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w w w.t anzne t z .de Das Spielzeithe f t Nr. 6 2019 15 €+Ver s and D a s h e f t t S p i i e l z e 1
IMPRESSUM TANZERBE Herausgeberin Die traurigste Nachricht für die Tanzwelt kam völlig überraschend tanznetz.de © 2019 ganz am Ende dieser gerade vergangenen Spielzeit. Hans Kresnik, V.i.S.d.P. Nina Hümpel mit korrektem Vornamen Johann, verstarb ganz unerwartet im Alter von 79 Jahren an Herzversagen. Der „Berserker“ unter den Choreo- Redaktion grafen blieb von Anfang bis Ende der Idee „Den Körper in den Kampf tanznetz.de zu werfen“ treu. Jährlich machte er auf die Ungerechtigkeiten, Kor- Dachauer Straße 112 d ruption und Katastrophen unserer politischen Welt aufmerksam und 80636 München hätte heute noch so viel zu sagen gehabt. Wir werden ihn vermissen, redaktion@tanznetz.de wie strapaziös und irritierend seine provokanten Bilderschlachten auch immer gewesen sein mögen. www.tanznetz.de Schmerzlich vermisst wird auch immer noch Pina Bausch, die vor Kundenbetreuung und Anzeigen zehn Jahren starb. Einige WegbegleiterInnen erinnern sich auf sehr marketing@tanznetz.de persönliche Weise an sie. Tel.: 0160 8022003 Die erfreulichste Nachricht ist, dass Gert Weigelt im Herbst den Heftbestellung Deutschen Tanzpreis verliehen bekommt. Wir sind überaus stolz, marketing@tanznetz.de dass Weigelt, der das Gesicht von tanznetz.de mit seinen Fotos für Preis 15 Euro + Versand Kritiken sowie seinen zahlreichen Fotogalerien und Kolumnen seit so vielen Jahren prägt, den wichtigsten deutschen Preis der Szene erhält – als erster Fotograf überhaupt. Das ist doch mal ein Ding! Angesichts all der deutschen Schwergewichte, die wir in diesem Foto Cover Heft porträtieren, haben wir mal den Blick von Außen gewagt. Wie Reinhild Hoffmann und Ferenc Barbay sehen internationale KuratorInnen und VeranstalterInnen eigentlich in „Traktate“ von Hans Kresnik den zeitgenössischen Tanz aus Deutschland? Die Antworten aus Foto © Pierre Lepage aller Welt sind zum Teil ganz erstaunlich. Also los, lesen! Denn bald beginnt die neue Saison und dann sitzen wir im Theater und schauen Tanz. Auf der Suche nach relevanten, strapaziösen, irritierenden, verstörenden, ästhetischen, am liebsten diese Welt veränderten Produktionen. Daran hat sich seit den letz- ten 50 Jahren nichts geändert – denke ich. Nina Hümpel Das Spielzeitheft 2019 3
INHALT Rückblick auf die Spielzeit 2018/2019 06 Beordert 08 Entschieden 10 Geehrt 13 Verabschiedet 16 Nachruf auf Johann Kresnik 18 Tanzkongress 2019 26 Postmigrantische Interventionen im Tanz 42 Umfrage zur Spielzeit 2018/2019 53 Zeitgenössischer Tanz aus Deutschland 60 Erinnerungen an Pina Bausch 71 Tanzpreis Deutschland 83 Copenhagen International Choreography Competition 96 Martin Schläpfer geht nach Wien 104 Fotocredits 115 Team 116 Das Spielzeitheft 2019 5
2019 deutscher BEORDERT tanzpreis Der ehemalige Principal Dancer beim Alvin Ailey Tarek Assam, Ballettdirektor des Stadtthea- Tänzer und Choreograf Georg Reischl wird ab ter Gießen, wurde zum kuratierenden Leiter der Spielzeit 2019/2020 Chefchoreograf am Dance Theater und zuletzt Künstlerischer Leiter des Cedar Lake Contemporary Ballet in New York, tanz-gala und auf europäischer Seite für das 1. International Theater Regensburg. Er wird damit Nachfolger Benoit Swan Pouffer, wird neuer Künstlerischer preisverleihung Greater Bay Dance and Music Festival 2018 von Yuki Mori, der zum Ende der Spielzeit das Leiter der zeitgenössischen Londoner Kompanie bestellt. Seit 2011 kooperiert er mit Tanzen- sembles aus China und regelmäßig präsen- Theater nach sieben Jahren verlässt. Rambert. Gert Weigelt tieren sich diese bei den jährlichen TanzArt ostwest-Festivals. Zudem wurde Tarek As- Die beiden Ex-TänzerInnen Wendy Whelan und 19.10.2019, 18 Uhr, Der ehemalige Tänzer des Royal Danish Ballet sam mit dem Gießener Theaterpreis denkmal Jonathan Stafford übernahmen im März 2019 Aalto Theater, Essen für besondere Verdienste um das Theater in und Gründer der Copenhagen International die Künstlerische Leitung des New York City Choreography Competition, der Belgier Cédric Gießen und sein Engagement für den Tanz im Ballet (NYCB). Choreograf Justin Peck steht Lambrette, wird mit der Spielzeit 2019/2020 Theater sowie die regionale wie internationale Vernetzung der Tanzcompagnie geehrt. ihnen als Berater zur Seite. Ballettmeister am Luzerner Theater. ehrungen Der ehemalige Künstlerische Leiter des Zür- Isabelle Schad Der choreografische Assistent am Nationalthe- Die renommierte irische Choreografin Marguerite ater Mannheim, der Italiener Giuseppe Spota, cher Theaterspektakels, Sandro Lunin, ist neuer Künstlerischer Leiter des Theaterfesti- Donlon wird ab der Spielzeit 2019/2020 Ballettdi- rektorin und Chefchoreografin am Theater Hagen Jo Parkes / Mobile Dance übernimmt zur Spielzeit 2019/2020 die Nach- val Basel. und löst Alfonso Palencia ab. folge von Bridget Breiner als Ballettdirektor am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. 18.10.2019, 19 Uhr, Der ehemalige Tänzer des Tanztheater Wup- pertal Pina Bausch und Professor für Zeitge- Zur Spielzeit 2020/2021 tritt der argentinische PACT Zollverein, Essen Carlos Acosta, kubanischer Ballett- und Film- Choreograf Demis Volpi die Nachfolge von Martin nössischen Tanz, Dr. Stephan Brinkmann, hat Schläpfer als Ballettdirektor und Chefchoreograf star (YULI), wird ab Januar 2020 die Leitung im November 2018 nach einstimmiger Wahl des Birmingham Royal Ballet übernehmen und den derzeitigen Direktor David Bintley ablösen. durch das Kollegium die Leitung des Instituts des Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg an. tagung für Zeitgenössischen Tanz (IZT) der Folkwang Universität der Künste in Essen übernommen. positionen: tanz Zum Sommersemester 2019 trat Dr. Katja Schneider die neue Professur für Tanzwissen- 18./19.10.2019, schaft an der Hochschule für Musik und Darstel- PACT Zollverein, Essen lende Kunst in Frankfurt am Main (HfMDK) an. Tickets: 0201/8122 200 oder tickets@theater-essen.de Anmeldung zur Tagung: www.deutschertanzpreis.de Gefördert durch Stadt Essen, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW sowie aus Mitteln des Bundes; Medienpartner: tanz-Zeitschrift, tanznetz.de Das Spielzeitheft 2019 9 Abb. ©Gert Weigelt
