Checklisten in der Hausarztpraxis - eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich
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18 ORIGINALARBEIT / ORIGINAL ARTICLE Checklisten in der Hausarztpraxis – eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich Checklists in Family Medicine – a Developmental Study with Before/After-Comparison Korbinian Saggau, Anina Höfle, Angela Schedlbauer, Susann Hueber, Marco Roos, Thomas Kühlein, Stefan Heinmüller Hintergrund Background In Deutschland lässt Qualitätsmanagement (QM) die eigentli- Quality assurance in Germany focuses on support processes che medizinische Versorgung meist unberücksichtigt. Ein QM (requirements of hygiene etc.) rather than on quality of care medizinischer Prozesse nennen wir klinische Qualitätssteuerung (QOC). Systems that do focus on QOC are referred to as “clini- (KQ). Wir verstehen KQ als professionelle Selbstreflexion und cal governance” (CG). We understand CG as a process of pro- Management. Am Beispiel der chronisch obstruktiven Lungen- fessional self-reflection and management. An electronic check- erkrankung (COPD) sollte eine elektronische Checkliste (eCL) list (eCL) for Chronic Obstructive Lung Disease (COPD) was für eine KQ erprobt werden. Wir beschreiben die Entwicklung developed reminding doctors of important aspects of care, as- einer eCL und ihre Auswirkungen auf die Prozessqualität der suring adequate documentation, and generating data at the Versorgung von COPD-Patienten in einer Hausarztpraxis. same time. We describe the development of the eCL and a be- Methoden fore/after analysis of process-QOC for COPD-patients in a Entwicklungs- sowie Vorher/Nachher-Studie. Zur Erhebung single group family practice. des Ausgangszustands der Versorgungsqualität (t0) wurden Methods die Akten aller COPD-Patienten der Praxis anhand eines leitlini- Developmental study with a before/after-analysis. To capture enbasierten Fragebogens untersucht. Die Intervention be- QOC at baseline (t0) electronic health records (EHR) of COPD- stand in der Einführung einer eCL, die über das Praxisverwal- patients were surveyed using a guideline-based questionnaire. tungssystem (PVS) der Praxis genutzt werden kann. Ärzte und Our intervention was an eCL, which can be used within the Medizinische Fachangestellte wurden in der Anwendung der EHR. Doctors and practice assistants were trained in the appli- eCL geschult, die Nutzung blieb freiwillig. Ein und vier Jahre cation of the eCL, its use remained optional. One year (t1) and nach Einführung der eCL fand eine erneute Analyse der Versor- four years (t2) after implementation QOC was reanalysed. gungsqualität (t1 und t2) statt. Results Ergebnisse At t0 103 COPD patients were identified. For 58 % a spiro- Zum Zeitpunkt t0 wurden 103 COPD Patienten identifiziert. Bei metry was documented. Smoking status was recorded in 56 % 58 % war eine Spirometrie dokumentiert. Der Raucherstatus and 34 % were vaccinated against influenza. After introduc- war bei 56 % erfasst, 34 % wiesen einen aktuellen Impfschutz tion of the eCL due to some changes in the practice 80 patients gegen Influenza auf. Nach Einführung der eCL konnten bedingt at t1 and 49 patients at t2 were identified. For 71 % (t1) and durch einige Veränderungen der Praxis nur noch 80 (t1) bzw. 49 63 % (t2) a spirometry was documented. Smoking status was (t2) Patienten identifiziert werden. Bei 71 % (t1) bzw. 63 % (t2) documented in 75 % (t1) and 90 % (t2). Influenza vaccination lagen aktuelle Spirometriedaten vor. Der Raucherstatus war bei was documented in 33 % (t1) and 55 % (t2) of patients. 