Corona-Pandemie: Auswirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung+ - ifo Institut
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CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV Axel Börsch-Supan* und Johannes Rausch** Corona-Pandemie: Auswirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung+ IN KÜRZE Geburtenrate; mehr Zeit zu Hause mögen sie erhöhen. Die vielleicht größte Wirkung der Pandemie mag es für die dritte große Komponente der Demografie ge- Die Corona-Pandemie 2020 wird ähnlich wie die Finanzkrise ben, nämlich die Migration. Sollten die Grenzen über 2008 auch deutliche Spuren in der gesetzlichen Rentenversi- längere Zeit geschlossen bleiben, wird die Zahl der cherung hinterlassen. Diese treten aufgrund der Rentenan- Migranten stark sinken. Allerdings ist unklar, ob Migra- tionsströme dadurch nur aufgeschoben und später passungsformel mit ein bis zwei Jahren Verzögerung ein und nachgeholt werden. sind stark asymmetrisch zugunsten der Rentenempfänger. Die Rentengarantie bewirkt, dass das Sicherungsniveau der Renten ERSTE SCHÄTZUNGEN DER 2021 deutlich ansteigen wird, und zwar umso mehr, je tiefer die WIRTSCHAFTSFORSCHUNGSINSTITUTE ZU DEN Rezession ausfallen wird. Nach altem Recht hätte der Nachhol- WIRTSCHAFTLICHEN FOLGEN faktor dafür gesorgt, dass dieser Effekt sich nach einigen Jah- Im Gegensatz zur demografischen Entwicklung ist ren wieder ausgleicht. Dies ist aufgrund des Rentenpakts 2019 die Wirtschaftsentwicklung sehr stark von der Co- jedoch nicht der Fall. Der Beitragssatz steigt daher in allen Sze- rona-Pandemie betroffen. Es liegen nun erste Versu- narien auf Dauer an. Durch die doppelte Haltelinie wird dieser che der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute vor, Anstieg allerdings bei 20% gedeckelt. Entsprechend werden be- diese abzuschätzen. Gestützt werden diese Schätzun- reits vor 2025 zusätzliche Bundesmittel in großer Höhe benötigt. gen von den bisherigen Erfahrungen in China, durch Extrapolation von Geschäftserwartungen und Verglei- chen mit früheren Krisen. In China brach die Indust- Die Coronakrise hat in kürzester Zeit die gesellschaft- rieproduktion zwischen Dezember 2019 und Februar liche, soziale und wirtschaftliche Lage unseres Lan- 2020 um 30% ein. In Deutschland fiel der (vorläufige) des verändert und alle Prognosen der zukünftigen ifo Geschäftsklimaindex im März um 8,3 Indexpunkte, wirtschaftlichen Entwicklung zu Makulatur gemacht. und die Geschäftserwartungen brachen um 11,2 In- Dieser Beitrag untersucht, inwieweit dies auch für die dexpunkte ein. Dies sind fast 5 Punkte mehr als der gesetzliche Rentenversicherung (GRV) und hier vor Rückgang im Oktober 2008 aufgrund der Finanzkrise allem für das Sicherungsniveau, den aktuellen Renten- (vgl. Wollmershäuser 2020). wert, den Beitragssatz und den Bundeszuschuss gilt. Das ifo Institut entwickelt auf dieser Basis zwei Diese Kenngrößen der GRV hängen zum einen Szenarien (vgl. Wollmershäuser 2020). Das milde Sze- von der demografischen und zum anderen von der nario geht von einem starken Einbruch des Bruttoin- ökonomischen Entwicklung ab. Die demografische landsprodukts (BIP) um 4,5% im zweiten Quartal 2020 Entwicklung wird von sehr langfristigen Trends domi- aus. Danach erholt sich das BIP jedoch schnell und niert. Es ist nicht zu erwarten, dass diese langfristig erreicht im dritten Quartal 2021 fast wieder den Pfad, und signifikant von der Corona-Pandemie beeinflusst den es ohne Corona gegeben hätte. Dies würde eine werden. So gehören zwar gerade ältere Personen, und Schrumpfung des BIP im Gesamtjahr 2020 um 1,5% somit insbesondere Rentner, zur Risikogruppen, unter implizieren. Das ifo Institut schließt daraus, dass die Berücksichtigung der 2017 in Deutschland beobachte- Arbeitslosenquote um 6% steigt, die Arbeitsstunden ten ca. 932 000 Sterbefälle dürfte die Gesamtmortali- um 1,4% sinken und auch die Zahl der Erwerbstätigen tät aber durch COVID-19 nicht signifikant beeinflusst zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder fällt, und zwar werden. Ob sich die Geburtenrate ändert, ist unklar. um etwa 100 000 Menschen. Das ifo Institut betont je- Ängste und Zukunftssorgen senken typischerweise die doch, dass dieses erste Szenario erhebliche Abwärts * Prof. Dr. h.c. Axel Börsch-Supan, Ph.D., ist Direktor des Munich risiken hat. Jeder weitere Monat, in dem die Produk- Center for the Economics of Aging des Max-Planck-Instituts für So tion nur auf 75% der normalen Kapazität läuft, koste zialrecht und Sozialpolitik, München, Inhaber des Lehrstuhls Econo- mics of Aging an der Technischen Universität München (TUM) und etwas mehr als 2 Prozentpunkte des Wirtschafts- Research Associate beim National Bureau of Economic Research, wachstums eines Jahres. In einem »Risikoszenario« Cambridge, Mass. ** Dr. Johannes Rausch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am nimmt das ifo daher an, dass der BIP-Rückgang bis Munich Center for the Economics of Aging des Max-Planck-Instituts zum Ende des Jahres dauert, was eine Schrumpfung für Sozialrecht und Sozialpolitik, München. + Der Beitrag ist als MEA-Discussion Paper 11/2020, 23. März 2020, des BIP im Gesamtjahr 2020 um 6% implizieren würde. erschienen. Erst danach erholt sich das BIP wieder und erreicht 36 ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV Ende 2021 einen Pfad, der dann