CORONA-SCHUTZMASS- NAHMEN UND MOBILITÄT - Infas
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ERGEBNISSE AUS BEOBACHTUNGEN PER REPRÄSENTATIVER BEFRAGUNG UND ERGÄNZENDEM MOBILITÄTSTRACKING BIS ENDE JANUAR AUSGABE 05.03.2021 WZB 04 CORONA- SCHUTZMASS- NAHMEN UND MOBILITÄT Eine Betrachtung der Reichweite von Corona-Schutzmaßnahmen anhand von Mobilitätskennziffern
Projekt: 7331 Bonn, März 2021 Version 4.0 Text: WZB, infas Layout und Grafik: Astrid Blome und Birgit Geisler Folgende Zitierweisen werden empfohlen: Langform: WZB, infas, MOTIONTAG (2021): Mobilitätsreport 04, Corona-Schutzmaßnahmen und Mobilität Eine Betrachtung der Reichweite von Corona-Schutzmaßnahmen anhand von Mobilitätskennziffern Ausgabe 05.03.2021, Bonn, Berlin, mit Förderung des BMBF. Kurzfassung: WZB, infas, MOTIONTAG (2021): Mobilitätsreport 04, Bonn, Berlin, mit Förderung des BMBF.
3 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Im Projekt MOBICOR wird das Mobilitätsverhalten sis zu den Kontakten, Zusammenhängen, Dauern vor, während und nach der Corona-Pandemie beob- und damit verbundenen Infektionsrisiken ist derzeit achtet, um Hinweise über Veränderungen im Mo- nicht vorhanden. Vor diesem Hintergrund können bilitätsverhalten in der Bevölkerung zu erhalten. In die Mobilitätskennziffern stellvertretend genutzt einem innovativen Ansatz werden dazu unterschied- werden, um Aussagen über das Verhalten zu treffen, liche Beobachtungsinstrumente kombiniert: Befra- wohl wissend, dass auch eine eingeschränkte Mobi- gungen im Panel-Ansatz, Bewegungs-Tracking per lität nicht unbedingt mit weniger Kontakten gleich- App und leitfadenbasierte Interviews. zusetzen ist. Die damit erhobenen Daten geben genaue Einblicke Dennoch lohnt es, die derzeit diskutierten oder be- in die Dynamik des Mobilitätsverhaltens unter dem reits in Kraft getretenen Maßnahmen auf ihre poten- Einfluss des Pandemiegeschehens. Die Maßnahmen ziellen Signal- und Hebelwirkungen zu untersuchen. zur Eindämmung der Pandemie, wie die Empfeh- Damit soll ein Beitrag zur Abwägung zwischen der lungen und Verordnungen zur Kontaktbeschrän- potenziellen Reichweite einerseits und der Akzep- kung, verändern das Mobilitätsverhalten. Gleichzei- tanz der Maßnahmen andererseits geleistet werden. tig weisen die MOBICOR-Ergebnisse auch auf eine Diese Abwägung wird mit der Tragweite der Ein- Mobilitätsreduktion hin, die bereits vor Geltung der schränkungen bedeutender, wenn die Maßnahmen Verordnungen einsetzt und auf eine freiwillige Be- zunehmend als Belastung, gar als existenzbedrohend schränkung auf Wege untertags und im nahräumli- wahrgenommen werden. chen Umfeld hindeuten. Dieser Beitrag muss jedoch mit zwei Erläuterun- Dieser Zusammenhang zwischen Maßnahmen und gen verbunden werden: Die erwähnte „Reichweite“ Mobilitätsverhalten kann auch genutzt werden, um ist nicht mit Wirksamkeit gleichzusetzen, sondern Anhaltspunkte und Hinweise über die Reichweite bringt das Potenzial zum Ausdruck, positiv, negativ und damit auch zur Wirksamkeit der getroffenen oder auch gar nicht auf das Infektionsgeschehen ein- Maßnahmen zu erhalten. Eine geeignete Datenba- zuwirken. Zudem gibt es im Rahmen von MOBICOR
4 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 keine empirischen Belege zur Akzeptanz von Maß- se Analysen müssen ergänzend zu anderen Studie- nahmen. Hier ist der Gedanke leitend, dass neben der nergebnissen betrachtet werden, denn nur so kann theoretischen Wirksamkeit von Maßnahmen, eine eine bestmögliche Einschätzung zur Wirksamkeit der hohe Akzeptanz und damit eine hohe Bereitschaft Maßnahmen abgeleitet werden. zur praktischen Umsetzung eine wichtige Voraus- setzung ist, um die Pandemie wirksam zu begrenzen. Neben der Frage, ob wir mobil sind, kommt auch der Diese Bereitschaft im Blick, werden zwei Maßnah- Frage, wie wir uns bewegen, eine hohe Relevanz zu. men sowie eine Empfehlung auf Basis der beobach- Deshalb soll zu Ende des Berichts auch ein Blick auf teten Alltagsmobilität bewertet: die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel gewor- fen werden. Der ÖV ist vom Pandemie-Geschehen 1. Eine Begrenzung des Bewegungsradius bei erhöh mehrfach betroffen. Da dort viele Kontaktsituationen tem Infektionsgeschehen auf einen 15-Kilometer- auftreten, wird er als Ort mit erhöhtem Infektionsri- Radius um den Wohnort bzw. die Gemeinde- siko wahrgenommen. Bislang gibt es aber weder für, grenzen. noch gegen diese Vermutung valide empirische Be- 2. Eine nahezu vollständige Einschränkung außer funde. Dennoch bestimmt die Wahrnehmung eines häuslicher Bewegungen zwischen 22 Uhr und erhöhten Risikos das Verhalten, so lassen sich die 5 Uhr. Rückgänge der Fahrgastzahlen interpretieren. Diese 3. Die eindringliche Empfehlung zur Wahrnehmung sind im Frühjahr stark zurückgegangen und befin- und auch Ermöglichung von Homeoffice. den sich seitdem auf sehr niedrigem Niveau. Dies ist aus vielen Gründen kritisch zu sehen, nicht nur für Allen Maßnahmen liegt der gemeinsame Ansatz zu- die ÖV-Unternehmen. Allerdings würde auch aus grunde, über Begrenzungen der Mobilität zwi-schen- Maßnahmen zur Fahrgaststeigerung ein Zielkonflikt menschliche Kontakte zu reduzieren und damit die entstehen: Zwischen einem von vielen Personen ge- Übertragungswege zu kappen. Analysiert werden die nutzten ÖV und der Kontaktbegrenzung als Schutz- Auswirkungen auf die Bewegungen (Mobilität). Die- maßnahme. In diesem Papier soll ein Anstoß zu einer
5 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Diskussion über die Ziele gegeben werden, was der cking-Stichprobe erfasst wurden, reichen über einen ÖV während der Pandemie leisten kann und sollte. Radius von 15 Kilometern über das Gemeindegebiet Für dieses Vorhaben eignen sich die im Projekt MO- hinaus. Gerade in Großstädten wie Berlin mit einer BICOR erhobenen Daten in besonderem Maße. Denn großflächigen Ausdehnung finden die Wege und da- es handelt sich um individuelle Verhaltensdaten, mit die sozialen Kontakte hauptsächlich innerhalb die Informationen über kleinräumige Bewegungen des Stadtgebiets statt. Die Zahlen für das deutlich bieten und dabei zweck- und aufenthaltsbezogen kleinere Münster als Vergleichsstadt fallen nur un- ausgewertet werden können. Die Daten wurden in wesentlich höher aus. Die bisher wirksamen Maß- zwei Wellen im Panel-Ansatz repräsentativ für die nahmen und Empfehlungen führen also bereits dazu, deutsche Wohnbevölkerung ab 16 Jahren erhoben. dass die Menschen ihre Mobilität begrenzen, das Die Befragungen fanden im Mai/Juni und Oktober/ zeigt ein Vergleich mit den Zahlen aus dem Januar November 2020 statt und werden durch eine konti- und Februar 2020. Und selbst bei einem 5-Kilometer- nuierliche Beobachtung der Mobilität über eine Tra- Radius wären nur rund 5 Prozent der Wege in Berlin cking-Stichprobe mit Hilfe der mobico-App (https:// und Münster von dieser Einschränkung betroffen. www.mobicoapp.de/) von MOTIONTAG ergänzt. Ähnliches gilt für die nächtliche Ausgangssperre. Sie Im Folgenden wird ein Überblick über die zentralen hat nur geringe direkte Auswirkungen auf die All- Ergebnisse zu den Potenzialen von Homeoffice und tagsmobilität der Personen ab 16 Jahren. Der größte Bewegungseinschränkungen, sowie zur Rolle des ÖV Teil der Bevölkerung ist zwischen 22:00 und 5:00 Uhr in der Pandemie gegeben: nicht außer Haus unterwegs, folgt also den Empfeh- lungen und Verhaltensregeln, ohne dass zuvor kon- 1. Begrenzung der Bewegungsradien und nächt- krete Verordnungen in Kraft getreten sind. Diskutiert liche Ausgangssperren können die Mobilität, wie werden sollte aber, ob solche Einschränkungen zu sie sich aktuell darstellt, nur in geringem Umfang einem Akzeptanzverlust bei den wichtigen und auch weiter reduzieren. nachweislich wirksamen Maßnahmen führen könn- Nur ein geringer Anteil der Wege, die mit der Tra- ten. etwa 1% der betrachteten Wege in Berlin verlassen den 15-Kilo- meterradius um das Gemeindegebiet. In Münster sind es 3 %.
