DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège

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DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
DAS WICHTIGSTE
     FÜR DEN BESUCH

DE
DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
SOMMAIRE

Ein städtischer Komplex             3

Das Grand Curtius – eine
Sammlung aus Sammlungen             6

Das Grand Curtius –
einige Meisterwerke                 9

  • Herzförmiger Faustkeil          9
  • Krug für Vorräte aus
    Linienbandkeramik               10
  • Büstenvase von Jupille          12
  • Halbkugelförmige
    Spruchschale                    14
  • Münzschatz von Vervoz           16
  • Palude-Diptychon                17
  • Notger-Evangeliar               19
  • Die Jungfrau von Évegnée        20
  • Heilig-Kreuz-Reliquiar          22
  • Lambert Lombard,
    „Die tugendhaften Frauen“       23
  • Monstranz für Fronleichnam      25
  • Oranus-Pokal                    26
  • Astronomische Uhr
    von Hubert Sarton               27
  • Möbel-Ensemble des
    Schlosses La Chapelle-en-
    Serval, von Serrurier-Bovy      29
  • Studio von Eugène Ysaye         31
  • Spanische Kanne nach
    venezianischer Art              33
  • Reisekelche mit
    Schmetterlingen                 34
  • Kelch „Maikäfer und
    Seerosen“                       35
  • Horta-Vase                      36
  • Geerinckx-
    Steinschlosspistole             38
  • Lütticher Gewehr von der
    Weltausstellung in Paris 1867   39
  • Gewehr zu Ehren des
    kaiserlichen Prinzen, Sohn
    von Napoléon III                40
  • Pistole mit Elfenbein-
    Verkleidung                     42
DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
EIN STÄDTISCHER KOMPLEX

PALAIS CURTIUS (1604)
                                                          JEAN DE CORTE GENANNT
Das architektonische Ensemble Curtius
                                                                  CURTIUS
umfasst ein Palais, welches als Geschäft
und Gästehaus diente, eine Residenz, in
                                                      Der zu seiner Zeit sehr erfolgreiche
welcher die Familie Curtius lebte sowie
                                                      Industrielle Jean de Corte (1551-
zahlreiche Nebengebäude für die Hau-
                                                      1628) machte sein Vermögen mit
sangestellten, Stallungen, eine Galerie
                                                      der Herstellung von Pulver und
und einen Garten. Dieser weitläufige ar-
                                                      Projektilen, denn er hatte das Vorrecht
chitektonische Komplex repräsentierte
                                                      für deren Lieferung an die spanische
die sozioökonomische Bedeutung der
                                                      Armee sowie an die Niederlande inne.
Eigentümer.
                                                      Er besaß Ländereien, Lehensgüter
Die Architektur ist typisch für die Renais-
                                                      und Anteile an Kohleabbau-Betrieben.
sance in unseren Regionen. Sie zeichnet
                                                      Im Jahr 1617 gründete er sogar
sich durch einen Wechsel aus Backstein
                                                      einen Eisenhüttenkomplex im Norden
und Stein, welcher der Fassade Dynamik
                                                      Spaniens, für den er Maschinen und
verleiht, durch ein hohes Schieferdach mit
                                                      Arbeitskräfte ins Land holte – die
Gesimsergänzungen, Basreliefs, soge-
                                                      Lütticher
nannte Maskarone aus Maaser Kalktuff
                                                      Arbeiter
(Porträts – Wappen – Fabelwesen – reli-
                                                      h a t t e n
giöse und satirische Szenen) sowie durch
                                                      nämlich
Kreuzfenster mit Mittelpfosten aus. An-
                                                      ein großes
fang des 20. Jahrhunderts kaufte die Stadt
                                                      Fachwissen
Lüttich den Komplex. Das Palais wird zum
                                                      erworben.
Glasmuseum und die Residenz zum Mu-
seum der dekorativen Künste. Als beson-
                                                        Jean Wiricx, Porträt
ders symbolträchtiges Gebäude der Stadt                  von Jean de Corte,
Lüttich gab das Palais Curtius diesem Mu-                 Gravur mit Gravur
                                                         mit Gravierstichel,
seumskomplex im Herzen des historischen                Anvers, 1607 – Sam-
                                                       mlung Grand Curtius
Zentrums seinen Namen. Heute beher-                         © Stadt Lüttich

bergt es den Bereich des Waffenmuseums.

