"Cosmos und Damian" Zur Aktualität eines Werkes von Joseph Beuys
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»Cosmos und Damian« Zur Aktualität eines Werkes von Joseph Beuys Ich werde heute versuchen, ei- nen Zusammenhang darzustel- len, der auf der Leinwand schon sozusagen sein Titelbild gefun- den hat: eine Postkarte, die Jo- seph Beuys nach seinem ersten Besuch in New York 1974 ge- schaffen hat. Im Jahr zuvor, 1973, hatte ja das World Trade Center [WTC] in den beiden Türmen, die man auf der Post- karte sieht und die als die höchsten Gebäude New Yorks seit kurzem die Skyline der Stadt beherrschten, seinen Be- trieb aufgenommen. Beuys schrieb auf diese Karte von un- ten nach oben auf jeden der Türme einen Namen: Cosmos auf den einen und Damian auf den andern. Als ob er der Welt sagen wollte: Die Botschaft, die mit diesen beiden Namen ver- bunden ist, soll das Wesen des- sen benennen, was der Charak- Joseph Beuys, Cosmos und Damian, 1974 ter der Weltwirtschaft, in deren Dienst die Twin Towers, wie sie auch genannt wurden, jetzt standen, werden muss, wenn gut sein soll, was dieses Wirtschaftsleben in unserem Zeitalter für die Menschheit zu leisten hat. Was ist diese Botschaft? Nicht nur diese Postkarte, auch das abgebildete Motiv, die beiden Türme des World Trade Centers [WTC], waren ja vergleichsweise wenig bekannt, bis dann 28 Jahre nachdem es seine Tätigkeit aufgenommen hatte, die Welt- öffentlichkeit durch den bekannten Terroranschlag vom 11. September 2001 spektakulär damit konfrontiert wurde: über den ganzen Globus hin konnte man live mitverfolgen, wie zwei entführte Passagierflugzeuge in die Türme rasten, sie zum Einsturz brachten und annähernd dreitausend Menschen dabei ums Leben kamen. Die wesentlichen gesellschaftlichen »Richtkräfte« unserer Epoche In unserem Programm für dieses Wochenende ist mein Beitrag, mit dem wir die Arbeit des Vormittags beginnen wollen, mit dem Titel: »Cosmos und Da- mian – ein apokalyptischer Blick auf den 11. September 2001« angekündigt. Wilfried Heidt hat ja gestern in seinen Begrüßungsworten von den vielfälti- gen Spuren gesprochen, die hier am Ort des Internationalen Kulturzentrums von Joseph Beuys zu finden sind, von den Spuren, die aus der Zusammenar-
beit zwischen Beuys und den Mitarbeitern dieses Unternehmens zu finden sind, und er sagte dazu, dass diese Spuren bis in die Gegenwart reichen, un- vermindert aktuell sind und sicher auch in der Zukunft noch weiter Früchte hervorbringen werden. Und so war es 2001 für mich so, dass ich, der ich ja Joseph Beuys nicht mehr persönlich kannte und sein Wirken im Hinblick auf die Arbeit, die hier ge- pflegt wird, auch erst kennen gelernt habe, als ich mich Ende der 90er-Jahre hier einfand, dann aber durch diese Ereignisse des 11. September 2001 eine dieser Spuren von Joseph Beuys nicht nur im Sinne einer Erinnerung, im Sinne einer Befassung mit dem damals bereits 15 Jahre verstorbenen Künst- ler in Erscheinung trat, sondern wo etwas aus seinem Werk ganz aktuell in das Zeitgeschehen hereinragte, indem sich eben, wie gesagt, auf diese Türme plötzlich die Aufmerksamkeit der ganzen Welt richtete. Aber das alleine, dass diese Katastrophe jetzt Wochen und Monate über alle Kanäle trans- portiert wurde, war es ja noch nicht, was Jo- seph Beuys für mich in die Gegenwart tre- ten ließ. Sondern, dass man ja – wenn man sich nicht begnügte mit dem oberflächlichen Gerede vieler Politiker und sog. »Experten« in Joseph Beuys am 23. 3. 1978 in Achberg: »Wie dieser Wagen läuft ... den Medien – mit dem ganzen Zusammenhang, den man entdecken konnte, hingewiesen war auf jenen Wesenskern, der von Wilfried Heidt gestern schon angesprochen wurde mit den drei Begriffen Freiheit, Demokratie, Sozialismus.1 Diese Begriffe waren für Beuys die sozialen und politischen »Richtkräfte« unserer Epoche schlechthin. Und wie jetzt mit den Ereignissen von 2001 hingewiesen wurde auf die mit diesem Wesenskern verbundene Aufgabe, die sich ja zunächst einmal, wie wir gestern gesagt haben, explizit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellte, die aber dann, wie man an den Erkundigungen und Beobach- tungen rund um den 11. September deutlich sehen ...das steht hier« konnte, auch in das 21. Jahrhundert herüberragt: die Aufgabe der Trans- formation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in der Perspek- tive eines dritten Weges, wie sie sich zeigte in diesem letzten Drittel des 20. 1 Näheres dazu s. www.medianum.info/pdf/Freiheit-Demokratie-Sozialismus.pdf
Jahrhunderts in den insbesondere militärischen Implikationen des sich immer mehr zuspitzenden Ost-West-Gegensatzes, kulminierend in jenen Jahren, in denen es von hier aus zur Zusammenarbeit mit Joseph Beuys gekommen war. Die Ereignisse der Jahre 1989/91 haben ja diese Aufgabe nicht obsolet werden lassen, weil dieser Gegensatz durch den Zusammenbruch der staats- kommunistischen Seite äußerlich betrachtet beendet erscheint.2 So dass wir die Frage stellen können, inwiefern das Ereignis des 11. Septembers in New York ein Symptom ist, das uns zu der fortbestehenden Herausforderung führt? Was meint apokalyptisches Verstehen geschichtlicher Ereignisse? Was sind nun die tieferen Zusammenhänge, die man erkennen konnte, rund um diesen 11. September, die auf diese Aufgabe mit ihrem genannten We- senskern hinweisen? Da kommt jetzt der Begriff des Apokalyptischen ins Spiel. Also der apokalyptische Blick auf dieses Ereignis. Das weist auf ein wei- teres Arbeits- oder ein Übungsfeld dieses Ortes hin, an dem wir jetzt ver- sammelt sind, wo wir versuchen, uns in einer neuen Kunst zu üben, eine neue Kunstdisziplin zu pflegen, die auch ein bisher viel zu wenig erkannter Aspekt ist des »erweiterten Kunstbegriffes«, den Beuys entwickelt hat: nämlich die Kunst des Lesens im Buch der Geschichte, wo wir es damit zu tun haben, dass im Zeitenstrom »Zeitensterne«, wie Rudolf Steiner das einmal nannte, [s. Fußnote (FN) 9] auf- und niedersteigen und im Medium bestimmter Gesetz- mäßigkeiten der »Zeit als Realität« [Steiner] an bestimmten Ereignissen