ENTSCHIEDEN nar ol M y E m il r v e S u tin chef Ralf Rossa trat am 01. und das Landesministerium Das Staatstheater Cottbus Künste, die zu den bedeu- Alastair Macaulay, Chef- Vi e April 2019 in den sofortigen für Kultur und Wissenschaft hat unter der Direktion von tendsten in Deutschland Tanzkritiker der New York n Ruhestand. Kommissarisch stellen der Kölner Tanzszene Dirk Neumann eine eigene zählen: Forum Freies Theater Times, legt seinen Beruf übernahm Michal Sedláček, 905.000 Euro zur Verfügung. Ballettsparte bekommen. (Düsseldorf), HAU (Berlin), nieder. Erster Solist und stell- Die Förderung findet im Rah- HELLERAU – Bet vertretender Direktor der men des Programms Neue Europäisches Zentrum der t in n Kompanie, die Leitung des Wege statt. Im Gegenzug Künste (Dresden), Kampna- Chr t m an a Am 9. November 2018 star- Im Anschluss an eine Ab- nach seinem früheren Leiter verpflichtet sich die Stadt Wa gel (Hamburg), Künstlerhaus benannten Ballett Rossa. Köln ihren Betriebskostenzu- tete die Kampagne Erklärung schiedstournee wird sich im Mousonturm (Frankfurt is g e r- B der Vielen. Angestoßen und Frühjahr 2020 die Richard schuss für die Bühnen Köln am Main), PACT Zollverein in den beiden kommenden entwickelt durch den im Juni Alston Dance Company auf- (Essen) und tanzhaus nrw Spielzeiten um je 300.000 2017 gegründeten Verein DIE lösen, die 1994 gegründet er er (Düsseldorf). lt u d R o g ge C ar Der Wuppertaler Stadtrat VIELEN e.V. schlossen sich wurde. lo Euro zu erhöhen. n hat im Dezember 2018 den unter der Erklärung bundes- Durchführungsbeschluss s weit Kultureinrichtungen in Ac zum Bau des Tanzzentrums regionalen und städtewei- Der Haushaltsausschuss des o st a Die ehemalige stellvertre- Pina Bausch einstimmig Für drei weitere Jahre ist ten Verbünden zusammen, Deutschen Bundestages hat angenommen. Dafür soll Tarek Assam, Ballettdirektor tende Direktorin und Dra- um mit einer Erklärung der im November 2018 Mittel in das ehemalige, denkmal- des Stadttheater Gießen, als maturgin des Bayerischen Vielen ein Zeichen gegen Höhe von bis zu 1,3 Millio- geschützte Schauspielhaus Sprecher der Bundesdeut- Staatsballetts, Bettina Rechtspopulismus und völ- nen Euro für die Stärkung umgenutzt werden und der schen Ballett- und Tanzthe- Wagner-Bergelt, übernahm kisch-nationales Denken zu der bundesweiten Kopro- Bau soll 2026 abgeschlos- aterdirektoren Konferenz im Januar 2019 für die setzen. Sie verpflichten sich duktions- und Gastspielför- sen sein. Finanziert wird (BBTK) bestätigt. Ins Präsidi- Dauer von zwei Jahren die für die Vielheit und Freiheit derung Tanz international das Projekt, das sich aus um wurden John Neumeier künstlerische Leitung des der Kunst einzustehen und freigegeben. Das Förderpro- dem Tanztheater Wuppertal (Hamburg), Dr. Christiane Tanztheater Wuppertal Pina eine offene, plurale und de- gramm wurde 2013 erstmalig Pina Bausch, dem Produkti- Theobald (Berlin), Ivan Liška Bausch. Unterstützt wird sie, mokratische Gesellschaft zu aus Mitteln der Beauftragten onszentrum, der Pina-Bau- (München), Honne Dohrmann in gleichberechtigter Positi- Der Kanadier Aaron S. Watkin unterstützen. der Bundesregierung für Kul- sch-Stiftung und dem Forum (Mainz), Steffen Fuchs (Kob- on als Geschäftsführer, von bleibt bis 2023 Ballettdi- tur und Medien (BKM) etab- Wupperbogen zusammen- lenz), Alexandra Georgieva Roger Christmann, der seit rektor an der Semperoper liert und wird vom Nationalen setzt, von Land und Bund (Berlin), Heather Jurgensen 2012 als selbständiger Bera- Dresden. Performance Netzwerk (NPN) mit 58,4 Millionen Euro. (Kiel) und Tarek Assam (Gie- Der Vertrag von Ballettdirektor ter im Kulturbereich tätig ist. getragen. ßen) gewählt. Geschäftsfüh- Karl Alfred Schreiner am Münchner Gärtnerplatztheater rer bleibt Oliver Königsfeld Der Kulturfonds Frankfurt (Düsseldorf). wurde bis 2021 verlängert. Im Mai 2019 stimmte der Die Finnin Virve Sutinen RheinMain unterstützt die Die gemeinsame Initiative Dresdner Stadtrat zu den bleibt bis 2022 Künstlerische Fortführung und Weiterent- von Kommunen, Bundeslän- Erbbaurechtsvertrag für die Leiterin des Berliner Festi- wicklung der Tanzplattform dern und der Beauftragten Villa Bautzner Straße 107, Ab August 2020 wird die Der Haushaltsausschuss des vals Tanz im August. Rhein-Main von 2019 bis 2022 der Bundesregierung für Kul- ehemals Tanzschule und kanadische Tänzerin Emily Deutschen Bundestages hat mit bis zu 1,08 Millionen Euro. tur und Medien, TANZPAKT Wohnhaus von Mary Wigman, Molnar die Künstlerische die Weiterförderung vom Stadt-Land-Bund, fördert mit dem Verein Villa Wigman Leitung des Nederlands Bündnis internationaler 2019 mit rund 2,2 Millionen Der Vertrag von Nina Produktionshäuser in den für Tanz e.V. abzuschließen. Dans Theater übernehmen Euro die Exzellenz im Tanz. Hümpel für das DANCE, Der tschechische Ballett- Jahren 2019 bis 2021 in Höhe und somit Paul Lightfoot Die sieben ausgewählten internationales Festival für tänzer und Choreograf Jiří von insgesamt 12 Millionen ablösen. Projekte kommen aus Dres- zeitgenössischen Tanz der Kylián, der über zwei Jahr- Euro beschlossen. Das Bünd- den, Berlin, Köln, Düsseldorf, Landeshauptstadt München, zehnte als Künstlerischer nis internationaler München, Bremen/Hannover wurde bis 2021 verlängert. Direktor das Nederlands Produktionshäuser ist ein und Stuttgart. Dans Theater prägte, wurde Zusammenschluss von sie- im März 2019 neues Mitglied ben Institutionen der zeit- der Pariser Académie des genössischen performativen Das NRW-Kultursekretariat Halles langjähriger Ballett- Das Spielzeitheft 2019 11
GEEHRT Der Chefchoreograf und Duett „We Are Nowhere Else Das Ensemblemitglied beim Bei der Biennale Danza in Künstlerische Direktor des But Here“ sowie an den Staatstheater Nürnberg Bal- Venedig erhielt der italieni- Ballett am Rhein Düsseldorf Tänzer Guido Dutilh vom lett, Rachelle Anais Scott, ist sche Choreograf Alessandro Duisburg, Martin Schläpfer, NDT für seinen Part in Marco im November 2018 in Mün- Sciarroni den Goldenen Lö- wurde 2018 mit dem Ver- Goeckes „Wir sagen uns chen mit dem Bayerischen wen für sein Lebenswerk. dienstorden der Bundesre- Dunkles“. Kunstförderpreis der Sparte D u t il h publik Deutschland geehrt. Tanz geehrt worden. do ui Die Verleihung fand zum Tag Im März 2019 wurde John G der Deutschen Einheit unter Neumeier, Ballettdirek- Die Choreografin und Perfor- dem Motto „Kultur verbin- Gabriel Figueredo, Schüler der tor und Chefchoreograf merin Ofelia Jarl Ortega hat det!“ statt. John Cranko Schule Stuttgart, des Hamburg Ballett, der für ihre Performance „B. B.