Das Marketing-Praxisbuch 2018 - Christian Zich Ein Webmasters Press Lernbuch - Webmasters Fernakademie

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Das Marketing-Praxisbuch 2018 - Christian Zich Ein Webmasters Press Lernbuch - Webmasters Fernakademie
Christian Zich

Das Marketing-Praxisbuch 2018
Ein Webmasters Press Lernbuch

Version 1.0.4 vom 03.04.2019

Autorisiertes Curriculum für das Webmasters Europe Ausbildungs- und Zertifizierungsprogramm

                               — www.webmasters-europe.org —
Das Marketing-Praxisbuch 2018 - Christian Zich Ein Webmasters Press Lernbuch - Webmasters Fernakademie
Inhaltsverzeichnis
    Vorwort                                                                                             13

1   Marketing — Was ist das und warum brauchen wir es?                                                  15

    1.1       Marketing — ein Einstieg                                                                  15
    1.2       Die 4 P: Aufgabenbereiche im Marketing                                                    16
    1.3       Marketingphilosophien: vom Marketing 1.0 zum Marketing 4.0                                17
    1.3.1     Marketing 1.0: das goldene Zeitalter der Erfinder und der ungesättigten Märkte            18
    1.3.2     Marketing 2.0: profitabel überleben in gesättigten Märkten                                19
    1.3.3     Marketing 3.0: Kundenloyalität und Kundenbindung als neuer Marketing-Hype?                24
    1.3.4     Marketing 4.0: Kundenverhalten, Neuromarketing, Digitalisierung und soziale Netzwerke     25
    1.4       Digital Marketing — eine abschließende Definition und Abgrenzung zum generellen           28
              Marketingbegriff
    1.5       Testen Sie Ihr Wissen!                                                                    28

2   Märkte und Marktsegmentierung                                                                       31

    2.1       Investitions- und Konsumgütermärkte                                                       31
    2.2       Die Bestimmung des relevanten Markts                                                      32
    2.3       Marktsegmentierung und Zielgruppenbestimmung                                              35
    2.3.1     Geografische Segmentierungsvariablen                                                      36
    2.3.2     Demografische Segmentierungsvariablen                                                     37
    2.3.3     Segmentierungsvariable: Kaufverhalten                                                     38
    2.3.4     Segmentierungsvariablen: Benutzung, Gebrauch, Konsumverhalten                             38
    2.3.5     Psychografische Segmentierungsvariablen                                                   38
    2.3.6     Segmentierung anhand technischer Parameter                                                39
    2.4       Testen Sie Ihr Wissen!                                                                    40

3   Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?                                                            41

    3.1       Der Start- und Angelpunkt aller Kaufentscheidungen: die Entstehung eines Bedürfnisses     41
    3.1.1     Steve Jobs legendäre iPhone-Keynote oder: Wie man Bedürfnisse weckt                       45
    3.1.2     Das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit                                                   46
    3.2       Alternativenbewertung: Das Rennen um die Spitzenposition in der Kaufentscheidung          49
              beginnt
    3.2.1     Der Auswahlprozess in Form einer Bewertungsmatrix                                         50
    3.2.2     Die Bewertungsmatrix in der Praxis — ein Beispiel                                         53
    3.3       Moments of Truth: die Bewertung nach der Kaufentscheidung                                 58
    3.4       Übungen                                                                                   60
    3.5       Testen Sie Ihr Wissen!                                                                    61

4   »Verkaufen« — Was bedeutet das eigentlich? Und (wie) lassen sich Erkenntnisse aus der               63
    Offline- auf die Onlinewelt übertragen?
    4.1       Die drei wichtigsten Entscheidungen aus Kundensicht im Verlauf eines Verkaufsge-          64
              sprächs
    4.1.1     »Do I want to fix what's bothering me?«                                                   65
    4.1.2     »What do I need in order to fix what's bothering me?«                                     69
    4.1.3     »Who am I going to allow to fix what's bothering me?«                                     70
    4.1.4     Fallbeispiel Thomann: Wie unterstützen Onlineplattformen die drei wichtigsten Entschei-   71
              dungen im virtuellen Selbst-Verkaufsgespräch?
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4.2     Anleihen aus der realen Welt des Verkaufens oder: Was uns Menschen ein Einkaufserleb-    76
            nis verschafft
    4.2.1   Fachkompetenz                                                                            81
    4.2.2   Persönlichkeit                                                                           84
    4.2.3   Gesprächsatmosphäre                                                                      87
    4.3     Marktforschung leicht gemacht: Wie finden Sie heraus, ob Ihr Onlineshop verkauft oder    89
            nicht?
    4.4     Case Study: Frühstücken mit den Jungs oder das Konzept von mymuesli als Beispiel für     91
            eine gelungene Unterstützung eines Selbst-Verkaufsgesprächs
    4.5     Übungen                                                                                  95
    4.6     Testen Sie Ihr Wissen!                                                                   96

5   Customer Journey: die Integration von Werbung und Vertrieb im Internetzeitalter                  97

    5.1     Eigenschaften von Customer Touch Points                                                  97
    5.2     Warum macht Shoppen im Internet so viel Spaß? Die Einkaufserlebnisse während der        100
            Customer Journey
    5.3     Die Verknüpfung von Customer Touch Points zu Marketingkanälen                           103
    5.4     Die Struktur von vertrieblichen Marketingkanälen                                        104
    5.4.1   Direkte Marketingkanäle                                                                 105
    5.4.2   Mehrstufige Marketingkanäle: Agenten, Vertriebspartner, Online- und Offlinehändler      105
    5.5     Die Grenzen der Messbarkeit von Customer Touch Points                                   107
    5.6     Die Optimierung einer Customer Journey mithilfe der Customer Touch Points               108
    5.7     Übungen                                                                                 111
    5.8     Testen Sie Ihr Wissen!                                                                  112

6   Die Anwendung der wichtigsten Grundkonzepte der Individual- und Sozialpsychologie im            113
    Marketing
    6.1     Persönlichkeitspsychologie und Archetypen in der Markenführung                          113
    6.1.1   Die Trait-Factor-Theory                                                                 114
    6.1.2   Die Anwendung der Persönlichkeitstheorien in der Markenführung                          116
    6.1.3   Passen Produktspektrum und Markenidentität zusammen?                                    117
    6.1.4   Der Archetypus                                                                          120
    6.1.5   Den Archetypus zum Leben erwecken und die Markenidentität zur Leitlinie für das         123
            Marketing-Tagesgeschäft machen
    6.1.6   Weitere Überlegungen zur Entwicklung und Pflege einer Markenidentität                   125
    6.2     Die Verwendung des Selbstbilds und -konzepts im Marketing                               127
    6.2.1   Ideales, reales Selbstbild und das »Extended Self«                                      127
    6.2.2   Case: Selbstbild und Zielgruppenorientierung bei IKEA                                   128
    6.2.3   Das Selbstbild und die Verwendung von Testimonials in der Werbung                       131
    6.3     Motivationen, Emotionen und Bedürfnisse                                                 133
    6.3.1   Was ist eine Motivation?                                                                134
    6.3.2   Arten von Motivationen                                                                  135
    6.3.3   Case: die Umsetzung von Motivationen im Webdesign von Polar                             136
    6.4     Einstellungen                                                                           139
    6.4.1   Die Entstehung und die Komponenten von Einstellungen                                    139
    6.5     Übungen                                                                                 142
    6.6     Testen Sie Ihr Wissen!                                                                  142

7   Werbung ist ein Lernprozess unter widrigen Umständen                                            145

    7.1     Kommunikationsmodelle im Internetzeitalter                                              145
    7.1.1   Der pragmatische Wert der Information                                                   146
    7.1.2   Sender-Empfänger-Kommunikationsmodell mit Berücksichtigung sozialer Netzwerke           148
    7.2     Das menschliche Gedächtnis, die Schlüsselkomponente menschlicher Informationsver-       149
            arbeitung — eine Übersicht
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7.2.1   Das nichtdeklarative Langzeitgedächtnis                                                   150
    7.2.2   Das deklarative Langzeitgedächtnis                                                        150
    7.2.3   Semantische Netzwerke                                                                     151
    7.3     Die vier Hürden auf dem Weg zum Werbeerfolg                                               153
    7.3.1   Hürde 1: Aufmerksamkeit erhalten und Konzentration einfordern                             153
    7.3.2   Hürde 2: Verständnisschwelle überwinden                                                   153
    7.3.3   Hürde 3: hohe individuelle Bedeutung der Werbebotschaft                                   154
    7.3.4   Hürde 4: Ist die Werbebotschaft interessant für »echte« und virtuelle Freunde?            154
    7.4     Die Top-down- und Bottom-up-Informationsverarbeitung — Wie man einen viralen Hit          155
            mit den Werkzeugen der Informationsverarbeitung erklärt
    7.5     Testen Sie Ihr Wissen!                                                                    157