75 % (t1) bzw. 90 % (t2) dokumentiert, bei 33 % (t1) bzw. 55 % Conclusions (t2) war ein Impfschutz gegen Influenza gegeben. Development and implementation of an eCL in the setting of Schlussfolgerungen our office within the EHR was possible. Our results indicate that Die Entwicklung und Implementierung einer eCL mit den ge- the provision of an eCL together with a short introduction can gebenen Mitteln unseres PVS war möglich. Unsere Ergebnisse help improve QOC. The eCL allows doctors to perform CG deuten darauf hin, dass die Bereitstellung einer eCL und eine autonomously. kurze Einführung in ihre Nutzung die Versorgungsqualität ver- Keywords bessern könnten. Über die eCL werden Ärzte befähigt, KQ checklist; chronic disease; evidence-based medicine; family eigenständig zu praktizieren. medicine; general practice Schlüsselwörter Checkliste; chronische Krankheit; evidenzbasierte Medizin; Familienmedizin; Allgemeinmedizin Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Erlangen Peer reviewed article eingereicht: 24.06.2020, akzeptiert: 10.10.2020 DOI 10.3238/zfa.2021.0018–0023 © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (1)
Saggau et al.: Checklisten in der Hausarztpraxis – eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich Checklists in Family Medicine – a Developmental Study with Before/After-Comparison 19 Hintergrund eine KQ geeignet. So fehlt beispiels- den QI für die COPD-Versorgung ent- In den 2000er Jahren wurde die deut- weise die Zuordnung der einzutra- wickelt. Da diese bereits 2012 ablief, sche Ärzteschaft verstärkt gesetzlich genden Lungenfunktionswerte und wurde bei Bedarf auf die internatio- zu qualitätssichernden Maßnahmen Exazerbationen zum entsprechenden nale Leitlinie der Global Initiative for verpflichtet. Dazu gehörten Nachwei- COPD-Grad, aus dem sich dann die Chronic Obstructive Lung Disease se über kontinuierliche Fortbildung, Therapieempfehlung ergeben würde. (GOLD) zurückgegriffen [8]. In einem ein einrichtungsinternes Qualitäts- Auch fehlt die Frage nach der jähr- Diskussions- und Einigungsprozess management (QM) sowie die Einfüh- lichen Influenzaimpfung. wurde ein QI-Set festgelegt. Die QI rung von Disease-Management-Pro- Checklisten wurden in der Medi- bilden die entscheidenden Aspekte grammen (DMP). Dies geschah im zin vielfach gewinnbringend einge- des COPD-Managements ab. Zur in- Rahmen von als neoliberal bezeich- setzt [6]. Der große Vorteil einer elek- ternationalen Vergleichbarkeit wurde neten gesellschaftlichen Umbaupro- tronischen Checkliste (eCL) ist, dass unser QI-Set mit dem der englischen zessen der Gesundheitsversorgung [1, sie gleichzeitig eine Erinnerungs- und nicht-kommerziellen Organisation 2]. Im Vereinigten Königreich wurde Dokumentationsfunktion übernimmt Optimum Patient Care (OPC) [9] abge- unter ähnlichen politischen Bedin- sowie direkt der Datenerhebung stimmt. Die QI sind in Tabelle 1 auf- gungen das Quality and Outcomes Fra- dient. Eine qualitativ bessere Versor- gelistet. mework (QOF) eingeführt, ein System gung bedeutet fast unvermeidlich Aufgrund der begrenzten tech- klinischer Qualitätssteuerung (KQ, mehr Zeitaufwand. Dieser Zeitauf- nischen Möglichkeiten des elektro- engl.: clinical governance), indem Ärz- wand könnte durch die Nutzung ei- nischen Praxisverwaltungssystems te für erwünschtes Handeln mit Geld ner eCL geringgehalten werden. Die (PVS) unseres Medizinischen Versor- belohnt wurden (pay for performance). eCL soll dabei nicht Versorgung stan- gungszentrums (MVZ) „Medistar“ Eine strukturierte Dokumentation dardisieren, sondern nur verhindern, wurden die für die QI nötigen Daten und Analyse von Versorgungsdaten dass bei COPD-Patienten wichtige über ein Formular der Software „Epi ermöglichte die Versorgungsqualität Entscheidungen vergessen werden. Info“ erhoben. „Epi Info“ wird von zu kontrollieren und Honorare ent- Mit den durch Anwendung der eCL den amerikanischen Centers for sprechend auszuzahlen. Das QOF entstehenden Daten wird die Abbil- Disease Control and Prevention (CDC) entspricht einem Top-down-Verfah- dung der eigenen Versorgungsquali- kostenlos bereitgestellt. Es lassen ren, das der britischen Ärzteschaft tät über Qualitätsindikatoren (QI) sich damit Formulare erstellen und auferlegt wurde. Kritiker bezeichne- stark vereinfacht. Im Folgenden soll die Daten in eine Datenbank able- ten es als eine „Industrialisierung der der Entwicklungsprozess einer KQ am gen [10]. Über unser PVS wurde eine Primärversorgung“ [3]. Viele Ärzte Beispiel von COPD-Patienten dar- Liste aller COPD-Patienten generiert, empfanden es als einen frustrieren- gestellt, die ermittelten QI der Ver- die folgendermaßen definiert waren: den Eingriff in ihre Therapiefreiheit sorgung in unserer Praxis berichtet alle Patienten in deren elektro- [4]. und deren Veränderung infolge der nischer Akte in den vorangegange- Eine Profession wie der Arztberuf eCL-Anwendung beschrieben wer- nen zwölf Monate mindestens ein- trägt Verantwortung für die Verwen- den. Die Studienfragen lauteten: Wel- mal die gesicherte COPD in der Zeile dung der Gelder einer Solidargemein- che Schwierigkeiten und Möglichkei- Diagnose oder Dauerdiagnose doku- schaft und sollte nachweisen, dass sie ten ergeben sich bei der Einführung mentiert wurde. Es wurden keine sinnvoll ausgegeben wurden. Sie soll- von KQ? Und kann die Einführung Ausschlusskriterien definiert. An- te selbst wissen, wie gut sie ihre Pa- einer eCL zu einer Verbesserung der hand dieser Definition wurde in der tienten versorgt. Deshalb beschäftig- Prozessqualität in Versorgung der Suchmaske des PVS ein Suchalgo- ten wir uns im Rahmen dieser Studie COPD Patienten in einer Hausarzt- rithmus entwickelt. Als Abfrageda- mit den Möglichkeiten KQ bottom-up, praxis beitragen? tum des Ist-Zustandes wurde der also in Eigenregie zu betreiben. 1.1.2016 gewählt. Eine elektronische Als Thema wählten wir die Ver- Methoden Abfrage der Daten direkt aus dem sorgung von Patienten mit chro- Zur Beantwortung der Studienfrage PVS heraus war aus technischen nisch obstruktiver Lungenerkran- führten wir in einer bayrischen Haus- Gründen und aufgrund geringer Do- kung (COPD). Die COPD ist häufig. arztpraxis mit mehreren Ärzten eine kumentationsqualität nicht mög- Ihr Management wäre hausärzt- Vorher/Nachher-Studie durch. Da wir lich. Deshalb mussten zur Daten- licherseits gut zu leisten, ist aber oft inhaltlich wie technisch kaum auf sammlung die Akten aller COPD-Pa- lückenhaft [5]. Für die COPD gibt es vorhandenes Material zurückgreifen tienten aufgerufen und mittels des ein Disease-Management-Programm konnten, steckt ein großer Teil der Fragebogens untersucht werden. So (DMP). Obwohl wir DMPs grundsätz- Studie im Sinne einer Entwicklungs- entstand die Erhebung des Aus- lich für die richtige Ergänzung zur studie in der Erarbeitung dieses Mate- gangszustandes (t0). individuellen Patientenversorgung rials. halten, sehen wir einige Schwächen: Intervention in Form der eCL Erstens erfolgt die Dokumentation Erhebung des Ausgangszustan- Die Intervention bestand in der Be- außerhalb der eigentlichen Doku- des über einen Fragebogen reitstellung einer selbst entwickelten mentation und zweitens ist sie in- Auf Basis der Nationalen Versor- eCL, die alle wichtigen Fragen und haltlich nicht ausreichend gut für gungsLeitlinie (NVL) COPD [7] wur- Entscheidungen enthielt, die bei ei- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (1)
Saggau et al.: Checklisten in der Hausarztpraxis – eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich 20 Checklists in Family Medicine – a Developmental Study with Before/After-Comparison t0 (n = 103) t1 (n = 80) t2 (n = 49) Spirometrie erfolgt (innerhalb der letzten 24 Monate) 58 % 71 % 63 % Raucherstatus dokumentiert (jemals) 56 % 75 % 90 % Influenza-Impfung gegeben (innerhalb letzter 12 Monate) 34 % 33 % 55 % Pneumokokken-Impfung gegeben (innerhalb letzter 10 Jahre) 17 % 26 % 47 % Inhalationstechnik überprüft (jemals dokumentiert) 9% 31 % 22 % Peak-Flow-Messgerät verordnet (jemals) 1% 15 % 18 % Teilnahme an COPD-Schulung (jemals) 7% 9% 16 % Körpergewicht dokumentiert (innerhalb der letzten 24 Monate) 69 % 76 % 88 % Medikamenteneinnahmeplan angelegt (jemals) 54 % 68 % 90 % Inhalative Corticosteroide verordnet (innerhalb der letzten 12 Monate) 36 % 20 % 16 % Tabelle 1 Gegenüberstellung der angewendeten Qualitätsindikatoren bei Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung zu den Zeitpunkten t0 (01.01.2016), t1 (01.04.2017) und t2 (01.01.2020) nem COPD-Routinetermin bedacht raus erhoben und in „Epi Info“ ge- Patienten. Laut der Ethikkommission werden sollten. Inhaltlich folgte die sammelt werden. Die Erhebung wur- der Universität Erlangen war kein for- eCL den im Fragebogen zur Erhebung de teilweise händisch überprüft. Es males Ethikvotum nötig (Registrie- des Ausgangszustandes festgelegten wurden alle COPD-Patienten zum rungsnummer: 277 14 Bc). QI und damit den Vorgaben der Leit- Zeitpunkt t0 mit denen zum Zeit- linien. Es handelt sich um eine ge- punkt t1 verglichen. Diese Erhebung Ergebnisse kürzte Version des „Epi Info“-Formu- wurde zum Zeitpunkt 1.1.2019 (t2) Im Folgenden gehen wir vor allem lars. Die eCL wurde innerhalb des noch einmal durchgeführt. Auch für auf die numerischen Veränderungen PVS als Makro programmiert und war die Datenauswertung und -darstel- der Parameter ein, wie sie durch die bei COPD-Routineterminen jederzeit lung wurde „Epi Info“ verwendet. eCL erfasst werden. Die mit ihrer Ein- anwendbar. In der eCL werden bei- Der gewählte Nenner ist die soge- führung verbundenen Schwierigkei- spielsweise Lungenfunktionswerte nannte Jahreskontaktgruppe. Zu ihr ten und Erfahrungen werden in der und Exazerbationen abgefragt, aus zählen alle Patienten, die mindestens Diskussion abgehandelt. denen sich direkt der Schweregrad einmal im Jahr Kontakt zur Praxis der COPD ergibt. „Epi Info“-Formular hatten (ohne Vertreterscheine). Die Ergebnisse zum Zeitpunkt t0 und eCL sind online abrufbar und Jahreskontaktgruppe ist ein interna- Zum Zeitpunkt t0 wurden unter 3270 stehen zur freien Nutzung und Wei- tional anerkannter Näherungswert an Patienten der Praxis 103 COPD-Pa- terentwicklung zur Verfügung. die in Ländern mit Primärarztsystem tienten identifiziert (3 %). Diese wie- Alle Ärzte der Praxis wurden im und Einschreibeliste verfügbare Pa- sen ein mittleres Alter von 73 Jahren Frühjahr 2016 in der Anwendung der tientenliste [11, 12]. auf (Standardabweichung (SD) 10,7; eCL geschult und ermutigt, sie zu 47 % weiblich; 96 % gesetzlich ver- nutzen. Die freiwillige Nutzung der Weitere Aspekte sichert). eCL wurde zum 1.4.2016 im PVS frei- Diese Arbeit war Teil des Projekts Bei 58 % der Patienten war inner- geschaltet. „Modellpraxis MVZ Eckental – Bes- halb der zurückliegenden 24 Monate sere Arbeitsbedingungen für den eine Spirometrie erfolgt. Der Raucher- Analyse nach Intervention und hausärztlichen Nachwuchs“, geför- status war bei 56 % Patienten doku- Vergleich dert vom Bayerischen Landesamt für mentiert. Bei 34 % war innerhalb der Um unsere Frage nach den Auswir- Gesundheit und Lebensmittelsicher- vorangegangenen zwölf Monate eine kungen der eCL-Anwendung auf die heit (GE6-2495-16-V14). Die Arbeit Influenza-Impfung, bei 17 % in den QI beantworten zu können, wurde wurde zur Erfüllung der Vorausset- letzten zehn Jahren eine Pneumokok- die Analyse zum Zeitpunkt 1.4.2017 zungen zur Erlangung des Titels „Dr. ken-Impfung erfolgt. Bei 9 % der Pa- (t1) ein Jahr nach der Einführung der med.“ an der Friedrich-Alexander- tienten hatte eine Überprüfung der eCL erneut durchgeführt. Bei der Er- Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) Inhalationstechnik stattgefunden, stellung der COPD-Patientenliste erstellt. Im Rahmen dieser Arbeit wur- 1 % hatte ein Peak-Flow-Messgerät wurde analog zu t0 vorgegangen. Für den persönliche Daten der Patienten verordnet bekommen. Sieben Prozent die Erfassung der QI war es nicht nur innerhalb der Praxis gesammelt hatten an einer COPD-Schulung teil- mehr nötig, jede Akte einzeln zu öff- und ausgewertet. Sie verließen diese genommen. Das Körpergewicht war nen. Die Daten konnten einfach mit- nur in aggregierter Form. Therapie- in 69 % der Fälle in den letzten 24 tels einer Suche nach Buchstabenket- entscheidungen oblagen vollständig Monaten dokumentiert worden. Me- ten (strings) der eCL aus der PVS he- den behandelnden Ärzten mit ihren dikamenteneinnahmepläne waren © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (1)
