Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus - ein Kommentar - Olaf Schnur - vhw

 
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Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus - ein Kommentar - Olaf Schnur - vhw
Nummer 40
    April 2020

                 Kiez und Corona
                 Nachbarschaft im Krisen-Modus – ein Kommentar
vhw werkSTADT

                 Olaf Schnur
Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus - ein Kommentar - Olaf Schnur - vhw
Was die Corona-Krise mit unseren global          Home Schooling und Helden-
    vernetzten Gesellschaften und komplexen          Applaus: Lebensweltliche Praktiken
    Regulationssystemen macht, wurde von vie-        in Zeiten der Krise
    len Kommentatoren analysiert, etwa von
                                                     Immer mehr betrifft der gesamtgesellschaftli-
    Armin Nassehi, der vom „größten Stresstest
                                                     che Makro-Stress auch unser direktes lebens-
    für unser Zusammenleben“ spricht (Nassehi
                                                     weltliches Mikro-Umfeld. Zumal sich Arbeit bei
    2020). Eines ist auf jeden Fall klar: Diese
                                                     vielen ins Home-Office, Kita und Schule in die
    Krise kann als exzeptionell eingestuft wer-
                                                     Küche (Home Schooling), also in den privaten
    den und hat Züge eines Großexperiments,
                                                     Lebensbereich der Wohnung verlagert –
    das jedoch unfreiwillig und ohne Studien-
                                                     einem Ort, den der Soziologe Bernd Hamm
    leiter stattfindet.
                                                     einmal die „Raumblase der sozialen Einheit
    Um das Neue greifbarer zu machen, werden         Haushalt“ genannt hat (Hamm 1998: 173).
    altbekannte religiöse, ökologische, militäri-    Zwischen dieser möglichst hermetischen
    sche oder popkulturelle Narrative bedient,       „Raumblase“ und dem eigentlichen Arbeits-
    wenn es um „biblische Plagen“ (Thorwarth         platz, zwischen der Küche und der Kita liegt
    2020), „die Rache der Natur“ (Müller-Jung        das Quartier und leben die Nachbarinnen und
    2020), „la guerre“, die „Bazooka“ (dpa           Nachbarn. Was man unschwer im eigenen
    2020, Höltschi 2020) oder um betagtere           Umfeld beobachten kann, zeigen beispiels-
    Hollywood-Apokalypsen wie „Contagion“            weise auch die von Google anlässlich der
    geht, die gerade die neuen Streaming-Knül-       Corona-Krise veröffentlichten Bewegungs-
    ler sind (Landsberg 2020). Dass derartige        daten. Sämtliche Lebensbereiche wurden
    Tonalitäten Realitätsbezüge verschieben          demnach durch den Shutdown stark herunter-
    und das subjektive Empfinden zusätzlich          gefahren, nur die Mobilität auf der Quartiers-
    beeinflussen, liegt auf der Hand.                ebene hat sogar zugenommen – das ist nicht
                                                     überraschend, zeigt aber eindrücklich, wie sich
    Unabhängig vom medialen Framing fordert          Aktionsräume immer mehr auf die Quartiere
    die Pandemie ganz real die unterschied-          konzentrieren (Google 2020, hier: Auswer-
    lichsten gesellschaftlichen Systeme heraus,      tung für deutsche Bundesländer). Damit erhält
    angefangen mit dem Gesundheitssystem,            das, was in den letzten Jahren vermehrt unter
    der Ökonomie, der Politik, den Medien, der       dem Label „postmoderner Nachbarschaften“
    Justiz bis hin zur Wissenschaft – und sie        diskutiert und erforscht wurde, also Nachbar-
    setzt das soziale Zusammenleben massiv           schaften, wie sie sich im globalisierten 21.
    unter Stress, sei es beim Social Distancing in   Jahrhundert neu formieren und organisieren,
    der U-Bahn, beim Versuch möglichst asep-         im Rahmen einer Pandemie eine neue Sicht-
    tisch im Supermarkt einzukaufen oder sich        barkeit und Relevanz (Drilling, Oehler et al.
    im Büro pandemiekonform zu verhalten.            2017).