8   Kampagnen- und Medienmanagement                                                                   159

    8.1     Content is King: die richtige Definition eines Kampagnenkerns                             159
    8.2     Die inhaltliche Optimierung verschiedener Medien oder die Kunst, den richtigen Content    160
            in der richtigen Menge auf dem richtigen Kanal zu präsentieren
    8.2.1   Kategorie 1: Multi-Phasen-Medien, die sowohl sachlich-informativ bzw. werblich-aktivie-   161
            rend sein können
    8.2.2   Kategorie 2: Single-Phasen-Medien, die entweder sachlich-informativ oder werblich-akti-   161
            vierend sein können
    8.3     Die Verpackung der Kernbotschaft oder: »Willkommen im Dickicht der Stilmittel«            162
    8.3.1   Stilmittel, Teil 1: Kreatives Storytelling oder einfache Präsentation?                    164
    8.3.2   Stilmittel, Teil 2: Rationalisierung und Emotionalisierung                                168
    8.3.3   Stilmittel, Teil 3: das Spiel mit verschiedenen Kulturen, Gruppenzugehörigkeiten und      171
            sozialem Status
    8.3.4   Stilmittel, Teil 4: Erzeugung eines Handlungsdrucks                                       172
    8.4     Übungen                                                                                   173
    8.5     Testen Sie Ihr Wissen!                                                                    173

9   Projekt- und Ablaufplan für die Durchführung einer Kampagne bzw. eines Marketingpro-              175
    jekts
    9.1     Prozessschritt eins: Marketingprojekt/Kampagne starten                                    175
    9.2     Prozessschritt zwei: der Kampagnenkern, das Briefing und die Festlegung des Budgets       176
    9.2.1   Der Medienmix                                                                             176
    9.2.2   Briefing                                                                                  179
    9.3     Prozessschritt drei: Entwicklung und Überprüfung der Kreatividee                          180
    9.4     Prozessschritt vier: Go-live, Schaltung und Erfolgskontrolle                              182
    9.5     Übungen                                                                                   183
    9.6     Testen Sie Ihr Wissen!                                                                    183

    Lösungen der Übungsaufgaben                                                                       185

    Lösungen der Wissensfragen                                                                        188

    Index                                                                                             204
Das Marketing-Praxisbuch 2018 - Christian Zich Ein Webmasters Press Lernbuch - Webmasters Fernakademie
41

Wie trifft ein Kunde Kaufentschei-
dungen?
                                                                                                                     3
                                               In dieser Lektion lernen Sie

   ➤ wie ein Bedürfnis entsteht.
   ➤ welche Prozesse ablaufen, bis ein Kunde sich für ein bestimmtes Produkt entschieden hat.
   ➤ welche Rahmenbedingungen für die Zufriedenheit bzw. die Unzufriedenheit des Kunden mit
     einem Produkt verantwortlich sind.
   ➤ welche Faktoren die Loyalität eines Kunden beeinflussen.

Ein Bedürfnis zu haben, ist die wichtigste Entscheidung, die ein Kunde trifft, dicht gefolgt von der
bewussten Auswahl eines Produkts und damit der Entscheidung gegen das entsprechende Konkur-
renzprodukt. Banale Erkenntnisse? Auf jeden Fall verbergen sich hinter diesen Entscheidungen hoch
spannende Mechanismen. Wir tauchen hiermit in die interessanten Tiefen der menschlichen Psyche ein,
verbunden mit dem Ziel, dieses psychologische Wissen für Marketingentscheidungen zielgerichtet ein-
zusetzen.

3.1             Der Start- und Angelpunkt aller Kaufentscheidungen: die
                Entstehung eines Bedürfnisses
Die bewusste bzw. unbewusste Entscheidung, einen Wunsch, ein Verlangen, eben ein Bedürfnis zu
haben, ist der Ausgangspunkt aller weiteren Schritte im Kaufzyklus. Ohne Bedürfnis kein Kauf. Erstaun-
licherweise nimmt diese Entscheidung trotz ihrer Wichtigkeit in klassischen Marketingbüchern wenig
Raum ein. Meist wird nur kurz erwähnt, dass es Bedürfnisse gibt. Wir werden uns deutlich ausführlicher
mit dieser Thematik beschäftigen. Die folgenden Ausführungen basieren auf den Grundgedanken von
Christian Zich29 und Roger D. Blackwell et al.30, ergänzt um die Erkenntnisse aus der Individual-31 und
Sozialpsychologie32.

Was bedeutet »Bedürfnis«?

Beginnen wir mit einem Blick in den Duden, der zum Stichwort »Bedürfnis« folgende Bedeutungsanga-
ben macht:

         1. Wunsch, Verlangen nach etwas; Gefühl, jemandes, einer Sache zu bedürfen, jemanden, etwas nötig zu
            haben
         2. [materielle] Lebensnotwendigkeit; etwas, was jemand [unbedingt] zum Leben braucht
         3. (veraltet) Notdurft
            Quelle: http://www.duden.de/rechtschreibung/Beduerfnis, Zugriff 01.07.2017

Die drei verschiedenen Bedeutungen weisen auf zwei verschiedene Ebenen hin: Zum einen geht es
um Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und Sicherheit, also das Bedürfnis, ein Dach über dem Kopf

29. Zich, C.: Intelligente Werbung, Exzellentes Marketing, Erlangen, 2012
30. Blackwell, R. D./Miniard, P.W./Engel, J. F.: Consumer Behavior, Mason, 2006
31. Zimbardo, P. G./Gerrig, R. J.: Psychologie, München, 2004
32. Aronson, E./Wilson, T. D./Akert, R. M.: Sozialpsychologie, München, 2004
Das Marketing-Praxisbuch 2018 - Christian Zich Ein Webmasters Press Lernbuch - Webmasters Fernakademie
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zu haben. Diese Bedürfnisse werden meist automatisch durch physische Prozesse gesteuert bzw. sind
instinktmäßig verankert. Zum anderen geht es um eine Kategorie, die sich eher auf einer emotionalen
Ebene bewegt. Dies kann sowohl das Bedürfnis nach menschlicher Nähe — auch wiederum in der Psy-
che des Menschen verankert — als auch das Verlangen nach dem Besitz eines bestimmten Gegen-
stands sein.

Die Bedürfnishierarchie von Maslow

Der US-amerikanische Psychologe Abraham Harold Maslow hat ein Modell entwickelt, das menschliche
Bedürfnisse und Motivationen in einer hierarchischen Struktur beschreibt. Seine Bedürfnishierarchie33
ist bekannt als Bedürfnispyramide. Die Darstellung in Form einer Pyramide stammt jedoch nicht von
Maslow selbst.

Wir legen hier die von Maslow selbst erweiterte, achtstufige Bedürfnishierarchie aus dem Jahr 1970
zugrunde. Neu sind »Transzendenz« als oberste Stufe und die zwei Ebenen der ästhetischen und der
kognitiven Bedürfnisse.