eine zunächst verhüllte Botschaft mitteilen. Wobei – das ist auch für die jetzige Betrachtung wichtig – dann nicht nur die Zeit, sondern – wie in der alten Astrologie, so in einer neuen – auch der Ort eines Geschehens sowie die meditativ tätigen Bewusstseinskräfte zu berück- sichtigen sind, die sich auf das Erforschen solcher Zusammenhänge richten, wenn man eine bestimmte Konstellation in den geschichtlichen und gesell- schaftlichen Verhältnissen tiefer als nur an der Oberfläche der Äußerungen verstehen will. Nur so wird das zunächst im äußeren Ereignis an sich Verhüllte sich offenba- ren können – im Sinne einer »neuen Astrologie« [Steiner, FN 9] als einer Syn- these aus Zeitgeschichte und Sozialwissenschaft, deren Erfahrungsfeld nicht die Gestirne am Himmel, sondern die »Zeitensterne« mit ihrem Ereignismate- rial und den sie durchdringenden und leitenden Gesetzmäßigkeiten sind. Also Zeit und Raum in Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu betrachten, wo die Geschichte nicht einfach ein lineares Geschehen ist, sondern wo wir, von Rudolf Steiner als erstem mit der von ihm begründeten Geisteswissenschaft auf dieses »apokalyptische« Feld verwiesen, lernen müssen, auf das Geheim- nis der Zahl – wie in der Musik auf das Geheimnis des Tones – zu »hören«. Und zwar müssen wir da – wie in der Musik – die Aufmerksamkeit immer auch lenken auf das, was motivisch in Erscheinung tritt. 2 Zum Kern dieses zeitgeschichtlichen Zusammenhanges siehe im XIII. Kapitel des Lesebu- ches [»Memorandum«, Teil II, »Was ist die (wahre) soziale Frage der Gegenwart?«] S. 234 ff
Wir dürfen die Zahl nicht nur dazu verwenden, dass wir dann mit irgendwel- chen Zahlenverhältnissen wie Jongleure hantieren, sondern wir müssen – durchaus auch »spielerisch« im Sinne Schillers, d. h. im Element in sich selbst ruhender, freier Erkenntnistaten – immer aufmerksam sein auf das, was motivisch da und dort an zeitlich auseinanderliegenden Ereignissen zu- sammenklingt und wie sich diese Ereignisse solchem »Hören« quasi gegen- seitig »erläutern«, dass man das aus dieser Fragestellung heraus erörtert. Das ist der Begriff des apokalyptischen Blickes, der eigentlich ein geistiges »Hören« ist – wo die Zeit zum Raume und der Raum zur Zeit wird. Und eine zweite Seite dieses Begriffs des Apokalyptischen ist immer auch, dass sich ja dem Apokalyptiker dadurch Impulse für das eigene gegenwärti- ge Handeln eröffnen sollen. Also dass man diese neue Kunst nicht nur aus einem rein historischen, bloß betrachtenden Interesse betreibt, sondern dass man diese Zusammenhänge erkundet in Bezug auf die Aufgabenstellung, die sich dann daraus – gesellschaftlich, menschheitlich gesehen – für die Gegen- wart und für die Zukunft ergibt. Ich werde diesen Gesichtspunkt am Schluss meiner Darlegungen nochmals aufgreifen. Motivische Einzelheiten im Blick auf den 11. September Bevor ich dann wieder auf Cosmos und Damian, also auf die von Beuys den »Twin-Towers« hinzugefügten Namen, zurückkomme, möchte ich ein paar einzelne Linien dieser apokalyptischen Betrachtung verfolgen, damit wir noch deutlicher erkennen können, worauf Joseph Beuys mit dieser Namensgebung eigentlich hinweist. Intervalle der Zeit und Elemente aus der Formensprache des Ortes ● 1973 – 2001: Am 11. September 2001, und das führt uns sozusagen zu der ersten deutlichen Verbindung mit der Fragestellung des Dritten Weges, jähr- te sich ja zum 28. mal ein anderes Ereignis, das am 11. September 1973 statt- fand. Interessanterweise ist in diesem Fall das zeitliche Zusammenklingen erstaunlich genau – obwohl das ja in diesen apokalyptischen Betrach- tungen oder in diesem die apokalyptischen Ge- setzmäßigkeiten berücksichtigenden historischen Betrachten nie oder oft nicht ganz exakt zutrifft. In diesem Fall verhält es sich so, dass nämlich zur selben Stunde des 11. Septembers, als 2001 die beiden von den Terroristen gesteuerten Flug- zeuge in die Zwillingstürme krachten und ein Drittes in Washington auf einen Flügel des Pen- tagons stürzte, 1973 in Chile Flugzeuge putschen- der Militärs – unterstützt von US-Geheimdiensten, -Konzernen, -Militärs und -Regierungskreisen – den Palast des gewählten chilenischen Präsiden- ten Salvador Allende bombardierten [da ist ja ein richtiger Dschungel von letztlich nicht er- Bombardierter Präsidentenpalast »La gründbaren Verstrickungen der USA in diese Er- Moneda« - Santiago de Chile
eignisse von 1973 in Chile], und wie in der Folge dieses Putsches mit dem Bombardement des Regierungspalastes auch Salvador Allende und schließ- lich Tausende Chilenen zu Tode kamen, eine Regierung, eine demokratisch gewählte Regierung ihrer gesellschaftspolitischen Ziele wegen beseitigt wur- de, weil sie es sich fünf Jahre nach dem Prager Frühling zur Aufgabe gemacht hatte, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu verwirklichen, wie man es sowohl 1968 als auch dann 1973 in Chile nannte. Damit taucht jetzt schon der eine Begriff aus der erwähnten Trias auf: Sozia- lismus. Der Zusatz: »mit menschlichem Antlitz« meint, dass der Mensch als Freiheitswesen und mit seinen demokratischen Rechten Berücksichtigung finden soll. – Da sind wir also mit dieser Zeitspanne von 28 Jahren am 11. September 1973 in Verbindung mit dem Ereignis vom 11. September 2001. Wenn wir auf diese Zusammenhänge näher eingehen, dann fällt uns auf, dass Beuys 1974 die Postkarte »Cos- mos und Damian« veröffentlicht hat. Und im Jahr zuvor, also 1973, hatte Beuys anlässlich seiner Mitwirkung beim I. Achberger Jahreskongress »Dritter Weg« vom 9. bis 19. August seine erste Begegnung mit Wilhelm Schmundt, was sich als ein Zentraler- eignis seiner Biographie erweisen soll- te. Durch diese Begegnung hat er sein Abb x die Twintower Verständnis von der Idee des sozialen Organismus auf ein neues Niveau ge- hoben. Er konnte dadurch die Aufga- benstellung der Transformation der bestehenden Verhältnisse nochmal ganz neu greifen. »Cosmos und Dami- an« ist be- reits ein Do- kument die- W. Schmundt und J. Beuys bei der Gründungsver- ser Entwick- sammlung des »Ständigen Kongresses Dritter Weg« lung. Denn mit den Namen der Zwillings-Brüder, die er mit den Zwillings-Türmen verbindet, ist auf grundle- gende Erkenntnisse des Wirtschaftslebens hinge- wiesen, wie Wilhelm Schmundt sie im Anschluss an Steiner in seiner »Elementarlehre« darstellte.3 Über das Wirken von Cosmas, wie er der Überlie- ferung nach hieß, und Damian wissen wir vor allem aus der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Sie waren arabische Märtyrer, Ärzte von Beruf, die Einladung zur Internationalen das Ideal der Brüderlichkeit dadurch verwirklich- Sommertagung 1973 in Achberg 3 Siehe z. B. sein 1968 (!) erschienenes Buch »Der soziale Organismus in seiner Freiheitsge- stalt«