“ den ImPulsTanz – Young Cho- gewinnt nicht nur den ersten Freundschaftspreis der reographers Award erhalten. Preis in der Classical Dance Volksrepublik China verlie- Der undotierte Ideenpreis Category beim Youth Ameri- hen. Der stellvertretende Der Heinrich der Heinrich ca Grand Prix, sondern auch Wissenschaftsminister Jian- Böll Stiftung NRW ging 2018 als bester männlicher Tänzer guo Zhang überreichte ihm Die Intendantin des Theater u fl h a r d an das tanzhaus nrw in Düs- den Prix de Lausanne und die höchste Auszeichnung Kampnagel Hamburg, Amelie seldorf. Die Jury hat nach den Dance Europe Magazine des Landes für ausländische Deuflhard, ist Europäische Projekten gesucht, die sich Award. Zudem wurde er mit ExpertInnen, die in heraus- Kulturmanagerin des Jahres De künstlerisch mit dem Thema dem Heinz-Bosl-Preis ausge- ragender Weise zur wirt- b rie l Fig 2018. Diese Ehrung erhielt li e Europa befassen und ins- zeichnet. schaftlichen und sozialen A me Ga u sie auf dem Europäischen besondere junge Menschen Entwicklung in China sowie er Kulturmarken-Award, der im ansprechen. zur Zusammenarbeit und ed November im Radialsystem dem Ausausch des Landes o in Berlin stattfand. Sie ge- Anlässlich der Finissage der mit der Welt beitragen. höre zu den herausragenden Ausstellung „Gert Weigelt. Die zwei SchülerInnen der AkteurInnen der deutschen Autopsie in schwarz/weiß“ Chun Z John Cranko Schule Stutt- und europäischen Theater- wurde Fotograf Gert Weigelt h gart, Yuki Wakabayashi und landschaft und habe seit zu Beginn des Jahres 2019 in Matteo Miccini, Tänzer des Motomi Kiyota, gewinnen Mitte der 1990er Jahre die Köln mit dem Stiftungspreis Stuttgarter Balletts, wurde an g jeweils den 1. Preis beim internationale freie Szene für Photographie im Anden- im Rahmen des ApuliArtFes- Grand Prix Kiew 2019. der darstellenden Künste ken an Walter Boje ausge- tivals in der Kategorie Bester entscheidend mitgeprägt. zeichnet. italienischer Tänzer im Aus- land geehrt. „Lucky Bastards“ von Edan Gorlicki und „Supermann“ Gewinnerin des mit 25.000 Beim 23. Internationalen l P it e vom La_Trottier Dance Dollar dotierten Grand Prix Solo-Tanz-Theater Festival Den mit 20.000 Euro dotier- Collective erhalten den de la Danse de Montréal 2019 in Stuttgart wurden ten Deutschen Tanzpreis er- sta Tanz- und Theaterpreis der 2018 ist die kanadische Bal- in der Kategorie Choreo- hält im September 2019 der ry C Stadt Stuttgart und des letttänzerin und Choreogra- grafie Leila Ka (Frankreich), Fotograf Gert Weigelt. Für Landes Baden-Württemberg. fin Crystal Pite. Nina Plantèfeve-Castryck signifikante Entwicklungen (Belgien) und Shirly Barbie im zeitgenössischen Tanz (Israel) ausgezeichnet. In werden das Schaffen der der Kategorie Tanz gingen Tanz- und Videokünstlerin Der renommierte niederlän- Marian Walter, Erster So- Preise an Linda Cordero Jo Parkes sowie der Tänzerin dische Tanzpreis Schwan lotänzer des Staatsballetts Rijo (Italien), Seth Buckley und Choreografin Isabelle ging im Oktober 2018 an Berlin, erhält den Ehrentitel (Kanada) und Loretta Pelosi Schad mit jeweils 5.000 Euro Stephen Shropshire für sein „Berliner Kammertänzer“. Oliveira (Brasilien). gewürdigt. Das Spielzeitheft 2019 13
DANCE! GEEHRT And Afterwards? We will be pleased to help you, free of charge. Der Deutsche Theaterpreis Pforzheims Ballettdirektor Die Bielefelder Tänzerin DER FAUST wurde 2018 in Guido Markowitz wurde von Noriko Nishidate erhielt den der Kategorie Choreogra- der Iwanson-Sixt-Stiftung Dr. Otto-Kasten-Preis 2019, fie an tanzmainz für „Soul mit dem Isadora-Preis aus- den wohl bedeutendsten Chain“ von Sharon Eyal und gezeichnet. deutschen Nachwuchspreis, in der Kategorie Tanz an der seit 1985 alle zwei Jahre Ramon A. John vom Hessi- von der Intendantengruppe schen Staatsballett Wies- des Deutschen Bühnenver- Der Kurt-Jooss-Preis 2019 baden Darmstadt für die eins vergeben wird. Erstmals wurde an die chinesische Rolle des Wanderers in „Eine ging er an eine Tänzerin. Tänzerin und Choreografin Winterreise“ vergeben. Chun Zhang für die Arbeit „Being far away from“ ver- geben. Im Juli 2019 hat die scheiden- A . John Der diesjährige Tanzpreis der de Direktorin des Badischen on Stiftung TANZ - Transition Zentrum Deutschland m Stadt München wurde im Staatsballett Karlsruhe, Kollwitzstraße 64 | 10435 Berlin | Tel: 030 - 32 667 141 Ra Juni 2019 an Professorin Dr. Birgit Keil, den „Goldenen info@stiftung-tanz.com | www.stiftung-tanz.com Beim 33. Internationalen Wett- Claudia Jeschke vergeben. Ehrenfächer“ der Kunst- und bewerb für Choreographie Spendenkonto: Konto 064978000 | BLZ 10070000 | Deutsche Bank Der Tanzpreis ist mit 10.000 Theatergemeinde Karlsruhe Hannover 2019 wurden Oscar Euro dotiert. Ausgezeichnet e.V. erhalten. Außerdem Buthelezi (Südafrika), Danae werden besondere Leistun- erhielt sie die Stauferme- N is hi d & Dionysios (Griechenland) ko at gen in allen Stilrichtungen daille in Gold des Landes ri und Giovanni Gava Leonar- des Tanzes und Persön- Baden-Württemberg. No duzzi (Italien) ausgezeichnet. e lichkeiten, die München als Kulturstadt Geltung und Ansehen verschaffen. Tänzer, Choreograf und Bei der 6. Ausgabe der Tanz- Regisseur Johann Kresnik plattform Bern, dem Festival wurde im Juli 2019, im An- Erste für NachwuchschoreografIn- S puck Zürichs Ballettdirektor nen, gewann Po-Cheng Tsai schluss an die Eröffnung des Oktober Spielzeithälfte an Christian Spuck erhielt den aus Taiwan den Jurypreis für ImPulsTanz – Vienna Inter- 10. > 13. & 16. > 20. Saison i st Prix Benois de la Danse 2019 national Dance Festival, im seine Choreografie „Orthrus“. HELLERAU - Europäisrches Zentrum der Künste, Dresden 2019/2020 C h ri für sein Ballett „Winterreise“. Volkstheater das Goldene BALLETTABEND Der Publikumspreis ging an Verdienstzeichen des Landes mit einer Dresdenpremiere von Jacopo Godani „Trial“ des vietnamesischen Wien verliehen. Tänzers und Choreografen Tu November Der Fonds Darstellende Ngoc Hoang. 2., 3. Künste verlieh im Mai 2019 Frankfurt LAB, Schmidtstraße 12 den Tabori Preis an Monster Bei der 12. Copenhagen Zu Gast aus Tel Aviv Truck und zwei Auszeich- International Choreography Gil Kerer, Nitsan Margaliot, Roni Chadash nungen an die Ben J. Riepe Competition 2019 (CICC) In Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main Kompanie und machina eX. wurden Kwame Asafo-Adjei im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen 2019 (Großbritannien), Gil Kerer (Israel), Lotem Regev (Israel, Dezember Ungarn) und Giovanni Insaudo 12. > 15. & 18. > 22. (Italien) ausgezeichnet. Bockenheimer Depot, Frankfurt am Main Uraufführung DRESDEN FRANKFURT DANCE COMPANY MEETS ENSEMBLE MODERN Choreografie Jacopo Godani Dirigent Josep Planells Schiaffino Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und die Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) dresdenfrankfurtdancecompany.de Gefördert durch die Landeshauptstadt Dresden und den Freistaat Sachsen sowie die Stadt Frankfurt am Main und das Land Hessen. Company-in- Residence in HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden und im Bockenheimer Depot in Frankfurt am Main. Das Spielzeitheft 2019 15