Abb. 2 Die bis zur Transzendenz erweiterte, achtstufige Bedürfnishierarchie (1970) von Maslow34

Was verbirgt sich hinter den Kategorien? Zum besseren Verständnis beschreibe ich jede einzelne mit-
hilfe von ein paar Stichworten:

➤ Physiologische Bedürfnisse: Bedürfnisse nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Aktivität, Erholung,
  Sexualität
➤ Sicherheitsbedürfnisse: Bedürfnisse nach einer geschützten Umgebung, nach Stabilität, Behag-
  lichkeit, Ruhe, Ordnung
➤ Soziale Bedürfnisse: Bedürfnisse nach Zusammengehörigkeit, Freundschaft, Beziehungen, Part-
  nerschaft
➤ Individualbedürfnisse: Bedürfnisse nach Achtung, Wertschätzung, Anerkennung, Selbstachtung,
  Selbstwertschätzung

33. Lesetipp zur Bedürfnishierarchie von Maslow: C. George Boeree: Persönlichkeitstheorien; ABRAHAM MASLOW, Quelle:
    http://www.social-psychology.de/do/PT_maslow.pdf, Zugriff 04.10.2017
34. https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie, Zugriff 25.09.2017
3.1 Der Start- und Angelpunkt aller Kaufentscheidungen: die Entstehung eines Bedürfnisses          43

➤ Kognitive Bedürfnisse: Bedürfnisse nach Wissen, Verstehen und Neuem
➤ Ästhetische Bedürfnisse: Bedürfnisse nach Ordnung und Schönheit
➤ Selbstverwirklichung: Bedürfnisse, das eigene Potenzial auszuschöpfen, sinnvolle Ziele zu haben
➤ Transzendenz: spirituelle Bedürfnisse, mit dem Kosmos im Einklang zu sein

Diese Kategorisierung ist ein Ausgangspunkt für unsere weitere Beschäftigung mit Bedürfnissen, sie
erklärt aber leider nicht, wie diese entstehen. Wieso haben manche Menschen das Bedürfnis nach
Selbstverwirklichung, wohingegen andere damit zufrieden sind, ohne Ziel und Plan in den Tag hinein
zu leben? Offensichtlich haben diejenigen, die sich selbst verwirklichen wollen, eine Vorstellung von
ihrer Zukunft bzw. sie streben — abstrakt formuliert — einen Sollzustand an. Dies kann ein berufliches
Ziel (Karriere im Management) oder ein persönliches Ziel (ein Musikinstrument lernen, einen Marathon
laufen) sein. Aufgrund dieser Vorstellungen entsteht eine gewisse Unzufriedenheit mit dem aktuellen
Zustand. Im Gegensatz dazu ist derjenige, der in den Tag hinein lebt, anscheinend zufrieden mit seiner
Situation und möchte nichts an ihr ändern. Er ist gewissermaßen in einer Balance zwischen Zukunft und
dem Hier und Jetzt.

Modell zur Entstehung von Bedürfnissen

Damit sind wir schon mitten im Aufbau eines Modells zur Entstehung von Bedürfnissen. Es besteht
neben der individuellen Wahrnehmung des aktuellen Zustands aus insgesamt fünf Komponenten:
einem gewünschten Zustand, der sich aus einer Problemwahrnehmung und einem Wunsch zusam-
mensetzt, der Diskrepanz zwischen diesen beiden Polen und einem Entscheidungsfilter bzw. einer
Hemmschwelle, die jedes Verlangen überwinden muss, um zu einem konkreten Bedürfnis zu werden.
In Abb. 3 sind diese Komponenten dargestellt.
44                                                                  3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

Abb. 3 Modell zur Entstehung von Bedürfnissen

Um diese fünf Komponenten pragmatisch und praktisch zu erläutern, schauen wir uns auf YouTube die
Präsentation des ersten iPhone im Jahre 2007 durch Steve Jobs an.35 Diese legendäre Keynote ist nicht

35. Die ausgewählte Präsentation dauert rund eine Stunde und zwanzig Minuten: https://www.youtube.com/
    watch?v=9hUIxyE2Ns8, Zugriff 04.10.2017
3.1 Der Start- und Angelpunkt aller Kaufentscheidungen: die Entstehung eines Bedürfnisses                           45

nur ein brilliantes Beispiel für eine gelungene Verkaufsveranstaltung, sondern sie erklärt auch in hervor-
ragender Weise die verschiedenen Komponenten des Modells.

3.1.1         Steve Jobs legendäre iPhone-Keynote oder: Wie man Bedürfnisse
              weckt
Nach einer kurzen Einleitung zu den wesentlichen Funktionen der Handys (Telefonieren, SMS, E-Mail,
Internet), die Anfang 2007 auf dem Markt waren, beginnt Steve Jobs, sich mit den wesentlichen Defizi-
ten dieser Produkte zu beschäftigen:

➤ Fehlende Benutzerfreundlichkeit: Jeder, der vor zehn Jahren ein klassisches Handy besaß, erinnert
  sich sicher noch gut daran, dass viele Funktionen des Handys tief in verschachtelten Menüs versteckt
  waren und sich dadurch einer intensiven Benutzung entzogen. Es war einem auf unangenehme Art
  bewusst, nur einen Bruchteil der vorhandenen Funktionen und damit des Geräts ausnutzen zu kön-
  nen.
➤ Kleiner Bildschirm: Prinzipiell war das Surfen im Internet mit den damaligen Smartphones möglich,
  doch es machte schlicht keinen Spaß, sich auf den kleinen Bildschirmen Websites anzeigen zu las-
  sen, die selbstverständlich zu der Zeit auch nicht im responsive Design entwickelt waren. Auch die
  Navigation mithilfe der damals üblichen Mini-Joysticks zog mehr Frust als Lust nach sich. Daher
  wurde dieses Angebot zu dieser Zeit nur in sehr geringem Umfang genutzt. Nach der Präsentation
  des iPhone stiegen sukzessive die Datenraten bei Smartphones an.36
➤ Fixe Tastatur: Der Bildschirm musste in erster Linie deswegen so klein sein, damit auf der Fläche des
  Smartphones noch eine mehr oder weniger große Tastatur Platz hatte. Bei den Blackberry-Telefonen
  war diese relativ groß, bei den einfachen, kleinen Handys eher klein und fummelig. Das Schreiben
  von SMS-Nachrichten war von daher kein Vergnügen, wurde aber von den Kunden akzeptiert. Die
  Eingabe einer URL dagegen oder die Suche im mobilen Internet stellten die Nutzer dagegen wirk-
  lich auf eine harte Geduldsprobe.

»Negative Unzufriedenheit« erzeugen: Defizite aus Kundensicht aufzeigen

Doch zurück zur Methodik. Was genau hat Steve Jobs gemacht? Um den Weg für das Bedürfnis nach
dem iPhone zu ebnen, verdeutlicht er dem Kunden seine aktuelle Situation, indem er ihm die Defizite
der damaligen Smartphones vorführt. Aus der latent schwelenden Unzufriedenheit mit den existieren-
den Geräten und Technologien macht er ein konkretes Problem. Wahrscheinlich haben sich bis zu die-
sem Zeitpunkt viele Handybesitzer mehr oder weniger resignativ mit ihrer aktuellen Situation arrangiert
oder überhaupt nie darüber nachgedacht, dass es ein Problem sein könnte. Einfach aufgrund der Tat-
sache, dass es keine Alternative gab. Steve Jobs erzeugt mit dieser Präsentation auf geschickte Art und
Weise eine »negative Unzufriedenheit« mit der Situation bzw. den Produkten, die aktuell auf dem Markt
sind und stellt gleichzeitig eine Lösung in Aussicht.

Fassen wir zusammen: Steve Jobs hat 2007 nicht nur die Unzufriedenheit auf den Punkt gebracht, son-
dern diese bei einer breiten Käuferschicht erst erzeugt. Seine Ausführungen beendet er mit der klaren
Aussage, dass er ein Gerät vorstellen werde, das nicht nur eine Vielzahl von Funktionen erfülle, sondern
obendrein auch noch sehr einfach zu bedienen sei und sich damit durch eine für Apple typische Benut-
zerfreundlichkeit auszeichne.

»Positive Unzufriedenheit« erzeugen: Wunsch nach besserem Leistungsangebot wecken

Dann beginnt der zweite Teil der Keynote. Steve Jobs stellt die verschiedenen Funktionen vor, in der
Absicht, ein Höchstmaß an Diskrepanz zwischen der frisch erzeugten Unzufriedenheit und der neuen,

36. https://www.heise.de/newsticker/meldung/70-000-verkaufte-iPhones-kurbeln-Datennutzung-an-183331.html und
    http://www.smartphonetarifevergleichen.de/beratung/newsdetails/archive/2008/01/28/article/2338-iphone-kunden-
    surfen-gerne-im-internet.html, Zugriff 04.10.2017
46                                                           3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

erstrebenswerten Welt des iPhone zu schaffen. Die Reihe der Argumente für den Kauf fängt an mit
der innovativen Benutzeroberfläche, die auf einem großen Multitouch-Display und einer vollkommen
neuen Software basiert, über die sich das iPhone mit den Fingern bedienen lässt. Dazu kommen das
Betriebssystem Mac OS X als Basis für iPhone OS respektive iOS, die einfache Einrichtung und Synchroni-
sation mithilfe von iTunes sowie das Design, die Sensoren und Bedienungselemente.