parallel zu dem Pfad Kenngrößen der GRV. Basis für die Projektionen ist die verläuft, den es ohne Corona gegeben hätte, aller- Bevölkerungsstruktur nach Alter und Geschlecht im dings auf einem um 2,4% niedrigeren Niveau. Jahr 2018. Unsere Annahmen zur künftigen Entwick- Dem Institut für Weltwirtschaft (IfW, vgl. Kooths lung von Geburtenrate, Lebenserwartung und Ein 2020) zufolge fällt das deutsche BIP in diesem Jahr um wanderung richten sich nach den mittleren Annahmen 4,5%, sofern die derzeitige Stresssituation bis Ende der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung April andauert und sich dann ab Mai allmählich ent- des Statistischen Bundesamtes (»G2-L2-W2«; Statis spannt. Setzt die Erholung erst drei Monate später im tisches Bundesamt 2019). Die Geburtenziffer wird sich August ein, würde das deutsche BIP um 8,7% fallen. dementsprechend bei einem Wert von 1,55 Kindern Aufgrund der weltweiten Belastung der Konjunktur im Leben einer Frau einpendeln. Die Lebenserwartung gehen beide Szenarien von keinen nennenswerten wird weiter ansteigen, etwas langsamer für Frauen als Nachholeffekten im weiteren Jahresverlauf aus, auch für Männer, wobei die Zunahme der Lebenserwartung wenn dafür freie Kapazitäten – vor allem in der Indust in Zukunft geringer ausfallen wird als in den vergan- rie – verfügbar wären. Allerdings geht das IfW davon genen Jahren. In den 20 Jahren zwischen 2025 und aus, dass das BIP im Jahr 2021 aufgrund der Aufhol 2045 wird die Lebenserwartung um etwa 2,8 Jahre für effekte in den zwei Szenarien um 7,2% bzw. 10,9% Männer und 2,3 Jahre für Frauen ansteigen; sie wird wieder kräftig zulegt. 2060 84,4 Jahre für Jungen und 88,1 Jahre für Mäd- Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung chen betragen. Der jährliche Wanderungssaldo wird (DIW, vgl. Michelsen et al. 2020) prognostiziert da schließlich mit 221 000 Personen im Durchschnitt bis gegen lediglich einen milden Einbruch von zwischen zum Jahr 2060 angenommen. 0,1 und 0,8% im Jahr 2020. Diese Annahmen implizieren, dass die Gesamtbe- Aufgrund dieser ungewöhnlich großen Unsicher- völkerung Deutschlands bis etwa 2027 weiter anstei- heit gehen wir in diesem Beitrag von sechs verschie- gen, dann allmählich fallen wird, bis sie etwa 2040 denen Szenarien der Wirtschaftsentwicklung aus, die wieder den heutigen Stand erreichen wird. Erst im in der Spannbreite dieser Schätzungen liegen, aber Jahr 2053 wird sie in diesem Basisszenario die 80 Mil- nicht auf empirische Daten gestützt sind. Zusätzlich lionengrenze unterschreiten. Gleichzeitig findet eine zeigen wir als von der Corona-Pandemie noch unbe- dramatische Verschiebung der Altersstruktur statt. einflusstes Vergleichsszenario das für die Kommission Diese Strukturverschiebung lässt sich am einfachsten »Verlässlicher Generationenvertrag« berechnete Basis- durch die Zahl der Menschen im Alter von 65 Jahren szenario (vgl. Börsch-Supan et al. 2020). und darüber im Verhältnis zu der Zahl der Menschen Wir verwenden das MEA-PENSIM Modell, um die zwischen 20 und 64 Jahren ausdrücken, dem »Al- Entwicklung des Sicherungsniveaus, des Beitragssat- tersquotienten«. Dieser liegt heute bei etwa 36% und zes und zusätzlicher Deckungsbeiträge durch Bundes- wird bis 2035 auf 54% ansteigen, bis 2060 auf 58%. mittel zu berechnen. Diese Berechnungen beruhen Der demografische Wandel bedeutet daher weniger auf den Basisprojektionen der demografischen und eine Schrumpfung der Wohnbevölkerung als eine Ver- ökonomischen Entwicklung von Börsch-Supan et al. schiebung der Altersstruktur. (2020). Der nächste Abschnitt stellt deren Annahmen und Methodik zusammengefasst vor. Der darauf fol- Beschäftigungsannahmen vor der Coronakrise gende Abschnitt beschreibt dann die davon abwei- chenden Szenarien der Wirtschaftsentwicklung unter Um Beitragssatz und Sicherungsniveau zu berechnen, Einfluss der Corona-Pandemie. Im Anschluss werden muss zusätzlich zur Demografie auch die Beschäf- die grundlegenden rentenrechtlichen Vorschriften und tigung projiziert werden. Für diese Beschäftigungs- Zusammenhänge zwischen Rentenanwartschaften, vorausberechnung werden für die Bevölkerung nach Rentenanpassung und Rentenhöhe zusammengefasst, Altersklassen – getrennt nach Frauen und Männern soweit sie für die Interpretation einiger vielleicht zu- sowie nach Ost und West – einerseits die Anzahl der nächst nicht intuitiv verständlicher Ergebnisse nötig rentenversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten, sind. Letztere werden anschließend vorgestellt. Der geringfügig Beschäftigten, Arbeitslosen – getrennt Schlussabschnitt fasst zusammen. nach ALG-I und ALG-II – und andererseits die Anzahl der Leistungsempfänger (Altersrenten, Erwerbsminde- MODELLANNAHMEN rungsrenten, Hinterbliebenenrenten) ermittelt. Dabei folgen wir im Basisszenario für die Jahre von 2019 Grundlage für die folgenden Berechnungen ist das bis 2028 den Beschäftigungsannahmen des im No- MEA-PENSIM Modell des Munich Center of the Eco- vember 2019 veröffentlichten Rentenversicherungsbe- nomics of Aging (MEA) des Max-Planck-Instituts für richts 2019. Für die Folgejahre ab 2029 wenden wir das Sozialrecht und Sozialpolitik in München (vgl. Wilke Basisszenario von Börsch-Supan et al. (2020) an. Diese 2004; Holthausen, Rausch und Wilke 2012; Rausch und nehmen an, dass sich die Erwerbsquoten der Männer Gasche 2016). Das Modell projiziert aus Annahmen und in Zukunft nicht verändern werden. Für Frauen beob- Setzungen in mehreren Schritten die Entwicklung der achtet man jedoch einen starken Jahrgangstrend, d.h., Demografie und Beschäftigung sowie der wichtigsten Frauen späterer Jahrgänge haben ihr ganzes Leben ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020 37