ten, dass sie für ihre Tätigkeit kein Entgelt annahmen. Sie stellten ihre Fähig- keiten den Bedürftigen »frei« zur Verfügung. Und jetzt benennt Joseph Beuys gerade mit diesen Namen die Türme des WTC, des World Trade Cen- ters, die ja, äußerlich betrachtet – was die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft, um deren Transformation es geht – aus dem geradezu entgegengesetzten Geist hervorgekommen sind: dem Geist des Egoismus und Mammonismus, der das kapitalistisch organisierte Wirtschaftsleben im Pro- fit-, Lohn- und Eigentumsinteresse beherrscht. Das heißt: durch die Namen Cosmos und Damian, durch diesen Taufakt, ist auf die Aufgabe der Transformation des bestehenden Systems der nach den liberalistischen Prinzipien funktionierenden Weltwirtschaft urbildhaft hingewiesen. Es geht bei der Tranformation nicht darum, dass wir die beste- henden Dinge revolutionär abreißen, weil wir vielleicht einen Hass auf sie haben, sondern dass wir sie umwandeln, zum Wesensgemäßen hin wandeln. ● Ortsgeschichte und Gestaltungsmotive am Bauwerk: Indem Beuys diesem Ort der Weltwirtschaft, wie er durch die Zwillingstürme des World Trade Centers repräsentiert war, die Namen dieses speziellen Brü- derpaares hinzufügt, also den jeweili- gen Baukörper von unten bis oben mit diesen beiden Namen markiert, ist ob- jektiv gesagt: Die Weltwirtschaft soll in Zukunft dem Geist von Cosmos und Damian folgen, auch wenn sich mit Der dreigliedrige Bau der Twin Tower der äußeren Architektur der Skyscra- pers und ihrer himmelstürmenden, triumphalischen Geste der entgegenge- setzte Geist der Macht des Geldes durchgesetzt zu haben schien. Aber ist das wirklich so? Was zeigt sich, wenn man andere Elemente der Formensprache der Türme, von denen weniger als eine Ruine übrig blieb, einmal genauer un- ter die Lupe nimmt? Dann sieht man, wie die Türme insgesamt in drei Abschnitte gegliedert wa- ren. Also die Sache optisch eine Dreigliederung zur Erscheinung bringt. Man hatte unten eine hohe Eingangshalle, oben zwei Ebenen, wo man die Lifte wechseln konnte, die sogenannten »sky lounges« und ganz oben jeweils die Aussichtsterrasse. Es gliederten sich die Zwil- lingstürme also horizontal dreifach. Aber auch bei der Fassadengestaltung spielte die Drei eine wichtige Rolle, indem nämlich die rippenartigen Stränge, die von unten bis o- ben die Wolkenkratzer überzogen, immer in Bündeln zu je drei zusammengefasst waren. Diese Dreier-Bündel laufen auf der Ebene der Eingangshalle so auseinander, dass da- zwischen die Form von gotischen Spitzbö- gen entsteht, als hätte der Architekt, der Ja- Zwischen den rippenartigen Strängen paner Yamasaki, damit ein Motiv aus der entsteht die Form gotischer Spitzbögen
Nachbarschaft des WTC aufgegriffen, wo es die nahestehende Kirche »Trinity Church« stark charakterisiert. So kann man ja vielleicht sehen, wie Joseph Beuys hier durch diese Türme, einfach dadurch, dass es Brüder, Zwillinge sind und auch dadurch, dass sie ja selbst schon einiges zum Ausdruck brin- gen, was in ihrer Formensprache – und ein Künstler achtet ja vielleicht besonders auch auf die Formensprache – hinausweist über das, was da zunächst eigentlich zum Ausdruck kommt o- der zum Ausdruck gebracht werden wollte in den Intentionen, die aus den bestehenden gesell- schaftlichen Verhältnissen herrühren. Man hat ja – auch das ist eine zu beobachtende Gesetzmäßigkeit – in diesen Dingen oft eine Dop- pelheit: In dem von den bestehenden gesellschaft- lichen Verhältnissen Geprägten äußert sich schon etwas, was auf die Transformationsauf- gabe hinweist. Dem können wir im Sinne des Übens jener Kunstfertigkeit des apokalyptischen Die Trinity Church in Manhattan Lesens auf die Spur kommen. ● Weitere Motive aus der Zeit: Also wenn man jetzt schaut, was die be- stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind, dann werden wir ja wieder in diese Zeit der 70er-Jahre oder eigentlich noch der 60er-Jahre geführt, denn die Türme, die am 11. September 2001 zerstört wurden, wurden ja schon am Anfang der 60er-Jahre für West-Manhattan geplant und der eigentliche Bau- beginn ist dann der August des Jahres 1968, also jener Monat, wo in Prag der Prager Frühling niedergeschlagen wurde. Also da ist der Baubeginn und die Eröffnung findet dann, nachdem schon einige Zeit vorher die Bauarbeiten abgeschlossen waren und man den Platz zwischen den Türmen noch künstle- risch zu gestalten hatte, im April 1973 statt. Und noch im selben Jahr fand dann am 11. September der vorhin genauer betrachtete Putsch in Chile statt, 21 Tage nachdem in Achberg der erste Jahreskongreß »Dritter Weg« zum Thema »An der Schwelle einer neuen Gesellschaft – 5 Jahre Prager Früh- lung« zu Ende gegangen war. Dieser Putsch in Chile entstand ja auch aus der Situation, dass man aus dem kapita- listischen System heraus eigentlich Macht und Stärke in der Welt de- monstrieren wollte, wie ja durch all die Jahrzehnte hindurch im Kalten Krieg die beiden Gesellschaftssysteme konkurrierten: Wer ist als Erster auf dem Mond, wer hat die beste Technik: ein Wettstreit, welches System das leistungsfähigere ist. In diesem Zu- Die Skyline von Manhattan mit den herausragenden sammenhang stellt sich das kapitalis- Zwillingstürmen des Word Trade Centers tische System auch dadurch dar, dass es die damals höchsten Gebäude der Welt errichtet: Die Zwillingstürme des World Trade Centers.