                                               Ansicht des Palais Curtius vom Hof der Residenz aus © Stadt Lüttich
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DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
MAISON DE WILDE ET BRAHY                                                 HÔTEL DE HAYME DE BOMAL
 (ZWEITE HÄLFTE 17. JAHRHUNDERT)                                          (ZWEITE HÄLFTE 18. JAHRHUNDERT)

 Diese beiden Stadthäuser waren urs-                                      Das Hôtel de Hayme de Bomal spiegelt die
 prünglich ein einziges Gebäude, dessen                                   neoklassizistische Architektur der zweiten
 Bau unter dem Namen Hôtel de Haxhe                                       Hälfte des 18. Jahrhunderts wider und ist
 in die zweite Hälfte des 17. Jahrhundert                                 das perfekte Beispiel für die französische
 zurückreicht. Erbaut wurde es von dem                                    Architektur in der Tradition der Pariser
 Lütticher Bürgermeister Conrad de Hax-                                   Stadthäuser des späten 18. Jahrhunderts
 he im Jahr 1673. An dem Bau aus Ziegeln                                  mit Parade-Appartements in der ersten
 und mit Kalkstein-Simsen kann man die                                    Etage.. Der Bau wird dem Architekten
 architektonische Entwicklung ablesen,                                    Barthélemy Digneffe für Jean-Baptiste de
 insbesondere am Verschwinden der                                         Hayme de Bomal, einen bedeutenden Bü-
 Kreuzfenster zugunsten großer Erker. Um                                  rgermeister Lüttichs, zugeschrieben. Das
 1770 wird das Stadthaus in zwei Teile ge-                                Stadthaus ist danach Sitz der Präfektur
 teilt, die sich durch zahlreiche Eigentümer                              des Departements Ourthe und Napoleon
 unabhängig        voneinander     entwickeln                             Bonaparte übernachtet hier dreimal (mit
 sollten: der Teil zur Straße hin (Brahy-Teil)                            seinen jeweiligen Ehefrauen). Später wird
 sowie der südseitige Hauptteil (Wilde-Teil).                             es Sitz der holländischen Verwaltung
 Im 20. Jahrhundert wird das Gebäude                                      und schließlich geht es in den Besitz von
 Eigentum der Stadt und als Lager genutzt.                                Pierre-Joseph Lemille über. Dieser über-
 Zu Beginn des Museumsprojekts wird der                                   lässt es 1884 der Stadt, welche daraus ein
 Abriss der beiden Gebäude geplant, doch                                  Waffenmuseum macht.
 schlussendlich werden sie restauriert und
 als Empfang und Cafeteria in den Rahme-
 nentwurf integriert.

Hôtel de Brahy © https://fr.wikipedia.org/wiki/H%C3%B4tel_de_Haxe                        Hôtel de Hayme de Bomal © www.opt.be

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DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
ZEITGENÖSSISCHE EINRICHTUNGEN (2003 BIS 2009)

Diese historischen Gebäude sind durch zeitgenössische architektonische Einrichtungen
verbunden, die ein zusammenhängendes und fast unmerkliches Durchgehen zwischen den
verschiedenen Bauten der unterschiedlichen Epochen ermöglichen.

            Ansicht der Erhebung der Museumsgebäude, vor und nach den Umbauten von Daniel Dethier © www.dethier.be

Gebäude G an der Vorderseite des Museums, Seite Rue Feronstrée, wurde vom Lütticher
Architekten Daniel Dethier am Standort des früheren Maison Sauvage aus der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts (im Hôtel de Hayme de Bomal enthalten) und einer früheren
Schule in einem Gebäude mit neoklassizistischer Architektur gestaltet.

         AUSSENBEREICHE

  Die äußeren Höfe des Museums wur-
  den ebenfalls von einem Landschaft-
  sarchitekten erdacht: Erik Dhont. Im
  Haupthof setzte er abstrakte Objekte
  aus Ziegelsteinen in unterschied-
  lichen Größen und Formen um. Ihre
  Position in der Landschaft zeigt den
  Besuchern die möglichen Rundgänge
  an. Die Brunnensteine stammen von
  Häusern, die für den Bau moderner
  Gebäude abgerissen wurden.

                                                                             Haupthof des Grand Curtius © www.erikdhont.com

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DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
DAS GRAND CURTIUS EINE SAMMLUNG AUS SAMMLUNGEN

Das Grand Curtius versammelt an einem               Kollektion eine der umfangreichsten und
Museumsstandort die Sammlungen al-                  reichhaltigsten des Landes machen – sie
ter Lütticher Museen: des Museums für               umfasst fast 15.000 Stücke. Vor allem
Archäologie und dekorative Kunst, des               die Spende von De Puydt – das Ergebnis
Museums für religiöse und maasländische             persönlicher, fast 50-jähriger Forschung
Kunst, des Museums für Glaskunst und                des Spenders an der Stätte von Spy und
des Waffenmuseums.                                  später im Hespengau – sorgt für die inter-
Der Rundgang ist nach einem chrono-                 nationale Reputation der Sammlung. Der
logischen Faden aufgebaut, der es er-               galloromanische Bestand ist das Ergeb-
möglicht, von der Zeit der Vorgeschichte            nis zahlreicher Ausgrabungsaktionen, die
bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts                 unter der Leitung des I.A.L. zwischen der
zurückzureisen. Dieser Weg zeichnet das
große Abenteuer der Stadt Lüttich und
unserer Regionen im Laufe der Zeit nach.
Parallel wird in thematischen Abschnitten                                 I.A.L.
angeboten, bestimmte Wissensgebiete zu
vertiefen. Zwei weitere Rundgänge sind               Das Lütticher Archäologische Institut
dem Glas und den Waffen gewidmet. Hier-              (I.A.L.) wurde 1850 gegründet. Sein Ziel
bei handelt es sich um jene industrielle             ist es, archäologische Kunstwerke und
Tätigkeitsbereiche, in denen Lüttich sein            Denkmäler aus der Provinz Lüttich zu
großes Fachwissen unter Beweis stellen               untersuchen, zusammenzutragen und
konnte.                                              aufzubewahren. Es besteht aus Lütti-
                                                     cher Wissenschaftlern, Archäologen,
                                                     Historikern, Architekten etc.
DEPARTEMENT
FÜR ARCHÄOLOGIE