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Zur Erinnerung: Bis vor nicht allzu langer Zeit   die seit der verstärkten Fluchtmigration ab
hätte es keinen großen Widerspruch erregt,        2015 entstanden sind. Privatpersonen unter-
eine Erosion von Nachbarschaft, eine Auflö-       stützen kulturelle Einrichtungen, etwa indem
sung lokaler Bezüge zu Gunsten des Globalen       sie Tickets nicht zurückgeben, Spenden über-
(also etwa: der Einkauf bei amazon statt im       weisen oder Gutscheine über spezialisierte
Kiezbuchladen oder die Mitgliedschaft bei         Online-Portale (wie z. B. „Tagesspiegel Kiez-
Amnesty International statt im Nachbar-           helfer“) kaufen. Der kleinteilige Einzelhandel
schaftsverein), einen Rückgang solidarischen      wird zunehmend wertgeschätzt und als Be-
Verhaltens und eines abnehmenden sozialen         zugsquelle bevorzugt, in den geschlossenen
Zusammenhalts gerade in Großstädten zu            Restaurants der Umgebung werden Speisen
konstatieren. Wo es nur noch Zugvögel oder        „to go“ bestellt. Spontan wird auch ein soli-
individualisierte Subjekte gebe, so die These,    darisches Verhalten speziellen Berufsgruppen
werde sich keine dauerhafte Ortsbindung und       gegenüber sichtbar, die in der Krisenzeit be-
auch keine verbindliche soziale Vernetzung im     sondere soziale Dienste verrichten, wie z. B.
Kleinen mehr herausbilden können, mehr            Verkäuferinnen, Busfahrern, Ärztinnen oder
noch: Einzelhaushalte präferierten ein zurück-    Pflegepersonal.
gezogenes Cocooning im Kiez, immer auf der
Hut vor der Außenwelt. Und zweifellos wären       Nachbarschaft in der Pandemie –
heute auch für diese These viele Indizien zu      plötzlich präsent
finden. Dass gerade in einer akuten Krise Ego-
                                                  Vor allem ist dies aber auch im engeren Kon-
ismen verstärkt zu Tage treten, versteht sich
                                                  text von Nachbarschaften spürbar. Die Soli-
beinahe von selbst: Wenn es hart auf hart
                                                  darbekundungen für die „Heldenberufe“, die
kommt, ist sich so mancher selbst der Nächste.
                                                  sich zurzeit in abendlichem gemeinschaftli-
Ängste verführen zu Panikkäufen und zu
                                                  chen Applaus von Balkonen in vielen Nachbar-
Absicherungsverhalten nach dem Motto „my
                                                  schaften äußern, sind nicht nur als ein Zeichen
home is my castle“. Unsere globalen Kontakt-
netzwerke sind davon weniger betroffen,
denn die Auswirkungen des egozentrischen           Einladung zum nachbarschaftlichen „Platz-
                                                   konzert“
Verhaltens zeigen sich seltener beim unver-
bindlichen Krisentalk auf Skype als in der
physischen Wohnumgebung z. B. bei Hams-
terkäufen im Discounter vor Ort. So werden
die Schwachstellen unseres Zusammenlebens
gerade sehr hell ausgeleuchtet.
Jedoch sind in vielen Kiezen auch gegenläu-
fige Tendenzen zu erkennen. Es dürfte kaum
übertrieben sein zu behaupten, dass die
Corona-Krise auch eine bemerkenswerte Soli-
daritätswelle ausgelöst hat, vielleicht ein we-    Quelle: Olaf Schnur privat
nig vergleichbar mit den Welcome-Initiativen,