Interessant ist ja auch, wann beschlossen wurde, dieses Gebäude zu bauen. Das habe ich erst vor kurzem erfahren, als ich nachrecherchiert habe. 33 Jah- re – auch so eine Zahl, die uns immer besonders aufmerksam machen muss – nach der Fertigstellung des bisher höchsten Gebäudes, des Empire State Building, wollte man das jetzt toppen, wollte ein noch höheres errichten.4 ● Weitere Motive des Ortes: Das kapitalistische Prinzip wird auch durch den folgenden Zusammenhang charakterisiert: Was sozusagen seit 1973 sichtbar geworden war in der Skyline von New York, vom Atlantik aus sozu- sagen ins Auge stechend, wenn man mit dem Schiff ankommt, das kann man ja auch als das Wallstreet-Prinzip verstehen, also mit dem Namen der Straße, an der die New Yorker Börse liegt. Was hat es mit dieser Geschichte sympto- matologisch auf sich? Die Wallstreet mit der Börse liegt ja nur einen Steinwurf weit vom Standort des WTC, wie auch die genannte Trinity-Church in unmittelbarer Nachbarschaft. Wie kommt es in Manhattan zu diesem Straßennamen »Wallstreet«, unter dem heute synonym das kapitalistische Wirtschafts- system verstanden wird? Geht man den Spuren nach, führen diese zurück Die Wallstreet in früheren Jahren mit Blick auf die Trinity Church bis ins 17. Jahrhundert, in die Zeit, als in Manhat- tan die niederländischen Eroberer, Kaufleute waren sie, mit den dort leben- den Indianern zusammenstießen und ihnen die Halbinsel für die mittlerwei- le legendär gewordene Summe von 60 Gulden abkauften. Man weiß ja nicht recht, wie viel das heute ist, aber gewiss nichts im Vergleich zu dem, was die Indianer mit dem Verkauf verloren hatten. Aber unabhängig von der Frage, wie hoch der Preis war, ist ja zu bemerken, dass hier gleich am Ausgangs- punkt einer Entwicklung, die zu dem geführt hat, was wir hier bedenken, das Eigentumsprinzip eingreift, indem hier Grund und Boden, Lebens- und Wirtschaftsgrundlage, gekauft wird. Nun hatten aber die Indianer einen solchen Eigentumsbegriff überhaupt nicht. Sie bekamen ja auch nicht 60 Gulden in Geld, sondern Glasperlen, die sie zwar angenommen haben, aber nicht verstanden, dass sie jetzt ihr Land verlassen müssen, weil sie es verkauft hatten. Das war gar nicht in ihrem Weltbild vorhanden, also musste man sie vertreiben, nachdem man diesen Kauf getätigt hatte, und hat dann, um sie sozusagen fern zu halten von dem Erworbenen, einen Schutzwall gebaut. An diesem Schutzwall, der zunächst aus Holz errichtet wurde, ist eine Straße entstanden, die dann eben Wall- street genannt wurde. Und weil sie zum Hafen führte, wo die Handelsschiffe ankamen, siedelten sich an dieser Straße die Banken an und irgendwann auch die Börse, deren Adresse der Name der Sache wurde: Wallstreet. Mit dem Bau der WTC-Türme ragte dann dieses »Mauer-Phänomen« sozu- sagen in den Himmel. So dass man sagen kann, da ist eigentlich der Sache 4 Auf die Bedeutung der 33 Jahre wird weiter unten noch eingegangen.