6 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 2. Homeoffice: Ein gleich zweifach wirksames sonen, wie es die MOBICOR-Daten für den Oktober Instrument dessen Potenzial ausgeschöpft werden aufzeigen. Vor diesem Hintergrund ist der Empfeh- sollte? lungscharakter dieser Maßnahme zu diskutieren. Es Abgesehen von drastischen Kontaktreduzierungen ist durchaus fraglich, ob harte Restriktionen wie z.B. am Arbeitsplatz und auf dem Weg dorthin, kann das eine Pflicht zum Homeoffice sowohl für Arbeitgeber Arbeiten im Homeoffice auch die alltäglichen Bewe- als auch Arbeitnehmer, die Wirksamkeit dieser Maß- gungsradien der Menschen räumlich begrenzen. Die- nahme weiter erhöhen, also eine Reduzierung der se Homeoffice-bedingte Verlagerung auf Nahmobili- Kontaktsituationen aufgrund weniger Mobilität, er- tät könnte helfen das Infektionsgeschehen räumlich reichen könnte. leichter einzudämmen. Da jenseits der Arbeit jedoch ungefähr genauso viele Wege zurückgelegt wer- 3. Fokus ÖV: Was soll der ÖV in der Pandemie leis- den wie bei den Personen, die weiterhin in Präsenz ten? arbeiten, kann nicht erwartet werden, dass sich die Die Nutzung des Homeoffice ist nicht für alle Berufs- Kontaktsituationen außerhalb des Arbeitskontextes gruppen gleichermaßen möglich. Vor diesem Hin- durch Homeoffice verringern lassen. Diese Maßnah- tergrund würde eine Umsetzung der Vorschläge zur me sollte also nur Bestandteil eines umfassenden Begrenzung der Fahrgastzahlen im öffentlichen Ver- Maßnahmen-Pakets sein. Dabei ist auch zu beachten, kehr gerade diejenigen vor weitere Herausforderun- dass bestimmte Personengruppen, beispielsweise gen stellen, die keinen Zugang zum Homeoffice ha- aus einkommensschwachen Haushalten, kaum von ben. Die MOBICOR-Daten zeigen, dass es im Oktober Homeoffice profitieren können. Das theoretische und November 2020 vor allem Personen mit nied- Potenzial für den Anteil der Erwerbstätigen, die im rigem Einkommen sind, die den ÖPNV überhaupt Homeoffice arbeiten könnten, variiert je nach Quel- noch und gerade zu beruflichen Zwecken nutzten. lenlage. Das ifo beziffert es auf 56 Prozent (Alipour Andererseits: Wenn nur wenige Menschen das ÖV- et al. 2020) und damit um 30 Prozent über dem Ni- Angebote wahrnehmen, verringert sich das Infekti- veau der tatsächlich im Homeoffice arbeitenden Per- onsrisiko und die verbliebenen Fahrgäste sind besser 20 % der Erwerbstätigen haben im Oktober/November 2020 von zu Hause gearbeitet
7 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 geschützt. Damit stellen die aktuellen Maßnahmen gen Gemeindegebiets liegt. Die Auswirkungen wer- zur Eindämmung der Pandemie die mittel- und lang- den im Vergleich der Städte Berlin und Münster be- fristigen Ziele der Verkehrswende in Frage. Hier ist trachtet. Damit werden einerseits unterschiedliche eine Diskussion über die Ziele zu führen, was der ÖV Gemeindegrößen mit in den Blick genommen: Die während der Pandemie leisten soll, ob ein Mehr oder Metropole Berlin besitzt etwa die dreifache Fläche ein Weniger an Fahrgästen gewünscht ist und mit der Großstadt Münster. Andererseits ist die Wahl der welchen Maßnahmen sich diese Ziele erreichen las- Städte mit der Fallzahl an Tracking-Teilnehmenden sen. Eine notwendige, aber bislang fehlende Grund- in Berlin und Münster begründet. Für diese lagen lage zur Diskussion dieser Fragen ist eine realistische ausreichend Daten von Tracking-Teilnehmenden und zuverlässige Abschätzung zum Infektionsge- vor, was für kleinere Gemeinden, in welchen die dis- schehen und Infektionsrisiko in den öffentlichen Ver- kutierte 15-km-Regel im angegebenen Zeitraum be- kehrsmitteln. reits galt, nicht zutraf. Insgesamt werden für den ge- wählten Zeitraum rund 210.000 Wege ausgewertet. AUSWIRKUNGEN EINER BEGRENZUNG DES Die Trackingdaten sind nicht repräsentativ, verallge- BEWEGUNGSRADIUS AUF DIE MOBILITÄT meinernde Aussagen müssen deshalb mit größerem Fehlerspielraum gelesen werden, geben aber wich- tige Hinweise, die in den Diskursen zu den Corona- Im Bund-Länder-Beschluss vom 5. Januar 2021 wur- Schutzmaßnahmen Berücksichtigung finden sollten. den zusätzliche Maßnahmen zur Begrenzung der In- fektionsdynamik vereinbart. Eine davon begrenzt den Bewegungsradius auf 15 Kilometer um den Wohnort, wenn in Landkreisen die 7-Tages-Inzidenz auf über 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen Anteil der „15-Plus-Wege“ in Berlin und Münster entlang der drei betrachteten Phasen und Einwohnern ansteigt (vgl. Bundesregierung Anteil der Wege, die den 15-Kilometerradius überschreiten. 2021). Die genaue Ausgestaltung obliegt den Bun- Angaben in Prozent (Mittelwerte pro Phase) desländern. Und auch in der praktischen Anwendung ergeben sich für die Bewohnerinnen und Bewohner betroffener Gemeinden große Unterschiede in der tatsächlichen Beschränkung abhängig von der Größe und der Lage der Gemeinde, zum Beispiel in Grenznä- 5 he. Doch unabhängig davon ist mit dieser Maßnah- me ein Eingriff in die Bewegungsfreiheit und damit 4 in die Grundrechte gegeben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie wirksam eine solche Maß- 3 3 nahme sein kann und wie weit sie die alltägliche Mo- bilität beeinflusst. Für die Analysen werden die im MOBICOR-Projekt 1 1 und im Projekt „Münster bewegt“ erhobenen Tra- ckingdaten genutzt. Die Trackingdaten sind für einen 01.11-15.12.2020 16.12-01.01.2021 02.01-24.01.2021 solchen Vergleich besonders geeignet, da sich auf- grund der räumlichen Abbildung der Bewegungen Berlin Münster genau die Wege identifizieren lassen, die über den 15 Kilometerradius hinausreichen. Betrachtet wer- Datenbasis: rund 210.000 Wege im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt) den alle Wege im Zeitraum vom 1.11.2020 bis zum Quelle: MOBICOR und „Münster bewegt“(ein Projekt von MOTIONTAG in Kooperation mit der Deutschen Bahn (https://muenster-bewegt.de/)) 24.1.2021, deren Startpunkt innerhalb des jeweili-