VERABSCHIEDET Am 01. Juli 2018 ist die Choreografin vom Musi- Der 23-jährige, armenische Balletttänzer Vahagn cal „Cats“, Gillian Lynne, mit 92 Jahren im Lon- Margaryan erliegt am 20. November 2018 den doner Princess Grace Hospital verstorben. Folgen eines schweren Autounfalls. Der 1930 in Amerika geborene Choreograf Paul Der langjährige Professor für Modernen Tanz Taylor ist am 29. August 2018 im Alter von 88 der Folkwang Universität der Künste in Essen, Jahren in New York an einem Nierenversagen Jean Cébron, verstarb im Februar 2019 mit 91 gestorben. Nach einer Tanzausbildung an der Jahren in seinem Heimatland Frankreich. Als New Yorker Juilliard School schloss er sich Pädagoge und Choreograf beeinflusste er die 1955 der Martha Graham Company an. Außer- deutsche Tanzlandschaft der letzten Jahr- dem war er 1959 als Gastkünstler am New York zehnte maßgeblich. City Ballet auf Einladung von George Balanchi- ne tätig. Zu den bekanntesten Werken zählen „Aureole“ (1962), „Esplanade“ (1975), „Sunset“ Der ehemalige Direktor des Semperoper Bal- (1983) und zuletzt „Beloved Renegade“ (2008). letts, Thomas Hartmann, verstarb im Februar 50 seiner Arbeiten sind mit Labanotation do- 2019 im Alter von 66 Jahren. Ausgebildet an kumentiert. der Palucca-Schule in Dresden war er seit 1972 als Solist und später als Direktor dem Ballett der Semperoper für mehr als zwanzig Jahre Am 19. September 2018 verstarb im Alter von verbunden. Auch das Ballett in Plauen-Zwickau 84 Jahren der gebürtige New Yorker Arthur gestaltete er als Ballettmeister und Choreograf Mitchell, Gründer und langjähriger Künstleri- maßgeblich. scher Leiter des Dance Theatre of Harlem. Er wurde an der School of American Ballet aus- gebildet und gab 1955 sein Debüt bei George Der Hollywood-Musical-Regisseur Stanley Donen Balanchines New York City Ballet. Arthur Mit- ist am 21. Februar im Alter von 94 Jahren ge- chell war einer der ersten afroamerikanischen storben. Er kam als Broadwaytänzer und Assis- Balletttänzer; trotz noch deutlich vorhande- tent von Gene Kelly nach Hollywood und schuf ner Rassentrennung wurde er aufgrund sei- mit ihm 1952 den legendären Film „Singin‘ in ner brillanten Technik und seines darstelleri- the Rain“. schen Könnens zum Ersten Solisten ernannt. Er kämpfte nicht nur als Tänzer, sondern auch als Pädagoge und Kompaniedirektor für die Gleichstellung afroamerikanischer TänzerInnen Im März 2019 ist überraschend Regine Popp, und eine unabhängig von der Hautfarbe statt- deutsche Jazztänzerin, Sportlehrerin im Tanz findende Bewertung des klassischen Balletts. und ehemalige Assistentin von Matt Mattox, im Alter von 71 Jahren verstorben. Der britische Tänzer und Choreograf Philip Lansdale ist am 10. Oktober 2018 überra- schend gestorben. Seine siebenjährige Ballet- tausbildung erhielt der 1952 Geborene an der renommierten Royal Ballet School in London. Von 1998 bis 2005 war er Ballettdirektor am Theater Bielefeld, wo er 16 abendfüllende Cho- reografien erarbeitete. Das Spielzeitheft 2019 17
JOHANN KRESNIK IST TOT Ein persönlicher Abschied von Heide-Marie Härtel Hans Kresnik flüchtete aus seinem Geburtsland Österreich, als ihn das Bundesheer einziehen wollte. „Den Körper in den Kampf werfen“, – sein späteres Motto, das wollte er auf den Schlacht- plätzen der aktuellen Weltgeschichte nicht. Zu Beginn des Zwei- ten Weltkriegs als Bauernsohn geboren, war er früh ungewollt zum Zeitzeugen einer grausamen Kriegsmaschinerie geworden. Seinen Vater, Wehrmachtssoldat des schon angeschlossenen Hitlerreichs, erschossen Partisanen als Hans drei Jahre alt war. Ob wir noch erfahren werden, warum ausgerechnet Bre- men als Fluchtpunkt des jungen Tänzers galt? Im Theater war Heide-Marie Härtel und Falco Dreyer Bremen damals eher Provinz, auch im Tanzbereich. Es fehlten bei Proben zu „Traktate“ immer Männer im Ballett, er hätte es sich aussuchen können. © Pierre Lepage Das Zentrum der westdeutschen Tanzwelt war in den 1960er Jahren nicht Bremen, sondern Köln. Hier wollte man sich abnabeln vom Ruf des sogenannten „Deutschen Ballettwunders“ in Stuttgart. Das gelang prächtig. Maurice Béjart, Martha Graham, alle Größen der internationalen modernen Szene gastierten hier und die Sommerakademie bot jedes Jahr 500 TänzerInnen die Chance, die TanzlehrerInnen der Welt kennenzulernen. Kresnik war da und blieb als Tänzer unter der Leitung von Aurel von Mil- loss, trainiert von Leon Woizikowsky und Peter Appel, der später auch die Kompanieleitung übernahm. In Köln hat das Naturtalent Kresnik seine eigentliche Tanzausbildung erhalten. Hier ist er mir, der Tanzstudentin der Kölner Tanzakademie, aufgefallen. Er war schnell, sprunggewaltig, risikobereit. Seine Double-Touren sollen gerüchteweise das Ergebnis einer Wette um einen Kasten Bier gewesen sein. Peter Appel war als Kompaniechef kein Choreograf, aber er lud die Welt ein, um für seine TänzerInnen zu choreografieren. Selbst Balanchine kam. Aber er gab auch seinen TänzerInnen die Chance, etwas Eigenes zu machen. Mit sehr kurzen Probenzeiten mussten sie dann alleine weiterkämpfen. Keine drei Monate nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 formulierte der junge Kresnik seine choreografierte Meinung dazu, lautstark, für die Ballettwelt unüberhörbar, weil im Kontext des „Internationalen Choreographenwettbewerbs“ in Köln. Die gehasste Bild-Zeitung segelte vom Himmel auf die „Tänzer-Demo“ nieder. Kresnik alias Dutschke wurde angeschos- sen, – mein Held war geboren. Eine Brücke gebaut zwischen der Kunst, die wir liebten und der Realität der Wirtschaftswun- der-Ära, freudlos, farblos, genussfeindlich. Ich las Adorno und Marcuse, sang auf Demos in Köln die Internationale und tanzte trotzdem mit Hingabe den Schwan. Das Spielzeitheft 2019 21
Die Tanzkritik rebellierte mit. Sogar mit Notstandsgesetzgebung, Vietnamkrieg, mittelalterlicher Patriarch, ohne Tabus, nicht maligen Direktor der Bremer Landesbank. Das Klaus Geitel, Kritikerpapst der WELT, schrieb Aufrüstung, Woodstock, Studentenunruhen. wie bei Pina Bausch, die auch mir so arg „hei- brillante Stück sparte nicht mit Kritik an der zu Kresniks Stück „Susi Cremechees“ 1968: In Bremen redeten die SchauspielerInnen der lig“ schien. Er liebte seine TänzerInnen, er mu- Wohlstandsgesellschaft und ihrer Reaktion auf „Ein Stück für Tausendfüßler und Trampeltie- Hübner-Ära wie Bruno Ganz, Mechthild Gross- tete ihnen zu, das ganze Elend und die Ver- die Verzweiflungstaten einer ehemals renom- re. Beinsalat wird angerichtet; die Absurdität mann, Hannelore Hoger und viele andere in der kommenheit der Gesellschaft auf die Bühne mierten Journalistin. Es endete mit der verbo- des Balletts ironisch potenziert.