nach 1973 eine »Turm gewordene Mauer« in Funktion getreten und das Prin- zip, das am Ausgangspunkt der europäischen Besiedelung Manhattans stand, ist immer mehr zum weltwirtschaftlichen Prinzip geworden. 28 Jahre später wird die Turm gewordene Mauer beseitigt – 28 Jahre nachdem der Versuch eines Dritten Weges in Chile beseitigt wurde. Das Mauer-Prinzip in Manhattan und die Berliner Mauer Weitere Motive in der Zeit: 1956 – 1961 – 1968 – 1973 – 1989 – 2001: Es ist interessant, dass auch eine andere Mauer, über die Dauer von 28 Jahren bestand, 1961 nicht in den USA, sondern in Deutschland, in Berlin errichtet. Aus Sicht seiner Erbauer war diese Mauer ein »antifaschistischer Schutzwall«, der nicht gebaut wurde, um den Eigentumsbegriff zu verteidi- gen, sondern um seine Auswirkungen draußen zu halten. Mit seiner Beseiti- gung blicken wir auf das Datum des 9. November 1989. Der 9. November und der 11. September hängen so motivisch zusammen, indem hier wie da ein »Mauer-Phänomen« abgeräumt wurde. So klingen der 9.11. und der 11.9., der ja in den USA als »nine eleven«, also auch 9.11. geschrieben wird, weil man dort das Tagesdatum hinter das des Monats stellt, zusammen. Es geht dabei aber nicht um ein »Zahlenspiel«. Das Entscheidende ist, die Motivik dahinter zu erkennen. Sie bildet das Fundament, das geistig-begriff- liche Fundament für die Feststellung des Zusammenhanges der beiden Er- eignisse: In beiden Fällen wird etwas beseitigt im Zusammenhang mit dem Versäumen einer eigentlich gestellten Aufgabe. Das eine Mal geschieht es durch ein tragisches Ereignis, durch einen Terrorakt, beim anderen Mal wird es als etwas erlebt, was die Menschen euphorisierte. In verschiedenen Publi- kationen der anthroposophischen Bewegung wurde es gar als »Wink des Zeitgeistes« gedeutet und zum Teil hält man bis heute an diesem Verständnis fest.5 Bei dieser Sicht auf die Ereignisse von 1989 wird oft übersehen, dass mit dem Abräumen der Berliner Mauer ja auch die Konstellation des Ost-West- Gegensatzes abgeräumt wurde, aus der heraus die Aufforderung entstanden war, aus Mitteleuropa heraus die Brücke zu bilden: Also aus der Kraft der Demokratie die Synthese von Freiheit und Sozialismus zu schaffen, wie dies der »Prager Frühling« 1968 versucht hatte und durch die »brüderliche Hilfe« 5 Der anthroposophische Begriff des Zeitgeistes ist nicht derselbe wie der übliche. Im an- throposophischen Verständnis sind die Zeitgeister Wesenheiten, die, wie die Volksgeister, zum Kreis der Erzengel gehören, von denen sich sieben in einer bestimmten Reihenfolge während jeweils ca. 3oo bis 350 Jahren in einer Art »Regentschaft« ablösen und dabei die Menschheit mit unterschiedlichen Impulsen befruchten. So repräsentiert jeder »Zeitgeist« für die Menschheit gewissermaßen ein kosmisches »Erziehungsprogramm«, während dessen Durchführung sich aber noch zahlreiche andere Wesenheiten mit teils ganz entgegengesetz- ten Intentionen, die Menschen und Völker irritierend, einmischen. Nach diesem Verständnis beginnt die »michaelische« Epoche am Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Sie steht im Zeichen alles dessen, was die Welt und die Menschheit auf die Stufe einer globalen Ganzheit heben möchte und sie löst damit jene Einflüsse ab, die im vorausgehenden »gabrielischen« Zeitalter z. B. durch die Nationalismen und andere Gegen- sätze sich auslebten. Interessierte finden im Internet z.B. auf der Seite www.anthroposo- phie.net/peter/michaels_wirken.htm weitere Informationen.
der Sowjetunion und ihrer damaligen Verbündeten daran gehindert wurde.6 Dennoch kann man ja, dialektisch gedacht, auch diese Dekonstruktions- und Destruktionsvorgänge als Symptome, als Aufforderung verstehen, sich spätestens jetzt der eigentlichen Aufgabenstellung, in Mitteleuropa den Systemgegensatz zu transzendieren, bewusst zu werden. Wenn man sich, wie das bei mir der Fall war, hier einfindet und die Dinge Schritt für Schritt kennenlernt, ergibt sich die Notwendigkeit, dass man auf die Frage stößt, die wir auch bei Beuys finden. In seiner Münchner »Rede über das eigene Land« am 20. November 1985, also wenige Wochen vor seinem Tod, berichtet er, wie es ihm wie ein Aufruf im Bewusstsein gestanden habe, dass es seine Lebensaufgabe sei, »einen um- fassenden Anstoß« zu geben für die Aufgabe, die das deutsche Volk, in das er hineingeboren war, als mitteleuropäisches eigentlich hätte, das aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so katastrophal versagte gegenüber dieser Aufgabe der Transformation der bestehenden Verhältnisse in der Perspektive eines Dritten Weges mit den Idealen der Freiheit, der Demokratie und des Sozialismus als dessen Wesenskern. Was ja, wie Beuys betont, eine Gestal- tungsaufgabe ist, die nicht ein Einzelner erfüllen kann oder viele Einzelne, sondern die alle gemeinsam haben: das Volk als der zeitgemäße Souverän des staatlich-politischen Rechtslebens einer Gesellschaft. Das kristallisierte sich durch die historischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als der zeitgeschichtliche Focus heraus und ma- nifestierte sich in der Teilung der Nation und Europas mit dem Zeichen der Mauer in Berlin. Das drängte dann – drei Jahre nachdem Beuys »durch die Pforte des Todes« geschritten war, wie er es in einem anderen seiner letzten Vorträge7 vielleicht schon in einer Vorahnung seines nahen Sterbens ansprach – als die eigentli- che Fragestellung von 1989 zur definitiven Entscheidung, zur Entscheidung, Kommunismus und Kapitalismus zu überwinden. Nahm man, tiefer blickend, die Mauer in Berlin als Metapher für die Konklu- sio der deutschen Geschichte seit der gescheiterten Revolution von 1848, dann konnte sie einem erscheinen wie die durch den Marxismus-Leninismus und den rheinischen Kapitalismus äußerlich ins Absurde verkommene, stein- gewordene Philosophie Hegels, These und Antithese, doch ohne die versöh- nende, den Gegensatz »aufhebende« Synthese. Sie im Denken zu entwickeln, um die bestehende miserable Wirklichkeit zur »guten« zu verwandeln, das wäre die Aufgabe gewesen, die das Volk gehabt hätte und dazu wollte Beuys mit seinem Wirken einen »umfassenden Anstoß« geben. Diese Frage stellte sich am 9. 11. 89 sozusagen ultimativ und wie sich zeigte war es, als die Mauer fiel, schon zu spät, weil das, was mit dem »Weimarer Memorandum« als Projekt seit 1986 vorbereitet worden war 8 und dann im 6Näheres dazu siehe FN 1. 7»Aktive Neutralität – Die Überwindung von Kapitalismus und Kommunismus« am 20. Ja- nuar 1985 in Rorschach/Schweiz [FIU-Verlag, Wangen 1989] 8 Näheres dazu auf der Internetseite www.wirsinddeutschland.org/dokumentation.htm.