8 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 ZUR DYNAMIK DER MOBILITÄT WÄHREND DES „CORONA-JAHRES 2020“ UND DARÜBER HINAUS Im MOBICOR-Projekt wurden bislang zwei reprä- überwunden zu sein und es lassen sich erste sentative Befragungen durchgeführt, im Frühjahr Anzeichen einer wieder ansteigenden Mobilität und im Herbst 2020. Beide Wellen waren von erkennen. einer hohen Dynamik im Mobilitätsgeschehen gekennzeichnet. Während der Feldzeit der ersten Die Abbildung (auf Seite 9 unten) zeigt die jewei- Welle wurde nach und nach der harte Lockdown ligen Tageskilometer pro Tag und Person entlang aufgehoben. Die zweite Welle fand unmittel- der genutzten Verkehrsmittel. Dabei lässt sich bar vor dem Beginn des zweiten Lockdowns im erkennen, dass sich insbesondere während der Herbst und Winter 2020/2021 statt, wurde also Lockdown-Phasen der Verkehrsmittelmix zu- unter dem Eindruck steigender Infektionszah- gunsten des Autoverkehrs verschoben hat. Die len und nahender Einschränkungen des Alltags Anteile des ÖV hingegen haben sich überpro- und damit auch der Mobilität durchgeführt. Um portional reduziert. Am Ende der Zeitreihe zeigt diese Dynamiken besser einordnen zu können, sich nun eine Zunahme der täglichen Kilometer werden die Befragungen durch ein Mobilitätstra- pro Person. Das gilt besonders für die Nutzung cking ergänzt. Dazu werden Tracking-Daten von des Autos, während der ÖV-Anteil gering bleibt. MOTIONTAG genutzt, die für das gesamte Jahr Die Maßnahmen zur Eindämmung des Infekti- 2020 bis zum aktuellen Zeitpunkt zur Verfügung onsgeschehens haben auch zu einem anhalten- stehen und das Mobilitätsgeschehen kontinuier- den Rückgang der ÖV-Nutzung geführt. Diese lich abbilden. Ergebnisse legen nahe, dass frühzeitig Konzepte entwickelt werden sollten, um den ÖV nach der Die Abbildung (auf Seite 9 oben) zeigt die Unter- Pandemie wieder zu stärken. wegszeit pro Tag und Person entlang der genutz- ten Verkehrsmittel an. Dabei lässt sich zum einen Das Mobilitätstracking bietet über diese Zeitrei- erkennen, dass die Unterwegszeit im Frühjahr henanalysen hinaus vielfältige Auswertungs- sehr plötzlich, im Herbst dagegen langsamer möglichkeiten. Die Analyse von Bewegung im zurückgegangen ist. Im Frühsommer zeigt sich Raum, zum Beispiel zur Abschätzung der Wir- dann ein sehr hohes Mobilitätsniveau, dass über kung begrenzter Bewegungsradien, findet in die gewöhnliche Unterwegszeit hinausweist. diesem Bericht Anwendung. Mit der Analyse von Als Referenzwert dienen hier die Monate Januar Aufenthaltsorten (POI-Analysen), Relationen oder und Februar, jahreszeitliche Effekte bleiben dabei differenzierte Betrachtungen von Intermodalität allerdings unberücksichtigt. Dieses Mobilitäts- können weitere wichtige Erkenntnisse über die hoch hält bis zum Beginn des Oktobers an und Dynamik der Mobilität in Zeiten der Corona- verringert sich dann langsam. Zu Beginn des Pandemie gewonnen werden. Um sich an dem Jahres 2021 wurde ein neuer Tiefpunkt erreicht, Mobilitätstracking zu beteiligen, kann die mobi- der dabei weniger deutlich ausfällt, als es im co-App aus den Apple App-Store oder Play Store Frühjahr 2020 zu beobachten war. Die Dauer der für Android heruntergeladen werden. Weitere Phase eingeschränkter Mobilität ist im Herbst Informationen zur mobico-App finden Sie hier: und Winter dagegen deutlich länger. Gegen Ende https://www.mobicoapp.de/ Februar 2021 scheint die ausgedehnte Talsohle
9 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Unterwegszeit pro Tag und Person Angaben in Stunden pro Person und Tag 16.12. verschärfter Lockdown 04.05. deutliche Reduzierung Shutdown 02.11. Lockdown Light 11.04. Ostersamstag 16.03. Beginn Shutdown 2,5 Fahrrad zu Fuß 2,0 ÖV Auto 1,5 MiD-Baseline (Mobilität in Deutschland 1,0 infas, BMVI) 0,5 0,0 01.08.2020 01.09.2020 01.02.2020 01.03.2020 01.05.2020 01.01.2021 01.02.2021 01.01.2020 01.04.2020 01.06.2020 01.07.2020 01.10.2020 01.11.2020 01.12.2020 Datenbasis: rund 2.000 Personen bundesweit im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt) Tageskilometer pro Person Angaben in Mittelwerten (Kilometer pro Person) 16.12. verschärfter Lockdown 04.05. deutliche Reduzierung Shutdown 02.11. Lockdown Light 90 11.04. Ostersamstag Fahrrad 16.03. Beginn Shutdown zu Fuß 80 ÖV 70 Auto 60 MiD-Baseline 50 (Mobilität in Deutschland infas, BMVI) 40 30 20 10 0 01.08.2020 01.09.2020 01.02.2020 01.03.2020 01.05.2020 01.01.2021 01.02.2021 01.01.2020 01.04.2020 01.06.2020 01.07.2020 01.10.2020 01.11.2020 01.12.2020 Datenbasis: rund 2.000 Personen bundesweit im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt)
10 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Im angegebenen Zeitraum sind zwei Ereignisse zu Deutlich wird, dass die 15-Plus-Wege nur einen berücksichtigen: Das Inkrafttreten der verschärften geringen Anteil von maximal 5 Prozent an der Ge- Corona-Maßnahmen zum 16.12. sowie die Feiertage samtzahl der Wege umfassen. In Münster sind die über Weihnachten und Neujahr. Aus diesem Grund Werte in allen drei Phasen höher als in Berlin, was ist der Zeitraum in drei Phasen unterteilt: Die ers- für eine stärkere Stadt-Umland-Verflechtung spricht te Phase des „Lockdown light“ vom 1.11.20 bis zum und zudem die unterschiedlichen Gemeindegrößen 15.12.20 umfasst zunächst nur geringe Einschrän- zum Ausdruck bringt. kungen. Die zweite Phase vom 16.12.20 bis 1.1.21 ist durch das Inkrafttreten der verschärften Maßnah- In Münster liegt die Schwankungsbreite der 15-Plus- men, aber auch von den Feiertagen zu Weihnachten Wege innerhalb der betrachteten Zeiträume zwi- und Neujahr gekennzeichnet. Der Zeitraum vom schen 3 und 5 Prozent, in Berlin ist sie mit Werten 2.1.21 bis zum 24.1.21. kann als Alltag unter ver- zwischen 1 und 3 Prozent deutlich geringer. Die schärften Corona-Schutzmaßnahmen bezeichnet höchsten Werte werden jeweils in der zweiten Pha- werden. Die Abbildung auf Seite 7 unten zeigt den se, im Zeitraum vom Inkrafttreten der verschärften prozentualen Anteil der Wege, die jenseits des 15 Maßnahmen bis Neujahr erzielt. Dieser Zeitraum Kilometerradius lagen und von der Maßnahme be- ist durch vermehrte Besuche von Verwandten und troffen wären. Diese werden im weiteren Bericht als Freundinnen und Freunden geprägt, die oft mit „15-Plus-Wege“ bezeichnet. Reisen verbunden sind. Ab dem 2. Januar sinkt der Anteil auf 1 Prozent in Berlin und auf 3 Prozent in Münster. In Berlin wäre damit nur jeder 100. Weg, Anteile der 15-Plus-Wege in Berlin und Münster Angaben in Prozent (Mittelwerte pro Tag) Lockdown light Lockdown und Feiertage Lockdown und Alltag 12 10 8 6 4 2 Berlin 0 Münster 03.01.2021 10.01.2021 17.01.2021 24.01.2021 27.12.2020 01.11.2020 08.11.2020 15.11.2020 22.11.2020 29.11.2020 13.12.2020 20.12.2020 06.12.2020 Datenbasis: rund 210.000 Wege im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt) Quelle: MOBICOR und „Münster bewegt“(ein Projekt von MOTIONTAG in Kooperation mit der Deutschen Bahn (https://muenster-bewegt.de/))