“ Kresnik gilt Kantine über Mitbestimmungsmodelle im The- zu bringen. Ein Tollhaus! Man stritt sich und tenen Strophe der deutschen Nationalhymne, als Hoffnungsträger für die Sparte: ”Der Tanz ater. Die Tänzerinnen und Tänzer wollten sich vertrug sich wieder, ging weg, kam wieder. Oft gesungen von Heino. Mir wurde immer mul- tritt nicht mehr auf der Stelle, er erobert sich mehr auf ihre Hauptarbeit an Stücken konzen- schmerzhaft, immer mit viel Energie und auch miger zumute. Jetzt würde er es übertreiben, neue Ausdrucksmittel und versucht, sie gezielt trieren, verhandelten über Befreiung von der Ängsten verbunden. Wir waren die Farben sei- fürchtete ich. Geradezu frenetischer Beifall, einzusetzen.” Arbeit in Oper und Operette. Kresnik führte so- ner lebenden Gemälde. auch von meinen beiden Sitznachbarn been- weit es ging gleiche Verträge für alle ein. dete den Abend. Ich war ratlos. Die Plattform, die die Kölner Tanzsze- Kresnik wollte eigentlich Maler werden. ne bot, erwies sich auch für Kresnik als Kar- Es entstanden Stücke wie „PigAsUs“ ge- Sein Stiefvater, KPÖ-Mitglied, hat dies abge- Kresnik lieferte seine Kreationen schier rieresprungbrett. Der Schauspieler Rolf Becker, gen den Rassenhass in den USA, „Kriegsanlei- lehnt. Kresniks erstes Talent und seine Leiden- endlos, immer pünktlich bis letztes Jahr. damals Oberspielleiter der Bremer Oper wurde tung für Jedermann“ gegen den Vietnamkrieg, schaft fürs Zeichnen zieht sich trotzdem durch Nach Bremen kamen Engagements in Heidel- vom Intendanten Kurt Hübner aus Bremen ge- „Schwanensee A.G.”, wo der Prinz mit Panzern sein ganzes weiteres Künstlerleben. Er belebt berg, dann wieder Bremen, Berlin und Bonn schickt, sich diesen Jungen Wilden einmal an- spielte oder „Bilder des Ruhms“ über den Mas- seine Bilder, verblendet, verfremdet, verzerrt zuletzt. Dazu seine überregionale Regiearbeit zuschauen, denn die alte Bremer Ballettgarde senmörder und Kinderschänder Gilles de Rais sie wie ein George Grosz oder Egon Schiele. in Oper und Schauspiel. Das Goethe-Institut passte nicht so recht in das Avantgarde-En- aus dem 15. Jahrhundert. Die Wucht seiner Ide- Die Kritik, dass Kresnik allzu oft „holzschnittar- schickte ihn mit seiner Kompanie durch die semble mit Regisseuren wie Peter Zadek, Peter en war auch getrieben vom „Prinzip Hoffnung”, tig“ in seinen Kreationen wird, kann ihn kaum Welt, insbesondere Südamerika hat er geliebt Stein, Wilfried Minks, Rainer Werner Fassbinder. dem wegweisenden Hauptwerk des Philoso- treffen, denn er denkt vom Bildermachen her. und die Menschen dort ihn. Aber er bleibt ein phen Ernst Bloch, mit dem Kresnik übrigens Einzelkämpfer im Tanz, einmal abgesehen von Kresnik nahm alles mit, was Köln ihm gelegentlich eine Partie Schach spielte. Ich erinnere mich wie heute an die Pre- der bemerkenswerten Arbeit der japanischen geboten hatte, das exzellente Training, den miere von „Ulrike Meinhof“ 1990. Kresnik war Choreografin und ehemaligen Kresnik-Tänzerin Emanzipationsgedanken des Tanzes als gleich- Kresniks Leiden an der Menschheit fiel nach Bremen zurückgekehrt. Ich saß zufälliger- Yoshiko Waki. Während Pina Bausch sich als berechtigte Sparte im Stadttheater, den mo- katholisch aus, gepaart mit Sinnenfreude bis weise zwischen einem früheren Kultursenator, Direktorin der Tanzabteilung der Folkwang- dernen Unterricht, den Jazztanz der Sommer- Wollust. Er war wild, oft auch unberechenbar. der Kresniks Arbeit gegenüber nicht gerade schule über Jahrzehnte den eigenen inter- akademie und seine Wut auf die Politik der Zeit Unser „Tanzpapst“ lebte und arbeitete wie ein sympathisch gesonnen schien, und dem da- Das Spielzeitheft 2019 23
30 Jahre nationalen Nachwuchs stituts Bremen, in dem Tanzfilm-ProdukTion Tanzfilm-archiv schaffen konnte und wir auch Kresnik-Pro- thematisch keine regi- duktionen filmisch do- onalbezogenen politi- kumentierten, seine schen Themen anging, Videosammlung digi- blieb Kresnik seiner Me- talisierten und 2017 in thode treu - es musste der Reihe „Zeugen des weh tun, um das Publi- Tanzes“ eine filmische kum aufzurütteln. Biografie zu Hans pro- duzierten. In diesem Jedes Jahr ein Jahr feiert das Deut- neuer aktueller Anlass sche Tanzfilminstitut, in Politik und Gesell- das inzwischen Europas größtes Tanzfilmar- schaft für ein neues Stück oder eine Person, chiv beherbergt, seinen 30-jährigen Geburts- video-digiTalisierung video-resTauraTion lecTures dessen Lebenswerk ihn interessierte. Die Zahl tag - leider ohne Hans. der Auftritte in einem Drei-Sparten-Haus wa- ren für uns TänzerInnen nicht immer zufrie- Hans Kresnik starb am 27. Juli 2019 in denstellend. Repertoirepflege kam uns in den Klagenfurt. Plötzlich und für uns alle unerwar- 1970ern nicht in den Sinn, schien altbacken. tet. Für den Knall müssen wir jetzt selber sor- Lieber etwas Neues machen. Ich ging, um zu gen. Das hat er sich verdient. Das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen studieren. Pina Bausch wäre die einzige Alter- native gewesen. Das passte nun nicht mehr. • ist ein nationales Archiv zur Sammlung und Produktion audiovisueller Tanzdoku- Ich wollte diese Zeit trotzdem nicht verlieren. mente • ist eine Präsenzmediathek für Tanztheater und zeitgenössischen Tanz mit Durch die Schnelllebigkeit von Kresniks Pro- Heide-Marie Härtel, 1971-1978 Tänzerin mehr als 35.000 Titeln • ist eine Filmproduktion mit fünf digitalen und analogen duktionsweise, befürchtete ich, würde man bei Johann Kresnik, Kulturwissenschaft- Schnittplätzen • produziert Videodokumentationen, Tanzfeatures und Tanzbe- uns nie mehr glauben, dass wir mit Geweh- lerin, Filmemacherin, 1989 Gründerin Tanzfilm-mediaThek richterstattung für Theater, Tanzveranstalter und TV • restauriert und digitalisiert ren aus Holz auf der Bühne gestanden hatten, des Deutschen Tanzfilminstituts Bremen alte Videoformate mit historisch wertvollen Tanzfilmdokumenten • realisiert eine um gegen den Vietnamkrieg zu agitieren, dass innovative, multimediale Tanzdatenbank • unterstützt Choreographen und Thea- unser Schwanensee-Prinz mit Panzern spielte ter bei der Rekonstruktion von Tanzvorstellungen • präsentiert Vortragsreihen zur oder dass wir aus den Schwänen gestresste deutschen Tanzgeschichte weltweit • entwickelt web-basierte Mediatheken für Hühner gemacht hatten. Festivals, Museen und Tanzakademien • unterstützt Tanz- und Theaterforscher bei „Man muss das sehen!“ Dieser Gedanke ihrer Recherchearbeit • hilft Tanzstudenten und Tänzern bei der Entwicklung von und meine Ausbildung in Köln unter anderem Medienkompetenz • kooperiert mit nationalen und internationalen Tanzarchiven bei Kurt Peters, der die damals größte Tanz- bibliothek des Landes aufgebaut hatte (heute Tanz-daTenbank Deutsches Tanzarchiv Köln), führten schließ- lich zur Gründung des Deutschen Tanzfilmin- info@deutsches-tanzfilminstitut.de Am Wall 201, 28195 Bremen +49 (0) 421 24 05 50 www.deutsches-tanzfilminstitut.de Tanzsalon recherche Förderer: Das Spielzeitheft 2019 25
Tanzkongress ALLES ANDERS Ein Kongress als Choreografie - der Tanzkongress 2019 in Hellerau Das Spielzeitheft 2019 27