Seit den 1860er-Jahren widmet das Lütti-
cher Archäologische Institut (I.A.L.) einen
erheblichen Teil seines Budgets dem
Erwerb von Antiquitäten (Ankäufe, Aus-
grabungen etc.). Diese werden seit 1874 in
einem Flügel des Fürstbischöflichen Pa-
lastes untergebracht. 1901 beschloss die
Stadt Lüttich, diese Sammlung im Maison
Curtius unterzubringen. Das neue Mu-
seum, das zunächst als Lütticher Archäo-
logisches Museum bezeichnet wurde,
wurde 1909 eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt
gab es bei der Archäologie in Lüttich eine
starke Entwicklung. Große Forscher wie
Marcel De Puydt stehen am Beginn dessen,
was man später als „Lütticher Schule der
Vorgeschichte“ bezeichnen sollte. Zwei
Spenden (die Spende von Georges Cumont
im Jahr 1914 und die Spende von Marcel
De Puydt 1920) sollten aus der Lütticher
                                                           Ansicht des gesamten Departements für Archäologie
                                                                                             © Stadt Lüttich
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DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
zweiten Hälfte des 19. und dem ersten
    LÜTTICHER SCHULE DER                           Viertel des 20. Durchgeführt wurden. Aus
                                                   dem Kontext von Gräbern oder Behausun-
       VORGESCHICHTE                               gen stammend, bewahrt die Sammlung
                                                   das bei Ausgrabungen entdeckte archäo-
Das Interesse an den Naturwis-
                                                   logische Material der gallorömischen Vil-
senschaften entwickelt sich im 19. Jah-
                                                   la vom Place Saint-Lambert, der Villa von
rhundert. Forschungen in der Geologie
                                                   Haccourt oder – am aktuellsten – von ver-
und in der Mineralogie führten zur Ent-
                                                   schiedenen Stätten in Jupille auf.
deckung von sowohl tierischen als auch
menschlichen Fossilien. Der Nachweis
ihres hohen Alters führte dazu, dass               DEPARTEMENT FÜR RELIGIÖSE
die Schöpfungstheorie in Frage gestellt            UND MAASLÄNDISCHE KUNST
wurde. Bei letzterer ging man davon
aus, dass der Mensch, so wie er jetzt ist,         Dieses Departement ist zum Teil ein
schon seit seinem Erscheinen auf der               Nachfolger des Lütticher Diözesanmu-
Erde bestand. Der Lütticher Philippe               seums, welches 1880 von der Gesellschaft
Charles Schmerling (1791-1836), Pro-               für Kunst und Geschichte der Diözese Lüt-
fessor an der Universität Lüttich, weist           tich (S.A.H.D.L.) gegründet wurde. Im Jahr
die Existenz des fossilen Menschen wis-            1976 wird es zum Museum für religiöse
senschaftlich nach. Damit gehört die               und maasländische Kunst (M.A.R.A.M.)
Universität Lüttich zu den ersten, die             und sein Betrieb wird von der Stadt Lüt-
sich für das Wissen über den prähis-               tich übernommen. Seit 2009 stellt es
torischen Menschen interessieren.                  eines der Departements des Museums-
Nach Schmerling tun sich noch weitere              komplexes Grand Curtius dar. Über all
Archäologen mit ihren Forschungen                  diese Generationen hinweg blieb das Ziel
hervor – sie bilden die „Lütticher Schule          gleich: die Bewahrung und Wertschät-
der Archäologie“.                                  zung des religiösen Erbes. Seit über zehn
                                                   Jahrhunderten im Herzen eines mächti-
                                                   gen kirchlichen Fürstentums gelegen, ist
                                                   Lüttich ein ganz besonderer Zeuge des
                                                   bemerkenswerten Aufschwungs der re-
                                                   ligiösen und insbesondere der maaslän-
        MARCEL DE PUYDT                            dischen Kunst. Die Kollektion wird durch
                                                   Spenden und Einlagerungen verschiede-
Marcel De Puydt (1855–1940) ist Doktor             nen Ursprungs erweitert. Auch die Ar-
der Rechts- und Politikwissenschaft.               chivbestände der Glashersteller Osterrath
Er ist zwar von 1880 bis 1920 Leiter               und der Goldschmiede Dehin werden hier
der Rechtsabteilung der Stadt Lüttich,             aufbewahrt. Gemeinsam mit den Sam-
zeichnet sich aber vor allem als bril-             mlungen des ehemaligen Curtius-Mu-
lanter Prähistoriker aus. Im Kreise von            seums und mit einigen Werken aus den
Paläontologen und Geologen entdeckte               Kollektionen des Museums der Schönen
er 1886 in der Höhle von Spy Spuren                Künste bietet das Departement einen
der Existenz eines Menschen, der sich              Rundgang, der die künstlerische En-
von dem heutigen modernen Menschen                 twicklung der religiösen Kunst nachzeich-
unterschied – es handelte sich um den              net und die ideologischen Veränderungen
Neandertaler. Als Begründer der Ab-                vom Hochmittelalter bis heute darlegt.
teilung für Vorgeschichte des Lütticher
Archäologischen Museums trägt er mit
häufigen Spenden entscheidend zu de-
ren Erweiterung bei.