Das internationale Fachpublikum war begeistert, und es gab sicher einige, die nach der Präsentation
beschlossen, dieses neue Mobiltelefon zu kaufen. Was ist aber mit dem Rest des relevanten Markts? Ein
Fachpublikum zu begeistern, ist schon herausfordernd genug, aber eine breite Masse zu finden, die zu
der Zeit so viel Geld für ein Smartphone ausgibt, ist deutlich schwieriger. Es leuchtet ein, dass das Miss-
verhältnis zwischen der aktuellen Situation und dem Wunsch oder dem Verlangen sehr groß sein muss,
damit aus einem »Na ja, ganz nett.« ein »Will ich sofort haben!« wird. Gibt es eventuell eine Möglichkeit,
diese Diskrepanz bereits vor der Präsentation eines Produkts zu bestimmen und damit das Produktma-
nagement in die richtige Richtung zu lenken?

3.1.2       Das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit
Ja, der Japaner Noriaki Kano entwickelte mit seinem Kano-Modell eine kundenzentrierte Denkweise
zur Definition von Produktanforderungen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Messung der
Zufriedenheit von Kunden mit Produkten und deren Eigenschaften. Ein Kunde ist umso zufriedener, je
mehr er sich für das Produkt begeistert. Auf Basis dieser Überlegungen entwickelte Kano verschiedene
Merkmalskategorien, die unterschiedliche Stufen der Zufriedenheit des Kunden auslösen:

➤ Basismerkmale: Produkteigenschaften, die so selbstverständlich sind, dass sie dem Kunden erst
  bewusst werden, wenn sie fehlen. Sind sie vorhanden, entsteht keine Zufriedenheit. Fehlen sie aber,
  führt dies zur Unzufriedenheit mit dem Produkt. Basisanforderungen sind zum Beispiel Airbags im
  Auto oder die Fernbedienung für den Fernseher.
➤ Leistungsmerkmale: Produkteigenschaften, deren Erfüllung Unzufriedenheit beseitigt bzw. Zufrie-
  denheit schafft. Wenn beispielsweise ein Auto einen geringen Kraftstoffverbrauch hat, ist der Kunde
  zufrieden mit der Leistung des Autos. Kano postulierte einen linearen Zusammenhang in seinem
  Modell, was besagt, dass die Zufriedenheit des Kunden mit einer Zunahme der Leistungsmerkmale
  linear ansteigt.
➤ Begeisterungsmerkmale: Produkteigenschaften, die der Kunde nicht erwartet, die ihn begeistern
  und das Produkt von der Konkurrenz abheben. Bei einem Auto können beispielsweise Fahrerassis-
  tenzsysteme eine solche Begeisterung hervorrufen. Kano postulierte, dass die Kundenzufriedenheit
  mit Begeisterungsmerkmalen überproportional steigt.
➤ Unerhebliche Merkmale: Produkteigenschaften, die weder Einfluss auf die Zufriedenheit noch auf
  die Unzufriedenheit des Kunden haben, unabhängig davon, ob sie vorhanden sind oder fehlen. Bei
  einem Auto können dies bestimmte Sonderausstattungen sein, die im Rahmen eines Pakets mitge-
  liefert werden, für die Zielgruppe aber nicht von Belang sind.
➤ Rückweisungsmerkmale: Produkteigenschaften, die, wenn sie vorhanden sind, zur Unzufrieden-
  heit führen. Fehlen sie, schaffen sie jedoch keine Zufriedenheit. Am Beispiel Auto könnte das Image
  der Marke für verschiedene Zielgruppen ein Grund für die Ablehnung eines bestimmten Modells
  sein.

Das Kano-Modell kann durchaus als kleine Revolution bezeichnet werden, denn es schärft den Blick aller
Abteilungen für die Sichtweise des Kunden und hilft gleichzeitig dabei, sich aktiv Gedanken darüber
zu machen, wie sich das eigene Produkt von den Konkurrenzprodukten abgrenzen lässt. Richtig ange-
wandt, entsteht von Anfang an ein wettbewerbsfähiges Produkt: Man sorge dafür, dass das Produkt
100 Prozent Basismerkmale aufweist, und baue darüber hinaus gezielt Leistungs- und Begeisterungs-
merkmale ein.
3.1 Der Start- und Angelpunkt aller Kaufentscheidungen: die Entstehung eines Bedürfnisses           47

Das Kano-Modell praktisch angewandt

Um das Kano-Modell in Kombination mit den Ausführungen zur Bedürfnisgenerierung praktisch anzu-
wenden, sehen wir uns noch einmal die Präsentation des iPhone genauer an und analysieren die Funk-
tionen, die Steve Jobs vorstellt:

➤ Touchscreen
➤ Betriebssystem
➤ Synchronisation mit iTunes
➤ Minimalistisches Design

Die genannten Punkte werden wir etwas genauer anhand der verschiedenen Teilfunktionen betrach-
ten, denn nur eine vertiefte Analyse offenbart das Fundament der Erfolgsgeschichte des iPhone.

Touchscreen

Erzeugung von Unzufriedenheit: Die kleinen Bildschirme der Handys verhinderten, die Geräte aus-
giebig zu nutzen, um im Internet zu surfen, ein Dokument darzustellen oder sich einen Film anzusehen.
Man merkte relativ deutlich, dass sich das Hauptanwendungsfeld der meisten damaligen Smartphones
mit den Aufgaben Telefonieren, SMS-Schreiben und, vielleicht in eingeschränktem Maße, Musikhören
beschreiben ließ. Die Unzufriedenheit mit existierenden Lösungen konnte durch Steve Jobs Präsenta-
tion erzeugt bzw. bekräftigt werden.

Erzeugung eines Verlangens: Alleine durch die Demonstration des Safari-Browsers, der Cover-Flow-
Technik und die Vorführung eines Videos wurde vielen klar, welche zusätzlichen Möglichkeiten das
iPhone bot: Endlich konnte man wirklich im Internet surfen, Dokumente in einer vernünftigen Größe
darstellen und die eigene Musiksammlung bequem durchstöbern, um nur einige zu nennen.

Kano-Kategorien: Die Größe des Touchscreens und die Art der Bedienung sind eindeutig ein Begeis-
terungsmerkmal, so gut wie unabhängig von verschiedenen Zielgruppen. Während Geschäftsleute sich
beispielsweise vorstellten, endlich Powerpoint-Präsentationen und andere Dokumente auf dem Handy
lesen zu können, waren andere begeistert von der Möglichkeit, sich auf dem Handy Filme und TV-Serien
ansehen zu können.

Betriebssystem, verbunden mit der für Apple typischen Bedienphilosophie

Erzeugung von Unzufriedenheit: Durch die proprietären Betriebssysteme limitierten die Hersteller
von Anfang an die Einsatzmöglichkeiten der Smartphones. Nachdem der kleine Bildschirm die Einsatz-
möglichkeiten deutlich einschränkte, machte es auch nicht viel Sinn, über bestimmte Basisanwendun-
gen hinauszugehen. In diesem Fall musste man sich als Anwender auch gar nicht großartig Gedanken
über die Bedienphilosophie machen. Was dagegen Apple mit dem iPhone anbot, war ein Riesensprung
nach vorn: ein Gerät — einfach einzustellen, intutiv und damit einfach zu bedienen etc.

Erzeugung eines Verlangens: Da PC-Betriebssysteme eine große flexible Plattform darstellen, auf
der beliebig viele Anwendungen bzw. Programme laufen können, war mit der Vorstellung des ersten
iPhone-Betriebssystems das unausgesprochene Versprechen verbunden, dass alleine durch die Bereit-
stellung der Plattform vollkommen neue Einsatzmöglichkeiten geschaffen worden waren. Sieht man
sich die verschiedenen Apps an, die in den Stores der verschiedenen Hersteller verfügbar sind, so kann
jeder Kunde sein Handy entsprechend seinen Vorstellungen, Anforderungen und Vorlieben entspre-
chend anpassen. Ein weiterer Vorteil war die flexible Anpassung der Oberfläche an die entsprechenden
Anwendungen. Die Präsentation der Bildschirmtastatur und der Autokorrektur in Kombination mit der
SMS-/Safari-App zeigte die deutliche Verbesserung gegenüber existierenden Smartphones auf.