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nach außen, sondern auch als eine Versiche-           ein hoher Anteil benachteiligter Menschen
rung nach innen zu verstehen.                         lebt, Nachbarschaftshilfe angesichts von
                                                      Not und Existenzangst noch viel mehr Auf-
Ein Ankerpunkt in Notzeiten ist eben auch das
                                                      wand erfordert. Das heißt allerdings nicht,
„Wir“, das sich auf diese Art und Weise in der
                                                      dass es in Hamburg-Eppendorf deshalb
Nachbarschaft zeigen kann (Schnur 2016).
                                                      mehr Nachbarschaftshilfe geben muss als
Viele sind in der Krise froh, dass es doch noch
                                                      in Berlin-Wedding – das Gegenteil kann
die scheinbar etwas aus der Mode gekom-
                                                      der Fall sein (vgl. Schnur 2003). Aber auch
mene Rolle des Nachbarn oder der Nachbarin
                                                      die Qualität des Quartiersumfelds spielt
gibt. Insofern sind die „postmodernen Nach-
                                                      eine gewichtige Rolle. Gibt es beispiels-
barn“ zunächst ziemlich altmodisch: Ganz im
                                                      weise in der Nähe überhaupt einen Super-
Sinne des Siedlungssoziologen Bernd Hamm,
                                                      markt, in dem ich für meine Nachbarin
der in den 1970er Jahren ein Standardwerk zu
                                                      einen Einkauf machen kann? Auch die
„Nachbarschaft“ verfasst hatte, kann man fast
                                                      „Quartiersatmosphäre“ ist relevant, die
lehrbuchhaft die mehr oder weniger rezipro-
                                                      auf einer breiten Skala zwischen pa-
ken Nachbarfunktionen beobachten. Hamm
                                                      nisch/abweisend und gelassen/zugewandt
nannte sie Nothilfe, Sozialisation, Kommuni-
                                                      verortet sein kann und entsprechende
kation und soziale Kontrolle (Hamm 1973):
                                                      Möglichkeitshorizonte aufspannt.
ƒ   Mit „Nothilfe“ sind Praktiken der Hilfsbe-    ƒ   Nachbarn als „Sozialisationsagenten“, wie
    reitschaft und der Unterstützung in Notla-        sie Hamm bezeichnet hatte, sind in der
    gen gemeint – dieser Aspekt tritt in Zeiten
                                                      Corona-Krise ebenfalls verstärkt zu be-
    einer Pandemie besonders stark und gera-
                                                      obachten – dass Kinder vor den rigorosen
    dezu prototypisch zu Tage. Wie gut das
                                                      Kontaktbeschränkungen im Rahmen der
    bei aller Bereitschaft gelingen kann, liegt
                                                      Pandemie auch Nachbarn zur kurzfristigen
    an den bestehenden sozialen Netzwerken
                                                      Betreuung anvertraut wurden, setzt einen
    in einem Quartier und an den Chancen,
                                                      hohen externen Druck, aber auch einen
    diese kurzfristig zu organisieren und auf-
                                                      ausreichend hohen Vertrauensvorschuss
    zubauen. Zentral ist die Frage: Gibt es
                                                      voraus. Dieses Vertrauen scheint also
    Menschen in der Nachbarschaft, die über
                                                      offenbar zu manchen, vorselektierten
    entsprechende Ressourcen für Hilfen ver-
                                                      Nachbarn vorhanden zu sein.
    fügen? Zu diesen Ressourcen zählen öko-
    nomisches Kapital, z. B. die begünstigende    ƒ   Dass verbale und nonverbale Kommunika-
    Tatsache, selbst abgesichert und nicht in         tion momentan in Nachbarschaften
    prekären Umständen zu leben, kulturelles          besonders wichtig ist, ist ebenfalls deutlich
    Kapital, um überhaupt die Fähigkeit zum           spürbar. Auch wenn physischer Abstand
    Kontakt zu haben (via Sprache oder Kom-           geboten ist, ist es doch der kurze, zuge-
    munikationsmedien) und soziales Kapital,          wandte Austausch im Hof oder auch nur
    d. h. der Nutzen, der aus der Einbindung          ein verbundenes Zunicken, das vielen über
    in soziale Netzwerke entsteht. Damit sei          den Tag und gegen das situative Alleinsein
    angedeutet, dass in Quartieren, in denen          im Home-Office oder als Single hilft.