Alles sollte anders werden bei diesem Tanzkongress – tänzerischer, künstlerischer, performativer… Das erste Mal beauftragte die Kulturstiftung des Bun- des eine Künstlerin mit der Ausrichtung des alle drei Jahre stattfindenden Branchentref- Monatelang war der Homepage wenn man es denn schaffen würde, einen der Titel und Beschreibung der einzelnen Formate fens. Und zwar die Künstlerin , die letztes Jahr des Tanzkongress nichts zu ent- begehrten Plätze zu bekommen, war ja nach nicht, vor allem dann nicht, wenn man sich nehmen als einzelne zum Teil wie vor völlig unklar. Nur der Name ‚Meg Stu- nicht gut auskannte in der Esoterik-Szene und gemeinsam mit ihrer Kompanie beim Deutschen kryptische Statements wie „We art‘ stand im Raum – und dieser Name war/ die Verbindungen zu Performance nicht nach- Tanzpreis als „Herausra gende InterpretI nnen“ is a problematic word“ oder ist selbstverständlich viel mehr als ein ‚nur‘ - vollziehen konnte. Was war von einer Grup- geehrt wurde: Meg Stuart. Dass diese Besetzung „Chaos is not a problem“. Das er steht für die Anfänge des Zeitgenössischen penhypnose zu erwarten, was von „Dancing Menü war als bewegte Schlan- Tanzes in Brüssel, für die Suche nach einem and Planting“, was von „Transindividual Tant- für Aufmerksamkeit in der Tanzszene sor- genlinie gestaltet, Bewegung neuen Umgang mit Körper, Bewegung und ra“ oder „Dreaming Reality“? Vorträge gab es gen würde, war vorauszusehen, zählt Meg sollte anscheinend eine große Rolle spielen. Schon bald wurde Theater. Und für die „Übersetzung choreogra- fischer Ideen oder Strategien in andere Medi- nicht, Aufführungen gab es nicht – es schien wirklich alles anders zu werden. Stuart doch seit nun gut 30 Jahren zwischen KollegInnen diskutiert, was en und Formen“, wie Melanie Suchy anlässlich zu den Größen des Zeitgenössi- dieser Kongress wohl bringen würde, des Tanzpreises über Stuarts Arbeit schreibt. Anja K. Arend ob man hinfahre oder nicht. Für Viele war Nach der Öffnung der Akkreditierung am 6. schen Tanzes. Sie würde al- sofort klar, dass man da hinfahren muss, März war am 7. März schon nichts mehr zu les anders machen. denn immerhin richte Meg Stuart diese fünf machen – der Kongress war ausgebucht. 500 Tage aus und das dürfe man sich unter keinen TänzerInnen, ChoreografInnen, PerformerIn- Umständen entgehen lassen, es musste einfach nen, DramaturgInnen usw. hatten sich direkt spannend werden. hinter den Computer geklemmt, um dabei zu Und dann, als die ersten Informationen durch- sein. Viele andere hatten den kurzen Zeitslot, sickerten, der Schock: die Zahl der Teilnehmen- in dem die Anmeldung möglich war, schlicht- den war auf 500 begrenzt. 500 Tanzschaffende weg verpasst. Das war neu, das war überra- ist angesichts der Größe und Internationalität schend, das sorgte für Gesprächsstoff. der Tanzszene nicht viel. Das hatte es bei die- Sich einlassen, Mitmachen, Erfahren war und sem Kongress, zumindest seit seiner Neuauflage blieb die Devise. Information gehörte nicht 2006, noch nie gegeben. Tummelten sich 2016 in zum Konzept. Erst ein paar Tage vor Beginn Hannover doch mehr als 800 FachbesucherInnen trudelten ein bis zwei Mails mit Informatio- und 2013 in Düsseldorf mehr als 1000 Tanzschaf- nen bei den TeilnehmerInnen ein. Es sollte fende. Es klang durchaus vielversprechend, mit losgehen am Mittwochnachmittag und enden einer festen Gruppe über einzelne, gegenwärtig Sonntagnacht. Auf der Einpackliste standen in der Tanzszene brennende Themen zu disku- eine Wasserflasche, ein Becher, eine Yogamat- tieren und zusammen daran zu arbeiten. Weg te, ein Buch zum Tauschen und eine Pflanze. von einem großen Treffen hin zu einer wirklichen Auch das wieder ein bisschen kryptisch. Und Auseinandersetzung, die noch intensiviert wer- dann endlich das Programm. Nun konnte aus- den würde durch die Bedingung, die gesamten gewählt, angestrichen, eingekreist und die ei- fünf Tage anwesend zu sein. Doch das alles blieb genen Planungen wieder und wieder verworfen Spekulation. Was einen tatsächlich erwartete, werden. Denn so richtig schlau wurde man aus Das Spielzeitheft 2019 29
>KREISE(N )< Zum Tanzkongress 2019 Juni 2019. Wir diskutierten. Während des Kongresses mit KollegInnen aus Tanzwissenschaft und Journalismus, mit Studierenden, mit neuen Be- kanntschaften, die während der fünf Tage in Hellerau geschlossen wurden. Zurück in unseren Arbeitsstät- ten diskutieren wir weiter - mit KollegInnen, die Teil dieses Happenings oder Mysteriums, wie es auch ge- nannt wurde, waren und mit denen, die nicht dabei waren. Das Motto einer „long lasting affair“ hat sich eingelöst, die Erinnerungen und Erfahrungen an die- sen Kongress in Hellerau werden wir so schnell nicht wieder los. Während einige begeistert berichten, sind wir irritiert. Dieser Irritation Ausdruck zu verlei- hen, sie zur Diskussion zu stellen und ein Format zu hinterfragen, das uns nicht zuletzt auch positive Momente bescherte, an dieser Stelle auch zu kritisch anmutenden Worten. Letztlich sind diese jedoch eine Reaktion auf eine radikale Form des Tanzkongresses. von Miriam Althammer und Anja K. Arend Das Spielzeitheft 2019 33
Kongresses spür- und sichtbar, thematisiert Point Zero wird es jedoch nicht. Auch nicht die kritisch erscheinenden Aspekte. Alles bleibt auf der Ebene der Erfahrung, Reflexionen des Erleb- Etwas zu seinen Wurzeln zurückzu- ten gibt es nicht. Und Tanz ist in diesem so- führen, kann vieles bedeuten. Bei Meg Stuart zial-utopischen Prozess nur noch eine Ran- und ihrem Team scheint die Rückbesinnung derscheinung. In einem Prozess, der darauf auf das historische Erbe des Ortes Hellerau, abzielt, zumindest für wenige Tage „a society der eng mit den Tanz- und Lebensreformbe- like we want it to be“ zu kreieren. Doch wer wegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist dieses Wir? verbunden ist, auch eine Art Tabula Rasa zu sein: weg mit allem, was da ist, und her mit Es scheint in jedem Fall klar defi- der Utopie. Sich der Vergangenheit, Gegen- niert zu sein. Denn in dieser „intentional wart und zum Teil auch der Zukunft zu ent- community“ finden zwar zu gesellschaftli- ledigen, ähnlich der schlechten Energien, die chen Minderheiten zuzurechnende Positio- in manchen Formaten des diesjährigen Tanz- nen der Queer-Szene und ‚People of Color‘ kongresses mit Salbei-Räucherwerk oder ihren Platz, doch sind dies lange nicht Waschungen vertrieben wurden, scheint einer alle benachteiligten Gesell- der Grundgedanken zu sein. „We don’t know schaftsgruppen wie be- if there will be another congress… I hope, I reits Marita Matzk in really hope… with my heart.“ So in etwa Bezug auf KünsterInnen formuliert die US-amerikanische mit Familie oder vier Choreografin Meg Stuart am VerfasserInnen eines of- Ende die Zukunft des fenen Briefes in Bezug Tanzkongresses. auf Inklusion von Men- Sollte es in drei schen mit Behinderungen Jahren weiter- formulieren. Und sollte es gehen, sollte nicht viel eher grundsätz- die Kulturstif- lich um den Umgang mit tung des Bun- Benachteiligung gehen, als des den vergangenen darum einzelne Positionen Kongress genau analy- zentral zu setzen? sieren und reflektieren. Zu befremdlich und radikal waren In einer Zeit, in der die fünf Tage kollektiver Erfahrung sich die Gesellschaft zuneh- der in Hellerau kreierten „intentional mend polarisiert, scheint es community”, wie das Konzept während äußerst fragwürdig, sich mit der Eröffnung vorgestellt wird. einem Kongress, bei dem es um eine bundesweite und internationale Repräsenta- „The Tanzkongress happens now tion und Wahrnehmung ei- ner Tanzszene gehen könnte, – thank you for taking part in kon- zeptuell und thematisch abzu- being changed.” grenzen, anstatt eine Öffnung