Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus - ein Kommentar - Olaf Schnur - vhw
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Nummer 40 April 2020 Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus – ein Kommentar vhw werkSTADT Olaf Schnur
Was die Corona-Krise mit unseren global Home Schooling und Helden- vernetzten Gesellschaften und komplexen Applaus: Lebensweltliche Praktiken Regulationssystemen macht, wurde von vie- in Zeiten der Krise len Kommentatoren analysiert, etwa von Immer mehr betrifft der gesamtgesellschaftli- Armin Nassehi, der vom „größten Stresstest che Makro-Stress auch unser direktes lebens- für unser Zusammenleben“ spricht (Nassehi weltliches Mikro-Umfeld. Zumal sich Arbeit bei 2020). Eines ist auf jeden Fall klar: Diese vielen ins Home-Office, Kita und Schule in die Krise kann als exzeptionell eingestuft wer- Küche (Home Schooling), also in den privaten den und hat Züge eines Großexperiments, Lebensbereich der Wohnung verlagert – das jedoch unfreiwillig und ohne Studien- einem Ort, den der Soziologe Bernd Hamm leiter stattfindet. einmal die „Raumblase der sozialen Einheit Um das Neue greifbarer zu machen, werden Haushalt“ genannt hat (Hamm 1998: 173). altbekannte religiöse, ökologische, militäri- Zwischen dieser möglichst hermetischen sche oder popkulturelle Narrative bedient, „Raumblase“ und dem eigentlichen Arbeits- wenn es um „biblische Plagen“ (Thorwarth platz, zwischen der Küche und der Kita liegt 2020), „die Rache der Natur“ (Müller-Jung das Quartier und leben die Nachbarinnen und 2020), „la guerre“, die „Bazooka“ (dpa Nachbarn. Was man unschwer im eigenen 2020, Höltschi 2020) oder um betagtere Umfeld beobachten kann, zeigen beispiels- Hollywood-Apokalypsen wie „Contagion“ weise auch die von Google anlässlich der geht, die gerade die neuen Streaming-Knül- Corona-Krise veröffentlichten Bewegungs- ler sind (Landsberg 2020). Dass derartige daten. Sämtliche Lebensbereiche wurden Tonalitäten Realitätsbezüge verschieben demnach durch den Shutdown stark herunter- und das subjektive Empfinden zusätzlich gefahren, nur die Mobilität auf der Quartiers- beeinflussen, liegt auf der Hand. ebene hat sogar zugenommen – das ist nicht überraschend, zeigt aber eindrücklich, wie sich Unabhängig vom medialen Framing fordert Aktionsräume immer mehr auf die Quartiere die Pandemie ganz real die unterschied- konzentrieren (Google 2020, hier: Auswer- lichsten gesellschaftlichen Systeme heraus, tung für deutsche Bundesländer). Damit erhält angefangen mit dem Gesundheitssystem, das, was in den letzten Jahren vermehrt unter der Ökonomie, der Politik, den Medien, der dem Label „postmoderner Nachbarschaften“ Justiz bis hin zur Wissenschaft – und sie diskutiert und erforscht wurde, also Nachbar- setzt das soziale Zusammenleben massiv schaften, wie sie sich im globalisierten 21. unter Stress, sei es beim Social Distancing in Jahrhundert neu formieren und organisieren, der U-Bahn, beim Versuch möglichst asep- im Rahmen einer Pandemie eine neue Sicht- tisch im Supermarkt einzukaufen oder sich barkeit und Relevanz (Drilling, Oehler et al. im Büro pandemiekonform zu verhalten. 2017). 1 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