Saggau et al.: Checklisten in der Hausarztpraxis – eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich Checklists in Family Medicine – a Developmental Study with Before/After-Comparison 21 für 54 % der Patienten angelegt. Um gefunden, 18 % hatten ein Peak-Flow- getroffen werden [13]. In einer wei- die Qualität der Pharmakotherapie Messgerät verordnet bekommen. An teren Studie wurden Checklisten für abzuschätzen, nutzen wir den Anteil einer COPD-Schulung hatten 16 % die Versorgung von Patienten mit der Patienten mit verordneten inha- teilgenommen. Das Körpergewicht Herzinsuffizienz entwickelt und in lativen Corticosteroiden (ICS), dieser war in 88 % der Fälle in den letzten Telefoninterviews und Hausbesuchen lag bei 36 %. 24 Monaten dokumentiert worden. getestet. Es wurde 97 Patienten mit Medikamenteneinnahmepläne waren Herzinsuffizienz für zwölf Monate Ergebnisse zum Zeitpunkt t1 für 90 % der Patienten angelegt. Der überwacht. Die Erhebung dauerte im Zum Zeitpunkt t1 konnten unter Anteil von Patienten mit verord- Mittel zehn Minuten als Telefoninter- 2681 Patienten der Praxis 80 COPD- netem ICS lag bei 16 %. view und 53 Minuten als Haus- Patienten identifiziert werden (3 %). Zusammengefasst zeigte sich bei besuch. Plausibilität und praktische Sie waren im Mittel 68 Jahre alt (SD neun unserer zehn QI eine Verbes- Anwendbarkeit konnten bestätigt 11,3; 51 % weiblich; 98 % gesetzlich serung im Zeitraum von t0 bis t2, wo- werden. Es wurde kein Vorher/Nach- versichert). Darunter befanden sich bei der sinkende Anteil der Patienten her-Vergleich angestellt. [14] Andere 37 Patienten, die bereits zum Zeit- mit inhalativen ICS als Verbesserung Versuche die Versorgungsqualität zu punkt t0 enthalten gewesen waren. zu sehen ist. Die Ergebnisse werden beschreiben, allerdings top-down, lie- Bei 71 % war innerhalb der voran- auch in Tabelle 1 zusammengefasst. fen über die QI-Indikatoren AQUIK gegangenen 24 Monate eine Spirome- und QISA mit dessen QuATRo-Subset, trie erfolgt, für 21 % war eine Bron- Diskussion welches sich auf Routinedaten der chodilatationstestung dokumentiert. Nach Einführung der eCL und deren Krankenkasse stützt. Die notwendige Bei 75 % der Patienten war ein Rau- freiwilliger Nutzung durch die Ärzte Datenerfassung über die Routine- cherstatus dokumentiert. Eine Influ- des MVZ-Eckental verbesserte sich die daten hinaus gestaltete sich als enza-Impfung hatten 33 % innerhalb Versorgung der COPD-Patienten. Die- schwierig. Da es sich meist um Be- der vorangegangenen zwölf Monate se Veränderung ist sicher nicht allein schreibungen der Versorgungsquali- erhalten, 26 % waren innerhalb der auf die eCL zurückzuführen. Durch tät der gesamten Praxis handelt, sind vorangegangenen zehn Jahre gegen den erheblichen Wechsel an Personal die QI für die Beschreibung der Ver- Pneumokokken geimpft worden. Bei und Patienten im Untersuchungszeit- sorgungsqualität von einzelnen 31 % hatte eine Überprüfung der In- raum sind unsere Ergebnisse nur mit Krankheitsbildern wenig geeignet halationstechnik stattgefunden, 15 % großer Vorsicht zu interpretieren. Das [15]. Die publizierten Daten des oben der Patienten hatten ein Peak-Flow- Wesen einer Checkliste ist jedoch, genannten englischen OPC, mit dem Messgerät verordnet bekommen. An dass sie zunächst einmal unabhängig der Fragebogen abgeglichen war, be- einer COPD-Schulung hatten 9 % von Arzt und Patient die Erhebung ziehen sich auf eine Subpopulation, teilgenommen. Das