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV Abb. 1 Finanztechnische Annahmen Vor der Corona-Pandemie erwartete Entwicklung Beitragssatz Sicherungsniveau Um die finanzielle Situation der gesetzlichen Ren- % % 25 49 tenversicherung abzubilden, müssen noch weitere 24 48 finanztechnische Annahmen getroffen werden. So 23 47 wird im Basisszenario unterstellt, dass die Brut- 22 46 tolöhne pro Arbeitsstunde über den ganzen Projek- 21 45 tionszeitraum pro Jahr um 3% nominal ansteigen. 20 44 Zudem wird eine Inflationsrate von 1,8% angesetzt. Die realen Bruttostundenlöhne steigen demgemäß 19 43 um 1,2%. Die Beitragssätze zur GKV und SPV steigen 18 42 annahmegemäß in dem Maße an, wie es die Modell- 17 41 rechnungen des Bundesministeriums der Finanzen implizieren. Demnach wird eine Zunahme von der- Quelle: Darstellung der Autoren aus den Berechnungen von Börsch-Supan et al. (2020). © ifo Institut zeit (2019) 14,6% + 0,9% auf 14,6% + 2,36% (2060) für die GKV und von 3,05 + 0,25% auf 5,16% + 0,25% lang tendenziell höhere Erwerbsquoten als Frauen (2060) für die SPV angenommen. Die Beitragssätze zur früherer Jahrgänge. Daher gehen Börsch-Supan et ALV werden bis 2023 auf 2,5% und anschließend auf al. (2020) davon aus, dass Frauen auch in Zukunft ihr 2,6% festgesetzt. Schließlich werden die Ausgaben jahrgangstypisches Niveau beibehalten werden, so für die KV der Rentner unter Berücksichtigung der dass die Erwerbsquote für Frauen im Zeitverlauf an- Entwicklung des GKV-Beitragssatzes proportional zu steigen wird, allerdings dem typischen Altersverlauf den Rentenausgaben, die Ausgaben für Rehabilita- folgend. tionsleistungen proportional zum Bruttolohnwachs- Für das Renteneintrittsverhalten wird im Basis tum und einem Demografiefaktor und die administra- szenario annähernd das folgende Verhalten abgebil- tiven Kosten mit der Inflation fortgeschrieben. det: Ein Drittel der Versicherten legt ihren Rentenein- tritt auf das jeweils gültige gesetzliche Rentenalter Sicherungsniveau und Beitragssatz vor der (»Rente mit 67«); ein weiteres Drittel ändert das bis- Coronakrise lang bei einem niedrigeren gesetzlichen Rentenal- ter beobachtete Renteneintrittsverhalten nicht und Aus diesen Annahmen folgt die in Abbildung 1 ge- nimmt dementsprechende Abschläge in Kauf; ein zeigte Entwicklung des Beitragssatzes und des Si- weiteres Drittel nimmt Erwerbsminderungsrenten cherungsniveaus der gesetzlichen Rentenversiche- und ähnliche alternative Zugangswege in Anspruch. rung. Bis 2025 wird das Sicherungsniveau aufgrund Im Ergebnis führt diese Annahme zu einer Erhöhung der Niveauschutzklausel von 2019 bei 48% konstant des durchschnittlichen Rentenalters um ein Jahr gehalten. Der Beitragssatz muss erst 2024 leicht an- bis 2030 und anschließender Stagnation. Die im Jahr gehoben werden und steigt bis 2025 auf 20%, die 2016 beobachtete Teilzeitquote für verschiedene Al- 2019 festgelegte Beitragssatzobergrenze bis 2025. tersgruppen – getrennt nach Männern und Frauen so- Die Beitragssatzgarantie kann nach den Annahmen wie Ost und West – wird im Basisszenario konstant des Basisszenarios gänzlich ohne zusätzliche Bun- gehalten. desmittel aus den Reserven der Rentenversicherung Die Kombination der demografischen und Be- finanziert werden. Im Jahr 2039 wird das Sicherungs- schäftigungsentwicklung führt dazu, dass die An- niveau das Niveau von 43% unterschreiten, während zahl der inländischen Rentnerinnen und Rentner der Beitragssatz bereits im Jahr 2033 die Grenze von von 2019 bis ca. 2035 sehr stark ansteigen wird. 22% überschreiten wird. Diese beiden Prozentsätze Gleichzeitig wird die Anzahl der beitragspflichtigen sind insofern wichtige Wegmarken, als sie nach dem Erwerbstätigen und Arbeitslosen sinken. Die Zahl 2005 beschlossenen Recht die Bundesregierung dazu der beitragspflichtigen Erwerbstätigen und Arbeitslo- zwingen, »den gesetzgebenden Körperschaften geeig- sen wird im Jahr 2025 etwa 34,7 Millionen, 20 Jahre nete Maßnahmen vorzuschlagen«, wenn sie vor 2030 später nur noch 32,2 Millionen betragen, während unter- bzw. überschritten werden. die Zahl der inländischen Rentnerinnen und Rentner Gegenüber früheren Projektionen des MEA (vgl. von etwa 21,2 auf 24,3 Millionen steigen wird. Das Börsch-Supan und Rausch 2018) und alternativen zahlenmäßige Verhältnis der Rentnerinnen und Rent- derzeitigen Vorausberechnungen (vgl. z.B. Deutsche ner zu den beitragspflichtigen Erwerbstätigen und Bundesbank 2019) sind diese Vorausberechnungen Arbeitslosen wird im Basisszenario in dieser Zeit- bereits relativ optimistisch, d.h., sie projizieren einen spanne also von 61,1% auf 75,4% ansteigen, bis 2060 niedrigeren Beitragssatz und ein höheres Sicherungs- auf über 81%. Diese Entwicklung wäre daher auch niveau als diese. Im Licht der Corona-Pandemie und ohne die Coronakrise eine große Herausforderung ihrer wirtschaftlichen Auswirkung ist vor allem die für die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenver- zugrunde gelegte weitere Fortsetzung des Beschäf- sicherung. tigungszuwachses viel