Kano-Kategorien: Auch das Betriebssystem und die damit verbundene Bedienphilosophie sind ein-
deutig ein Begeisterungsmerkmal für viele Kundengruppen. Ob es für die meisten Kunden zu diesem
Zeitpunkt erkennbar war, lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, aber die Möglichkeit, sein
eigenes Handy individuell zu konfigurieren, ist sicher einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren der moder-
48                                                          3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

nen Smartphones. Für die Apple-Kunden ein sicher eindeutiges Signal, dass endlich auf dem Handy die
gleiche Bedienphilosophie wie auf dem Mac möglich ist. Darüber hinaus bietet ein nichtproprietäres
Betriebssystem auch eine ideale Plattform für die Entwicklung von Programmen. Die Zielgruppe waren
eindeutig Entwickler.

Synchronisation mit iTunes

Erzeugung von Unzufriedenheit: Viele Handynutzer werden sich noch mit Grausen an die verschie-
denen proprietären PC-Suiten erinnern, die umständlich zu bedienen waren und oftmals nicht das
erwünschte Ergebnis brachten. Allerdings gilt es hier, zwischen Apple-Kunden und allen anderen zu
unterscheiden. Erstere waren durchaus eine komfortable Synchronisation mit dem iPod gewöhnt, die
zuletzt Genannten eher nicht.

Erzeugung eines Verlangens: Da sich die Synchronisation zu diesem Zeitpunkt nur durch die Verbin-
dung des Handys mit dem Computer herstellen ließ, blieb es noch immer eine holprige Angelegenheit,
verglichen mit den heutigen Möglichkeiten, Daten über die Cloud zu synchronisieren.

Kano-Kategorien: Die Synchronisation mit iTunes ist allerhöchstens ein Leistungsmerkmal. Insbeson-
dere für bestehende Apple-Bestandskunden dürfte sie eher ein Basismerkmal sein.

Minimalistisches Design

Erzeugung von Unzufriedenheit: Gleich wie die Tastaturen zu dieser Zeit aussahen — sie waren
unkomfortabel zu bedienen, in den meisten Fällen waren die Tasten schlichtweg zu klein. Darüber hin-
aus führten die vielen Tasten und die komplizierte Bedienung eher zur Nutzung der Hauptfunktionen
und zur Vernachlässigung zusätzlicher Funktionen. Manch ein Benutzer hatte immer das Gefühl, dass er
nur einen Bruchteil des Potenzials wirklich nutzte.

Erzeugung eines Verlangens: Durch das minimalistische Design, die wenigen Knöpfe und das durch-
dachte Bedienkonzept schaffte es Apple, ein optisch ansprechendes Telefon vorzustellen. Heute eine
Selbstverständlichkeit, damals ein Quantensprung.

Kano-Kategorien: Auch hier muss man zwischen verschiedenen Kundengruppen unterscheiden. Für
diejenigen, denen Design und tolle Optik wichtig ist, ist das minimalistische Design ein Begeisterungs-
merkmal. Für andere Kundengruppen stellt es nur ein unerhebliches Merkmal dar: »Nice to have«.

Die exemplarischen Ausführungen zum iPhone zeigen, dass ein Produkt eine umso höhere Erfolgs-
chance haben kann, je größer die Anzahl der Leistungs- und Begeisterungsmerkmale für möglichst
viele verschiedene heterogene Zielgruppen ist. Die subjektiv empfundene Diskrepanz zwischen aktuel-
lem und zukünftigen Zustand wird umso höher, je größer das Verlangen nach bestimmten Funktionen
und Eigenschaften des Produkts bzw. je intensiver das subjektive Problemempfinden ist.

Hemmschwellen abbauen

Die letzte Hürde auf dem Weg zur Entstehung eines Bedürfnisses ist die Hemmschwelle. Darunter ver-
steht man jedes mentale Hindernis, das ein Individuum davon abhält, ein Bedürfnis zu entwickeln.
Beispiele dafür sind der Kaufpreis (eventuell zu hoch), moralische Bedenken (»So etwas kauft man
nicht.«), kulturelle Schranken (amerikanische Produkte im Nahen Osten) oder der Druck aus dem sozia-
len Umfeld (»Kosmetik ist nichts für Männer!«).

Steve Jobs reduziert in seiner Präsentation an mehreren Stellen die Hemmschwelle. Relativ am Anfang
verweist er darauf, dass die Einrichtung und Synchronisation des iPhone mithilfe von iTunes funktioniert,
ganz im Gegensatz zu den damals üblichen proprietären Lösungen der anderen Handyhersteller. Wollte
man diese mit dem eigenen Computer synchronisieren, so musste man sich immer eine extra Software
auf den Rechner laden. Da davon auszugehen ist, dass zu diesem Zeitpunkt schon viele potenzielle Kun-
den mit iTunes vertraut waren und diese Software auf dem Rechner hatten, baute Jobs hier nicht nur
eine Hemmschwelle ab, sondern lieferte gleichzeitig auch ein zusätzliches Verkaufsargument.
3.2 Alternativenbewertung: Das Rennen um die Spitzenposition in der Kaufentscheidung beginnt 49

Gegen Ende der Präsentation führt Steve Jobs neben den vielen Vorteilen noch ein finales Argument
an, warum der Preis so hoch ist: Der Kunde erhalte nicht nur ein Telefon, sondern auch einen hochwerti-
gen Breitbild-iPod mit Touchscreen. Statt wie früher zwei Geräte anzuschaffen, reiche jetzt eines. Damit
leitete er zwar den Niedergang der tragbaren Mediaplayer ein, doch für Apple hat es sich gelohnt.

Die Rolle der Hemmschwelle bei der Bedürfnisgenerierung

Die Wahrnehmung einer Hemmschwelle kann dazu führen, dass eine Leistung oder ein Produkt ent-
weder vollkommen aus der »mentalen Wunschliste« des Individuums verschwindet oder die Entschei-
dung darüber in die Zukunft verschoben wird. Gerade im Falle von Produktkategorien, die so neu auf
dem Markt sind, dass kein Benutzer mit ihnen Erfahrungen gesammelt hat, ist es von großer Bedeu-
tung, von Anfang an entweder das Produkt so unwiderstehlich zu machen, dass der Kunde nicht »Nein«
sagen kann oder aber nachhaltig die Hemmschwellen für den Kauf zu senken. Aber Vorsicht, erkennt
der Adressat auf Seiten des Produkts keinen wirklichen Benefit, so nutzt beispielsweise auch ein niedri-
ger Einführungspreis nichts. Der potenzielle Kunde ist schlichtweg der Meinung, dass selbst ein gerin-
ger Preis kein Grund für einen Kauf ist. Der größte Glücksfall für den Marketer tritt dann ein, wenn die
wahrgenommene Diskrepanz zwischen aktueller und gewünschter Situation so hoch ist, dass sich der
Wunsch nachhaltig im Gedächtnis der Zielgruppe verankert, sodass er fortan das Denken und Handeln
bestimmt.

Neben den oben genannten Aspekten spielt aber auch die subjektive Einschätzung der Erreichbarkeit
einer gewünschten Situation eine große Rolle. Wird diese als schwer erreichbar oder unerreichbar
eingestuft, stockt hier der Entscheidungsprozess. Sieht dagegen der Betrachter seinen zukünftigen
Zustand als leicht erreichbar an bzw. wird dies von der Werbung suggeriert, so neigt er unter Umstän-
den dazu, die Handlungsschwelle relativ schnell zu überwinden. Aber Vorsicht! Man sollte die Kraft der
Motivationen nicht unterschätzen. Vielleicht wird gerade durch die Adressierung bestimmter Ideale die
schwere Erreichbarkeit kompensiert. Denken Sie nur an die Fitness-Werbungen, die versprechen, dass
das Abnehmen mit der beworbenen Methode kinderleicht wird, dass sich das Programm selbstver-
ständlich an die Gewohnheiten des Nutzers anpasst und problemlos zu Hause durchführen lässt. Bei-
spielhaft ist der TV-Spot 2016 von Gymondo.37

Man kann nicht oft genug betonen, dass es keinen Sinn macht, Kunden etwas vorzugaukeln und ihnen
eine falsche Einfachheit in Aussicht zu stellen. Spätestens bei der Benutzung des Produkts werden sie
feststellen, dass die Versprechungen in der Werbung zu blumig waren und die Realität nicht den Erwar-
tungen entspricht. Die Folge wäre eine Unzufriedenheit der Kunden mit dem Produkt, vielleicht sogar
mit dem Unternehmen. Nicht selten verschaffen sich unzufriedene Kunden zudem Gehör — sei es in
Form von negativen Rezensionen oder sei es in Form von Shitstorms in den sozialen Netzwerken.