vorzunehmen. Denn Offenheit vollzog sich bei diesem Kon- gress nur innerhalb eines im Vorhinein fest- Verändert, transformiert und Teil von gelegten Verständnisses und Systems. Die etwas zu werden, das ist – vor allem in der 500 Teilnehmenden wurden mit ihrer Kon- Tanzwelt – kein unbekanntes und erstmal gressanmeldung Teil einer Gemeinschaft, durchaus vielversprechend klingendes Vo- ohne vorher in die während des Kongresses kabular. Doch „intentional communities“ (als deutlich und kompromisslos gelebten Werte feststehender Begriff weist dieser auf Ge- und Gemeinsamkeiten eingewilligt zu haben. meinschaften wie Ökodörfer, Kommunen, Gut, die Bereitschaft sich auf das Unbekann- Aschrams, Kibbuze und andere Kooperativen te einzulassen, wurde von Beginn an klar hin) folgen einer klaren Logik des Teilens – kommuniziert. Doch sollte nicht gerade des- von individuellem Wissen, Fähigkeiten, Wer- halb der Bereitschaft der Teilnehmenden sich ten, Materiellem – und damit gleichzeitig der darauf einzulassen mit dem größtmöglichen Logik von vielgestaltigen Abhängigkeitsver- Respekt und der größtmöglichen Offenheit hältnissen. Es gibt also, wie so oft, zwei Sei- begegnet werden? Sich aufeinander einzu- ten der Medaille. All dies wird im Laufe des lassen, eine gegenseitige Neugier zu etab- Das Spielzeitheft 2019 35
lieren und die Strukturen der fünf gemeinsa- Überhaupt sind gruppenbildende Maß- gtes LOVE – zu versammeln. So kann man Form sicherlich erst während des Kongresses men Tage auszuhandeln, wäre vielleicht eine nahmen wie gemeinsam Essen, Schweigen, die Auflösungserscheinungen des Samstags ihr ganzes (auch radikales) Potential entfaltet Möglichkeit gewesen. So wurde der Tanzkon- Berührungen oder kollektiv gestaltete rhyth- ganz gut verdrängen. Vielleicht war es auch und offengelegt. Getragen von verschiedenen gress jedoch lediglich zum Kristallisations- mische Aktionen wie Gehen oder Klatschen ein Test, inwieweit die Gruppe ohne äußeren Gemeinschaften und Einzelpersonen, die sich punkt einiger weniger Diskurse, die in Teilen zentrales Element der ganzen fünf Tage. Eine Rahmen bereits gefestigt ist? Wenn ja, hätte seit Jahren in Meg Stuarts Umfeld bewegen, der Gesellschaft geführt werden, sich mit große Rolle spielen dabei Stimulierungen der diesen ein Großteil nicht bestanden. entstand etwas, das trotz der hermetischen ‚dem Rest‘ aber nicht direkt auseinanderset- Sinne, wenn etwa beim Hellerau-Walk, einem Rigidität Freiräume für Positionierungen der zen oder austauschen (wollen?). mit persönlichen Geschichten und roman- Für uns lässt sich das Wort der Ge- Eingeladenen ließ – seien es esoterische oder tischen Lieder untermalten Gang durch die meinschaft bzw. der gemeinschaftlichen links-aktivistische Ideen. Für anderes war Gartenstadt, alle Teilnehmenden Lavendelöl Erfahrung nach diesem Kongress wenig Platz. Meg Stuart verschwindet auf ihre Schläfen geträufelt bekommen oder kaum mehr neutral denken. Zu meist unter den Teilnehmenden Gruppenstrukturen wenn Räume über Nebel, Räucherstäbchen eng wird Gruppenerfahrung und meidet in all den Tagen ihre oder bis ins Detail durchdachte Lichtkonzep- hier mit sozialen und politi- Exposition, und doch ist sie die te atmosphärisch verdichtet werden und über schen Ansichten verknüpft. Figur, um die sich alles dreht. Durch Ziehen einer spell-Karte (eng- Augen, Nase, Ohren und Haut Eingang in den Im Konzept Meg Stuarts Ihre Nähe wird gesucht, ge- lisch für Fluch) zu Kongressbeginn wird man Körper finden. Als singuläre Ereignisse wirken scheint Tanz der Weg zu nauso wie ein Raunen durch per Zufall einer der 25 Gruppen von Meg Stu- diese Aktionen harmlos, in ihrer Gesamtheit sein, um über Körperlich- den Saal geht, wenn sie dur- arts ‚Branches‘ (GruppenleiterInnen) zugeor- über fünf Tage als kleine, wiederkehrende keit bestimmte Haltungen, ch die Tür tritt. Auch das ist dnet. Mit einher geht ein Motto für die folgen- Bestandteile des Kongresses wird das ge- Wertesysteme und Weltan- ein bewährtes Mittel, um Ge- den fünf Tage wie etwa „Cleansing/Charging“, forderte Einschwören auf eine Gemeinschaft schauungen zu vermitteln. meinschaft zu kreieren, im ge- „Salad & Cake“, „No Shame“ oder „Sharing Pre- zunehmend übergriffig. Die geschaffenen At- Dass unsere Welt keine ideale meinsamen Warten und in der sence“. Jede Gruppe beginnt mit einem eige- mosphären erlauben kaum ein Ausweichen. ist, ist selbstverständlich. Ob Bewunderung für eine so nah ers- nen Ritual, das mal mehr mystisch-reinigend Natürlich lässt sich Nein-Sagen zu diesen An- wir uns und sie in diesem Format cheinende und gleichzeitig so uner- ausgerichtet ist, mal die Selbstsorge fokus- geboten, doch im selben Moment entstehen ‚heilen‘ können - ein Wort, das im reichbare Figur. siert oder mit körperlichen Manifestationen Schuldgefühle und Zweifel an sich selbst. Kontext des Tanzkongresses und der ein- durch gemeinsame Berührungen arbeitet, Ist man etwa nicht offen genug, wenn man zelnen Workshops äußerst häufig auftaucht und schon ist man Mitglied der Gru- an dieser Form des Zusammenlebens nicht -, und ob ‚Heilung‘ anstatt Veränderung der Politik - Kunst / Kunst - Politik ppe und bereit für die Prozesse der teilnehmen möchte? Außerdem kommt ein passende Ansatz ist, bleibt eine weitere Fra- nächsten Tage. Nicht nur spirituell Nein in der (Wohlfühl-)Atmosphäre des ge- ge, die wir aus diesen Tagen mitnehmen. sind diese ‚spells’ gedacht, auch meinschaftlichen Tuns und der permanen- Denn wer bestimmt, wie eine gesunde oder Das alles hat irgendwie politische Di- praktische Aufgaben knüpfen ten Emotionalisierung von Ereignissen ei- geheilte Gemeinschaft aussieht? Und schon mensionen. Nicht nur in der Entwicklung ei- sich daran wie Frühstück berei- ner totalen Verweigerung und Abwehr taucht erneut die Frage nach dem ‚Wir‘ auf. ner sozialen Utopie, auch im künstlerischen ten, Abwaschen und Aufräumen, gleich. Verständnis. „Activism as art“, heißt es im Gemüse schneiden, die Teekü- Vorübergehen in einer der vielen den Kon- che betreuen. Der Clou an der Happening gress beschließenden „Conventions“, die sich Sache: Nur als Gruppe erhält Manche sind begeistert als offene Gesprächsrunden verstehen. Und man mittags und abends sein von den körperlichen Aktivisten agieren politisch - das ist richtig Essen, die Organisation bleibt Erfahrungen, an- Das, was da fünf Tage lang in Hel- so und wichtig. Doch Kunst allgemein als ak- Verhandlungssache, Aufga- dere nehmen lerau vollzogen wurde, ist ein ‚Takeover‘, ein tivistisch zu deklarieren, ist eventuell etwas ben werden aufgeteilt und es das Angebot Kapern des Formats. Der Tanzkongress als übergriffig angesichts der Heterogenität der müssen sich alle aufeinander als eine Art „Happening“, wie es im Programm heißt, ist zeitgenössischen Kunstszene. Und wofür je- verlassen können – so wird Retreat an, eine gut geplante Improvisation des sich de/r einzelne/r KünstlerIn politisch