11 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 in Münster jeder 33. Weg von den Einschränkungen meterradius überschritten, in Berlin etwa jeder 14. betroffen. Weg. An Silvester und Neujahr ist hingegen kein deutlicher Anstieg der 15-Plus-Wege zu erkennen. Die Abbildung auf Seite 10 gibt Auskunft über die Mit Beginn des neuen Jahres sinkt ihr Anteil unter Entwicklung des Anteils an 15-Plus-Wegen im Zeit- das Niveau der beiden Vormonate. verlauf. Die ausgewiesenen Daten auf der x-Achse markieren die Sonntage im betrachteten Zeitraum. Ein Vergleich der genutzten Verkehrsmittel auf den Auf der vertikalen y-Achse ist der durchschnittliche 15-Plus-Wegen zeigt einen höheren Anteil des MIV Anteil an Wegen abgebildet, die am jeweils betrachte- gegenüber dem ÖV (Abbildung auf Seite 12 oben). ten Tag den Radius von 15 Kilometern überschritten Wieder ist auf der y-Achse der mittlere Anteil an We- haben. Im Zeitverlauf zeigt sich, dass an Wochenen- gen abgebildet, die in der jeweils betrachteten Phase den und Feiertagen der Anteil der 15-Plus-Wege ge- den Radius von 15 Kilometern überschritten. Wie genüber den Anteilen an gewöhnlichen Werktagen sich zeigt ist die Differenz zwischen MIV und ÖV in deutlich ansteigt. Es ist zu vermuten, dass dieser Un- Münster deutlicher ausgeprägt als in Berlin. Insbe- terschied auf Freizeitaktivitäten wie Ausflugsfahrten sondere in Phase 2, die den Beginn des Lockdowns und Besuche zurückzuführen ist. Das zeigt sich in bis zum Anfang des neuen Jahres abbildet, steigt der Berlin besonders deutlich am 13. und 20. Dezember. MIV-Anteil in Münster enorm an und erreicht im Weiter lässt sich in beiden Städten am 24. Dezember Mittel einen Anteil von 4 Prozent an allen Wegen. ein extremer Ausschlag erkennen. In Münster hat an Der ÖV bleibt in dieser Phase in Münster hingegen diesem Tag mehr als jeder zehnte Weg den 15 Kilo- unverändert. In Berlin steigen die MIV- und ÖV-
12 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Verkehrsmittelanteile (MIV, ÖV) auf 15-Plus-Wegen in Berlin und Münster Angaben in Prozent (Mittelwerte pro Phase) 4,00 3,50 3,00 2,50 2,00 1,50 MIV (Berlin) 1,00 ÖV ( Berlin) 0,50 MIV (Münster) 0,00 ÖV ( Münster) 01.11.2020-15.12.2020 16.12.2020-01.01.2021 02.01.2021-24.01.2021 Datenbasis: rund 210.000 Wege im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt) Quelle: MOBICOR und „Münster bewegt“(ein Projekt von MOTIONTAG in Kooperation mit der Deutschen Bahn (https://muenster-bewegt.de/)) Anteil der 15-Plus-Wege und 5-Plus-Wege für Berlin und Münster Angaben in Prozent (Mittelwerte pro Tag) 16 14 12 10 8 15-Plus-Wege Berlin 6 5-Plus-Wege Berlin 4 15-Plus-Wege Münster 2 5-Plus-Wege 0 Münster 03.01.2021 10.01.2021 17.01.2021 24.01.2021 27.12.2020 01.11.2020 08.11.2020 15.11.2020 22.11.2020 29.11.2020 13.12.2020 20.12.2020 06.12.2020 Datenbasis: rund 210.000 Wege im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt) Quelle: MOBICOR und „Münster bewegt“(ein Projekt von MOTIONTAG in Kooperation mit der Deutschen Bahn (https://muenster-bewegt.de/))
13 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Anteile in dieser Phase gleichmäßig an. Mit Beginn kraft der vorliegenden Daten berücksichtigen. Dabei des neuen Jahres dreht sich in Berlin das Verhältnis unterstützen die Ergebnisse die Aussage, dass der He- zwischen den Verkehrsmitteln um und der ÖV- über- bel zur Begrenzung des Infektionsgeschehens durch steigt den MIV-Anteil an den 15-PlusWegen. die Begrenzung des Bewegungsradius eher gering ist, auch wenn die wichtige Information über die An- Wie zuvor erwähnt, ist der Anteil der 15-Plus-Wege zahl der Kontakte, die mit der Maßnahme reduziert an Wochenenden und Feiertagen höher als an ge- würden, fehlt. Dementsprechend wäre auch eine In- wöhnlichen Werktagen. Die Abbildung auf Seite 13 terpretation der Ergebnisse möglich, dass trotz der unten veranschaulicht diesen Umstand und zeigt für geringen Anzahl an Wegen, die den 15-Kilometer-Ra- Berlin einen dreimal so hohen Anteil. In Münster be- dius überschreiten, das Virus über Landkreisgrenzen trägt der Unterschied wie in Berlin 2 Prozentpunkte, hinaus verbreitet werden könnte, wenn diese von bewegt sich aber auf einem höheren Niveau. hochgradig ansteckenden Personen erbracht werden. Diese Perspektive spielt vor allem bei der Eindäm- In der Diskussion um Maßnahmen, die auf die Ein- mung lokaler Cluster und bei großen Unterschieden dämmung des Corona-Virus abzielen, haben Exper- in den Infektionszahlen eine wichtige Rolle. tinnen und Experten gefordert, den Radius auf fünf Kilometer zu begrenzen, damit der Inzidenzwert Zu diskutieren, möglichst auch mit Empirie zu hinter- schneller sinkt und Neuinfektionen wirkungsvoller legen, wäre die Frage, welche symbolische Wirkung unterbunden werden. Die Abbildung auf Seite 12 von der Maßnahme ausgeht. So kann einerseits eine unten zeigt den Anteil der Wege, die davon betroffen höhere Compliance erzielt werden, da mit der Maß- wären. Dabei lässt sich erkennen, dass die Anteile nahme auch ein dringendes Handlungserfordernis weiter ansteigen und dabei in Berlin einen Durch- schnitt von etwa 5 Prozent, in Münster von etwa 6 Anteil der 15-Plus-Wege nach Wochentagen Prozent erreichen. Wird nur der Zeitraum ab dem Angaben in Prozent (Mittelwerte) 2.1.21 betrachtet, so sinkt der Wert für Berlin unter 5 Prozent, für Münster auf 5 Prozent. Insgesamt zeigt die Analyse der Daten, dass nur ein 5 geringer Anteil an allen Wegen von einer Begrenzung des Bewegungsradius betroffen wäre. Insbesondere ab dem Jahresbeginn scheint sich die Mobilität zu- nehmend ins wohnräumliche Umfeld zu verlagern. 3 3 Auch finden viele 15- bzw. 5-Plus-Wege am Wochen- ende statt und sind damit mehrheitlich dem Segment der Freizeitwege zuzuordnen. Der hohe Anteil an Fußwegen, der sich in der MOBICOR-Erhebung zeigt 1 (vgl. Follmer 2020, Follmer, Schelewsky 2020, Zehl, Weber 2020), kann als Ausdruck eines Bewegungs- Berlin Münster bedürfnisses wie auch als eine stärkere Nahraumo- rientierung interpretiert werden, um zum einen der Werktage Wochenende / Feiertage Enge von Homeoffice und zum anderen fehlenden Freizeit- und Sportmöglichkeiten zu begegnen. Eine Einschätzung der Auswirkungen auf die Verbreitung des Corona-Virus kann an dieser Stelle nur mit großer Datenbasis: rund 210.000 Wege im Tracking von MOTIONTAG (Partner im MOBICOR-Projekt) Quelle: MOBICOR und „Münster bewegt“(ein Projekt von MOTIONTAG in Kooperation mit Vorsicht erfolgen und muss die begrenzte Aussage- der Deutschen Bahn (https://muenster-bewegt.de/))