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DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
DEPARTEMENT FÜR DEKORATIVE                         WAFFENMUSEUM
KUNST
                                                   Im Jahr 1885 öffnet das Waffenmuseum
Ursprünglich gemeinsam mit der archäo-             von Lüttich im alten Hôtel de Hayme de Bo-
logischen Sammlung im Palais Curtius               mal seine Pforten. Das Museum verdankt
ausgestellt, wurde die Sammlung dekora-            seine Sammlung dem Lütticher Pierre-Jo-
tiver Kunst dank zahlreicher Spenden be-           seph Lemille, einem Waffenhersteller und
gründet. Diese Sammlung ist gleichzeitig           vor allem einem großen Sammler. Ziel des
umfang- und abwechslungsreich. Sie bein-           Museums war es, möglichst viele Modelle
haltet Meisterwerke der maasländischen             von Handfeuerwaffen aus der ganzen Welt
Kunst, Fragmente von Altaraufsätzen,               zusammenzutragen. Durch Ankäufe und
Möbel, Werke renommierter Lütticher                Spenden wurde das Waffenmuseum von
Künstler wie Jean Del Cour, Jean Varin und         Lüttich eines der weltweit bedeutendsten
Guillaume Evrard, einzigartige Werke der           in dieser Fachrichtung Seit 2018 im Pa-
Renaissance sowie italienisches, chine-            lais Curtius untergebracht, stellt die neue
sisches, deutsches, englisches oder auch           Gestaltung knapp 600 zivile Waffen vor und
niederländisches Steingut und Porzellan.           zeichnet die Geschichte der Waffenhers-
                                                   tellung vom 16. bis zum 21. Jahrhundert
DEPARTEMENT FÜR GLAS                               nach.

Ende des 19. Jahrhunderts beginnt Alfred
Baar, Präsident des Lütticher Handelsge-
richts, zahlreiche Werke der Glaskunst zu
sammeln. Es handelt sich hier um eine
außergewöhnliche Glaskunstsammlung,
die von der Antike bis ins 19. Jahrhundert
reicht. Nach seinem Tod 1907 führt sein
Sohn Armand die Erweiterung der Sam-
mlung des Vaters fort. Als echter Kurator
katalogisiert er die Objekte, beschreibt
und nummeriert sie und erstellt Grup-
pierungen, die es ihm ermöglichen, eine
Geschichte der Glaskunst zu verfassen. Im
Jahr 1946 deponiert die Witwe von Armand
Baar die Sammlung im Curtius-Museum.
Die Stadt Lüttich kauft sie sechs Jahre
später und gründet anschließend im Jahr
1959 das Glasmuseum. Im Folgenden wer-
den zahlreiche Anschaffungen getätigt, die
die Glassammlung mit Stücken aus aller
Herren Länder aus dem 19. bis 20. Jah-
rhundert bereichern. Schwerpunkte sind
dabei die Epochen des Jugendstils, des
Art déco und des Designs der 1950-er und
1960er-Jahre. Dank der engen Kontakt zu
den Cristalleries du Val-Saint-Lambert er-
möglicht es eine große Anzahl an Stücken,
die Geschichte der Herstellung sowie der
zeitgenössischen Werke nachzuverfolgen.
Heute ist die Sammlung eine der prestige-
trächtigsten der Welt.
                                             -8-
DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
DAS GRAND CURTIUS EINIGE MEISTERWERKE