Der erste Schritt auf dem Weg zum Kauf ist getan. Der Kunde hat erkannt, dass er ein Bedürfnis hat.
Damit ist aber noch nicht die Kaufentscheidung besiegelt. Vielmehr wird sich der Kunde im nächsten
Schritt überlegen, wie die Lösung für sein Problem bzw. die Erfüllung seines Wunsches aussehen kann,
denn das Bedürfnis ist eher produkt- und markenunabhängig. Im nächsten Schritt aber wird die kon-
krete Entscheidung direkt vorbereitet.

3.2           Alternativenbewertung: Das Rennen um die Spitzenposition
              in der Kaufentscheidung beginnt
Aus Marktsicht ist der erste, wichtigste Schritt geschafft. Der Adressat hat mehr oder weniger bewusst
die Entscheidung getroffen, dass er ein Bedürfnis hat. Mit viel Glück ist er von dem Angebot so begeis-
tert, dass er es direkt kauft und gar nicht mehr über Alternativen nachdenkt. Sofern es sich nicht um
einen vollkommen risikoarmen Kauf handelt, wie beispielsweise der Einkauf eines halben Pfunds But-
ter oder eines Liters Milch, folgt auf die Entdeckung eines Bedürfnisses in der Regel eine Phase des
Nachdenkens und Abwägens verschiedener Optionen, die letztendlich durch ein ganzes Paket von Ent-

37. https://www.youtube.com/watch?v=IZ71MumckEc, Zugriff 04.10.2017
50                                                                    3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

scheidungen abgeschlossen wird: Welches Produkt welcher Marke wird gekauft? Wo und wann wird es
gekauft? Wir tasten uns wieder Schritt für Schritt an die verschiedenen Mechanismen heran, die im Kopf
eines Kunden ablaufen.

Das Vorwissen des Kunden als wichtiger Einflussfaktor

Bevor wir in den konkreten Ablauf einsteigen, müssen wir kurz innehalten und uns einen wichtigen Ein-
flussfaktor, das Vorwissen des Kunden, vor Augen führen. Je größer dieses Vorwissen ist, desto länger
und intensiver beschäftigt er sich mit der Auswahl des richtigen Produkts. Gamer beispielsweise stel-
len ganz bestimmte Anforderungen an einen Rechner und möchten für ihr Geld die beste Computer-
Performance kaufen, die es auf dem Markt gibt, wohingegen sich durchschnittliche Nutzer, die vor-
wiegend Texte schreiben, im Internet surfen und zwischendurch einen Film schauen, mit einem ein-
facheren PC zufriedengeben. Die erstgenannte Zielgruppe hat ein detailliertes Wissen über die einzel-
nen PC-Komponenten und lässt sich wahrscheinlich gerne stundenlang über die optimale Kombina-
tion aus Arbeitsspeicher, Prozessor, Grafikkarte und Mainboard aus. Unter den Bedingungen kann sich
der ganze Auswahlprozess ziemlich in die Länge ziehen, denn verschiedene Kombinationen wollen ein-
gehend geprüft, die Komponenten richtig ausgewählt werden. Für den Durchschnittsnutzer dagegen
sind Anforderungen wie einfache Bedienbarkeit und ein annehmbares Preis-Leistungs-Verhältnis aus-
schlaggebend. Von daher wird er sich nicht eingehender mit einzelnen Komponenten beschäftigen.
Der Detaillierungsgrad des ganzen Entscheidungsprozesses stellt sich im Falle des Durchschnittsnutzers
also völlig anders dar, und der Prozess selbst wird wahrscheinlich nicht so viel Zeit brauchen. Den Ein-
flussfaktor Vorwissen sollte man bei den folgenden Darstellungen immer im Hinterkopf behalten. Der
Entscheidungsprozess in Hinblick auf ein und dasselbe Produkt kann sich aufgrunddessen bei dem
einen Kunden extrem in die Länge ziehen und bei einem anderen stark verkürzen.

3.2.1         Der Auswahlprozess in Form einer Bewertungsmatrix
In Abb. 4 ist dieser gesamte Auswahlprozess in Form einer dynamischen Bewertungsmatrix dargestellt.
Diese Grafik werde ich Ihnen korrespondierend zur Nummerierung im Einzelnen erläutern.

Abb. 4 Bewusste und unbewusste Entscheidungen bei der Alternativenbewertung

1. Veränderung der Anzahl verschiedener alternativer Hersteller, Marken etc.
   Bei jeder Entscheidung, welches Produkt die Probleme des Kunden lösen soll bzw. dessen Wünsche
   erfüllen darf, spielen Alternativen oder Substitute eine sehr große Rolle. Sie sind oft Startpunkt
3.2 Alternativenbewertung: Das Rennen um die Spitzenposition in der Kaufentscheidung beginnt 51

   vieler Überlegungen. Gleich ob es um Autos, Computer, Business-Kleidung oder Handys geht, die
   Anbieter setzen alles daran, damit sie beim ersten Gedanken an einen Kauf ganz weit oben in der
   Liste des Kunden stehen, die sich im Marketingdeutsch Evoked Set nennt. Dabei handelt es sich
   um die »Liste« der spontan erinnerten Marken/Produkte. Bei einfachen Entscheidungen werden
   sich nur wenige Kunden die Mühe machen, diese zu erweitern. Ganz anders bei risikoreicheren Ent-
   scheidungssituationen: Hier wird relativ lange und intensiv gesucht, ob sich nicht doch noch eine
   bessere Alternative findet, um dann mit einem guten Gefühl den Kauf zu tätigen. Wenn das Indi-
   viduum eine Entscheidung getroffen hat, dass die Anzahl der Alternativen ausreichend groß ist,
   spricht man auch vom Relevant Set. Darunter versteht man ein durch aktives Nachdenken, Recher-
   chieren und Ergänzen komplettiertes Evoked Set.
2. Veränderung der Auswahl durch Einbeziehung verschiedener Varianten einer Produktkate-
   gorie
   Gibt es innerhalb des Produktprogramms eines Herstellers/einer Marke unterschiedliche Varianten,
   so erweitert sich der Entscheidungsraum noch einmal. Wer beispielsweise sein erstes Auto kauft,
   hat inzwischen bei jedem Automobilhersteller eine große Auwahl innerhalb der Kompakt- und Mit-
   telklasse.
3. Veränderung in der Prioritätenreihenfolge
   Jeder Kunde wird, je nachdem, was ihm persönlich wichtig ist, schon mit einer gewissen Rangliste
   starten. Um beim Beispiel Auto zu bleiben: Bei jemandem, der ein sportliches Auto will, werden mit
   großer Wahrscheinlichkeit die Marken BMW und Audi mit ihren Modellen eher auf den vorderen als
   auf den hinteren Plätzen zu finden sein. Mercedes hat zwar in den letzten Jahren das Image sehr
   stark Richtung Sportlichkeit gelenkt, ist aber in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung noch
   nicht gleich auf mit den zuvor genannten Marken.
4. Hinzunahme oder Weglassen von Bewertungskategorien
   Mit der Suche nach verschiedenen Alternativen werden gleichzeitig Bewertungskriterien definiert,
   anhand derer diese bewertet werden. Auch haben die Rahmenbedingungen, unter denen die Ent-
   scheidung getroffen wird, einen sehr großen Einfluss. Handelt es sich um eine einfache, risikoarme
   Entscheidung wie den Kauf einer Butter, so wird sich die Anzahl der Bewertungskriterien auf »Hat
   mir geschmeckt.« und »Habe ich letzte Woche schon gekauft und nicht bereut.« reduzieren. Bei
   komplexeren Entscheidungen gilt es wiederum zu unterscheiden, ob der Kunde ein großes Vor-
   wissen oder ob er sich vermutlich nur am Rande mit einer bestimmten Produktkategorie beschäf-
   tigt hat. Handelt es sich um einen Experten mit entsprechendem Know-how, so wird die Liste der
   Bewertungskategorien relativ umfangreich werden. Hat sich dagegen ein Kunde zuvor noch nie mit
   diesem Produkt beschäftigt, so wird er sich je nach Persönlichkeitsstruktur und Begeisterung für
   das Objekt der Begierde tiefer einarbeiten und sich sukzessive an eine Liste mit ausreichend vielen
   Bewertungskriterien heranarbeiten.