steht, in den ersten beiden Tagen oft geht es selbst Zelebrierens. Ja, hier geschieht et- sollte vielleicht eine persönliche Entschei- die Nahrungsaufnahme zu darum sich was im Sinne von ‚it happens‘, das ist nicht dung bleiben. Wir hatten nicht den Eindruck, einem der bestimmenden wohlzufühlen, zu verleugnen. Neues geschieht dabei je- dass diese persönliche Positionierung gewün- Themen, angelehnt an das und irgendwie machen doch wenig. So entsteht eine Blase, die sich scht ist. Sich hermetisch abzuschließen, um Beuys‘sche Konzept der alle mit. Eine Vereinzelung langsam, aber sicher über das Festspielhaus alle auf eine gemeinsame Basis einzuschwö- sozialen Plastik. Mit die- setzt dann aber ein, und das ziem- Hellerau stülpt und die sich immer stärker ren – das sind keine neuen Konzepte. Und ob ser Organisation des Es- lich rasch, als am Samstag der Kongress um sich selbst dreht. es die Zukunft der Tanzszene sein kann bzw. sens nutzt der Kongress geöffnet wird: durch Walks in Hellerau, zur soll, wagen wir zu bezweifeln. eines der fundamentalen ehemaligen Villa Mary Wigmans und danach Man hört, die Planung des Kongresses Bedürfnisse des Menschen zur sei lange im Vagen geblieben. So sei eben Meg In jedem Fall folgt das Format einer an die Elbe, um auch in der Stadt Präsenz Generierung sozialer Struktu- ren. Da gibt Stuarts Arbeitsweise, prozessorientiert und ausgeklügelten Dramaturgie, geht durch ver- zu zeigen. Wie schnell die Gemeinschaft in es kaum ein Entkommen. Diese gipfelt im ge- umgeben mit allen zur Verfügung stehen- schiedene Phasen des Ankommens („Impro- sich zusammenfallen kann, zeigt eben je- meinsamen mehrgängigen Dinner aller Anwe- den Möglichkeiten und Materialien. War den vising the Past / Opening the Portal“), des ner Tag. Am Sonntag kehrt man wieder zu- senden am Freitagabend, das sich nur durch Mitveranstaltenden und den Mitgliedern des Auswählens aus dem Programm („Radical rück nach Hellerau, bildet ein weiteres Mal in das Engagement jedes Einzelnen und jeder Leitungsteams also ebenso wenig bewusst, Scheming / Collective Dreaming“), des sich den als „Conventions“ titulierten Abschluss- Einzelnen für die gegenseitige Versorgung auf welche Vision sie sich da einlassen würden, Öffnens mit einer Reihe von durch Rituale runden kleine Grüppchen, um sich am Ende vollziehen kann. Als „social choreography“ ist wie den Teilnehmenden? Die Struktur, die über geschaffenen Initiationsmomente vom Toten- in der großen Abschlussrunde – um ein dieser Abend ja auch angekündigt. zwei Jahre geplant wurde, hat in ihrer offenen tanz-Ritual bis hin zur Clubnacht („Down by aus pink-violetten Leuchtstoffröhren gele- Das Spielzeitheft 2019 37
the water / Grounding Earth / Planting Seeds / serious pleasure / Fusing Bonding / Connec- Reflexion - nicht gewünscht? ting“) sowie des Ausklingens und Ausschlei- chens am letzten Tag („New Constellations“). Das alles ist professionell gemacht und funk- Das Spiel mit Gruppendynamiken, das tioniert. Es entstehen Dynamiken, Atmo- Hervorheben einzelner Diskurse, die Rück- sphären und Erfahrungen. Und es hat seinen bindung an Lebensreformbewegungen und Reiz. Wäre es ein Kunstprojekt Meg Stuarts, eine enge Verschränkung von Tanz und Le- könnte man diese Vision einer sich durch Be- benskonzept sind Themen, die ihre Rele- wegung heilenden Gemeinschaft so stehen vanz haben, die zum Nachdenken anregen lassen, sie annehmen, kritisieren, diskutie- und Diskussionen in Gang setzen können. ren. Doch haben wir mit unserer Anmeldung Doch Eines fällt eklatant auf: ein wirkliches im März (wohlgemerkt ohne das Programm reflexives Moment über die über fünf Tage oder Hintergründe dessen zu kennen) wirk- geschaffenen Strukturen der temporären lich eingewilligt, Teil eines Kunstwerks wer- Gemeinschaft und ihren Anliegen wird nicht den zu wollen, statt Kongressteilnehmende angeboten und stellt sich nicht ein, soll sich zu sein? Wie verhält sich diese Inszenierung wohl auch gar nicht einstellen. Alles bleibt im einer Gemeinschaft zu den politischen Ideen, Vagen, Begriffe schwirren durch die Luft, nicht die während der fünf Tage immer wieder ihre selten auch hohle Phrasen des immer glei- Wege finden? Wieviel davon ist intendiert, chen Institutionen- und Kapitalismus-Bas- wieviel davon im festen Glauben an eine hings. Raum für Erkenntnisse und eine rea- Verbesserung der Welt durch ein ganz listische Anknüpfung an eine Wirklichkeit bestimmtes Konzept von Tanz und sind kaum gegeben. Wir sind ja auch Bewegung entstanden? Die Unsi- eingeladen zum Träumen. Oder eben cherheit über ein Konzept, das zum Praktizieren, Tanzschaffen. unter dem Deckmantel eines Inhalte, neue Strategien oder Kongresses daherkommt, Konzepte braucht es – vor gar keiner sein will und dem Hintergrund sich als doch wiederum so Gemeinschaft zu spüren verstanden werden – anscheinend keine, sollte, ist enorm. weder in Hinblick auf Denn der Tanz- Tanzszenen noch Ge- kongress ist kein sellschaftsordnungen. Kunstwerk – oder Es geht uns nicht um die sollte es zumindest Kritik an einzelnen Prak- nicht sein. Vielmehr stellt tiken, sondern um die un- er eine der wenigen bun- hinterfragte und damit auch desweiten und internationalen gefährliche Verknüpfung körper- Austauschmöglichkeiten dar, die lich-gemeinschaftlicher Erfahrungen es für die Tanzszene gibt. Und er mit esoterischen Positionen und po- ist kein privates Projekt, sondern wird litischen Ideen im Rahmen des Formats durch öffentliche Gelder finanziert. In ‚Tanzkongress‘. Wann ist das „agreement“, diesem Kontext erscheint Meg Stuarts Kon- dass jede/r TeilnehmerIn zu Beginn gegeben zept, so gut es auch durchdacht war und funk- hat, nicht mehr Ausrede und Entschuldigung, tioniert haben mag, unpassend – wenn nicht um auf Reflexionsräume verzichten zu kön- gar problematisch. Dem Tanzkongress als ei- nen, in denen Kritik geäußert werden oder nem der wichtigsten und wohl bestgeförder- neue Ideen entstehen könnten? ten Formate für die Tanzszene Deutschlands diesen so ausschnitthaften und tendenziösen Kann man als Teilnehmende/r dieses Stempel aufzudrücken und mit zahlreichen Prozedere um Gruppenstrukturen und esote- esoterischen (in ihrer Extra-Version als „Pri- rische Positionen einfach ausblenden? Sich vate Sessions“ auch kostenpflichtigen) oder stattdessen voll und ganz der durchaus ange- gruppenideologischen Praktiken aufzuladen, nehmen, körperlichen Erfahrung der Morgen- ist unverantwortlich – gegenüber den Teil- meditation, des gemeinsamen Yogas, Boxtrai- nehmenden, den verwendeten öffentlichen nings, Social Dancings widmen? Wir wollten Geldern und einer Tanzszene, die so viel mehr das nicht. Zu stark war das Gefühl des Unbe- Vielfalt und Bandbreite zu bieten hat. hagens gegenüber und innerhalb dieser ange- leiteten Gruppenaufgaben, des Instrumenta- lisiert- und Manipuliert-Werdens. Das Spielzeitheft 2019 39
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