Zur Erinnerung: Bis vor nicht allzu langer Zeit die seit der verstärkten Fluchtmigration ab hätte es keinen großen Widerspruch erregt, 2015 entstanden sind. Privatpersonen unter- eine Erosion von Nachbarschaft, eine Auflö- stützen kulturelle Einrichtungen, etwa indem sung lokaler Bezüge zu Gunsten des Globalen sie Tickets nicht zurückgeben, Spenden über- (also etwa: der Einkauf bei amazon statt im weisen oder Gutscheine über spezialisierte Kiezbuchladen oder die Mitgliedschaft bei Online-Portale (wie z. B. „Tagesspiegel Kiez- Amnesty International statt im Nachbar- helfer“) kaufen. Der kleinteilige Einzelhandel schaftsverein), einen Rückgang solidarischen wird zunehmend wertgeschätzt und als Be- Verhaltens und eines abnehmenden sozialen zugsquelle bevorzugt, in den geschlossenen Zusammenhalts gerade in Großstädten zu Restaurants der Umgebung werden Speisen konstatieren. Wo es nur noch Zugvögel oder „to go“ bestellt. Spontan wird auch ein soli- individualisierte Subjekte gebe, so die These, darisches Verhalten speziellen Berufsgruppen werde sich keine dauerhafte Ortsbindung und gegenüber sichtbar, die in der Krisenzeit be- auch keine verbindliche soziale Vernetzung im sondere soziale Dienste verrichten, wie z. B. Kleinen mehr herausbilden können, mehr Verkäuferinnen, Busfahrern, Ärztinnen oder noch: Einzelhaushalte präferierten ein zurück- Pflegepersonal. gezogenes Cocooning im Kiez, immer auf der Hut vor der Außenwelt. Und zweifellos wären Nachbarschaft in der Pandemie – heute auch für diese These viele Indizien zu plötzlich präsent finden. Dass gerade in einer akuten Krise Ego- Vor allem ist dies aber auch im engeren Kon- ismen verstärkt zu Tage treten, versteht sich text von Nachbarschaften spürbar. Die Soli- beinahe von selbst: Wenn es hart auf hart darbekundungen für die „Heldenberufe“, die kommt, ist sich so mancher selbst der Nächste. sich zurzeit in abendlichem gemeinschaftli- Ängste verführen zu Panikkäufen und zu chen Applaus von Balkonen in vielen Nachbar- Absicherungsverhalten nach dem Motto „my schaften äußern, sind nicht nur als ein Zeichen home is my castle“. Unsere globalen Kontakt- netzwerke sind davon weniger betroffen, denn die Auswirkungen des egozentrischen Einladung zum nachbarschaftlichen „Platz- konzert“ Verhaltens zeigen sich seltener beim unver- bindlichen Krisentalk auf Skype als in der physischen Wohnumgebung z. B. bei Hams- terkäufen im Discounter vor Ort. So werden die Schwachstellen unseres Zusammenlebens gerade sehr hell ausgeleuchtet. Jedoch sind in vielen Kiezen auch gegenläu- fige Tendenzen zu erkennen. Es dürfte kaum übertrieben sein zu behaupten, dass die Corona-Krise auch eine bemerkenswerte Soli- daritätswelle ausgelöst hat, vielleicht ein we- Quelle: Olaf Schnur privat nig vergleichbar mit den Welcome-Initiativen, 2 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
nach außen, sondern auch als eine Versiche- ein hoher Anteil benachteiligter Menschen rung nach innen zu verstehen. lebt, Nachbarschaftshilfe angesichts von Not und Existenzangst noch viel mehr Auf- Ein Ankerpunkt in Notzeiten ist eben auch das wand erfordert. Das heißt allerdings nicht, „Wir“, das sich auf diese Art und Weise in der dass es in Hamburg-Eppendorf deshalb Nachbarschaft zeigen kann (Schnur 2016). mehr Nachbarschaftshilfe geben muss als Viele sind in der Krise froh, dass es doch noch in Berlin-Wedding – das Gegenteil kann die scheinbar etwas aus der Mode gekom- der Fall sein (vgl. Schnur 2003). Aber auch mene Rolle des Nachbarn oder der