Körpergewicht wesentlicher Versorgungsaspekte ge- deren Diagnose gesichert und deren war in 76 % der Fälle in den letzten währleisten soll. Sie kann und soll Daten vollständig waren. Es lagen al- 24 Monaten dokumentiert worden. keine Entscheidungen festlegen, son- so für alle Patienten Spirometriedaten Medikamenteneinnahmepläne waren dern bestenfalls das Vergessen von und der Raucherstatus vor. Der Fokus für 68 % der Patienten angelegt. Der Entscheidungen verhindern. Nur die- lag dort auf Pharmakotherapie bei ge- Anteil von Patienten mit verord- se sehr basale Art von Versorgungs- sicherter Diagnose. Es zeigte sich, netem ICS lag bei 20 %. qualität könnte durch ihre Einfüh- dass ein großer Teil der Verschreibun- rung verbessert worden sein. Die Er- gen nicht leitliniengerecht war. Ins- Ergebnisse zum Zeitpunkt t2 fahrungen, die wir bei ihrer Entwick- besondere ICS wurden bei 49 % der Zum Zeitpunkt t2 konnten unter 3578 lung und Einführung gemacht ha- Patienten mit COPD GOLD II ohne Patienten der Praxis 49 COPD-Patien- ben, sehen wir ebenfalls als wesentli- Exazerbation im letzten Jahr und so- ten identifiziert werden (1 %). Die Pa- ches Ergebnis unserer Arbeit. Diese mit übermäßig verordnet [16]. Die tienten waren im Mittel 69 Jahre alt Erfahrungen werden im Folgenden Rate der ICS-Verordnungen unserer (SD 11,4; 45 % weiblich; 100 % ge- mitdiskutiert werden. Praxis lag deutlich niedriger. setzlich versichert). Darunter befan- Es fanden sich zwei Arbeiten zum In unserer Untersuchung zeigte den sich 17 Patienten, die bereits zum Einsatz von (e)CL in der allgemein- sich keine weitere Steigerung der QI Zeitpunkt t0 enthalten gewesen wa- medizinischen Versorgung von Pa- für Spirometrie und Erfassung des ren. Innerhalb der vorangegangenen tienten mit chronischen Erkrankun- Raucherstatus. Das Erreichen von 24 Monate war bei 63 % eine Spiro- gen in Deutschland. In einer Arbeit 100 % eines Parameters ist weder metrie erfolgt. Bei 75 % war ein Rau- wurde durch Hausärzte eine CL-ba- möglich noch sinnvoll. Unter unse- cherstatus dokumentiert. Eine Influ- sierte Konsultation mit durch Poly- ren Bedingungen scheint unter Nut- enza-Impfung hatten 55 % innerhalb pharmazie gefährdeten Patienten zung der eCL das Mögliche an Quali- der vorangegangenen zwölf Monate durchgeführt. Das Ergebnis war eine tät für die Parameter Spirometrie und erhalten, 47 % waren innerhalb der hohe Zufriedenheit von Hausärzten Raucherstatus erreicht worden zu vorangegangenen zehn Jahre gegen und Patienten sowie eine sehr gute sein. Sollten die Ärzte der Praxis mit Pneumokokken geimpft worden. Bei Interrater-Reliabilität. Der Zeitauf- dem Ergebnis nicht zufrieden sein, 22 % der Patienten hatte eine Über- wand war wenig erhöht, zu Outco- müssten sie entsprechend der Logik prüfung der Inhalationstechnik statt- me-Parametern konnte keine Aussage des Qualitätsmanagements Maßnah- © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (1)
Saggau et al.: Checklisten in der Hausarztpraxis – eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich 22 Checklists in Family Medicine – a Developmental Study with Before/After-Comparison men über die Checkliste hinaus er- hatten. Dies hat, wie es scheint, zu ei- PVS umsetzbar. Allerdings führte die greifen, um weiter zu kommen. nem erheblichen Wandel in der Pa- Einführung erster Schritte einer KQ Die eCL sorgt für eine eindeutige tientenstruktur und damit zu dem be- zu erheblichen Verwerfungen in un- Dokumentation und erleichtert so obachteten Rückgang der Praxispräva- serer Praxis. Auch der Wandel hin zu die Koordination mehrerer Behand- lenz der COPD beigetragen. Patienten verbesserter Qualität stellte einen ler. Für die Zusammenarbeit im Pra- scheinen die Qualität ihrer Versor- Bruch in der Kontinuität zur bisheri- xisteam kann es hilfreich sein, ge- gung an anderen Kriterien festzuma- gen Versorgung dar. Im Rahmen der meinsame