnik                Daniela Fehr            20.11.2000, «Midlife-Crisis;
                             Benno Kick              Geschichte eines missverstan-
                             Janos von Kwiatkowski   denen Konzepts», Susanne
                             Mato Rajic              Schmidt, Deutschlandfunk,
                             Patrick Schneider
                                                     12.08.2018.
                             Sascha Simic
                             Janne Wrigstedt
                                                     Programmheft Nummer 64
                                                     Herausgeber: Theater Kanton
                                                     Zürich
                                                     Intendant: Rüdiger Burbach
                                                     Redaktion: Ann-Marie Arioli
                                                     Grafik: Iwan Raschle,
                                                     raschle & partner
                                                     Druck: Jost Druck AG

                                                     www.theaterkantonzuerich.ch
                                                                                       raschlepartner.ch

                                                             präsentiert von
                                                                                        |
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