Nachbarin die Qualität des Quartiersumfelds spielt gibt. Insofern sind die „postmodernen Nach- eine gewichtige Rolle. Gibt es beispiels- barn“ zunächst ziemlich altmodisch: Ganz im weise in der Nähe überhaupt einen Super- Sinne des Siedlungssoziologen Bernd Hamm, markt, in dem ich für meine Nachbarin der in den 1970er Jahren ein Standardwerk zu einen Einkauf machen kann? Auch die „Nachbarschaft“ verfasst hatte, kann man fast „Quartiersatmosphäre“ ist relevant, die lehrbuchhaft die mehr oder weniger rezipro- auf einer breiten Skala zwischen pa- ken Nachbarfunktionen beobachten. Hamm nisch/abweisend und gelassen/zugewandt nannte sie Nothilfe, Sozialisation, Kommuni- verortet sein kann und entsprechende kation und soziale Kontrolle (Hamm 1973): Möglichkeitshorizonte aufspannt. Mit „Nothilfe“ sind Praktiken der Hilfsbe- Nachbarn als „Sozialisationsagenten“, wie reitschaft und der Unterstützung in Notla- sie Hamm bezeichnet hatte, sind in der gen gemeint – dieser Aspekt tritt in Zeiten Corona-Krise ebenfalls verstärkt zu be- einer Pandemie besonders stark und gera- obachten – dass Kinder vor den rigorosen dezu prototypisch zu Tage. Wie gut das Kontaktbeschränkungen im Rahmen der bei aller Bereitschaft gelingen kann, liegt Pandemie auch Nachbarn zur kurzfristigen an den bestehenden sozialen Netzwerken Betreuung anvertraut wurden, setzt einen in einem Quartier und an den Chancen, hohen externen Druck, aber auch einen diese kurzfristig zu organisieren und auf- ausreichend hohen Vertrauensvorschuss zubauen. Zentral ist die Frage: Gibt es voraus. Dieses Vertrauen scheint also Menschen in der Nachbarschaft, die über offenbar zu manchen, vorselektierten entsprechende Ressourcen für Hilfen ver- Nachbarn vorhanden zu sein. fügen? Zu diesen Ressourcen zählen öko- nomisches Kapital, z. B. die begünstigende Dass verbale und nonverbale Kommunika- Tatsache, selbst abgesichert und nicht in tion momentan in Nachbarschaften prekären Umständen zu leben, kulturelles besonders wichtig ist, ist ebenfalls deutlich Kapital, um überhaupt die Fähigkeit zum spürbar. Auch wenn physischer Abstand Kontakt zu haben (via Sprache oder Kom- geboten ist, ist es doch der kurze, zuge- munikationsmedien) und soziales Kapital, wandte Austausch im Hof oder auch nur d. h. der Nutzen, der aus der Einbindung ein verbundenes Zunicken, das vielen über in soziale Netzwerke entsteht. Damit sei den Tag und gegen das situative Alleinsein angedeutet, dass in Quartieren, in denen im Home-Office oder als Single hilft. 3 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
Der letzte Aspekt, die soziale Kontrolle, nur noch über Meeting-Software funktioniert, findet während der Corona-Pandemie bekommt der Plausch mit dem Nachbarn oder ebenfalls häufiger statt, als wir es kennen. der Nachbarin von Balkon zu Balkon einen Zweifellos kommt es gerade auch in der höheren Stellenwert. Selbstverständlich klappt Krisenperiode vermehrt zu Beschwerden es nicht mit allen Nachbarn so gut – aber die und sogar Anzeigen, wenn Menschen Tendenz sich gegenseitig mehr positive Reso- „verbotene“ Partys feiern oder sich „ord- nanz zu gönnen, ist erkennbar. Selten, so nungswidrig“ mit anderen im Hof oder im könnte man es zusammenfassen, traten die Garten treffen. Die Grenzen zwischen Vorzüge Nachbarn zu haben so deutlich zum einem gut gemeinten nachbarschaftlichen Vorschein, wie