Versorgungsziele festzule- chen als an der wie von uns verstan- Einführung einer eCL verbesserte sich gen, diese mit der eCL umzusetzen denen Versorgungsqualität [19]. Zu die Versorgung von COPD-Patienten und die Zielerreichung zu messen. So diesen Kriterien gehört vor allem die in unserer Praxis. Es ist zu vermuten, kann ein gemeinsamer Prozess der Kontinuität der Versorgung, die durch dass ein Teil hiervon auf die eCL KQ angestoßen werden, der zu Dar- den Weggang der Ärzte unterbrochen selbst zurückzuführen ist. Ein wesent- stellbarkeit und kontinuierlicher Ver- wurde [20]. Jede Veränderung der ge- liches Problem sehen wir in den be- besserung führt [17]. Für Praxen, in wohnten Versorgungsformen scheint grenzten Möglichkeiten der PVS, Da- denen Studierende und junge Ärzte zunächst eine Belastung der Patienten ten über eine Checkliste in alltags- ausgebildet werden, sehen wir einen und des Versorgungsteams zu sein. Es tauglicher Weise zu erfassen. Deshalb großen zusätzlichen Nutzen der eCL. ist also möglich, dass eine Verbes- planen wir als nächsten Schritt die Inzwischen nutzen wir auch eine eCL Integration einer eigenständigen Da- für die Vorbereitung von Patienten tenbank in das PVS, die in eleganterer für DMPs durch die Medizinischen Weise das Prinzip der Checkliste als Fachangestellten. Versorgungsleitfaden, Dokumentation Auffallend in unseren Ergebnis- und Datenerfassung ermöglicht. sen ist die stark schwankende Präva- lenz der COPD. Diese entsteht vor al- Zusatzmaterial im Internet lem durch den stark schwankenden (www.online-zfa.de) Nenner, bei dem es sich wie in der eAnhang 1 Datenblatt COPD „Epi Methodik beschrieben, um die jewei- Info“ lige Jahreskontaktgruppe handelt. eAnhang 2 Elektronische Checkliste Die Jahreskontaktgruppe ist für stabi- COPD Korbinian Saggau … le Praxispopulationen ein guter Nä- … studierte an der Friedrich-Alexan- Interessenkonflikte: herungswert für die einer Praxis zuge- der-Universität Erlangen-Nürnberg Das Projekt Modellpraxis MVZ Eckental hörigen Patienten, nicht aber in ei- (FAU) Humanmedizin. Währenddes- wurde durch das bayerisches Staatsminis- nem MVZ wie dem unseren mit stark sen war er am Institut für Allgemein- terium für Gesundheit und Pflege geför- fluktuierenden Patienten. Da es kei- medizin beschäftigt und arbeitete dert. Ansonsten wurden keine Interessen- nen besseren Nenner gibt, haben wir vor allem an der Qualitätssteuerung konflikte angegeben. und Versorgung von PatientInnen die angegebenen Jahreskontaktgrup- mit chronischen Erkrankungen in pen belassen. Dadurch sind die ange- der Modellpraxis Eckental. Aktuell Literatur gebenen Prävalenzzahlen jedoch mit absolviert er seine Facharztweiterbil- 1. Maio G. Geschäftsmodell Gesund- großer Vorsicht zu betrachten. dung in Wiesbaden. heit. Wie der Markt die Heilkunst ab- Zu den Schwächen unserer Studie Foto: Rainer Windhorst schafft. In: Hontschik B (Hrsg.). Ber- gehört, dass zum Zeitpunkt t0 als Da- lin: Suhrkamp Verlag, 2014 tengrundlage nur die vorhandene Do- 2. Han BC. Transparenzgesellschaft. Ber- kumentation im PVS zur Verfügung lin: Matthes & Seitz, 2012 stand. Es besteht die Möglichkeit, serung der Versorgungsqualität so- 3. Iliffe S. From general practice to pri- dass Dokumentation und tatsächliche wohl durch Personal- als auch durch mary care: the industrialization of fa- Versorgungsqualität nicht überein- Patientenwechsel bedingt ist. Da aber mily medicine. Oxford: Oxford Uni- versity Press, 2013 stimmen [18]. Ein weiterer Schwach- die eCL ohne ihre Anwendung durch punkt ist die geringe und abnehmen- Ärzte nicht wirken kann und dazu ei- 4. McCartney M. Margaret McCartney: de Fallzahl von 103, 80 und 49 ne entsprechende Motivation nötig The great QOF experiment. BMJ 2016; 353: i1763 COPD-Patienten. Zwischen den ers- ist, lässt sich die erreichte Verbes- ten beiden Erhebungszeiträumen serung der Versorgungsqualität ohne- 