14 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 kommuniziert wird. Oder aber die Akzeptanz gegen- durchschnittliche Personen ab 16 Jahren in Deutsch- über den getroffenen Maßnahmen sinkt generell, da land berechnet. Mittel und Wirkung für die Betroffenen nicht mehr im Einklang stehen würden. Insgesamt sind von 1.000 Personen ab 16 Jahren in Deutschland rund 790 an einem Tag zu mindestens NÄCHTLICHE AUSGANGSSPERREN UND DEREN einem Weg unterwegs gewesen. Das sind rund 60 EINFLUSS AUF DIE MOBILITÄT Personen weniger als im Vergleichszeitraum 2017. Die Abbildung auf Seite 14 zeigt, wie viele Menschen Der Mobilitätsreport im Dezember 2020 hat bereits zu den verschiedenen Tageszeiten zu mindestens gezeigt, dass die Alltagsmobilität im Oktober 2020 im einem Weg aufgebrochen sind und vergleicht diese Vergleich zum Vor-Corona-Niveau weiterhin deutlich Zahlen mit dem Vor-Corona-Niveau. Dabei werden reduziert war. So wird im Folgenden der Anteil an nur Wege zur Arbeitsstelle oder Bildungseinrichtung, allen Personen ab 16 Jahre betrachtet, die im Okto- zum Einkaufen, für Erledigungen, Freizeitzwecke und ber/November 2020 zu verschiedenen Tageszeiten Begleitungen berücksichtigt. Wege, die im Rahmen zu mindestens einem Weg aufgebrochen sind. Diese der üblichen Dienstausübung unternommen wer- Analyse bietet auch eine Grundlage zur Abschätzung den (zum Beispiel regelmäßige berufliche Wege von möglicher positiver und negativer Auswirkungen ei- Paketzustellern oder Busfahrern), bleiben unberück- ner diskutierten nächtlichen Ausgangssperre, denn sichtigt. sie richtet den Blick auf jene Personen, die davon in ihrem Alltag unmittelbar betroffen wären. Um die An der grundsätzlichen Verteilung der Mobilitätsak- Daten besser fassen zu können, wurden sie für 1.000 tivitäten über den Tag hat sich nur wenig verändert. Wenn es 1.000 Deutsche ab 16 Jahre gäbe … würden so viele von ihnen pro Tageszeit zu min. 1 Weg aufbrechen Anzahl der Personen, die zu der Tageszeit mindestens 1 Weg beginnen 430 440 370 370 360 330 280 260 220 210 190 160 80 50 frühmorgens morgens vormittags mittags nachmittags abends nachts (5 bis vor 8 Uhr) (8 bis vor 10 Uhr) (10 bis vor 13 Uhr) (13 bis vor 16 Uhr) (16 bis vor 19 Uhr) (19 bis vor 22Uhr) (22 bis vor 5Uhr) MiD 2017: Oktober/November 2017 MOBICOR: Oktober/November 2020 Betrachtet werden alle Wege, außer Wege, die im Rahmen der üblichen Dienstausübung unternommen wurden, Angaben in absoluten Zahlen pro 1.000 Personen ab 16 Jahre, Werte auf ganze 10er Stelle gerundet
15 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 37 % der Menschen waren im Oktober/November 2020 maximal gleichzeitig unterwegs.
16 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Die meisten sind zwischen 10:00 Uhr und 19:00 Uhr Zu den Tagesspitzen ist die Reduktion dagegen gerin- unterwegs. Die Vor-Corona-Spitze lag zwischen 13:00 ger. Damit blieb es im Herbst 2020 zu den üblichen und 19:00 Uhr. In diesem Zeitraum brachen durch- Stoßzeiten weiter vergleichsweise voll auf den Stra- schnittlich rund 430 bzw. 440 von 1.000 Personen zu ßen und Wegen. mindestens einem Weg auf. In den Tagesrandzeiten und vor allem nachts waren deutlich weniger Men- Die Auswertung zeigt, dass eine nächtliche Aus- schen unterwegs. Zwischen 22:00 Uhr und 5:00 Uhr gangssperre nur einen kleinen Teil der Wege und begannen lediglich 80 von 1.000 Personen einen Weg. Personen betreffen würde. Geht man davon aus, dass Die Abbildung auf Seite 14 verdeutlicht auch, dass im berufsbedingte Wege und Wege zur Arbeitsstelle von Oktober/ November 2020 zu jeder Tageszeit sichtbar einer solchen Ausgangssperre ausgenommen blie- weniger Menschen unterwegs waren als im selben ben, reduziert sich diese Zahl noch einmal deutlich. Zeitraum 2017. Der Rückgang fällt in den Tagesrand- Denn berufsbedingte Wege und Wege zur Arbeits- zeiten deutlicher aus als in der Tagesmitte. In der Ta- stelle machen fast die Hälfte der nächtlichen Wege geshochzeit zwischen 13:00 und 19:00 Uhr starteten aus. Eine solche Ausgangssperre zwischen 22:00 Uhr durchschnittlich 370 bzw. 360 von 1.000 Personen und 5:00 Uhr würde auf etwa 25 von 1.000 Personen mindestens einen Weg, also 60 bis 80 Personen weni- ab 16 Jahre in Deutschland eine unmittelbare Aus- ger als im Vor-Corona-Zeitraum. In den Tagesrandzei- wirkung haben. ten und vor allem nachts sinkt der Anteil der mobilen Personen deutlich. Zwischen 22:00 Uhr und 5:00 Uhr Die Frage inwieweit ein Verbot dieser Wege positiv waren im Herbst 2020 lediglich 50 von 1.000 Perso- auf das Infektionsgeschehen wirkt, kann mit der rei- nen unterwegs. nen Personenzahl nicht genau beziffert werden. Da- bei kommt es vielmehr auf die Art der Aktivitäten an Die reduzierte Mobilität betrifft also den gesamten und es macht einen Unterschied, ob die Menschen al- Tag; sie fällt aber in den Tagesrandzeiten, zu denen lein unterwegs sind oder sich mit anderen Personen bereits vor der Corona-Pandemie vergleichsweise treffen. Da private Treffen bereits stark reglementiert wenige Menschen unterwegs waren, deutlicher aus. sind, ist ein weiterer direkter positiver Effekt auf das Infektionsgeschehen durch eine nächtliche Aus- gangssperre eher nicht zu erwarten. ÜBER DEN TELLERRAND GESCHAUT: RAUS AUS DEM KONJUNKTIV, REIN INS HOME-OFFICE? Physische Kontakte und damit das Ansteckungsrisiko zu reduzieren, ist das Hauptziel der Corona-Maßnah- men. Gleichzeitig sollen dabei das tägliche Leben und die sozialen Begegnungen weitestgehend erhalten bleiben. Virtuelle Mobilität ermöglichst dies, indem alltägliche Wege durch digitale Alternativen ersetzt werden: Onlineshopping statt Einkaufsbummel, Videochat statt realem Treff und Homeoffice statt Pendeln in den Betrieb. Bei letztgenanntem scheiden sich jedoch die Geister, wenn es um die Umsetzung geht. So wurde von einer Homeoffice-Pflicht bislang abgesehen, da u.a. die Produktivität des Zuhause Ar- beitens in Frage gestellt wurde.