   Man sollte auch hier nicht unterschätzen, welche Rolle die Werbung gerade bei der eben beschrie-
   benen Zielgruppe spielen kann. Macht man es geschickt, so kann man bestimmte Produkteigen-
   schaften in den Vordergrund rücken und auf diese Weise von Schwächen ablenken. Der Hersteller
   hofft in gewisser Weise, dass die Begeisterungsmerkmale alles andere kompensieren. Springen wir
   noch einmal kurz zurück zu Steve Jobs Präsentation des iPhone. Die zwei Megapixel der Kamera
   waren bei der Präsentation des Telefons bei Weitem nicht mehr konkurrenzfähig, aber dies küm-
   merte die Apple-Fans zu diesem Zeitpunkt relativ wenig. Es war ein Bewertungskriterium, das im
   Vergleich zu den Vorteilen in puncto Benutzeroberfäche, Bildschirmgröße etc. absolut zweitrangig
   für die Entscheidung der meisten Kunden war.

5. Differenzierung innerhalb einer Bewertungskategorie
   Selbstverständlich gibt es die Möglichkeit, innerhalb einer Bewertungskategorie viele verschiedene
   Details in den Prozess zu integrieren. Ist beispielsweise für den durchschnittlichen Computernutzer
   in erster Linie die Auflösung und die Bildschirmdiagonale bei einem Monitor von Bedeutung, so
   achten Profis und Fotografen auf zusätzliche Eigenschaften wie zum Beispiel Kalibrierbarkeit, Blick-
   winkelstabilität, Farbraum und vieles andere mehr.
6. Veränderung der Prioritätenreihenfolge bei Bewertungskategorien
   Auch hier gibt es, je nach Anwendung und subjektiven Vorlieben eine Prioritätenreihenfolge bei
   den Bewertungskriterien. Während beispielsweise ein Computermonitor für Gamer sehr kurze
52                                                                    3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

     Schaltzeiten aufweisen muss, damit bei hohen Auflösungen auch ein entsprechend tolles Gefühl
     beim Spielen eintritt, ist dies für einen durchschnittlichen Computerbenutzer von untergeordneter
     Bedeutung.
 7. Bewertungsregeln, Cut-offs, Gewichtung
    Kommen wir nun zum Kern des gesamten Bewertungsprozesses, der aus der Anwendung von
    Bewertungsregeln, dem Einsatz von Cut-offs und der Gewichtung von Bewertungskriterien
    besteht. Bis jetzt hat sich die Darstellung des gesamten Bewertungsprozesses relativ logisch und
    strukturiert angehört, doch der eine oder andere von Ihnen hat sich sicher schon gefragt, wie viel
    Rationalität denn tatsächlich in der Praxis übrigbleibt.

     → Gewichtung: Bereits bei der Gewichtung der Bewertungskriterien ist damit bei vielen Entschei-
       dungen Schluss. Man kann stillschweigend davon ausgehen, dass die Reihenfolge der Prioritä-
       ten auch eine Gewichtung des jeweiligen Kriteriums aus Sicht des Kunden darstellt: Hohe Prio-
       rität ist gleich hohes Gewicht, niedrige Priorität ist niedriges Gewicht und damit vernachlässig-
       bar. Es geht aber auch anders. Betrachten wir ein einfaches Beispiel, den Autokauf. Würde man
       sich nur anhand der Pannenstatistik orientieren, so würden im Jahr 2016 nur die Marken BMW,
       Toyota und teilweise die Marken Audi und Mercedes auf den vordersten Plätzen landen.38 Trotz-
       dem kaufen viele Kunden lieber günstige Modelle oder bleiben ihrer Marke treu, obwohl sie
       eventuell schlecht abschneidet. Eigentlich ein irrationales Verhalten, aber jeder Käufer gewich-
       tet seine Kriterien so, dass er am Ende mit seiner Entscheidung rundherum zufrieden ist.
     → Cut-offs: Darüber hinaus können natürlich jederzeit im Entscheidungsprozess sogenannte Cut-
       offs angewendet werden. Dies sind Restriktionen, die der Kunde als Mindestanforderung defi-
       niert. Alle Alternativen, die eine geringere Leistung zeigen bzw. eine geringere Ausstattung
       haben, werden aus dem Bewertungsprozess ausgeschlossen. Wenn ein Kunde beispielsweise
       regelmäßig rechenintensive Aufgaben mithilfe des Computer erledigen will (z. B. Homevideos
       produzieren, Fotos bearbeiten etc.), wird er eine Mindestleistung des Prozessors als Cut-off defi-
       nieren.
     → Bewertungsregeln: Jeder Mensch hat ganz individuelle Bewertungsregeln. Man kann zwi-
       schen einer kompensatorischen und einer nicht kompensatorischen Regel unterscheiden. Bei
       einer kompensatorischen Bewertungsregel werden alle Kriterien — unter Einbeziehung der
       Gewichtung — in der Betrachtung berücksichtigt. Schwächen bei einem Merkmal werden
       durch Stärken bei einem anderen Merkmal ausgeglichen. Bei einer nichtkompensatorischen
       Bewertungsregel konzentriert sich der Kunde nur auf diejenigen Kriterien, die für ihn besonders
       wichtig sind und lässt alle anderen aus der Betrachtung heraus.

         Ein gutes Beispiel dafür ist wieder ein Apple-Kunde, dem es in erster Linie auf ein schönes
         Design, ein einfach zu bedienendes Betriebssystem und eine hohe Benutzerfreundlichkeit
         ankommt. Demgegenüber stelle man sich einen Computerbastler vor, der sich mit dem entspre-
         chenden Vorwissen in einem langwierigen Prozess die Komponenten für einen Desktop-Com-
         puter aussucht, dies in Bezug auf ihre Performance vergleicht und dann am Ende das für ihn
         optimale System zusammenbaut.

 8. Gesamtbewertung einer Alternative
    Hat sich der Kunde durch diesen Prozess durchgekämpft, so ist er schlussendlich bei der endgülti-
    gen Entscheidung angelangt, mit der er dann in die finale Phase des Kaufprozesses einsteigt.

Wie bereits angedeutet, läuft dieser Prozess nicht geradlinig Schritt für Schritt ab — von der Festlegung
von Alternativen über die Definition der Bewertungskriterien bis hin zur Auswahl des geeigneten Pro-
dukts auf Basis der eigenen Bewertungsregeln. Vielmehr ist dieser Vorgang in der Realität durch viele
zusätzliche Schleifen gekennzeichnet, die immer wieder von der Erkenntnis unterbrochen werden,
noch zusätzliche Informationen zu benötigen. Dies können Testberichte sein, Tipps von Freunden,
Experten, vom besuchten Einzelhändler, detaillierte Beschreibungen auf Websites der Hersteller, the-

38. http://www.focus.de/auto/ratgeber/kosten/adac-pannen-statistik-2016-ein-deutscher-hersteller-patzt-diese-autos-haben-
    die-meisten-pannen_id_5466410.html, Zugriff 04.10.2017
3.2 Alternativenbewertung: Das Rennen um die Spitzenposition in der Kaufentscheidung beginnt 53

menspezifische Blogs und viele weitere Quellen. Auf Basis dieser Informationen lassen sich sowohl die
Bewertungskriterien als auch die Liste der verschiedenen Alternativen überarbeiten und zwar so lange,
bis der Kunde beschließt, den Vorgang zu beenden.

3.2.2       Die Bewertungsmatrix in der Praxis — ein Beispiel
Sehen wir uns anhand eines Beispiels an, wie der Aufbau der eben beschriebenen Bewertungsmatrix in
der Realität vonstattengehen könnte. Versetzen wir uns in einen musikbegeisterten Kunden hinein, der
auf der Suche nach einem hochwertigen Kopfhörer ist, um zu Hause entspannt und in sehr guter Qua-
lität Musik zu hören. Nehmen wir zusätzlich an, dass sich der Kunde mit dieser Produktgruppe bislang
noch nicht weiter beschäftigt hat. Er wählt also den Einstieg über Google und füttert die Suchmaschine
mit den Begriffen »hochwertige Kopfhörer«.

Das Ergebnis ist in Abb. 5 dargestellt. Ganz weit oben erscheint eine Anzeige der Firma Thomann mit
dem Hinweis auf die Geld-zurück-Garantie, den Gratis-Versand ab 25 Euro und der kurzen Ansage: »Bei
Thomann gibt's das richtige Equipment für Dich: Kopfhörer!« Dieser Einstieg ist eine positive Botschaft
an den potenziellen Kunden und als Einladung zu verstehen, dem Link zu folgen. Bevor unser Kunde
dies jedoch tut, wird er sich noch die anderen Ergebnisse auf dieser ersten Seite der Google-Trefferliste
ansehen.