5. www.euro.who.int/en/countries/germa ny/publications/ambulatory-care-sen- fand ein erheblicher Wechsel von Ärz- hin nicht allein auf die eCL zurück- sitive-conditions-in-germany-2015 ten und Patienten statt. Die zunächst führen. Es bleibt eine Schwäche der (letzter Zugriff am 15.05.20) bei Übernahme der Praxis in ihr arbei- Studie, inwieweit sie im Sinne der 6. Haynes AB, Weiser TG, Berry WR, et tenden Ärzte waren, wie es scheint, Motivation auf andere Praxen über- al. A surgical safety checklist to redu- nicht bereit, von ihren Routinen ab- tragbar wäre. ce morbidity and mortality in a glo- zuweichen und verließen die Praxis. bal population. N Engl J Med 2009; Dies führte konsekutiv zum Weggang Schlussfolgerungen 360: 491–499 einiger, insbesondere älterer Patien- Eine eigenständige KQ ist auch mit 7. www.leitlinien.de/nvl/copd (letzter ten, die sich an diese Ärzte gewöhnt den dürftigen Mitteln bestehender Zugriff am 15.05.20) © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (1)
Saggau et al.: Checklisten in der Hausarztpraxis – eine Entwicklungsstudie mit Vorher/Nachher-Vergleich Checklists in Family Medicine – a Developmental Study with Before/After-Comparison 23 8. Vogelmeier CF, Agusti A, Anzueto A, Multimorbidity in general practices Med Inform Assoc 2006; 13: et al. Global strategy for the diagno- (PRIMUMpilot). BMJ 2016; 6: 197–205 sis, management, and prevention of e011613 18. Miller RH, Sim I. Physicians‘ use of chronic obstructive pulmonary disea- 14. Freund T, Baldauf A, Muth C, et al. electronic medical records: barriers se (2018 report). In: Global Initiative Practice-based home visit and tele- and solutions. Health Aff (Millwood) for Chronic Obstructive Lung Disea- phone monitoring of chronic heart 2004; 23: 116–126 se; 2018 failure patients: rationale, design and 19. Lee DS, Tu JV, Chong A, Alter DA. Pa- 9. www.optimumpatientcare.org (letz- practical application of monitoring tient satisfaction and its relationship ter Zugriff am 15.05.20) lists in the HICMan trial. Z Evid Fort- with quality and outcomes of care af- 10. www.cdc.gov/epiinfo (letzter Zugriff bild Qual Gesundhwes 2011; 105: ter acute myocardial infarction. Cir- am 15.05.20) 434–445 culation 2008; 118: 1938–1945 11. Bartholomeeusen S, Kim CY, Mertens 15. Andres E, Bleek J, Stock J, et al. Mea- 20. Hjortdahl P, Laerum E. Continuity of R, et al. The denominator in general suring, assessing, acting: a practice care in general practice: effect on pa- practice, a new approach from the test of quality indicators for coronary tient satisfaction. BMJ 1992; 304: Intego-database. Fam Pract 2005; heart disease. Z Evid Fortbild Qual 1287–1290 22: 442–447 Gesundhwes 2018; 137: 9–19 12. Szecsenyi J, Engelhardt N, Wessel M, 16. Price D, West D, Brusselle G, et al. et al Eine Methode zur Bestimmung Management of COPD in the UK pri- Korrespondenzadresse des Denominators in Allgemeinpra- mary-care setting: an analysis of real- Korbinian Saggau xen – Ergebnisse einer Pilotstudie. life prescribing patterns. Int J Chron Institut für Allgemeinmedizin Gesundheitswesen 1993; Obstruct Pulmon Dis; 2014: 9: Universitätsklinikum Erlangen 55(1 Suppl): 32–36 889–905 Friedrich-Alexander-Universität 13. Muth C, Harder S, Uhlmann L, et al. 17. Pare G, Sicotte C, Jacques H. The ef- Erlangen Nürnberg Pilot study to test the feasibility of a fects of creating psychological Universitätsstraße 29 trial design and complex intervention ownership on physicians‘ acceptance 91054 Erlangen on PRIoritising MUltimedication in of clinical information systems. J Am korbinian.saggau@web.de DEGAM im Netz www.degam.de www.degam-leitlinien.de www.degam-patienteninfo.de www.tag-der-allgemeinmedizin.de www.degam-kongress.de www.online-zfa.de www.degam-famulaturboerse.de © Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Zeitschrift für Allgemeinmedizin | 2021; 97 (1)
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