zu optimistisch. Aber auch 38 ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV andere Annahmen, z.B. zum nominalen Lohnwachs- Die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Be- tum, dürften für die nächsten Jahre zu hoch angesetzt schäftigten fiel von Oktober 2008 von 28,2 Millionen sein. Wir ersetzen sie daher im folgenden Abschnitt auf 27,5 Millionen im Februar 2009, einem Rückgang durch von der Corona-Pandemie gekennzeichnete von 700 000 Menschen, gleichzeitig stieg die Arbeits- Szenarien. losenzahl von 2,99 Millionen auf 3,47 Millionen (vgl. Nicht variieren werden wir hingegen die Annah- Bundesagentur für Arbeit 2020; vgl. Abb. 2). men bzgl. der Bevölkerungsentwicklung. Wie in der Bereinigt man um die typischen saisonalen Ef- Einleitung dargelegt, dürften die Corona-Pandemie fekte, sind die so gemessenen krisenbedingten Ef- nur marginale Auswirkungen auf die Gesamtbevölke- fekte jedoch deutlich geringer. Saisonbereinigt fiel rung haben. Auch die Auswirkungen auf den Altersquo- die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von tienten sollten nicht erheblich ausfallen, obgleich auf- Oktober 2008 von 27,9 Millionen auf 27,6 Millionen im grund der höheren Gefahr von COVID-19 für die ältere Februar 2009, ein Rückgang von 300 000 Menschen, Bevölkerung der Effekt auf dem Altersquotienten wohl gleichzeitig stieg die saisonbereinigte Arbeitslosen- höher ausfallen dürfte als auf die Bevölkerungszahl. zahl von 3,19 Millionen auf 3,47 Millionen, also um Zudem erfolgen keine Anpassungen der Beitragssätze 280 000 Menschen. Im Februar 2010 ergab sich die zu den restlichen Sozialversicherungssystemen. größte Differenz zwischen den saisonbereinigten Wer- ten und dem mittelfristigen Beschäftigungstrend; der BESCHÄFTIGUNGSSZENARIEN AUFGRUND DER Unterschied betrug ca. 650 000 sozialversicherungs- CORONA-PANDEMIE pflichtig Beschäftigte. Da die Bundesregierung derzeit ähnliche be- Wir berechnen sechs verschiedene Szenarien der Wirt- schäftigungspolitische Maßnahmen ergreift wie in schaftsentwicklung, die die Spannbreite der in der der Finanzkrise 2008, gehen wir einem ähnlichen Einleitung zusammengefassten Schätzungen der drei Übersetzungsverhältnis von BIP-Rückgang und Be- Wirtschaftsforschungsinstitute widerspiegeln, was schäftigungsrückgang aus. Dieser betrug pro 1% den Rückgang des BIP betrifft, nämlich einen Rück- BIP-Rückgang 75 000 Menschen auf einer Basis von gang um 1,5% (mild gemäß ifo), 6% (stark gemäß ifo) damals ca. 28 Mio. sozialversicherungspflichtig Be- und 9% (stark gemäß IfW). Wir bezeichnen diese drei schäftigten. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit Szenarien als »BIP-Szenarien«. um 70 000 Menschen pro 1% BIP-Rückgang an. Der Unklar ist, wie lange die Pandemie dauern wird Beschäftigungsrückgang teilte sich also damals auf und vor allem, wie lange diese die wirtschaftliche 93% Arbeitslosigkeit und 7% Eintritt in die stille Re- Entwicklung einschränkt. Hier nehmen wir zwei Sze- serve auf. narien an: eine sehr schnelle Rückkehr auf den ur- Da die Beschäftigung seit 2008 um über 20% ge- sprünglichen Pfad bereits 2021 sowie eine deutlich stiegen ist, nehmen wir an, dass in der jetzigen Krise langsamere Rückkehr, bei der das erste Halbjahr 2021 ein Rückgang des BIP um 1 Prozentpunkt einen Be- noch vom BIP-Rückgang betroffen ist, die Erholung schäftigungsrückgang von 95 000 Menschen und ei- im zweiten Halbjahr 2021 einsetzt und erst 2023 der nen Anstieg der Arbeitslosigkeit um 88 000 Menschen ursprüngliche Wachstumspfad des BIP wieder er- bewirken wird. Diese Annahmen liegen höher als die reicht wird. Wir bezeichnen diese beiden Szenarien Annahmen des ifo Instituts gemäß Wollmershäuser als »Erholungsszenarien«. Die Kombination der drei (2020), das bei einem BIP-Rückgang von 1,5% einen BIP-Szenarien mit den beiden Erholungsszenarien er- Rückgang der Beschäftigung von 100 000 Menschen geben sechs Szenarien der Wirtschaftsentwicklung zugrunde legt. Dem liegt unsere Einschätzung zu- 2020–2023. grunde, dass die durch die Corona-Pandemie ausge- Die Schätzungen der drei Wirtschaftsforschungs- löste Schließung von Betrieben eine deutlich stärkere institute konzentrieren sich auf die Wirkung der Corona-Pandemie auf das BIP. Für die GRV ist das Abb. 2 BIP jedoch nur indirekt relevant, während die Be- Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, 2008–2020 schäftigung direkt in die Berechnungsgrößen der GRV Mio Saisonbereinigte Werte Ursprungswerte Trendlinie 2008–2013 eingeht. Wie die Beschäftigung in einer Krise auf den 34 Rückgang des BIP reagiert, hängt stark von den ge- troffenen Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung 32 ab. In der Finanzkrise 2008 griff der Bund mit großzü- Feb. 2009 Okt. 2008 Feb. 2010 gigen Kurzarbeitsregelungen ein und vermied damit 30 einen größeren Beschäftigungsrückgang. Das BIP fiel damals von 2 546 Mrd. Euro 2008 auf 2 446 Mrd. Euro 28 2009 (nominal), dies war ein Rückgang um knapp 4% (vgl. Statistisches Bundesamt 2012). Ein Jahr später 26 hatte das BIP den in etwa gleichen Wert wie 2008, und 2011 war der ursprüngliche Wachstumspfad wie- 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 der erreicht. Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2020) mit Ergänzungen der Autoren. © ifo Institut ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020 39