HERZFÖRMIGER FAUSTKEIL

Der Faustkeil ist ein „multifunktionales“
Werkzeug, welches an zwei Seiten tropfen-
förmig bearbeitet wurde (in Herzform). Zu
schwer, um mit einem Griff ausgestattet
zu werden, verleiht der abgerundete un-
tere Teil dem Stein eine gute Ergonomie,
um ihn einfach in der Hand zu halten Der
spitze Teil oben ermöglicht ein Durchboh-
ren, während die mit Splittern ausgestat-
teten Teile dafür sorgten, dass man sch-
neiden, durchschneiden, aber auch von
Häuten abkratzen konnte. Der Mensch
entschied sich für Feuerstein, welcher
gleichzeitig widerstandsfähig und einfach
durch Schläge und Splitter zu bearbeiten
ist. Die Wirtschaft dieser Menschen basiert
auf Jagd, Fischfang und Sammeln. Es han-
delt sich um eine nomadisch lebende Be-
völkerung, die ihrer „Speisekammer“ folgt
und sich in Gruppen bewegt.

           PALÄOLITHIKUM

  Das Paläolithikum (aus dem Grie-
                                                      Herzförmiger Faustkeil – Altpaläolithikum (- 300 000), Visé,
  chischen, paleo = alt; lithos = Stein) ist         Departement für Archäologie, Grand Curtius © Stadt Lüttich
  der früheste und längste Zeitabsch-
  nitt der Vorgeschichte. Es beginnt vor
  etwa 2,9 Millionen Jahren. Die ersten
  Spuren menschlicher Besiedelung
  in Westeuropa reichen fast eine Mil-
  lion Jahre zurück (Homo Erectus). In
  unseren Breiten wurden die ältesten
  Spuren einer Besiedelung in Spri-
  mont, im Bereich der Stätte von La
  Belle Roche entdeckt – sie gehen bis
  500.000 Jahre zurück. Während die-
  ser Zeit entwickelt der Mensch eine
  Bedarfswirtschaft, welche auf Jagd,
  Fischfang und Sammeln basiert und
  zu einer nomadischen Lebensweise
  führt.

                                               -9-
DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
KRUG FÜR VORRÄTE AUS
LINIENBANDKERAMIK                                                     NEOLITHIKUM
Keramikgefäße treten mit den Anfor-                     Das Neolithikum (aus dem Grie-
derungen der Landwirtschaft auf. Sie er-                chischen, neo = neu; lithos = Stein),
möglichen die Aufbewahrung von Lebens-                  ist die jüngste Zeitspanne der
mitteln. In unseren Breiten wurde Keramik               Vorgeschichte, in welcher Stein
in Wulst-Technik geformt (Übereinanderle-               geschliffen, jedoch auch durch Po-
gen von Wülsten aus Ton) und mit einem                  lieren bearbeitet wird. Diese Periode
Mühlstein in einem in die Erde gegrabenen               der Menschheit ist durch tiefgreifende
Loch mit einem Feuer darüber gebrannt.                  technische und soziale Veränderun-
Das auf die Wände des Behälters aufge-                  gen geprägt. Diese sind mit der Ein-
brachte dekorative Motiv variiert je nach               führung einer Produktionswirtschaft
geografischem Gebiet. Hier besteht es                   auf der Grundlage von Landwirtschaft
aus einer Abfolge von Linien und Punkten                und Viehzucht durch Gruppen von
in Bändern, welche mit einem Zahneisen                  Menschen verbunden, was zumeist
geschaffen wurden.                                      mit einem Sesshaftwerden der Völk-
                                                        er einhergeht. Somit ist der Mensch
Diese Motive sind für die Bandkeramikkul-               nicht mehr von der Natur abhän-
tur charakteristisch. Die bandkeramische                gig, sondern hat für sein Überleben
Kultur ist eine kulturelle Strömung, die                wirklichen Einfluss auf seine Umge-
ursprünglich vom Balkan zu stammen                      bung – er produziert seine eigenen
scheint.    Diese    Bevölkerungsgruppen                Ressourcen.
ließen sich durch Migration entlang der
Sambre und Maas nieder, hauptsächlich
im Tal der Mehaigne und in der Geer-Re-
gion im Hespengau. So sind die deko-
rativen Motive der Keramiken wie ein
Ausweis, der das Erkennen verschiedener
kultureller Ausdrücke ermöglicht. Diese
ersten Bauern entwickeln Werkzeuge,
die das Anlegen von bewirtschaftbaren
Flächen ermöglichen – hierzu zählen etwa
geschliffene Beile, die zum Roden einge-
setzt werden. Durch das Schleifen sind
diese Steinwerkzeuge sind widerstands-
fähiger und haben eine regelmäßigere und
schärfere Schneide. Weitere Erfindungen
ermöglichen die Verarbeitung von Rohstof-
fen (wie etwa der Mühlstein, der Vorläufer
der Mühle). So kann man erste Kulturen
als Getreidekulturen identifizieren, die vor
allem zu Mehl gemahlen werden.