Frühjahr bzw. Frühsommer 89 auch zur Ver- fügung stand, in der Zeit der Euphorie und des »Wahnsinns« der Emotionen von den Menschen im Denken nicht genügend ergriffen wurde und deshalb nicht wirksam werden konnte. Diese Mauer wurde abgeräumt, ehe in ihrer zeichen- haften Bedeutung erkannt gewesen zu sein und konnte daher nicht zur »Brücke« umgebaut wer- den. Ihr Fall wurde zur Falle: Der neoliberale Kapitalismus trat die Weltherrschaft an, und wie es scheint, kann sich ihm niemand entziehen. Am 11. September 2001 dann der Anschlag auf die andere »Mauer«, die späte Erbschaft jenes ersten »Schutzwalls« aus dem 17. Jahrhundert und Unterabteilung der New Yorker Börse, de- ren Adresse »Wallstreet« längst als Synonym für Das Weimarer Memorandum vom das System des globalen Finanzkapitalismus steht. 17. Juni 1989 Das geschah 33 Jahre nach 1968. Von diesen 33 Jahren als einer wichtige Ge- setzmäßigkeit in diesen apokalyptischen Zusammenhängen haben wir ja schon gehört. Kurz gesagt, findet sich der erste Hinweis darauf in einem Vor- trag Rudolf Steiners vom 23. Dezember 1917 in Basel, wo er diese Gesetzmä- ßigkeit in Verbindung bringt mit dem Begriff der »Umlaufzeit geschichtlicher Ereignisse«.9 Darunter ist zu verstehen, dass ein in das historische Gesche- hen hineingebrachter Impuls nach 33 Jahren in verwandelter Gestalt aufer- steht, was zusammenhängt mit dem Ereignis des Todes und der Auferste- hung des Christus vor 2000 Jahren [als dem zentralen Mysterium in der christlichen Religion]. So lagen die Ereignisse von 1989 in dieser Zeitspanne entfernt zu den Ereignissen von 1956, als im Aufstand der Ungarn gegen die Abhängigkeit von der Sowjetunion und von der Diktatur ihrer nationalen kommunistischen Machthaber der Impuls des dritten Weges zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer speziellen Gestalt kraft- voll in Erscheinung trat. Und wenn wir vom 11. September 2001 33 Jahre zu- rückgehen, kommen wir zu 1968. In beiden Zusammenhängen haben wir es mit einem Mauer-Phänomen zu tun, und in beiden Fällen existierte das Phä- nomen 28 Jahre lang. So können wir – in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen – den Motiven nach sehen, wie da Phänomene sind, die objektiv auf bestimmte geschichtli- che Aufgabenstellungen hinweisen und die uns gleichzeitig auf das Versäum- nis aufmerksam machen, das bisher damit verbunden war und zugleich auch auf die Pflicht, die ihnen gegenüber noch immer besteht. Wenn nun Joseph Beuys – und damit komme ich wieder auf den Anfang zu- rück – die Twin Towers des WTC nach diesen beiden Heiligen benannte und damit auf das Brüderlichkeitsprinzip hinwies, das für die Weltwirtschaft Gel- tung erlangen müsse, und wenn man die damit exemplarisch erkennbar wer- dende volkspädagogische Dimension seines Wirkens und seine Zusammen- 9 In GA [GesamtAusgabe] 180 [Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse, Dornach 1966], »Et incarnatus est – Die Umlaufzeit geschichtlicher Ereignisse«
arbeit mit dem Achberger Unternehmen und was von ihm ausging betrachtet, dann ist ja damit die gesellschaftliche Transformationsaufgabe ins Licht ge- rückt. Diese Zusammenhänge, wenn sie von genügend vielen Köpfen verstanden worden wären und wenn sich genügend viele Herzen für diese Dinge erwärmt hätten, wenn in der Welt Verständnis genug dafür leben würde, dass es dar- um geht, das Bestehende richtig zu verstehen und zu transformieren – ich glaube, wir haben gestern in den Worten von Beuys von der Aufgabe der Transformation gehört: dass das Transformationsgeschehen an die Stelle des revolutionären Geschehens zu treten habe – also dass es nicht darum geht, das Falsche einfach abzureißen oder mit einem politischen Voluntarismus zu bekämpfen. Wenn das rechtzeitig verstanden worden wäre, dann hätten auch diese Türme eine solche geistig-moralische Statik gehabt bzw. bekommen, dass jeder terroristischen Absicht der Boden entzogen gewesen wäre, weil es in einer Welt nach dem Maß des Menschen, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Maßstäbe sind, keinen Terrorismus geben kann, weil dann den destruktiven Kräften keine Angriffsfläche mehr geboten wird. Die Heilung der Wunde aus der Quellkraft der Idee: Die Entdek- kung eines neuen baukünstlerischen Repräsentanten [Typus] für das Gestaltprinzip des sozialen Organismus in der gegenwärtigen Epoche Aber gleichzeitig muss sich der apokalyptische Blick auch im Falle von »Ground Zero«, dieser unsäglichen Wunde, der Aufgabe der Heilung dieser Situation zuwen- den. Es muss die Frage gestellt werden, was aus dem in der Gesamt- konstellation von Zeit und Ort des Geschehens in all den historischen Zusammenhängen we- senhaft Veranlagten – »Cosmos und Damian« Die klaffende Wunde am Ground Zero eingeschlossen – als die Heilung der Wunde verlangt wäre. Und da können wir hinweisen auf einen Vorschlag, den Wilfried Heidt ins Gespräch brachte und wie er mit den Fä- higkeiten einiger seiner Mitarbeiter in einem architektonischen Modell er- fahrbar machen konnte, dass der neue, aus unserer Projektarbeit zur Verfas- sung der EU bereits ein Jahr vor den Ereignissen in New York hervorgetrete- ne architektonische Typus eines mit dem Namen MEDIANUM am treffendsten zu charakterisierenden Zweckbaues diese Heilung der Wunde vor Ort in Manhattan bringen könnte: Es entstand der Plan eines WORLD COMMUNICATI- ON CENTERS, eines Gebäude-Ensembles, das sich zusammensetzt aus drei
schlanken, 300 m hochragenden Türmen mit einem vierten verbindenden Tower in der Mitte, dessen Abschluss oben die vier sich durchdringenden MEDIANUM-Kuppeln10 bilden, die baukünstlerische Verkörperung des sozialen Organismus auf der heutigen Stufe seiner Entwicklung. Bei der Konstrukti- onsweise der Kuppeln spielt ja das Dreieck, das Fünfeck und das Sechseck eine zentrale Rolle. – Genaueres kann dazu jetzt nicht darlegt werden. Aber in der Symbolik, der wir in der Geschichte der USA begegnen, stoßen wir auch auf das Dreieck – auf der Dollarnote [s.u.] – Die Medianum-Architektur in einem Modell für Manhattan und auf das Fünfeck im Grundriss des zwischen 1941 und 1943 gebauten Verteidigungsministeri- ums in Washington, das am 11. September 2001 außer dem WTC auch ein Ziel des Terroraktes war, bei dem 125 Menschen ums Leben kamen. Beide Institutionen – der Dollar und das Penta- gon steht ja in der Welt für die USA als dasjeni- ge, was diesen Staat als Machtsystem im Sinne der Ausübung von globaler Herrschaft und Un- terdrückung in wirtschaftlicher und militäri- scher Hinsicht unter der propagandistischen Flagge von »Freiheit« und »Demokratie« kenn- zeichnet. In der MEDIANUM-Architektur, die aus einem geisteswissenschaftlich-humanistischen Ansatz hervorgeht, sind mit diesen Begriffen und Sym- bolen die genau entgegengesetzten Sinngehalte verbunden: Blick auf das Kuppel-Ensemble Das Dreieck steht für die soziale Statik, die der Arbeitszusammenhang des dritten Weges im Zusammenwirken der drei »Richtkräfte« [Beuys] der Fran- zösischen Revolution erkennt. Das Sechseck steht als Urbild für dasjenige, was das Produkt des menschheit- lichen Zusammenwirkens dieser Kräfte sein kann: Ein gesundes soziales Le- ben, das allen das Gut der Menschenwürde beschert im »Gefäß« eines ge- 10 Übrigens eine baugeschichtlich originäre, zuvor noch nie versuchte Konzpetion, baukünst- lerisch dergestalt mit dem Element der Kuppel zu verfahren.