im derzeitigen Lebensalltag. Aufruf zur Vernunft zu Denunziation und Mehr noch: Für viele Menschen werden nach- Blockwartmentalität, so scheint es, sind barschaftliche Kontakte und Solidarität jetzt fließend. Es ist aber auch zu beobachten, beinahe existenziell. dass soziale Kontrolle verstärkt im Gewand gegenseitiger Achtsamkeit daherkommt, Postmoderne nachbarschaftliche wenn z. B. bedürftige Nachbarinnen und Solidarität – flexibel, Nachbarn stillschweigend auf einen prozessorientiert, resilient „gemeinsamen Radarschirm“ gesetzt wer- den. Diese Art von sozialer Kontrolle wirkt Neu zu sein scheint, wie nachbarschaftliche gerade in unruhigen Zeiten für viele (auch Aufmerksamkeit je nach Bedarf wie eine Stehlampe hoch- und heruntergedimmt wer- für die „Kümmerer“) beruhigend und sta- den kann. Wie alte Freunde, mit denen man bilisierend. auch nach ein paar Jahren Funkstille im Hand- Damit sind auch zwei der in der klassischen umdrehen wieder einen guten Kontakt auf- Nachbarschaftsforschung besonders im Fokus nehmen kann, scheint auch Nachbarschaft als stehenden Gruppen angesprochen: Kinder generalisierte Gruppe schnell aktiviert werden und Senioren. Sie sind während der Pandemie zu können – zumindest unter den aktuellen ganz besonders vulnerabel und geraten des- Stressbedingungen. Die Art und Weise, wie halb umso schneller in den nachbarschaftli- das intensivierte nachbarschaftliche Miteinan- chen Fokus. Aber mehr noch: Die typischen der heute organisiert wird, unterscheidet sich postmodernen Haushalte, die Kosmopoliten, dabei stark von früheren Formen. Nachbar- diejenigen, die es ohnehin gewohnt sind, öfter schaftsplattformen wie nebenan.de, Social im Home-Office oder mobil zu arbeiten, dieje- Media wie lokale Facebook-Gruppen, vor nigen, die auf ihre sozialen und vor allem auf allem aber Messenger Dienste wie WhatsApp berufliche Netzwerke schon immer angewie- dienen den heutigen Nachbarschaften dazu, sen und stolz waren, sind noch mehr als sonst Hilfen anzubieten oder zu erbitten, Sicherheit auf ihr unmittelbares nachbarliches und quar- und Identifikation zu vermitteln, Trost zu spen- tierliches Umfeld zurückgeworfen – und ler- den, sich zu etwas zu verabreden, sich und nen es noch mehr zu schätzen: Wenn der andere zu informieren, sich selbst und für an- direkte Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen dere einen Resonanzraum zu schaffen – also: 4 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
sich zu organisieren, und zwar oft über den ei- Sicherlich wäre es allzu romantisch anzuneh- genen Haushalt hinaus (Becker, Göppert et al. men, dass sich die Gesellschaft in und nach der 2018). Die Intentionen sind durchaus klas- Krise grundlegend verändern würde. Sobald sisch, die medialen Praktiken ganz neu. Vieles das Bedrohungspotenzial abnimmt, werden wird prozesshafter, flexibler, situativer gere- wohl auch viele alte Muster wieder zum Vor- gelt und kann sich je nach Anlass neu sortie- schein kommen. Was aber bleibt, ist eine ren. Systeme, denen man solche variablen Röntgenaufnahme unserer Stadtgesellschaf- Eigenschaften zuschreibt, weisen oft einen ten: Die Aufnahme lässt uns unter die Oberflä- hohen Grad an Resilienz auf (Schnur 2013): che blicken und zeigt auf, welche Verfassung Das wäre eine gute Erkenntnis aus dem „Real- Stadtgesellschaften derzeit haben. Individua- labor Quartier“, in