                                                                Birnenförmige Vase, Jungsteinzeit (-500 bis-4900),
                                                        aufgefunden Place Saint-Lambert in Lüttich, Grand Curtius
                                                                                                  © Stadt Lüttich
                                               - 10 -
DAS ZAHNEISEN VOM PLACE
SAINT-LAMBERT: EIN KLEINER
  KAMM, DER VIEL AUSSAGT

1907 wurden im Rahmen der Aushe-
bung eines Grabens für die Verle-
gung von Gasleitungen am Place
Saint-Lambert in Lüttich archäolo-
gische Überreste entdeckt, die eine
Fülle von Informationen über die Urs-
prünge der Glühenden Stadt mit sich
bringen. Vor allem wurden zwei Gru-
ben entdeckt, die Gegenstände von
bandkeramischen Kulturen aus dem
frühen Neolithikum enthielten. Hierzu
zählt ein kleiner Kamm aus Knochen,
der dank der organischen Natur
des Bodens gut erhalten ist. Das
Werkzeug enthält vier kleine, kurze
Zähne und hat eine glatte, geschärfte
Seite für die Bearbeitung der Form
des Topfes. Der gezackte Teil wie-
derum ermöglichte das Dekorieren.
Diese Entdeckung zeigt, dass der
Place Saint-Lambert hier der erste
Ort menschlicher Besiedlung war und
zwar in der Nähe der Légia. Diese
mündete in die Maas ganz in der Nähe
und formte und einen fruchtbaren,
vor Überschwemmungen geschützten
Schwemmkegel.

                                        - 11 -
BÜSTENVASE VON JUPILLE
                                                                ROMANISIERUNG
Diese Büstenvase aus Terrakotta – her-
gestellt zwischen dem Ende des ersten                   Bei dem Begriff „gallisch“ handelt es
Jahrhunderts und dem Ende des dritten                   sich um jenen Namen, den die Römer
Jahrhunderts – ist bis heute ein Rätsel                 der keltischen Bevölkerung gaben, die
für die Archäologen. Man weiß zwar, dass                in Gallien (nach der Definition Julius
diese Kategorie von Vasen vor allem in der              Cäsars) ansässig war. Dieses Gebiet
Region von Bavay (Nordfrankreich) her-                  umfasste Frankreich, Belgien, den
gestellt wurde und dem einheimischen                    Süden der Niederlande, die Schweiz
Kult vorbehalten war. Die Identifizierung               sowie den Norden des heutigen Italien.
der Büsten konnte jedoch noch nicht mit                 Die zahlreichen Völker mit keltischem
Sicherheit erfolgen. Das Objekt wurde                   Ursprung, die in diesem Gebiet lebten,
auf Grundlage einiger Originalscherben,                 bildeten keinen organisierten Staat.
die 1872 bei einer Ausgrabungsaktion am                 Im Sinne seiner Eroberungen schuf
Place Gît-le-coq in Jupille entdeckt wur-               Cäsar künstlich dieses geografische
den, restauriert. So erhielten die gefor-               Gebilde.
mten Büsten ihre Gesichter zurück.                      Im Jahr 58 v. Chr. beginnt der rö-
                                                        mische General Julius Cäsar den Gal-
Drei bärtige und drei bartlose Bildnisse                lienfeldzug. Um das Jahr 51 v. Chr.
mit gepflegten Frisuren rahmen dabei ein                behauptete er seine Souveränität über
dreiköpfiges Gesicht mit vier Augen ein.                diese neu eroberten Gebiete. Die zu
Letzteres wurde auf Grundlage des De-                   Galloromanen gewordenen Gallier
kors anderer Büstenvasen völlig neu inter-              übernehmen nach und nach die Sitten
pretiert. Es hat zudem ein Paar Flügel im               und Gebräuche der Römer und ver-
Haar, was ein Attribut des Gottes Merkur                binden sie mit ihren eigenen lokalen
ist. Diese Art der Darstellung des Gottes               Traditionen. Dies ist der Beginn der
des Reisens und des Handels stammt aus                  Romanisierung. Das imperiale Gallien
der keltischen Tradition und war in Gallien             ist in drei Provinzen eingeteilt: Gal-
sehr verbreitet. Lange Zeit wurden diese                lia Belgica, Gallia Lugdunensis und
sieben Figuren mit den Planetengottheiten               Gallia Aquitania. Der Gallienfeldzug
assoziiert: Saturn, Sol, Luna, Mars, Merkur,            erfordert schnelle Bewegungen der
Jupiter, Venus – entsprechend auch den                  militärischen Truppen. Daher richtete
Tagen der Woche. Da eindeutige ikonogra-                die römische Armee ein weitläufiges
fische Elemente, welche eine Bestätigung                Straßennetz ein, welches von und für
ermöglichen würden, fehlen, wurde diese                 Soldaten gebaut wurde. Im Folgenden
Hypothese von der Wissenschaft aufgege-                 sollten diese Wege die Entwicklung
ben.                                                    des Handels im gesamten Römischen
                                                        Reich ermöglichen. Entlang des ge-
                                                        samten Netzes sollten Raststätten
                                                        und Lager entstehen. Nach und nach
                                                        entwickelten sich einige dieser Halte-
                                                        punkte zu Vici (kleine Siedlungen)
                                                        oder zu Civitates (größere städtische
                                                        Siedlungen, im eigentlichen Sinne
                                                        Städte). Zwei Jahrhunderte lang her-
                                                        rschte im Römischen Reich Frieden,
                                                        was die Entwicklung der gallorö-
                                                        mischen Zivilisation begünstigte (Pax
                                                        Romana).