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Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus - ein Kommentar - Olaf Schnur - vhw
ƒ   Der letzte Aspekt, die soziale Kontrolle,      nur noch über Meeting-Software funktioniert,
    findet während der Corona-Pandemie             bekommt der Plausch mit dem Nachbarn oder
    ebenfalls häufiger statt, als wir es kennen.   der Nachbarin von Balkon zu Balkon einen
    Zweifellos kommt es gerade auch in der         höheren Stellenwert. Selbstverständlich klappt
    Krisenperiode vermehrt zu Beschwerden          es nicht mit allen Nachbarn so gut – aber die
    und sogar Anzeigen, wenn Menschen              Tendenz sich gegenseitig mehr positive Reso-
    „verbotene“ Partys feiern oder sich „ord-      nanz zu gönnen, ist erkennbar. Selten, so
    nungswidrig“ mit anderen im Hof oder im        könnte man es zusammenfassen, traten die
    Garten treffen. Die Grenzen zwischen           Vorzüge Nachbarn zu haben so deutlich zum
    einem gut gemeinten nachbarschaftlichen        Vorschein, wie im derzeitigen Lebensalltag.
    Aufruf zur Vernunft zu Denunziation und        Mehr noch: Für viele Menschen werden nach-
    Blockwartmentalität, so scheint es, sind       barschaftliche Kontakte und Solidarität jetzt
    fließend. Es ist aber auch zu beobachten,      beinahe existenziell.
    dass soziale Kontrolle verstärkt im Gewand
    gegenseitiger Achtsamkeit daherkommt,          Postmoderne nachbarschaftliche
    wenn z. B. bedürftige Nachbarinnen und         Solidarität – flexibel,
    Nachbarn stillschweigend auf einen             prozessorientiert, resilient
    „gemeinsamen Radarschirm“ gesetzt wer-
    den. Diese Art von sozialer Kontrolle wirkt    Neu zu sein scheint, wie nachbarschaftliche
    gerade in unruhigen Zeiten für viele (auch     Aufmerksamkeit je nach Bedarf wie eine
                                                   Stehlampe hoch- und heruntergedimmt wer-
    für die „Kümmerer“) beruhigend und sta-
                                                   den kann. Wie alte Freunde, mit denen man
    bilisierend.
                                                   auch nach ein paar Jahren Funkstille im Hand-
Damit sind auch zwei der in der klassischen        umdrehen wieder einen guten Kontakt auf-
Nachbarschaftsforschung besonders im Fokus         nehmen kann, scheint auch Nachbarschaft als
stehenden Gruppen angesprochen: Kinder             generalisierte Gruppe schnell aktiviert werden
und Senioren. Sie sind während der Pandemie        zu können – zumindest unter den aktuellen
ganz besonders vulnerabel und geraten des-         Stressbedingungen. Die Art und Weise, wie
halb umso schneller in den nachbarschaftli-        das intensivierte nachbarschaftliche Miteinan-
chen Fokus. Aber mehr noch: Die typischen          der heute organisiert wird, unterscheidet sich
postmodernen Haushalte, die Kosmopoliten,          dabei stark von früheren Formen. Nachbar-
diejenigen, die es ohnehin gewohnt sind, öfter     schaftsplattformen wie nebenan.de, Social
im Home-Office oder mobil zu arbeiten, dieje-      Media wie lokale Facebook-Gruppen, vor
nigen, die auf ihre sozialen und vor allem auf     allem aber Messenger Dienste wie WhatsApp
berufliche Netzwerke schon immer angewie-          dienen den heutigen Nachbarschaften dazu,
sen und stolz waren, sind noch mehr als sonst      Hilfen anzubieten oder zu erbitten, Sicherheit
auf ihr unmittelbares nachbarliches und quar-      und Identifikation zu vermitteln, Trost zu spen-
tierliches Umfeld zurückgeworfen – und ler-        den, sich zu etwas zu verabreden, sich und
nen es noch mehr zu schätzen: Wenn der             andere zu informieren, sich selbst und für an-
direkte Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen       dere einen Resonanzraum zu schaffen – also:

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Kiez und Corona Nachbarschaft im Krisen-Modus - ein Kommentar - Olaf Schnur - vhw
sich zu organisieren, und zwar oft über den ei-   Sicherlich wäre es allzu romantisch anzuneh-
genen Haushalt hinaus (Becker, Göppert et al.     men, dass sich die Gesellschaft in und nach der
2018). Die Intentionen sind durchaus klas-        Krise grundlegend verändern würde. Sobald
sisch, die medialen Praktiken ganz neu. Vieles    das Bedrohungspotenzial abnimmt, werden
wird prozesshafter, flexibler, situativer gere-   wohl auch viele alte Muster wieder zum Vor-
gelt und kann sich je nach Anlass neu sortie-     schein kommen. Was aber bleibt, ist eine
ren. Systeme, denen man solche variablen          Röntgenaufnahme unserer Stadtgesellschaf-
Eigenschaften zuschreibt, weisen oft einen        ten: Die Aufnahme lässt uns unter die Oberflä-
hohen Grad an Resilienz auf (Schnur 2013):        che blicken und zeigt auf, welche Verfassung
Das wäre eine gute Erkenntnis aus dem „Real-      Stadtgesellschaften derzeit haben. Individua-
labor Quartier“, in das uns die Corona-Pande-     lismen, Egoismen, Opportunismen, Trittbrett-
mie hineingezwängt hat.                           fahrertum: Alles ist nach wie vor präsent. Was
Die Corona-Krise bringt viele menschliche Be-     aber überraschender ist, ist eine Tendenz zu
dürfnisse und Verhaltensweisen fast schon         sozialer Achtsamkeit, Gemeinschaftlichkeit
prototypisch hervor. Dabei ist nicht zu unter-    und Solidarität. Es macht optimistisch zu be-
schätzen, wie uns die Krise zwangsweise           obachten, dass der Ort, das Lokale, mit dem
zusammenrücken lässt und wir auch kaum            wir uns verbunden fühlen, nach wie vor oder
eine andere Wahl haben, als uns möglichst gut     sogar mehr als gedacht relevant zu sein
zu arrangieren. Aber: Mehr als sonst können       scheint. Es stimmt auch zuversichtlich, dass wir
wir dadurch auch eine Grundkonstitution           unsere lebensweltliche Umgebung zumindest
unserer postmodernen Stadtgesellschaften          im Notfall sehr zu schätzen wissen, sie pflegen
erkennen, in denen es offenbar mehr Sinn für      und nutzen. Es ist außerdem eine gute Nach-
das Miteinander gibt als man im normalen          richt, dass in Großstädten (bei aller Differen-
Alltag annehmen würde.                            ziertheit) zumindest in vielen Beispielen funk-
                                                  tionierende nachbarschaftliche Netzwerke zu
    Aufruf zum Aufeinander achtgeben              beobachten sind und – im besten Fall – Quar-
                                                  tiersumfelder bestehen, die uns für einige Zeit
                                                  auch im Lokalen autonom werden lassen.
                                                  Temporäre Entglobalisierung kann also funkti-
                                                  onieren.

                                                  Learnings from Corona: Welche
                                                  Fähigkeiten brauchen resiliente
                                                  Stadtquartiere in der Zukunft?

                                                  Nicht ganz neu, aber aktueller denn je: der so-
                                                  genannte Capability Approach des Wirt-
                                                  schaftsnobelpreisträgers Amartya Sen (vgl.
    Quelle: Olaf Schnur privat                    den Überblick bei Neuhäuser 2018). Übertra-
                                                  gen auf das Thema „Kiez und Krise“ wären