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV Abb. 3 RENTENRECHTLICHE MECHANISMEN Anzahl der sozialversicherungspflichtig und geringfügig entlohnten Beschäftigten, sechs Szenarien bezüglich des BIP-Rückgangs Das deutsche Rentenrecht weist den sozialversiche- Basis "-1,5% 1 Jahr" "-6% 1 Jahr" "-1,5% 2,5 Jahr" "-6% 2,5 Jahr" "-9% 1 Jahr" rungspflichtig Beschäftigten Rentenanwartschaften Mio. Euro 35,5 "-9% 2,5 Jahr" in Form von Entgeltpunkten zu. Ein volles Jahr sozial versicherungspflichtiger Beschäftigung zum Durch- 35,0 schnittslohn ergibt einen Entgeltpunkt; der Standard 34,5 rentner erwirbt im Laufe seines hypothetischen Er- 34,0 werbslebens 45 Entgeltpunkte. Beim Rentenzugang werden diese Entgeltpunkte mit dem aktuellen Ren- 33,5 tenwert multipliziert, um die Rentenleistungen zu be- 33,0 rechnen. Letztere werden oft mit dem Sicherungs- 32,5 niveau gemessen und verglichen. Es teilt die Rente 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2031 2032 des Standardrentners durch das Durchschnittsentgelt Quelle: Berechnungen der Autoren. © ifo Institut der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Mit dem Sicherungsniveau wird also nicht die Kaufkraft Auswirkung auf die Beschäftigung haben wird als wäh- der Rente beschrieben, sondern ihre Relation zum rend der Finanzkrise. In einer neueren Abschätzung Durchschnittslohn. des ifo Instituts wird von einem möglicherweise hö- Der aktuelle Rentenwert ergibt sich aus einer heren Rückgang der sozialversicherungspflichtigen komplizierten Kombination von Rentenanpassungs Beschäftigung ausgegangen (»bis zu 1,35 Millionen«, formel, Rentengarantie und Haltelinien (vgl. Börsch- vgl. Dorn et al. 2020, S. 9). Dennoch wird der Beschäf- Supan und Rausch 2020). tigungsrückgang deutlich gedämpfter als der Rück- gang des BIP ausfallen, nicht zuletzt wegen Kurzar- Nachhaltigkeitsfaktor beits- und ähnlichen Regelungen. Gleichzeitig fielen als Folge der Finanzkrise auch Im einfachsten Fall müssen letztere nicht greifen. die geleisteten Arbeitsstunden pro Arbeitnehmer von Dann erhöht sich der aktuelle Rentenwert zunächst 1 430 auf 1 390 Stunden, also um 2.8%. Daher san- proportional zur Erhöhung der Bruttolöhne, wird ken nach 2008 auch die Jahreslöhne. Wir modellieren dann aber durch den Beitragssatzfaktor gedämpft, dies nicht explizit. Vielmehr ergibt sich aus der Ent- wenn die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversi- wicklung des BIP zusammen mit dem angenomme- cherung sowie die hypothetischen Beiträge zur nen Beschäftigungsrückgang implizit ein Rückgang zusätzlichen Altersvorsorge steigen, sowie durch der Jahreslöhne in den drei BIP-Szenarien um 1,5%, den Nachhaltigkeitsfaktor, wenn der Rentnerquo- 5% bzw. 7,5% nominal. Wir nehmen kein Nachholen tient (vereinfacht: die Anzahl der Rentnerinnen und dieser Jahreslohnrückgänge auf den Verlauf ohne die Rentner geteilt durch die Anzahl der sozialversi Pandemiekrise an. In den Szenarien einer langsamen cherungspflichtig Beschäftigten) ansteigt, wie es im Erholung unterstellen wir für die Jahre 2021 und 2022 Laufe des demografischen Wandels der Fall ist. We- wieder eine nominale Jahreslohnsteigerung, die 2021 gen der Verfügbarkeit entsprechender Daten mes- 0,4% und 2022 2,3% beträgt. sen die Bruttolohn- und Beitragsfaktoren die Netto- Abbildung 3 zeigt den von uns angenommen lohnentwicklung des vergangenen Jahres, wäh- Beschäftigungsrückgang in den sechs Szenarien, rend der Nachhaltigkeitsfaktor die Entwicklung des Abbildung 4 die entsprechende Entwicklung der Rentnerquotienten des vorvergangenen Jahres Arbeitslosigkeit. misst. Dementsprechend reagiert die Rentenanpas- sungsformel mit einer ein- bzw. zweijährigen Ver- Abb. 4 zögerung auf Änderungen des Nettolohns bzw. des Anzahl der Arbeitslosen, sechs Szenarien bezüglich des BIP-Rückgangs Rentnerquotienten. Basis "-1,5% 1 Jahr" "-6% 1 Jahr" "-1,5% 2,5 Jahr" "-6% 2,5 Jahr" "-9% 1 Jahr" Mio. Euro "-9% 2,5 Jahr" Rentengarantie und Nachholfaktor 3,2 3,0 Diese durch Beitragssatz- und Nachhaltigkeitsfaktor gedämpfte Bruttolohnanpassung wird durch die Ren- 2,8 tengarantie außer Kraft gesetzt, wenn die Rentenzahl- 2,6 beträge sinken sollten, z.B. unter dem Einfluss einer massiven Wirtschaftskrise, wie es 2010 in Folge der 2,4 Finanzkrise geschah und unter Umständen aufgrund 2,2 der Corona-Pandemie wieder geschehen könnte. Es 2,0 wird dann solange der nominale Bestand der Renten 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2031 2032 gesichert, bis diese wieder steigen. Allerdings werden Quelle: Berechnungen der Autoren. © ifo Institut die Steigerungen nach Anwendung der Rentengarantie 40 ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV – vereinfacht beschrieben – durch den Nachholfak- Abb. 5 tor solange halbiert, bis der ursprüngliche Pfad der Aktueller Rentenwert, sechs Szenarien bezüglich des BIP-Rückgangs (Euro nominal) Rentenleistungen wieder erreicht wurde. Nach der Basis "-1,5% 1 Jahr" "-6% 1 Jahr" Euro "-9% 1 Jahr" "-1,5% 2,5 Jahr" "-6% 2,5 Jahr" Finanzkrise wurde der ursprüngliche Pfad erst 2013 46 "-9% 2,5 Jahr" wieder erreicht. 