                                               - 12 -
DER VICUS VON JUPILLE

Dank der Archive sowie verschiede-
ner Ausgrabungsaktionen in Jupille
haben die Archäologen heute gute
Kenntnisse über die Stätte zu Zeiten
der Römer. Zwischen dem ersten
und dem dritten Jahrhundert ist Ju-
pille eine Siedlung, die zur Stadt Ton-
gern in der Provinz Germania inferior
gehörte. Die Siedlung ist das erste
Etappenziel zwischen Tongern und
Trier. Die strategische Position die-
ser Siedlung begünstigte auch ihre
Entwicklung. Heute weiß man, dass
es in Jupille zwei Arten handwerkli-
cher Tätigkeit gab – einerseits Tätig-
keiten der Metallverarbeitung, welche
durch die Entdeckung von Schmie-
deöfen belegt sind und andererseits
Töpferei-Aktivitäten, belegt durch die
Entdeckung von Öfen und Resten von
Keramiken. Die Bedeutung der Stadt
zeigt sich auch in der Existenz eines
Apollo gewidmeten Heiligtums. An der
Hauptstraße der Siedlung gelegen.

                                                   Büstenvase, gallorömische Epoche,
                                                               Jupille © Stadt Lüttich

                                          - 13 -
HALBKUGELFÖRMIGE
SPRUCHSCHALE                                                     SIEGELKERAMIK

Diese Spruchschale aus der ersten Hälfte                Diese Keramik verdankt ihre strahlend
des vierten Jahrhunderts wurde in Lauw in               rote Farbe einem Schlicker und der
der Nähe von Tongern entdeckt. Sie wurde                oxidierenden Atmosphäre im Ofen
aus einer rötlichen Masse geformt und hat               während des Brennens. Ihre rech-
eine schwarze Abdeckung, die ursprünglich               teckige Form stammt vom Einsatz der
ein metallisches Aussehen hatte. Nach                   Töpferscheibe. Die Töpferscheibe wird
einem ersten Brennen bringt der Töpfer                  3500 v. Chr. im Nahen Osten erfunden
eine Dekoration mit farbigem Schlicker-                 und taucht etwa tausend Jahre später
guss, einer flüssigen Tonmasse, auf. Dabei              auch in Europa auf. Dieses Werkzeug
handelt es sich häufig um Punkte, Ranken                ermöglicht eine schnellere und
und gewellten Linien, die eine Legende be-              größere Produktion, vor allem aber
gleiten. Der Spruch INPLE, bei welchem                  wird diese gleichmäßiger und stan-
die Buchstaben durch je drei übereinander               dardisierter. Die Relief-Motive wer-
liegende Punkte getrennt sind, stellt eine              den mithilfe einer Form umgesetzt.
Einladung zum Konsum dar: INPLE ME                      Die Umsetzung dieses Dekors mit
bedeutet „fülle mich“. Das antike Trier ist             Form ermöglicht es, große Mengen
im dritten und vierten Jahrhundert n. Chr.              an Geschirr mit demselben Dekor zu
ein wichtiges Zentrum für die Herstellung               erhalten. Die Einführung der Töpfer-
dieser Art von luxuriösem Geschirr. Dieses              scheibe und der Form trägt zu einer
wird im großen Stil in Gallia Belgica, im               semi-industriellen Produktion dieser
Süden des römischen Britannien (England)                luxuriösen Keramik bei. Der Begriff
sowie in Germania inferior und Germania                 „Siegel“ (aus dem Lateinischen sigil-
superior verbreitet. Die Inschriften, die am            lum = Siegel oder Stempel) bezieht
häufigsten auf diese Vasen gemalt wur-                  sich auf das Zeichen, das häufig auf
den, beziehen sich auf das Trinken oder die             dem Boden dieses Tafelgeschirrs
Freude am Trinken: MITTE MERVM (ser-                    angebracht ist und das es ermöglicht,
viere unverdünnten Wein), MISCE (mische                 die Töpferwerkstatt, die das Gefäß
mich), BIBE (trinke), FRVI (genieße) oder               hergestellt hat, zu identifizieren.
DA AMICO (gib es dem Freund).                           Diese Art der Keramik sollte im ge-
                                                        samten Römischen Reich enorm er-
                                                        folgreich sein. Zunächst ab der Mitte
                                                        des ersten Jahrhunderts vor Chr. auf
                                                        der italienischen Halbinsel produziert,
                                                        wird sie über die römischen Kommu-
                                                        nikationswege rasch nach Gallien
                                                        importiert. Diese Keramik wurde in
                                                        sehr großen Mengen hergestellt und
                                                        die Archäologen fanden viel davon bei
                                                        verschieden Ausgrabungen. Dieses
                                                        reichlich vorhandene Material er-
                                                        möglichte Vergleiche und Archäologen
                                                        verfügen über eine echte chronolo-
                                                        gische Typologie dieser Siegelkera-
                                                        mik. Der Fund von Siegelkeramik auf
                                                        einer Ausgrabungsstätte bietet somit
                                                        eine hervorragende zeitliche Angabe
                                                        und ein gutes Element zur Datierung.