17 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Dennoch haben einige Arbeitgeber das Arbeiten von Bereich bis 15 Kilometer. Die mittlere Weglänge be- zuhause als Option oder sogar obligatorisch einge- trägt bei ihnen mit knapp 6 Kilometern (schwarze führt. Etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen gaben in Linie in Abbildung Seite 17) fast 2 Kilometer mehr als der jüngsten MOBICOR-Erhebung im Oktober und bei den zuhause Arbeitenden. Längere Wege entfal- November 2020 an, ganz oder überwiegend von zu- len also oder werden durch kürzere ersetzt. hause zu arbeiteten. Im Schnitt verbrachten sie dabei 3,8 Tage pro Woche am heimischen Schreibtisch. Für Im Mittel sparen Personen, die zuhause arbeiten, 19 sie war das Homeoffice zu diesem Zeitpunkt bereits Minuten pro Tag bei den Arbeitswegen ein. Sie sind Alltag: 97 Prozent von ihnen waren bereits in der ers- jedoch mit durchschnittlich 73 Minuten nur 7 Mi- ten MOBICOR-Erhebung im Mai 2020 im Homeoffice. nuten weniger außer Haus als zur Arbeit pendelnde In erster Linie entfallen dadurch natürlich Arbeits- Menschen. Die gewonnene Zeit wird zum Beispiel und Dienstwege. Eine Person im Homeoffice spart durch häufigere und längere Spaziergänge ausgegli- 72 Prozent dieser Wege ein. Darüber hinaus lassen chen (Abbildung auf Seite 18). Ansonsten hat das Ar- sich jedoch auch Veränderungen der Mobilitätsmus- beiten von zuhause wenig Einfluss auf die Verkehrs- ter abseits der Arbeit beobachten. So fällt beispiels- mittelwahl. Durch die wegfallenden Arbeitswege weise der mittlere Einkaufsweg mit 2 Kilometern nehmen Fußwege nun jedoch einen deutlich größe- um einen Kilometer kürzer aus als bei Pendlerinnen ren Anteil am Modal Split ein: 35 Prozent der Wege und Pendlern. Einkäufe werden zudem seltener auf werden zu Fuß zurückgelegt, etwa doppelt so viele dem Arbeitsweg erledigt, sondern als separate Tour wie bei Pendlerinnen und Pendlern. Bei mehr als der in Wohnortnähe. Diese insgesamt kleineren Bewe- Hälfte der im Homeoffice Beschäftigten mit eigenem gungsradien zeigen sich durch einen Vergleich der Auto blieb dieses am Stichtag ungenutzt. Verteilung der Weglängen (Abbildung Seite 17): Bei Homeoffice-Nutzenden sind 75 Prozent der Wege Was die MOBICOR-Daten aus Oktober und November kürzer als 10 Kilometer. Bei Pendlerinnen und Pend- darüber hinaus verraten: Es könnten potenziell deut- lern verteilen sich diese 75 Prozent bereits auf einen lich mehr Beschäftigte von zuhause arbeiten als es Boxplot zur Verteilung der Wegelängen nach Homeoffice-Nutzung (MOBICOR Oktober/November 2020; Personen ab 16 Jahren) Angaben in Wegekilometer der einzelnen Wege Verteilung der Weglängen nach Homeoffice-Nutzung ganz oder überwiegend im Homeoffice kein oder vereinzelt Homeoffice 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50
18 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 bislang der Fall ist. Ob die Erwerbsarbeit ins Home- fund liegt damit auf ähnlichem Niveau wie der vom office verlagert werden kann, hängt dabei maßgeb- ifo-Institut berechnete Wert von 56 Prozent (vgl. Ali- lich vom jeweiligen Tätigkeitsprofil ab. So lassen pour et al. 2020). sich Arbeiten am Computer und Telefon leichter von zuhause erledigen als manuelle Tätigkeiten (Merge- Das Homeoffice erfüllt seinen Zweck als Corona- ner 2020). Vor diesem Hintergrund wurden in der Schutzmaßnahme gleich in zweifacher Hinsicht: Es jüngsten MOBICOR-Erhebung auch die beruflichen werden physische Kontakte am Arbeitsplatz und auf Tätigkeitsfelder in fünf Kategorien abgefragt. Die Arbeitswegen drastisch reduziert. Gleichzeitig ließe verwendete Kurzskala weist eine hohe Erklärungs- sich das etwaige Infektionsgeschehen, so ist zu ver- kraft für die Homeoffice-Nutzung auf und erlaubt muten, durch die kleineren Bewegungsradien räum- darüber hinaus auch das ungenutzte Potenzial abzu- lich effektiv begrenzen und somit potenziell leichter schätzen: Neben den 20 Prozent, die bereits ganz oder eindämmen. Indem aber der tatsächlich genutzte überwiegend von zuhause arbeiten, stehen weitere Homeoffice-Anteil deutlich hinter seinen Möglich- 30 Prozent mit ausschließlich kognitiven Tätigkeiten, keiten bleibt (30 Prozent) und im Jahresverlauf 2020 welche am Computer ausgeübt werden. Die andere sogar sank (Zehl, Weber 2020), werden diese poten- Hälfte der Erwerbstätigen arbeitet entweder gänzlich tiellen Chancen vertan. Weitere Investitionen und ohne Computer oder benötigt wenigstens teilweise Zuschüsse für eine Verbesserung der digitalen Infra- spezielle Geräte oder Räumlichkeiten (Abbildung Sei- struktur, sowohl in privaten Haushalten als auch in te 18). Damit kann von einem Homeoffice-Potenzial den Betrieben, könnten dazu beitragen den Anteil zu von circa 50 Prozent ausgegangen werden. Dieser Be- erhöhen. Da das Homeoffice aber nur eine ergänzende Häufigkeit und Länge der Spaziergänge nach Anteil der Personen die (nicht) ins Homeoffice wechseln Homeoffice-Nutzung könnten (MOBICOR Oktober/November 2020) Angaben in Prozent; Personen ab 16 Jahren Homeoffice-Potenzial auf Basis der Tätigkeiten Spaziergänge 0,5 5 20 0,4 4 Kilometer pro Spaziergang Anzahl pro Person pro Tag 0,3 3 50 0,2 2 30 0,1 1 Berlin 0,0 0 kein Zugang kein oder selten Homeoffice Potenziell Homeoffice ganz oder überwiegend im Homeoffice Homeoffice genutzt
19 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Maßnahme eines umfassenden Maßnahmen-Pakets globalen Pandemie, Sorgenkind und Stellschraube sein kann, muss diskutiert wer-den, ob eine Pflicht zugleich. Wurde im Frühjahr und Sommer 2020 mit zum Homeoffice für Arbeitgeber wirklich einen po- reduzierten Regionalverbindungen eher auf die sin- sitiven Beitrag auf das Pandemiegeschehen ausüben kenden Fahrgast- als auf die steigenden Corona-Fall- könnte. Dies ist einerseits insofern fraglich, als dass zahlen reagiert, verlässt sich der Gesetzgeber zurzeit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die ihnen er- auf die allgemeinen Hygieneregeln in Bus und Bahn: möglichte Arbeit am heimischen Schreibtisch auch Abstand halten und Maske tragen, außerdem alle Tü- annehmen müssten. Andererseits wird es nie allen, ren zum Ein- und Ausstieg nutzen. Da die Infektions- sondern nur einem Teil der Bevölkerung möglich zahlen aber nach wie vor zu hoch sind und ein Beitrag sein, von zuhause aus zu arbeiten. Dass Homeoffice des öffentlichen Verkehrs auf das Infektionsgesche- also trotz aller Vorteile die Gefahr birgt, bestehende hen nicht ausgeschlossen werden kann, rücken mit soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft noch wei- Beginn des neuen Jahres zusätzliche Maßnahmen im ter zu verschärfen, ist ein potentielles Problem das in ÖV in den Fokus. Das oberste Ziel, die Kontaktredu- kommenden Maßnahmendiskussion zum Homeof- zierungen im Blick, wird die konkrete Forderung nach fice nicht unberücksichtigt bleiben sollte. „weniger Menschen im öffentlichen Verkehr“ auch vom Bundeskanzleramt unterstützt. Zur Diskussion STELLSCHRAUBE ÖFFENTLICHER VERKEHR? steht dabei die Idee der Göttinger Forscherin Viola Priesemann, die Auslastung im ÖPNV auf ein Drittel Seit Beginn der Corona-Krise ist der öffentliche Per- zu begrenzen (Redaktionsnetzwerk Deutschland). sonentransport, mit Blick auf die Auswirkungen der