44 42 Rentenpakt 2019: Haltelinien und Aufhebung des 40 Nachholfaktors 38 Durch den Rentenpakt 2019 wurde mit zwei weiteren 36 Mechanismen in die Rentenanpassungsformel ein 34 gegriffen. Zum einen darf das Sicherungsniveau nicht 32 unter 48% fallen und der Beitragssatz die 20% nicht 30 übersteigen (doppelte Haltelinie). Sollte dies dro- 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 2031 2032 hen, etwa wiederum infolge der Corona-Pandemie, Quelle: Berechnungen der Autoren. © ifo Institut muss der Bund der Rentenversicherung zusätzliche Bundesmittel zur Verfügung stellen. Zum zweiten daher fällt der Wiederanstieg des aktuellen Renten- wurde der Nachholfaktor ausgesetzt, d.h., sollte die werts je nach BIP-Szenario unterschiedlich aus. Rentengarantie greifen, erhöht diese permanent und Auffällig ist zudem, dass insbesondere nach 2022 nicht nur temporär das Sicherungsniveau. Beide Ele- der aktuelle Rentenwert im vergleichsweise milden mente, doppelte Haltelinie und Aufhebung des Nach- Szenario eines um 1,5% geringeren BIP mit Erho- holfaktors, gelten jedoch nur bis 2025. Danach gilt lungsphase am geringsten ausfällt. Intuitiv sollten die wieder das alte Recht, d.h., die oben beschriebene pessimistischeren Szenarien die geringsten aktuellen durch die demografische Entwicklung gedämpfte Rentenwerte beinhalten. Dass der aktuelle Renten- Rentenanpassungsformel mit Rentengarantie und wert des milden Szenarios dennoch geringer ausfällt, Nachholfaktor tritt ab 2026 wieder in Kraft. ist damit zu begründen, dass in den beiden anderen Szenarien der Beitragssatz bereits 2021 angehoben Beitragssatz, Nachhaltigkeitsreserve und werden muss (vgl. Abb. 7) sowie dass 2022 die Ren- Bundeszuschüsse tengarantie ein weiteres Mal greift. Als Folge dämpft der Beitragssatzanstieg 2022 nicht die Rentenanpas- Der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversiche- sung mittels des Beitragssatzfaktors. Im milden Sze- rung ergibt sich schließlich dadurch, dass Ausgaben nario steigt der Beitragssatz hingegen erst 2022 an, und Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung wodurch der Beitragssatzfaktor im folgenden Jahr, übereinstimmen müssen, wobei kurz- und mittelfris- wenn die Rentengarantie nicht mehr greift, die Ren- tige Schwankungen durch die Nachhaltigkeitsreserve tenanpassung dämpft. aufgefangen werden, um allzu häufige Beitragssatz änderungen zu vermeiden. Zudem gibt es diverse Das Sicherungsniveau steigt aufgrund der Bundeszuschüsse, die zumindest im Prinzip nicht Coronakrise, die Beitragszahler finanzieren dies beitragsgedeckte Ausgaben der Rentenversicherung ausgleichen. Die Garantie, dass der aktuelle Rentenwert nicht sin- ken darf, bedeutet bei sinkenden Jahreslöhnen, dass ERGEBNISSE DER SZENARIENBERECHNUNGEN das Sicherungsniveau der Renten 2021 deutlich anstei- gen wird, und zwar umso mehr, je tiefer die Rezession Zunächst fallen, wie im Abschnitt »Beschäftigungs szenarien aufgrund der Corona-Pandemie« beschrie- Abb. 6 ben, die Jahreslöhne je nach Szenario im Jahr 2020 Sicherungsniveau, sechs Szenarien bezüglich des BIP-Rückgangs um 1,5%, 5% bzw. 7,5% nominal. Dies würde, wenn Basis "-1,5% 1 Jahr" "-1,5% 2,5 Jahr" % "-6% 1 Jahr" "-6% 2,5 Jahr" "-9% 1 Jahr" die Rentenanpassungsformel eingesetzt würde, eine 53 "-9% 2,5 Jahr" Senkung der Renten implizieren. Diese wird jedoch durch die Rentengarantie verhindert. 2021 bleibt da- 51 her der aktuelle Rentenwert auf dem Wert von 2020 49 (vgl. Abb. 5). Im Szenario einer schnellen Erholung steigt ab 2022 der aktuelle Rentenwert wieder an. Dies 47 gilt nicht für die Szenarien einer länger andauernden Krise. In diesen Fällen muss die Rentengarantie ein 45 zweites Mal auch 2022 eingreifen. Mit zweijähriger Ver- 43 zögerung reagiert die Rentenanpassungsformel, wenn sie nach dem Eingreifen der Rentengarantie wieder in Kraft ist, auch auf den Beschäftigungsrückgang. Auch Quelle: Berechnungen der Autoren. © ifo Institut ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020 41
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV Abb. 7 Generationenvertrag« angenommen Voraussetzungen Beitragssatz, sechs Szenarien bezüglich des BIP-Rückgangs erst 2025 eingetreten wäre. Basis "-1,5% 1 Jahr" "-1,5% 2,5 Jahr" Da nach jetzigem Stand ab 2025 wieder das alte % "-6% 1 Jahr" "-6% 2,5 Jahr" "-9% 1 Jahr" 25 "-9% 2,5 Jahr" Recht ohne die doppelte Haltelinie gelten würde, 24 steigt der Beitragssatz in fast allen Fällen dann noch- mals sehr stark an; hier werden die durch die doppelte 23 Haltelinie temporär unterdrückten Beitragsanpassun- 22 gen nachgeholt. Da das Sicherungsniveau, wie in Ab- 21 bildung 6 gezeigt, permanent höher liegt als ohne die 20 Coronakrise, liegt auch der Beitragssatz permanent höher und kehrt nicht zum Basisszenario zurück. 19 Das Erreichen der 20%-Haltelinie beim Beitrags- 18 satz führt zu einem Anstieg der benötigten Bundes- mittel. Abbildung 8 zeigt dies wiederum im Vergleich Quelle: Berechnungen der Autoren. © ifo Institut zum Basisszenario. Diese Grafik weist die Bundesmit- tel als Anteil des BIP aus. Derzeit beträgt die Summe Abb. 8 der Bundeszuschüsse knapp unter 2,5% des BIP.3 Ein Benötige Bundesmittel, sechs Szenarien bezüglich des BIP-Rückgangs Rückgang des BIP bewirkt zunächst rein rechnerisch Basis "-1,5% 1 Jahr" "-1,5% 2,5 Jahr" einen Anstieg der prozentualen Bundesmittel, da das "-6% 1 Jahr" "-6% 2,5 Jahr" "-9% 1 Jahr" Anteil des BIP in % "-9% 2,5 Jahr" BIP sinkt, während die Bundesmittel 2020 noch auf der 3,4 Basis der Zeit vor der Coronakrise berechnet werden. 