5                                                             vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
wir gut beraten, mehr noch als bisher alles da-      distanzierten Kontakt zu haben. In „food
ran zu setzen, für jede Bewohnerin und jeden         deserts“, wie sie beispielsweise aus US-ameri-
Bewohner die persönlichen Freiheitsgrade             kanischen Suburbs bekannt sind, fehlen also
(Capabilities) zu optimieren, damit mehr             nicht nur die Möglichkeiten, sich gut zu ernäh-
Selbsthilfe, Souveränität und Autonomie mög-         ren, sondern auch die „dritten Orte“ alltägli-
lich wird. Die persönlichen Freiheitsgrade hän-      cher Begegnungen und die sozialen Netzkno-
gen zum einen vom individuellen ökonomi-             ten.
schen, kulturellen und sozialen Kapital ab.
Dass sich diese Kapitalarten vermehren, sollte        Abgesperrter Spielplatz in Berlin
im Sinne eines aktivierenden Sozialstaats
unterstützt werden. Dass dies nur teilweise im
Quartierskontext beeinflussbar sein wird,
leuchtet ein. Gleichzeitig werden die subjekti-
ven Freiheitsgrade aber auch durch äußere
Ermöglichungsstrukturen mitbestimmt, und
hier kommt auch das Quartier ins Spiel: Dazu
kann man z. B. Miethilfen rechnen, um sicher
weiter wohnen zu können. Die Wohnung als
die „Raumblase“ im Quartier ist existenziell
und zumindest dieser Faktor sollte in Krisen-
zeiten konstant gewährleistet bleiben. Aber           Quelle: Olaf Schnur privat
auch Ärzte, Apotheken, flexible soziale Infra-
strukturen und Dienste gehören dazu. Im Kiez
                                                     Ein weiterer, besonders wichtiger Punkt ist es,
können Möglichkeiten geschaffen werden,
                                                     die digitale soziale Vernetzung im Kiez zu för-
um psychologische Hilfe und Lebensberatung
                                                     dern und dafür zu sorgen, dass künftig nicht
schnell und unkompliziert wahrnehmen zu
                                                     nur Hilfe angeboten, sondern auch abgerufen
können. Das sind nur Beispiele für das, was der
                                                     und angenommen werden kann. Auch den
Präsident des Deutschen Städtetags, Burkhard
                                                     Schulen kommt hier eine Bedeutung zu: An
Jung meinte, als er im Spiegel-Interview sagte:
                                                     vielen Orten avancieren Schulen immer mehr
"Auch im härtesten Epidemiefall muss die Da-
                                                     zu Quartierszentren und zu lokalen Vernet-
seinsvorsorge gesichert sein" (Jung 2020).
                                                     zungsorten, was sich auch zunehmend im
Generell ist nach der Capability-Logik alles         Digitalen abbildet. Digitaler Unterricht und
wünschenswert, was Nachbarschaft im oben             andere digitale Angebote aus kleinräumigen,
beschriebenen Sinne begünstigt. Dazu zählt,          lokalen Bildungslandschaften könnten aber
dass adäquate Einkaufsmöglichkeiten im Nah-          noch selbstverständlicher werden, gerade
raum vorhanden sein sollten. Das klingt viel-        auch in Bezug auf soziale Vernetzung vor Ort.
leicht trivial, ist es aber vielfach nicht. Kiosk,   Wir sollten Quartier und Nachbarschaft gene-
Bäcker und Bioladen avancieren in der Krise zu       rell stärker im Sinne hybrider (also analog und
den letzten öffentlichen Reservaten, um sich         digital gleichermaßen präsenter) Räumlichkeit
und andere zu versorgen und auch ein wenig           denken (Becker und Schnur 2020).