das uns die Corona-Pande- lismen, Egoismen, Opportunismen, Trittbrett- mie hineingezwängt hat. fahrertum: Alles ist nach wie vor präsent. Was Die Corona-Krise bringt viele menschliche Be- aber überraschender ist, ist eine Tendenz zu dürfnisse und Verhaltensweisen fast schon sozialer Achtsamkeit, Gemeinschaftlichkeit prototypisch hervor. Dabei ist nicht zu unter- und Solidarität. Es macht optimistisch zu be- schätzen, wie uns die Krise zwangsweise obachten, dass der Ort, das Lokale, mit dem zusammenrücken lässt und wir auch kaum wir uns verbunden fühlen, nach wie vor oder eine andere Wahl haben, als uns möglichst gut sogar mehr als gedacht relevant zu sein zu arrangieren. Aber: Mehr als sonst können scheint. Es stimmt auch zuversichtlich, dass wir wir dadurch auch eine Grundkonstitution unsere lebensweltliche Umgebung zumindest unserer postmodernen Stadtgesellschaften im Notfall sehr zu schätzen wissen, sie pflegen erkennen, in denen es offenbar mehr Sinn für und nutzen. Es ist außerdem eine gute Nach- das Miteinander gibt als man im normalen richt, dass in Großstädten (bei aller Differen- Alltag annehmen würde. ziertheit) zumindest in vielen Beispielen funk- tionierende nachbarschaftliche Netzwerke zu Aufruf zum Aufeinander achtgeben beobachten sind und – im besten Fall – Quar- tiersumfelder bestehen, die uns für einige Zeit auch im Lokalen autonom werden lassen. Temporäre Entglobalisierung kann also funkti- onieren. Learnings from Corona: Welche Fähigkeiten brauchen resiliente Stadtquartiere in der Zukunft? Nicht ganz neu, aber aktueller denn je: der so- genannte Capability Approach des Wirt- schaftsnobelpreisträgers Amartya Sen (vgl. Quelle: Olaf Schnur privat den Überblick bei Neuhäuser 2018). Übertra- gen auf das Thema „Kiez und Krise“ wären 5 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
wir gut beraten, mehr noch als bisher alles da- distanzierten Kontakt zu haben. In „food ran zu setzen, für jede Bewohnerin und jeden deserts“, wie sie beispielsweise aus US-ameri- Bewohner die persönlichen Freiheitsgrade kanischen Suburbs bekannt sind, fehlen also (Capabilities) zu optimieren, damit mehr nicht nur die Möglichkeiten, sich gut zu ernäh- Selbsthilfe, Souveränität und Autonomie mög- ren, sondern auch die „dritten Orte“ alltägli- lich wird. Die persönlichen Freiheitsgrade hän- cher Begegnungen und die sozialen Netzkno- gen zum einen vom individuellen ökonomi- ten. schen, kulturellen und sozialen Kapital ab. Dass sich diese Kapitalarten vermehren, sollte Abgesperrter Spielplatz in Berlin im Sinne eines aktivierenden Sozialstaats unterstützt werden. Dass dies nur teilweise im Quartierskontext beeinflussbar sein wird, leuchtet ein. Gleichzeitig werden die subjekti- ven Freiheitsgrade aber auch durch äußere Ermöglichungsstrukturen mitbestimmt, und hier kommt auch das Quartier ins Spiel: Dazu kann man z. B. Miethilfen rechnen, um sicher weiter wohnen zu können. Die Wohnung als die „Raumblase“ im Quartier ist existenziell und zumindest dieser Faktor sollte in Krisen- zeiten konstant gewährleistet bleiben. Aber Quelle: Olaf Schnur privat auch Ärzte, Apotheken, flexible soziale Infra- strukturen und Dienste gehören dazu. Im Kiez Ein weiterer, besonders wichtiger Punkt ist es, können Möglichkeiten geschaffen werden, die digitale soziale Vernetzung im Kiez zu för- um psychologische Hilfe und Lebensberatung