3,2 Auch die Bundesmittel steigen 3,0 Zusätzlich muss der Bund jedoch die Differenz zwi- 2,8 schen 20% und demjenigen Beitragssatz ersetzen, der 2,6 nach der ursprünglichen Berechnungsformel gegolten hätte. Daher steigen die Mittel, die der Bund der Ren- 2,4 tenversicherung überweisen muss, in den Szenarien eines starken Konjunktureinbruchs ab dem Jahr 2021 Quelle: Berechnungen der Autoren. © ifo Institut stark an. Im Szenario eines starken und lang andau- ernden Konjunktureinbruchs betrügen die zusätzli- ausfallen wird. Dies zeigt Abbildung 6. Bei einer mil- chen Bundesmittel im Jahr 2021 5,6 Mrd. Euro, dann den Rezession steigt das Sicherungsniveau auf knapp ansteigend bis auf knapp 19 Mrd. Euro im Jahr 2025 48,5%, einer mittleren auf fast 51%, und bei einer tie- (real, also in Euro der Kaufkraft 2020). In den übrigen fen Rezession auf über 52%.1 Da der Nachholfaktor bis Szenarien eines starken Konjunktureinbruchs lägen 2025 durch den Rentenpakt 2019 außer Kraft gesetzt die zusätzlichen Bundesmittel im Jahr 2025 zwischen wurde, ist diese Erhöhung permanent, d.h., das Siche- 6,8 und 13,6 Mrd. Euro (real). rungsniveau bleibt auch langfristig höher, als es ohne Nach Auslaufen der doppelten Haltelinie im Jahr die Coronakrise gewesen wäre.2 2025 zeigt sich wiederum der permanente Effekt der Gleichzeitig steigt der Beitragssatz, wiederum Erhöhung des Sicherungsniveaus und der daraus fol- umso mehr, je tiefer die Rezession ausfallen wird genden Erhöhung des Beitragssatzes, an den ein gro- (vgl. Abb. 7). ßer Teil der Bundeszuschüsse gekoppelt ist. Außer in den Fällen einer relativ milden bzw. kur- zen Rezession wird schon 2021 die Haltelinie von 20% FAZIT: EFFEKTE STARK ASYMMETRISCH erreicht, was im Basisszenario (d.h. ohne die Corona ZUGUNSTEN DER RENTENEMPFÄNGER krise) unter den von der Kommission »Verlässlicher 1 Im Sicherungsniveau vor Steuern werden die Beiträge zu den restli- Die Corona-Pandemie 2020 wird ähnlich wie die Fi- chen Sozialversicherungssystemen berücksichtigt. Als Folge der höhe- nanzkrise 2008 auch deutliche Spuren in der gesetz- ren Arbeitslosigkeit dürfte der Beitragssatz zur Arbeitslosenversiche- rung zumindest temporär höher ausfallen als im Basisszenario. Da die- lichen Rentenversicherung hinterlassen. Zunächst sen nur die Erwerbstätigen zahlen, würde dies zu einem nochmals hö- verursacht die Pandemie einen Beschäftigungsrück- heren Sicherungsniveau führen. Ebenfalls die Beiträge zur Pflege- und Krankenversicherung dürften zumindest temporär hoch ausfallen. Da gang, der zwar durch arbeitsmarktpolitische Maß- diese allerdings sowohl von Rentnern als auch von den Erwerbtätigen nahmen abgefedert werden wird (z.B. Kurzarbeit), gezahlt werden, ist ihre Wirkung auf das Sicherungsniveau geringer. 2 3 Der permanente Effekt im milden Szenario ist allerdings nicht di- Enthalten sind der allgemeine Bundeszuschuss, der zusätzliche rekt auf die Rentengarantie zurückzuführen, sondern auf den frühe- Bundeszuschuss, der Erhöhungsbetrag sowie Einnahmen aus den ren Anstieg des Beitragssatzes und der Haltelinie des Sicherungsni- Kinderzuschüssen des Bundes. Nicht enthalten sind die in den Jah- veaus. Während im Basisszenario der Beitragssatz erst 2025 auf 20% ren 2022 bis 2025 jeweils 500 Mio. Euro an die Rentenversicherung zu ansteigt und somit 2026 dieser Beitragssatzanstieg in die Rentenan- zahlenden zusätzlichen Bundesmittel (wobei dieser Betrag analog passung mittels des Beitragssatzfaktors einfließt, ist dies nun im mil- zum allgemeinen Bundeszuschuss angehoben wird). Diese Zahlun- den Szenario aufgrund des früheren Beitragssatzanstieges nicht mehr gen sollten bis 2026 nicht in die Bestimmung des Beitragssatzes ein- der Fall, und die Rentenanpassung wird 2026 weniger stark gedämpft. fließen und zur Sicherung der Haltelinie dienen. 42 ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020
CORONAKRISE: AUSWIRKUNGEN AUF DIE GRV aber dennoch zu einem Rückgang der Lohn- und Ge- doppelten Haltelinie oder anderer angedachter aus- haltssumme führen wird, die Finanzierungsbasis der gabenwirksamer Reformen erschweren wird. Rentenversicherung. Da es unklar ist, wie tief und Schließlich sei angemerkt, dass die kapitalge- lange die Pandemie die wirtschaftliche Entwicklung deckten Altersvorsorgesysteme von der Krise ebenso einschränken wird, modellieren wir drei BIP-Szena- betroffen sind, vor allem durch den Einbruch der Ak rien (Rückgang um 1,5%, 6% und 9%), die sich an den tienkurse. Der DAX brauchte nach der Finanzkrise 2008 aktuellen Prognosen führender Wirtschaftsfor- sechs Jahre, um wieder seinen Ausgangswert zu errei- schungsinstitute orientieren, sowie Szenarien, wie chen. Dies zeigt, wie wichtig es ist, Altersvorsorgepro- lange es dauert, bis die Wirtschaft wieder auf den dukte nicht mit einer Stichtagsgarantie auszustatten, ursprünglichen Pfad zurückkehren kann (ein bzw. sondern den Großteil als Leibrente auszuzahlen, die 2,5 Jahre). über den gesamten Bezugszeitraum garantiert ist, so Die Effekte der Corona-Pandemie auf die gesetzli- dass die Anbieter Kriseneinbrüche wieder ausgleichen che Rentenversicherung treten mit ein bis zwei Jahren können. Verzögerung ein, da die Rentenanpassungsformel erst mit einer ein- bzw. zweijährigen Verzögerung auf Än- LITERATUR derungen des Nettolohns bzw. des Rentnerquotienten Börsch-Supan, A. (2007), »Rational Pension Reform«, Geneva Papers on reagiert. Die in diesem Jahr anstehende Rentenerhö- Risk and Insurance: Issues and Practice 4, 430–446. hung ist angenehm für die Rentner, hat aber nichts Börsch-Supan, A. und J. Rausch (2018), »Die Kosten der doppelten Hal- telinie«, ifo Schnelldienst 71(9), 23–30. mit der Stabilität der Rentenversicherung während Börsch-Supan, A. und J. Rausch (2020), »Lassen sich Haltelinien, finan- der Pandemie zu tun. zielle Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit miteinander verbin- Diese Effekte sind stark asymmetrisch zugunsten den?