waltfreien Rechtsstaates – wie die Bienen den süßen Honig, den kostbarsten aller Naturwerte, im Gefäß der Wabe sammeln als Resultat ihres Zusam- menwirkens als Volk. Das Fünfeck schließlich kann für den zunächst viergliedrigen Menschen ste- hen, der sich als ein Wesen, das die Evolution auf der Erde mit einem phy- sischen Leib, einem Lebensleib, einem Seelenleib und einem geistigen Ich ausgestattet hat, nun anschicken kann, diese Entwicklung in Freiheit selbsttä- tig mit seinen herangereiften Fähigkei- ten und Kräften eigenen Schöpfertums weiterzuführen, um sich so zur Fünf- gliedrigkeit zu erheben, indem er im Die von innen beleuchtete Medianum-Kuppel auf dem aktiven Denken seine alten Wesens- Austrian Social Forum [Juni 2006 in Graz] zeigt die Struktur der Drei-, Fünf- und Sechsecke. glieder, diese verwandelnd, ergreift und als Frucht dieser »esoterischen« Arbeit in sich ein höheres Selbst als ein neues Wesensglied erzeugt und aus dieser Quelle die Heilung der Wunde aus Liebe zur Natur der Sache – und nicht mehr aus dem Trieb, z. B. ein noch höheres Gebäude, als die Twin Towers es waren, oder eine andere, vielleicht technisch-ästhetisch spektakuläre Architektur in Manhattan errichten zu wollen – realisiert. Die Wirkung dieser spirituell-mystischen »Heil-Quelle« kommt in der Geste und in den Gesetzmäßigkeiten der Formensprache dieser Architektur, wie sie von Achberg aus vorgeschlagen wurde, zum Ausdruck. Hier konnte man sich auf die durch die Terroranschläge vor Ort entstandene Situation baukünsterisch deshalb wie beschrieben einstellen, weil man sich in der Arbeit fast ein Jahr lang im Speziellen mit der Frage nach einem architek- tonischen Typus befasst hatte, der für den sozialen Organismus heute das sein könnte, was die Pyramide im alten Ägypten, der Tempel im alten Juden- tum und in der Antike und die gotische Kathedrale im christlichen Mittelalter gewesen ist: Die maßgebende geistige Instanz für die sozialen Ordnungen der jeweiligen Epoche. Nun war durch die Terroranschläge auf diese Frage eine im Wesen der Sache begründete neue Antwort gefordert, die man aus dem Vorbereite- ten meinte erkennen zu können. Weder aus dem zeitgenössischen Materialismus mit seinem sub- jektivistischen Individualismus oder Ästhetizis- mus, der fürs Private reichen und hier auch sei- nen legitimen Platz haben mag, noch [wie bei einigen wenigen nebenstehend ausgewählten Historische Reminiszenzen: Das Nationaltheater in Weimar Beispielen, die sich beliebig vermehren ließen] aus historisierenden Reminiszensen vergangener Bauformen, wie sie in den letzten zweihundert Jahren als sog. Neo-Klassik, Neo-Gotik usw. das Feld des öffentlichen Zweckbaues besetzt haben und schon gar nicht durch jene Ab- wege, die staatstotalitären Architekturen von Hitler und Stalin bis zum ru-
mänischen Conducator Nicolae Ceauşescu beschritten haben, ist das darzustellen, was wir einerseits im Hinblick auf die Bewusst- einsentwicklung nach dem Maß des Men- schen und anderer- seits im Hinblick auf die erreichten Funk- tionsverhältnisse des sozialen Organismus Das Haus des Volkes in Bukarest schaffen müssen, um in den Gesetzmäßig- keiten der Baukunst das alte hermetische Prinzip »oben wie unten«, das im 1. Satz auf der »tabula sma- ragdina«11 festgehalten ist, ergänzen zu können durch den neuen Grundsatz »innen wie außen«. Poseidon-Tempel in Paestum Werden wir dann - nach einem Gedanken Steiners - Bauten haben, durch de- ren Formen »sich Friede und Harmo- nie in die Herzen ergießen wird«? »Ge- setzgeber«, sagt Steiner, »werden solche Bauten sein. Und dasjenige, was nicht erreichen können äußerliche Veranstal- tungen, das werden erreichen die For- men dieser unserer Gebäude. […] Auch der Berliner Reichstag [seit 2000 wieder Sitz des Deutschen Bun- destages] wie das Österreichische Parlament in Wien [rechts] und die Börse in New York [unten] sind Beispiele für Rückgriffe auf die antike Formensprache Wahre Heilung vom Bö- sen zum Guten wird in der Zukunft für die Men- schenseelen darin liegen, dass die wahre Kunst je- nes geistige Fluidum in die menschlichen Seelen und in die menschlichen Herzen senden wird, so dass diese Menschenseelen und -herzen – wenn sie das Fluidum auf sich wirken lassen von dem, was geworden ist in ar- chitektonischer Skulptur und anderen Formen – dann, wenn sie lügnerisch veranlagt sind, aufhören zu lügen; dass, wenn sie friedensstörerisch veranlagt sind, aufhö- ren, den Frieden ihrer Mitmenschen zu stören. Baulichkeiten werden zu spre- chen beginnen.»12 Was zu prüfen wäre – und wir wollen es prüfen! 11 Siehe dazu die deutsche Übersetzung der Tabula Smaragdina des Hermes Trismegistos auf: de.wikisource.org/wiki/Smaragdtafel 12 Rudolf Steiner am 17. Juni 1914; Wege zu einem neuen Baustil [»Und der Bau wird Mensch«], GA 286, S. 64