6                                                                 vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
Durch das gemeinsame situative Zusammen-           Literatur
wirken in Quartier und Nachbarschaft in einer
                                                   Becker, A., H. Göppert, O. Schnur und F. Schreiber
Krisenzeit wird nicht nur Sozialkapital aufge-     (2018): Die digitale Renaissance der Nachbarschaft.
baut, sondern wir machen wertvolle Selbst-         Soziale Medien als Instrument postmoderner Nach-
wirksamkeitserfahrungen, die auch nach der         barschaftsbildung. vhw Forum Wohnen und Stadt-
                                                   entwicklung (4): 206-210.
Krise ihre Wirkungen entfalten und zu mehr
                                                   Becker, A. und O. Schnur (2020): Die Digitalisie-
Eigeninitiative und letztlich politischem Enga-
                                                   rung des Zusammenlebens: Über die Wirkungen di-
gement führen können. Darüber hinaus wer-          gitaler Medien in Quartier und Nachbarschaft. In:
den wir rückblickend vielleicht feststellen kön-   Güntner, S. and Hannemann, C. (Hrsg.): Jahrbuch
nen, dass einige soziale, transformierend wir-     StadtRegion - Digitale Transformation. Wiesbaden:
                                                   (im Erscheinen).
kende Innovationen entstanden sind oder
                                                   Davis, M. und D. Wallbridge (2007): Eine Einfüh-
ihnen zum Durchbruch verholfen werden
                                                   rung in das Werk von D.W. Winnicott. 3. Auflage,
konnte. Es ist nämlich nicht nur eine Zeit der     Eschborn.
Solidarität, sondern auch eine Zeit der Kreati-    dpa (2020): Frankreich im "Gesundheitskrieg" ge-
vität. Wie der englische Kinderarzt und            gen Corona. Süddeutsche Zeitung. 17.03.20. Ab-
Psychoanalytiker Donald W. Winnicott hervor-       rufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/ge-
                                                   sundheit/gesundheit-frankreich-im-gesundheits-
gehoben hat, entsteht Kreativität auch und
                                                   krieg-gegen-corona-dpa.urn-newsml-dpa-com-
gerade aus einem Zustand der Desorganisa-          20090101-200316-99-353511.
tion (vgl. Davis und Wallbridge 2007). Wann        Drilling, M., P. Oehler und N. Käser (2017): Poten-
und wo sollte sich diese These bewahrheiten,       ziale postmoderner Nachbarschaften. Eine Pilotstu-
wenn nicht jetzt, in einer Zeit der Krise und      die im Auftrag des vhw Bundesverbands Wohnen
                                                   und Stadtentwicklung e.V. Berlin. . Berlin.
Zwangsimprovisation und in dem sozialräum-
lichen Kontext, dem wir jetzt mehr als sonst       Google (Hrsg.) (2020): COVID-19 Community Mo-
                                                   bility Report, Germany, March 29, 2020. Mountain
ausgesetzt werden: unserem Quartier und            View.
unserer Nachbarschaft.                             Hamm, B. (1973): Betrifft: Nachbarschaft. Düssel-
                                                   dorf.
                                                   Hamm, B. (1998): Nachbarschaft. In: Häußermann,
                                                   H. (Hrsg.): Großstadt - Soziologische Stichworte.
                                                   Opladen: 172-181.
                                                   Höltschi, R. (2020): Deutschland bringt die wirt-
                                                   schaftspolitische Bazooka gegen Corona in Stel-
                                                   lung. Neue Zürcher Zeitung. 13.03.2020. Abrufbar
                                                   unter:       https://www.nzz.ch/wirtschaft/corona-
                                                   deutschland-faehrt-wirtschaftspolitische-bazooka-
                                                   auf-ld.1546295.
                                                   Jung, B. (2020): "Auch im härtesten Epidemiefall
                                                   muss die Daseinsvorsorge gesichert sein", Inter-
                                                   view von Timo Lehmann. Der Spiegel. 30.03.20.
                                                   Abrufbar     unter:  https://www.spiegel.de/poli-
                                                   tik/deutschland/burkhard-jung-auch-im-haertes-
                                                   ten-epidemiefall-muss-die-daseinsvorsorge-gesi-
                                                   chert-sein-a-c754e29f-9fa9-4b6e-946d-
                                                   bb22eda8a535

7                                                               vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
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72abdc71-b2a3-4bdf-9964-c34ff33e24b8.                 mentalisten-pandemie-instrumentalisieren-
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    Impressum

    vhw werkSTADT                                     Autor
    ISSN 2367-0819                                    Dr. Olaf Schnur
    Erscheinungsort: Berlin                           Wissenschaftlicher Leiter vhw e. V.
    Herausgeber                                       Grundlayout
    vhw-Bundesverband für Wohnen und                  DCM Druck Center Meckenheim GmbH
    Stadtentwicklung e. V.                            www.druckcenter.de
    Vorstand: Prof. Dr. Jürgen Aring
                                                      Erscheinungsweise
    Fritschestraße 27/28
                                                      unregelmäßig
    10585 Berlin
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    Titelbildquelle
    © Fotos Olaf Schnur privat

8                                                                  vhw werkSTADT, Nummer 40, April 2020
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