«, MEA Discussion Paper 03-2020. der Rentenempfänger. Die seit 2005 bestehende Ga- Börsch-Supan, A., J. Rausch, H. Buslei und J. Geyer (2020), »Entwicklung der Demographie, der Erwerbstätigkeit, sowie des Leistungsniveaus und rantie, dass der aktuelle Rentenwert nicht sinken darf, der Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung«, MEA Discussion bedeutet bei sinkenden Jahreslöhnen, dass das Siche- Paper 02-2020. rungsniveau der Renten 2021 deutlich ansteigen wird, Börsch-Supan, A., A. Reil-Held und C. B. Wilke (2003), »Der Nachhaltig- keitsfaktor und andere Formelmodifikationen zur langfristigen Stabilisie- und zwar umso mehr, je tiefer die Rezession ausfallen rung des Beitragssatzes zur GRV« MEA Discussion Paper, 30-2003. wird. Rentenempfänger werden also weniger von der Bundesagentur für Arbeit (2020), »Beschäftigung – Zeitreihengraphik Coronakrise betroffen als die Erwerbsbevölkerung, 2008–2020«, verfügbar unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/Na- vigation/Statistik/Statistik-nach-Themen/Beschaeftigung/Beschaefti- deren Nettojahreslöhne auch nominal sinken werden, gung-Nav.html. da erstens bei einem starken Rückgang des BIP die Deutsche Bundesbank (2019), »Langfristige Perspektiven der gesetzli- Bruttolöhne sinken und zweitens die Rentenversiche- chen Rentenversicherung« Monatsbericht, Oktober, 55–78. rungsbeiträge steigen werden. Dorn, F., C. Fuest, M. Göttert, C. Krolage, S. Lautenbacher, S. Link, A. Peichl, S. Sauer, M. Stöckli, K. Wohlrabe und T. Wollmershäuser Nach altem Recht hätte der Nachholfaktor dafür (2020), »Die volkswirtschaftlichen Kosten des Corona-Shutdown für gesorgt, dass sich dieser Effekt sich nach einigen Jah- Deutschland: Eine Szenarienrechnung«, ifo Institut, München, ifo Schnell- dienst 73(4), 29–35. ren wieder ausgleicht. Dies ist jedoch nicht der Fall. Gasche, M. und S. Kluth (2011), »Auf der Suche nach der besten Ren- Durch das Ausschalten des Nachholfaktors im Zuge tenanpassungsformel«, MEA Discussion Paper 241-2011. des Rentenpakts 2019 ist dieser Effekt permanent, Holthausen, A., J. Rausch und C. B. Wilke (2012), »MEA-PENSIM 2.0: Wei- also für die gesamte Rentenbezugszeit aller derzeiti- terentwicklung eines Rentensimulationsmodells, Konzeption und ausge- wählte Anwendungen«, MEA Discussion Paper 03-2012. gen Rentenempfänger. Kooths, S. (2020): »Update Konjunkturbericht: Deutsches BIP dürfte 2020 Durch die doppelte Haltelinie wird der Anstieg des zwischen 4,5 und 9 Prozent einbrechen«, Institut für Weltwirtschaft, Beitragssatzes allerdings bei 20% gedeckelt. Dies tritt Kiel, verfügbar unter: https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/me- dieninformationen/2020/update-konjunkturbericht-deutsches-bip-duerf- in allen außer den milden bzw. kurzen Verlaufsszena- te-2020-zwischen-45-und-9-prozent-einbrechen/. rien ein. Entsprechend fallen höhere Bundesmittel Krupp, H.-J. (2003), »Zur Interpretation des Nachhaltigkeitsfaktors«, Wirt- an, die zwischen anfänglich 3,3 und 10 Mrd. Euro pro schaftsdienst, (11), 705–710. Jahr betragen. Aus den genannten Gründen ist auch Michelsen, C., M. Clemens, M. Hanisch, S. Junker, K. A. Kholodilin und T. Schlaak (2020): »Deutsche Wirtschaft: Corona-Virus stürzt deutsche die Erhöhung der zusätzlich benötigten Bundesmit- Wirtschaft in eine Rezession: Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung im tel kein temporärer, sondern ein permanenter Effekt. Frühjahr 2020«, DIW Wochenbericht (12), 206–229. Welches der Szenarien am wahrscheinlichsten ist, Rausch, J. und M. Gasche (2016), »Beitragsentwicklung in der Gesetzli- kann man derzeit nicht sagen, da es stark vom Verlauf chen Krankenversicherung und der Sozialen Pflegeversicherung – Pro- jektionen und Determinanten«, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 65(3), der Pandemie abhängt, wie schnell ein Impfstoff zur 195–238. Verfügung steht und wie schnell eine weitgehende Statistisches Bundesamt (2012), Statistisches Jahrbuch 2012, Statisti- Immunität erreicht sein wird. Bei einer Verflachung sches Bundesamt, Wiesbaden. der Infektionskurve sind die wirtschaftlichen Effekte Statistisches Bundesamt (2019), 14. koordinierten Bevölkerungsvorausbe- rechnung, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. in diesem Jahr milder, dauern aber länger an. Wilke, C. B. (2004), »Ein Simulationsmodell des Rentenversicherungssys- Indirekte Effekte auf die gesetzliche Rentenver- tems: Konzeption und ausgewählte Anwendungen von MEA-PENSIM«, sicherung mag es geben, wenn der Schuldenstand MEA-Discussionpaper 048-04. des Bundes stark ansteigt und damit ein genereller Wollmershäuser, T. (2020), »ifo Konjunkturprognose Frühjahr 2020: Konjunktur bricht ein«, ifo Schnelldienst digital, 19. März, 1/2020. Druck auf den zukünftigen Bundeshaushalten lasten wird, der die Finanzierung z.B. einer Fortführung der ifo Schnelldienst 4 / 2020 73. Jahrgang 15. April 2020 43
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