dern und dafür zu sorgen, dass künftig nicht schnell und unkompliziert wahrnehmen zu nur Hilfe angeboten, sondern auch abgerufen können. Das sind nur Beispiele für das, was der und angenommen werden kann. Auch den Präsident des Deutschen Städtetags, Burkhard Schulen kommt hier eine Bedeutung zu: An Jung meinte, als er im Spiegel-Interview sagte: vielen Orten avancieren Schulen immer mehr "Auch im härtesten Epidemiefall muss die Da- zu Quartierszentren und zu lokalen Vernet- seinsvorsorge gesichert sein" (Jung 2020). zungsorten, was sich auch zunehmend im Generell ist nach der Capability-Logik alles Digitalen abbildet. Digitaler Unterricht und wünschenswert, was Nachbarschaft im oben andere digitale Angebote aus kleinräumigen, beschriebenen Sinne begünstigt. Dazu zählt, lokalen Bildungslandschaften könnten aber dass adäquate Einkaufsmöglichkeiten im Nah- noch selbstverständlicher werden, gerade raum vorhanden sein sollten. Das klingt viel- auch in Bezug auf soziale Vernetzung vor Ort. leicht trivial, ist es aber vielfach nicht. Kiosk, Wir sollten Quartier und Nachbarschaft gene- Bäcker und Bioladen avancieren in der Krise zu rell stärker im Sinne hybrider (also analog und den letzten öffentlichen Reservaten, um sich digital gleichermaßen präsenter) Räumlichkeit und andere zu versorgen und auch ein wenig denken (Becker und Schnur 2020). 6 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
Durch das gemeinsame situative Zusammen- Literatur wirken in Quartier und Nachbarschaft in einer Becker, A., H. Göppert, O. Schnur und F. Schreiber Krisenzeit wird nicht nur Sozialkapital aufge- (2018): Die digitale Renaissance der Nachbarschaft. baut, sondern wir machen wertvolle Selbst- Soziale Medien als Instrument postmoderner Nach- wirksamkeitserfahrungen, die auch nach der barschaftsbildung. vhw Forum Wohnen und Stadt- entwicklung (4): 206-210. Krise ihre Wirkungen entfalten und zu mehr Becker, A. und O. Schnur (2020): Die Digitalisie- Eigeninitiative und letztlich politischem Enga- rung des Zusammenlebens: Über die Wirkungen di- gement führen können. Darüber hinaus wer- gitaler Medien in Quartier und Nachbarschaft. In: den wir rückblickend vielleicht feststellen kön- Güntner, S. and Hannemann, C. (Hrsg.): Jahrbuch nen, dass einige soziale, transformierend wir- StadtRegion - Digitale Transformation. Wiesbaden: (im Erscheinen). kende Innovationen entstanden sind oder Davis, M. und D. Wallbridge (2007): Eine Einfüh- ihnen zum Durchbruch verholfen werden rung in das Werk von D.W. Winnicott. 3. Auflage, konnte. Es ist nämlich nicht nur eine Zeit der Eschborn. Solidarität, sondern auch eine Zeit der Kreati- dpa (2020): Frankreich im "Gesundheitskrieg" ge- vität. Wie der englische Kinderarzt und gen Corona. Süddeutsche Zeitung. 17.03.20. Ab- Psychoanalytiker Donald W. Winnicott hervor- rufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/ge- sundheit/gesundheit-frankreich-im-gesundheits- gehoben hat, entsteht Kreativität auch und krieg-gegen-corona-dpa.urn-newsml-dpa-com- gerade aus einem Zustand der Desorganisa- 20090101-200316-99-353511. tion (vgl. Davis und Wallbridge 2007). Wann Drilling, M., P. Oehler und N. Käser (2017): Poten- und wo sollte sich diese These bewahrheiten, ziale postmoderner Nachbarschaften. Eine Pilotstu- wenn nicht jetzt, in einer Zeit der Krise und die im Auftrag des vhw Bundesverbands