20 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Dabei ist nicht nur das Verkehrsaufkommen in Bus- im Rauschen des geringen ÖPNV-Verkehrsaufkom- sen und Bahnen im Vergleich zum Corona-freien Jahr mens in der Stichprobe unbeobachtet blieben. Damit 2017 bereits deutlich zurückgegangen (vgl. Follmer scheint der erst kürzlich getätigte Appell an die ver- 2020, Follmer, Schelewsky 2020, Zehl, Weber 2020). bliebenen ÖV-Nutzenden, „Fahrten mit dem ÖPNV, Auch veranschaulichen die jüngsten MOBICOR-Da- wenn möglich auf außerhalb der üblichen Stoßzei- ten, dass sich die Wege im öffentlichen Nahverkehr ten [zu legen]“ das aktuelle Fahrgastaufkommen zu bereits weniger stark zu bestimmten Tagesstunden den gewöhnlichen Verkehrsspitzen zu überschätzen. kumulieren. Nachfolgende Abbildung (Seite 20) spie- gelt den prozentualen Anteil der per ÖV, Rad, Fuß Trotz der geringen Fahrgastzahlen im ÖPNV und auch und MIV zurückgelegten Wege zu verschiedenen im ÖV wird aktuell über zusätzliche Stell-schrauben Uhrzeiten wider. Im Gegensatz zum MIV sowie zum diskutiert, um weniger Kontaktsituationen im öf- Fuß- und Radverkehr sind im Herbst 2020 keine deut- fentlichen Verkehr zu erreichen. Die begrenzte Fahr- lichen Tagesspitzen und damit Stoßzeiten im ÖPNV gastbesetzung von Bussen und Bahnen resultiert aus erkennbar. Somit gleichen die vor Corona, im Oktober der Idee, „wenn die Schulen geschlossen seien, und 2017, erkennbaren Morgen- und Feierabendspitzen wenn die meisten Menschen im Homeoffice arbeite- der ÖPNV-Tagesganglinien unter dem Einfluss der ten, dann könne man die Auslastung des ÖPNV redu- Corona-Pandemie eher einem von morgens bis in die zieren und habe dadurch einen zusätzlichen Effekt“ Feierabendstunden reichenden Plateau (Abbildung (ebd.). Diese Überlegung grenzt aber all diejenigen Seite 21). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass systematisch aus, die weder zur Schule gehen noch mögliche Stoßzeiten im öffentlichen Nahverkehr im Homeoffice arbeiten (können). Dass dabei gerade Startzeiten der Wege im Tagesverlauf nach Verkehrsmittel MOBICOR-Oktober und -November, Angaben in Prozent, Personen ab 16 Jahre 30 zu Fuß Fahrrad 25 MIV-Fahrer ÖPNV 20 18 20 17 19 17 15 10 8 5 2 0 5.00 - 7.59 8.00 - 9.59 10.00 - 12.59 13.00 - 15.59 16.00 - 18.59 19.00 - 21.59 22.00 - 4.59 Tagesstunden Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
21 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 die Bedeutung des ÖPNV für viele Arbeitnehmerin- Charakteristiken mit denjenigen, die den ÖPNV ver- nen und Arbeitnehmer nicht zu unterschätzen ist, stärkt nutzen. Wird der Modal Split entlang verschie- zeigt sich in den MOBICOR-Daten (Abbildung Seite dener sozialer Dimensionen betrachtet (Abbildung 22 oben): 58 Prozent der im Oktober/November 2020 Seite 22 unten), fällt nicht nur auf, dass vor den Schul- getätigten ÖPNV-Wege beginnen oder enden an der schließungen im Oktober/November 2020 verstärkt Ausbildungs- oder Arbeitsstätte. Dieser Anteil lag Menschen unter 30 Jahren, Personen im Rentenalter vor Corona, im Oktober 2017, noch bei 49 Prozent. sowie Frauen im ÖPNV fuhren. Vielmehr spaltet sich Durch die Corona-Krise tritt also vor allem die obli- der Anteil des ÖPNV am Modal Split deutlich entlang gatorische und oftmals beruflich bedingte Nutzung des verfügbaren Äquivalenzeinkommens auf. Liegt des ÖPNV in den Vordergrund. Trotz der gesunkenen der Modal-Split-Anteil der ÖPNV-Wege bei Personen Fahrgastzahlen würden Einschränkungen im Beset- mit hohem Einkommen (über 2.200 € netto) bei 2 Pro- zungsgrad von Bussen und Bahnen somit weniger zent, kommt er bei Personen mit niedrigem Einkom- Personen tangieren, die den ÖPNV zu Freizeitzwe- men (bis 1.300 € netto) auf 9 Prozent. Die Einführung cken nutzen, als vielmehr diejenigen betreffen, die von Passagierobergrenzen würde also nicht nur die auf Grund fehlender Homeoffice-Möglichkeiten für Gruppe der im Präsenzbetrieb arbeitenden Personen ihren Arbeits- und Ausbildungsweg auf den ÖPNV treffen, sondern insbesondere einkommensschwa- angewiesen sind. che Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Darüber hinaus teilen die Menschen, die nicht im Vor diesem Hintergrund wirkt die Begründung für Homeoffice arbeiten (können), bestimmte soziale die Forderung nach Passagierobergrenzen zynisch: Startzeiten der ÖPNV-Wege im Tagesverlauf – MiD-Oktober und MOBICOR-Oktober/November Angaben in Prozent, Personen ab 16 Jahre 25 ÖPNV 23 Oktober 2017 22 ÖPNV Oktober/ 20 November 2020 20 19 18 17 17 15 16 15 12 10 8 5 4 2 0 5.00 - 7.59 8.00 - 9.59 10.00 - 12.59 13.00 - 15.59 16.00 - 18.59 19.00 - 21.59 22.00 - 4.59 Tagesstunden Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr Uhr
22 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 ÖPNV-Wege im MiD-Oktober 2017 und MOBICOR-Oktober/November 2020 nach Wegezweck Angaben in Prozent; Personen ab 16 Jahren Oktober 2017 26 13 13 9 12 26 2 Oktober/ 32 16 10 9 15 16 3 November 2020 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Arbeit dienstlich Ausbildung Einkauf Erledigung Freizeit Begleitung Modal Split im MOBICOR-Oktober/November 2020 nach Äquivalenzeinkommen, Alter und Geschlecht Angaben in Prozent; Personen ab 16 Jahren Modal Split Oktober/November 2020 bis 1.300 29 8 8 43 9 4 1.300 bis 2.200 24 11 4 54 6 1 über 2.200 21 9 8 59 21 16 bis 29 Jahre 26 12 9 41 12 39 bis 49 Jahre 23 10 5 58 31 50 bis 64 Jahre 21 7 5 63 22 + 65 Jahre 29 8 8 43 9 4 Männer 21 12 3 58 4 2 Frauen 27 8 9 49 6 1 Gesamt 24 9 6 54 5 2 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 zu Fuß Fahrrad MIV-Mitfahrer MIV-Fahrer ÖPNV anderer ÖV