Oben auf der Seite wird er bei den Google-Shopping-Ergebnissen eine Anzeige von Thomann bemer-
ken. Die Preisangaben signalisieren ihm, dass hier wirklich hochwertige Kopfhörer zu haben sind. Hätte
unser Kunde dagegen nur »Kopfhörer« eingegeben, so wäre Thomann nicht auf der ersten Seite der
Trefferliste erschienen, sondern erst auf der dritten oder vierten. Darüber hinaus finden sich Anzeigen
des Onlineshops Stylight, des Anbieters MHW-Audio mit der klaren Positionierung »High End Kopfhörer«
und von Amazon mit dem Hinweis auf Testsieger. Würde unser Kunde diesem Link folgen, so befände er
sich bereits so tief in den Details, dass er vermutlich desorientiert den Weg zurück zur Google-Ergebnis-
seite wählen würde. Der Versandhändler Amazon hätte hier deutlich mehr punkten können, zum Bei-
spiel durch einen Link auf eine Übersichtsseite, die unserem fiktiven Kunden helfen würde, sich weiter
durch seinen Bewertungsprozess durchzuhangeln. Für eine Verarbeitung von Testberichten fühlt er sich
definitiv nicht bereit, da er sich noch in einem sehr frühen Stadium der Definition von Bewertungskrite-
rien befindet.

Die organischen Suchergebnisse führt Computer Bild mit einer Bestenliste an, gefolgt vom Vergleich-
sportal Testsieger.de und dem Magazin Connect, das einen Testbericht anbietet.
54                                                                         3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

Abb. 5 Trefferliste der Google-Suche »hochwertige Kopfhörer«, Stand 18.05.2016

Kommen wir zurück zu der Anzeige von Thomann, Europas größtem Onlineversender in der Musikbran-
che. Folgt unser Kunde dem Link zur Seite des Onlineshops, so gelangt er auf eine Übersichtsseite. Sie
unterstützt durch die einfachen, aussagekräftigen Bezeichnungen von verschiedenen Kopfhörer-Kate-
gorien die ersten Schritte beim Aufbau einer Bewertungsmatrix. Da unser fiktiver Kunde weder DJ noch
Drummer ist, keinen Kopfhörer für Kinder und auch keine Hör-Sprechgarnituren braucht, wird er sich
wahrscheinlich entweder für die Kategorie Studio- oder Hi-Fi-Kopfhörer entscheiden oder auch den
kabellosen Kopfhörern bzw. Noise-Cancel-Kopfhörern eine Chance geben.
3.2 Alternativenbewertung: Das Rennen um die Spitzenposition in der Kaufentscheidung beginnt 55

Abb. 6 Übersichtsseite Kopfhörer des Onlineshops von Thomann39

Unser fiktiver Kunde wird eventuell auf dieser Übersichtsseite schon einen Blick auf die Detailkategorien
werfen und, ein gewisses Vorwissen vorausgesetzt, mit den aufgelisteten Parametern wie linearer Fre-
quenzgang40, Übertragungsbereich41, Klirrfaktor42 und Schalldruckpegel43 etwas anfangen können.
Vielleicht wird er den einen oder anderen Kopfhörer bereits seiner Liste von Alternativen hinzufügen.

39. https://www.thomann.de/de/kopfhoerer.html, Zugriff 15.06.2016
40. Ein linearer Frequenzgang bedeutet, dass der Kopfhörer in keinem Frequenzbereich die Signale anhebt. Beliebt sind bei-
    spielsweise bei Kopfhörern eine Bassverstärkung. Will man eine möglichst neutrale Wiedergabe des Originalsignals, so will
    man einen möglichst linearen Frequenzgang ohne Anhebungen in den Frequenzbereichen. Ein Kopfhörer mit einem linea-
    ren Frequenzgang klingt neutral.
41. Der Übertragungsbereich beschreibt das Intervall der Frequenzen, beginnend bei den tiefsten Tönen und endend bei den
    höchsten Tönen, die der Kopfhörer übertragen kann. Je größer der Übertragungsbereich, desto besser bildet der Kopfhörer
    das Originalsignal ab.
42. Der Klirrfaktor ist das Verhältnis zwischen Störsignalen/Verzerrungen und dem Originalsignal. Je höher der Klirrfaktor, desto
    verzerrter das Signal. Je geringer der Klirrfaktor, desto besser bildet der Kopfhörer das Originalsignal ab.
43. Je höher der Schalldruckpegel, desto größere Lautstärken kann der Kopfhörer wiedergeben. Bei einem Kopfhörer, der zu
    Hause benutzt wird, sind moderate Schalldruckpegel sinnvoll; in lauten Umgebungen sollte der Kopfhörer einen hohen
    Schalldruckpegel haben.
56                                                               3 Wie trifft ein Kunde Kaufentscheidungen?

Bewertungskriterien                   Alternativen

                                      AKG            AKG           Audio-Technica       Beyerdynamic
                                      K-812 Pro      K-712 Pro     ATH M50 X            DT 770 Pro 250

Preis                                 900,00 €       250,00 €      150,00 €             120,00 €

Linearer Frequenzgang                 10             8             1                    8

Übertragungsbereich                   10             8             6                    8

Klirrfaktor                           10             8             6                    8

Schalldruckpegel                      10             8             6                    8

Statussymbol                          10             8             6                    8

entspannt Musikhören                  10             8             6                    8

Tragekomfort                          10             8             6                    8

Analytischer Klang                    10             8             6                    8

Luftiger Klang                        10             8             6                    8

Summe                                 90             72            49                   72

Preis-Cut-off                         !              ok            ok                   ok

Risiko des Kaufs                      hoch           mittel        niedrig              niedrig

Tabelle 3.1 Beispiel für eine Bewertungsmatrix

In Tabelle 3.1 finden sich in den Kopfzeilen der Spalten drei verschiedene Marken wieder, von einer
Marke hat unser fiktiver Kunde zwei verschiedene Modelle ausgewählt. Gleichzeitig hat er bereits die
ersten Bewertungskriterien anhand der aufgelisteten Parameter festgelegt. Das sind relativ objektivier-
bare, technische Parameter, anhand derer sich verschiedene Alternativen vergleichen lassen.

Dazu kommen aber auch individuelle, nicht objektivierbare Kriterien wie zum Beispiel ein guter Trage-
komfort und die kundenspezifische Definition von analytischem und luftigem Klang. In gleicher Weise
ist die Anforderung zu sehen, dass der Kopfhörer gewissermaßen ein Statussymbol darstellen sollte.
Genau wie bei einem Autokauf — auch hier spielt im sozialen Umfeld des Käufers die Marke eine sehr
große Rolle — kann unser fiktiver Kunde mit dem Erwerb eines teuren Kopfhörers von einem bekann-
ten Hersteller auf seine musikbegeisterten Freunde Eindruck machen und bei ihnen bewusst Neid
erzeugen.

In der Bewertungsmatrix in Tabelle 3.1 wurden die vier verschiedenen Kopfhörer — die Auflistung ist
nur beispielhaft und keineswegs vollständig — anhand der Bewertungskriterien bewertet. Die Maxi-
malpunktzahl ist Zehn. Darüber hinaus finden sich noch zwei Cut-offs: der Preis und das subjektiv emp-
fundene Risiko der Kaufentscheidung. Da sich unser fiktiver Kunde ein Budget von 250 Euro gesetzt hat,
kommt einer der Kopfhörer nicht mehr infrage. Gleichzeitig schätzt er das Risiko des Kaufs sehr hoch
ein, denn ihm ist bewusst, dass er dieses Produkt eine geraume Zeit lang verwenden muss, um den
Klang wirklich beurteilen zu können. In diesem Fall könnte die Rückgabefrist eventuell abgelaufen sein,
und er hätte einen tollen Kopfhörer, der nicht seinen Erwartungen entspricht. Bei Anwendung einer
kompensatorischen Bewertung würde der Kopfhörer der Marke Beyerdynamic am besten abschneiden.
Damit hätte unser fiktiver Kunde eine Entscheidung getroffen.

Wie das Beispiel zeigt, kann diese Bewertungsmatrix in der Praxis durchaus ihre Anwendung finden,
doch werden die wenigsten Kunden so strukturiert und formal vorgehen.

Bislang haben wir noch einen Cut-off nicht angesprochen, der den einfachsten Weg der Entscheidungs-
findung darstellt: Man fragt einen Fachmann um Rat und folgt diesem uneingeschränkt und ohne nach-
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