Wohnen und Stadtentwicklung e.V. Berlin. . Berlin. Zwangsimprovisation und in dem sozialräum- lichen Kontext, dem wir jetzt mehr als sonst Google (Hrsg.) (2020): COVID-19 Community Mo- bility Report, Germany, March 29, 2020. Mountain ausgesetzt werden: unserem Quartier und View. unserer Nachbarschaft. Hamm, B. (1973): Betrifft: Nachbarschaft. Düssel- dorf. Hamm, B. (1998): Nachbarschaft. In: Häußermann, H. (Hrsg.): Großstadt - Soziologische Stichworte. Opladen: 172-181. Höltschi, R. (2020): Deutschland bringt die wirt- schaftspolitische Bazooka gegen Corona in Stel- lung. Neue Zürcher Zeitung. 13.03.2020. Abrufbar unter: https://www.nzz.ch/wirtschaft/corona- deutschland-faehrt-wirtschaftspolitische-bazooka- auf-ld.1546295. Jung, B. (2020): "Auch im härtesten Epidemiefall muss die Daseinsvorsorge gesichert sein", Inter- view von Timo Lehmann. Der Spiegel. 30.03.20. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/poli- tik/deutschland/burkhard-jung-auch-im-haertes- ten-epidemiefall-muss-die-daseinsvorsorge-gesi- chert-sein-a-c754e29f-9fa9-4b6e-946d- bb22eda8a535 7 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
Landsberg, T. (2020): Das Corona-Virus und seine Schnur, O. (2003): Lokales Sozialkapital für die 'so- Parallelen zu Hollywood. Deutsche Welle. ziale Stadt'. Politische Geographien sozialer Quar- 10.03.20. Abrufbar unter: https://p.dw.com/p/3Y- tiersentwicklung am Beispiel Berlin-Moabit. Opla- sPf den. Müller-Jung, J. (2020): Die Rache des Schuppen- Schnur, O. (2013): Resiliente Quartiersentwicklung. tiers. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 07.02.2020. Eine Annäherung über das Panarchie-Modell adap- Abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/gesell- tiver Zyklen. Informationen zur Raumentwicklung schaft/gesundheit/coronavirus/coronavirus-ueber- (4): 337-350. traeger-die-rache-des-schuppentiers- Schnur, O. (2016): Urbane Vielfalt und Kohäsion – 16622676.html. zwischen Moderne und Postmoderne. vhw-werk- Nassehi, A. (2020): "Es passiert gerade etwas, von STADT Nr. 3. Berlin. dem wir immer gesagt haben: Das geht nicht" - In- Thorwarth, K. (2020): Und Gott sandte mit Corona terview von Thomas Rapp. Der Spiegel, Spiegel+. die Plage – Wie christliche Fundamentalisten das 01.04.20. Abrufbar unter: https://www.spie- Virus instrumentalisieren. Frankfurter Rundschau. gel.de/kultur/soziologe-ueber-corona-ich-freue- 16.03.20. Abrufbar unter: https://www.fr.de/mei- mich-wenn-die-normalen-krisen-wieder-da-sind-a- nung/coronavirus-sars-cov-2-christliche-funda- 72abdc71-b2a3-4bdf-9964-c34ff33e24b8. mentalisten-pandemie-instrumentalisieren- Neuhäuser, C. (2018): Amartya Sen zur Einfüh- 13597899.html. rung. Hamburg. Impressum vhw werkSTADT Autor ISSN 2367-0819 Dr. Olaf Schnur Erscheinungsort: Berlin Wissenschaftlicher Leiter vhw e. V. Herausgeber Grundlayout vhw-Bundesverband für Wohnen und DCM Druck Center Meckenheim GmbH Stadtentwicklung e. V. www.druckcenter.de Vorstand: Prof. Dr. Jürgen Aring Erscheinungsweise Fritschestraße 27/28 unregelmäßig 10585 Berlin Telefon: +49 30 390473-230 Bezug Telefax: +49 30 390473-190 Alle Ausgaben der vhw werkSTADT sind werkstadt@vhw.de unter: http://www.vhw.de/publikationen/ www.vhw.de kostenfrei herunter zu laden. Titelbildquelle © Fotos Olaf Schnur privat 8 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
Sie können auch lesen