23 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 Da die vollen Beförderungskapazitäten aktuell kehrsmittel in und nach der Pandemie finden sollten. nicht erforderlich sind, kann dieser „Deckel“ zu einer Dass mit Blick auf den ÖV bislang hauptsächlich über Gleichverteilung der Fahrgäste auf die Transportge- Erweiterungen oder Reduzierungen des Bus- und fäße führen und damit zu einer Reduzierung der Kon- Bahnverkehrs debattiert wird, zeigt wie vereinfacht taktsituationen beitragen. Damit sind auch die ver- die Rolle des öffentlichen Verkehrs in der Pandemie bliebenen Fahrgäste besser geschützt. Also alles gut? betrachtet wird. Es wird sich vor allem auf die Frage Was fehlt ist eine Diskussion der Ziele, was der ÖV konzentriert, wie sehr aktuell Mehr vom Gleichen, während der Pandemie leisten soll und wie diese also Bussen oder Bahnen etwas bringt, anstatt einen Ziele zu erreichen sind. Ist eine ÖV-Grundversorgung Blick über den Tellerrand zu wagen. Grundlegende für die Personen, die auf ihn angewiesen sind, aus- Änderungen in Form von Preis- oder Tarifanpassun- reichend? Ist es gegeben falls sogar erstrebenswert, gen im ÖV oder die Einführung des längst überfälli- die Fahrgastzahlen noch weiter zu reduzieren, um die gen, flächendeckenden E-Tickets bleiben hingegen Kontaktsituationen noch stärker zu begrenzen, auch unberührte Thematiken (dazu mehr: Knie 2021). wenn es bislang keine empirischen Belege für ein er- Statt aber auf diese Weise zur Pflege der eigenen, höhtes Infektionsrisiko im ÖV gibt, aber eben auch immer kleiner werdenden Nische beizutragen, lohnt nicht dagegen? Welche Maßnahmen sind geeignet, gerade jetzt ein Größer-Denken im ÖV. Eine Debatte um den verbliebenen Fahrgästen eine sichere Beför- um die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen derungsleistung anzubieten, die als eine solche auch Pooling- und Sharing-Dienste zusammen mit Bussen wahrgenommen wird? und Bahnen einen Beitrag für den ÖV selbst und mit Blick auf die Eindämmung der Corona-Krise leisten Hier lässt sich ein Zielkonflikt erkennen, der sich zwi- können, wäre hierbei ein guter Anfang. schen den verbliebenen ÖV-Nutzerinnen und -Nut- zern und den ÖV-Unternehmen einerseits und den Maßnahmen zur wirkungsvollen Eindämmung der Infektionszahlen andererseits entspinnt. Die Zahlen aus dem MOBICOR-Projekt zeigen, dass der ÖV der- zeit auch aus Gründen des wahrgenommenen Infek- tionsrisikos gemieden wird. Der Anteil derer, die auch bei umfassenden Hygienemaßnahmen nicht mehr in den ÖV zurückkehren würden, liegt bei etwa 50 Prozent. Die Hälfte der Personen, die aktuell den ÖV nutzen, würde gerne auf andere Verkehrsmittel aus- weichen, es stehen ihnen jedoch keine Alternativen zur Verfügung. Wie ist es unter diesen Bedingungen um die langfristigen Perspektiven des ÖV bestellt? Ab wann ist der richtige Zeitpunkt gegeben, um die Nut- zung des ÖVs wieder zu fördern? Und welche Maß- nahmen sind dafür geeignet? Ob Passagierobergrenzen dazu brauchbar sind oder es dadurch einfach nur längere Wartezeiten auf den sich füllenden Bahnsteigen kommt, wäre zu untersu- chen. Davon abgesehen ist die hier aufgegriffene Ka- pazitätsfrage nur einer der Aspekte, die Einzug in die Diskussionen rund um die Zukunft öffentlicher Ver-
24 MOBILITÄTSREPORT 04 AUSGABE 05.03.2021 WIE WEITER? Mobilität selbst, nur ein einzelner Baustein im kom- plexen Unterfangen die Pandemie einzudämmen. Die Auswertungen der MOBICOR-Befragungsdaten Zudem sind bei Forderungen nach Einschränkungen und Tracking-Stichprobe legen nahe, dass allein mit der individuellen Mobilität, auch Bemühungen um der Beschränkung von Bewegungsradien und nächt- die Aufrechterhaltung der Bereitschaft sich an diese lichen Ausgangssperren kein Weiterkommen im Maßnahmen zu halten und damit die Wahrung einer Kampf gegen das Virus zu erreichen ist. Schließlich gemeinschaftlichen Solidarität zu bedenken. sind die Menschen bereits mehrheitlich kompakt und in ihrem nahräumlichen Umfeld unterwegs, so Die hier vorgestellten Ergebnisse und Einschätzun- dass Bewegungsradien und nächtliche Ausgangs- gen basieren auf Mobilitätsdaten des MOBICOR-Pro- sperren die Mobilität, wie sie sich aktuell darstellt, jekts, die im Oktober erhoben wurden sowie auf Da- nur in geringem Umfang begrenzen würden. Anstatt ten des Mobilitätstracking, das kontinuierlich Daten hauptsächlich auf Maßnahmenerweiterungen im liefert. Die vorgestellten Ergebnisse sollen die aktuell privaten Bereich zu verharren und so womöglich die geführten Diskussionen zu Maßnahmen bzw. deren Bereitschaft, sich an die getroffenen Maßnahmen zu Ausweitung oder Aufhebung anreichern und mit da- halten, aufs Spiel zu setzen, erscheint es lohnenswert tenbasierten Erkenntnissen hinterlegen. Die genutz- stärkere Kontaktreduzierungen auf dem Weg zum ten Daten sind verhaltensbasiert und nicht statisch und am Arbeitsplatz anzuvisieren. Dabei bietet das oder modelliert, sie verändern sich mit den gegebe- Homeoffice gute Möglichkeiten. Die Erwerbsarbeit nen Rahmenbedingungen. Erforderlich ist deshalb im Homeoffice zu verrichten ist aber nicht allen zu- eine kontinuierliche Beobachtung des Mobilitätsver- gänglich und kann damit nur ein Beitrag zur Reduzie- haltens und dessen Bewertung im Zusammenhang rung der Kontakte leisten, der von anderen Ansätzen mit Anpassungen der Corona-Schutzmaßnahmen. zu ergänzen ist. Neben der möglichst vollständigen Dadurch können Verhaltensänderungen zeitnah er- Ausschöpfung des Homeoffice-Potenzials sind auch fasst und Maßnahmen nachjustiert werden, damit Schutzkonzepte für die Personen ohne Möglichkeit sie größtmögliche Wirkung entfalten bzw. wenig zum Homeoffice zu diskutieren und umzusetzen. Die wirksame Maßnahmen nicht zur Belastung werden. Begrenzung der Auslastungen im ÖV scheint dabei Damit, so die Annahme, lässt sich die Compliance er- insofern nicht zielführend, wenn diese Personen sich höhen. Die Akzeptanz und die Befolgung der getrof- dann an den Haltestellen und Bahnhöfen ansam- fenen Maßnahmen sind ein wichtiges Gut auf dem meln. Genauso wie das Homeoffice, ist aber auch die Weg zur Bewältigung der Pandemie.
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