Man darf aber bei dem, was man dann dergestalt in relativ kurzer Zeit kon- kret ausarbeiten und vorschlagen konnte, nicht vergessen, dass einige Zeit- genossen zuvor Jahrzehnte mit einer neuen Sozialwissenschaft am Erkennen der Idee des sozialen Organismus gearbeitet und produktive Ergebnisse er- reicht hatten, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, das zu finden, was, durch die Ereignisse im Zeitgeschehen herausgefordert, als Projekt mit dem Titel »Die Heilung der Wunde« für New York und als Projekt für die Europä- ische Union im Rahmen des Konstitutionsprozesses unter dem Namen MEDI- ANUM vorgeschlagen werden konnte. Was im konkreten Forschungszusammen- hang auch zu der Entdeckung führte, dass beide Motive, auf die wir beim Er- eignis »Nine-eleven« stoßen, auch schon bei Richard Wagner zu finden sind: Zum einen die Wandlung des Geld- begriffes, wie es die Legende von »Kosmas und Damian« impliziert, in einem Vortrag, den der junge Wagner am 14. Juni 1848 im revo- lutionären Dresden gehalten hat13 und zum andern die »Heilung der Wunde« in seinem letzten großen Werk, dem »Parsi- fal«. Beides hat etwas mit dem fünfgliedrigen Freiheits- wesen des Menschen zu tun, mit seiner Ich-Entwicklung vom im Triebhaften versklavten Ego, dem Kult des Egoismus aller Art, was das Leid auf der Welt erst her- vorgebracht hat, hin zum wahren, selbst- los handeln- den Ich, das in der Welt seinen Bei- trag im Ganzen und für das Ganze leistet: »Die Wunde schließt der Speer Beispiele von architektonischen Reminiszenzen auf den nur, der sie schlug«, lässt Wagner US-Dollar-Noten: Die Pyramide auf dem 1-Dollar-Schein Parsifal sagen. Und Steiner formu- [der die Pyraminde umrahmende Text lautet: »Unser Projekt wird erfolgreich sein – Die neue Weltordnung] liert ein »Motto für Sozialethik« mit Auf der 10-Dollar-Note ist das am 11. September (!) 1789 den Worten: »Heilsam ist nur, wenn eröffnete Finanzministerium abgebildet. im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.« [GA 40, S. 256] 13 »Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenüber?« Dort heißt es: »Wir werden erkennen, dass es der sündhafteste Zustand in einer menschlichen Gesellschaft ist, wenn die Tätigkeit Einzelner entschieden gehemmt ist, wenn die vorhande- nen Kräfte sich nicht frei rühren und nicht vollkommen sich verwenden können [...] Wir werden erkennen, das die menschliche Gesellschaft durch die Tätigkeit ihrer Glieder, nicht aber durch die vermeinte Tätigkeit des Geldes erhalten wird [...] Gott wird uns erleuchten, das richtige Gesetz zu finden, durch das dieser Grundsatz in das Leben geführt wird, und wie ein böser nächtlicher Alp wird dieser dämonische Begriff des Geldes von uns weichen mit all seinem scheußlichen Gefolge [...] Das wird die volle Emanzipation des Menschengeschlech- tes, das wird die Erfüllung der reinen Christuslehre sein, die sie uns neidisch verbergen hin- ter prunkenden Dogmen, einst erfunden, um die rohe Welt einfältiger Barbaren zu binden und für eine Entwickelung vorzubereiten, deren höherer Vollendung wir nun mit klarem Be- wußtsein zuschreiten sollen.« in: C. F. Glasenapp, Das Leben Richard Wagners, 2. Band, S. 534
W ir stehen vor einer apokalyptischen Alternative: Die Menschheit droht im Strudel des egozentrischen Individualismus unterzugehen, wenn nicht bald eine »Weltauffassung« sich globalisiert, die den Erfordernissen des sozialen Organismus nicht weniger Aufmerksamkeit schenkt als heute der zwar berechtigten, aber seit langem einseitig dominanten Tendenz zur Individualisierung.14 Dafür kann auch ein aus dieser Einsicht gewonnener, neuer baukünstleri- scher Impuls ein volkspädagogischer Ansporn sein. Joseph Beuys ist zu früh verstorben, um diese Aufgabe als eine Disziplin des »erweiterten Kunstbegrif- fes« explizit benennen zu können. Man kann aber Beuys nicht nur erst dann verstehen, »wenn man ihn schon verstanden hat«, wie Ulrich Rösch es in sei- nem Beitrag sinnig formulierte,15 sondern auch erst dann, wenn man seine Begrifflichkeiten offen hält für wesensgemäße »Erweiterungen.« Auch wenn, wegen unserer begrenzten materiellen Möglichkeiten, das Pro- jekt »Die Heilung der Wunde« in New York im Prozess der Urteilsbildung, was auf dem Gelände von Ground Zero an die Stelle treten sollte, von wo aus »Kosmos« und «Damian«, die Twin Towers, 28 Jahre lang die Skyline Man- hattans beherrschten, zunächst keine Rolle spielen konnte: Die Aufgabe be- steht noch immer, und sie besteht überall. Ich möchte meine fragmentarischen Anregungen, aus gewiss ungewöhnli- chen Perspektiven heraus gewisse Zusammenhänge mit dem einschneiden- den Ereignis vom 11. September 2001 in Beziehung zu setzen, mit einem Ge- danken abschließen, den ich bei Rudolf Steiner gefunden habe und der dem Sinn nach in unserer Besinnung zum Ausdruck gebracht wurde. Gegenüber den Priestern der gerade erst von diesen gebildeten »Bewegung für religiöse Erneuerung«, der »Christengemeinschaft«, sagte er in einem Vortrag über Fragen der Apokalypse des Johannes: »Es hat einzig und allein einen Sinn, wenn man an der Apokalypse selbst zum Apokalyptiker wird und aus diesem Apokalyptiker-Werden seine Zeit so verstehen lernt, dass man die Impulse dieser Zeit zu Impulsen des eigenen Wirkens machen kann.« [GA 346 S.125] 14Siehe auch Rudolf Steiner, in »Geisteswissenschaft und soziale Frage«, GA 34, S. 217 ff 15Siehe auch Ulrich Rösch, "Man kann Joseph Beuys erst verstehen, wenn man ihn schon verstanden hat« - Erläuterungen zum Geld- und Kapitalbegriff von Joseph Beuys, in: Jo- seph Beuys u.a.: Was ist Geld? Eine Podiumsdiskussion, FIU-Verlag, Wangen, , 1991. S. 81 ff
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