                                               - 14 -
TERRA RUBRA
        UND TERRA NIGRA

Die    Siegelkeramik       ist   derart
erfolgreich und die Produktion so
umfangreich, dass „Imitationen“ auf-
tauchen. Tatsächlich gibt es lokalere
Produktionen wie etwa die Terra rubra
und die Terra nigra, welche in unseren
Breiten ab den Jahren 20 bis 10 v. Chr.
hergestellt werden. Diese lokalen
Versuche mischen Modelle der Sie-
gelkeramik mit Formen aus dem
keltischen Repertoire. Diese Produkte
sind gröber, weniger fein und weniger
verziert. Die Terra rubra wurde in einer
oxidierenden Atmosphäre gebrannt
und mit einem rot-orangefarbenen
Schlicker überzogen. Die Terra
nigra wiederum wurde in einer
reduzierenden Atmosphäre gebrannt,
welche Farben von Silbergrau bis
Schwarz ermöglichte.

   Spruchschale, Terrakotta, gallorömische Epoche
                                    © Stadt Lüttich

                                                      - 15 -
MÜNZSCHATZ VON VERVOZ
                                                                  DIE INVASIONEN
Um 255-256, als dieser Schatz vergraben                           DER BARBAREN
wurde, ist die politische Instabilität in un-
seren Breiten groß. Diese ist mit einer                  Im dritten Jahrhundert begannen die
Periode der wirtschaftlichen Rezession                   von den Hunnen vertriebenen germa-
verbunden, die zu Geldentwertungen füh-                  nischen Gruppen eine Wanderungs-
rte. Dies wiederum brachte viele dazu, ihre              bewegung in Richtung Westeuropa
angesparten Münzen zu horten. Dieser                     und drangen in das Gebiet des Rö-
Krug aus Bronze enthält 1680 Silbermün-                  mischen Reiches vor. Die Franken
zen (1085 Denare und 595 Antoniniane).                   nehmen im Gebiet von Gallia Belgica
Die älteste Münze stammt dabei aus dem                   Plünderungen vor. Man spricht hier
Jahr 186, der Zeit der Herrschaft des Kai-               von Invasionen der Barbaren, weil die
sers Commodus und die jüngste mit dem                    Römer und Galloromanen alle, die
Abbild des Kaisers Gallienus stammt aus                  kein Latein sprachen, als Barbaren
dem Jahr 254. Das heißt, zwischen dem                    betrachteten. Durch seine Eroberun-
ältesten und dem neuesten Stück liegen                   gen ermüdet und zudem von allen
ganze 68 Jahre! Über 60 Jahre hinweg                     Seiten von barbarischen Völkern aus
behielten die Münzen sicherlich nicht ihren              dem Osten und Norden angegriffen,
Wert, aber man bewahrte sie zumindest                    gerät das Römische Reich ins Wan-
für den Wert an sich, in diesem Fall für den             ken. Die Franken stammten ursprün-
Wert des Silbers, auf.                                   glich aus Germanien. Auf der Suche
                                                         nach fruchtbarem Boden überqueren
                                                         sie den Rhein, stellen sich erbitterten
                                                         Schlachten und breiten sich immer
                                                         mehr im Bereich unseres Landes und
                                                         auf einem großen Teil Galliens aus.
                                                         Sie gründen mehrere Staaten, die
                                                         zwar unabhängig sind, aber von den
                                                         Fürsten ein- und derselben Dynastie,
                                                         nämlich aus jener der Merowinger, re-
                                                         giert werden. Sie begründen die erste
                                                         Dynastie der Könige Frankreichs.
                                                         Dies markiert das Ende der gallorö-
                                                         mischen Antike und den Beginn des
                                                         Mittelalters.

                                                                       Münzschatz von Vervoz © Stadt Lüttich

                                                - 16 -
PALUDE-DIPTYCHON

Henri ex Palude schenkte der Lamber-               sollte das religiöse Leben in ganz Nordeu-
tuskathedrale dieses Diptychon anlässlich          ropa verändern. Indem sie den Schwerpunkt
seiner Ernennung zum Kantor. Das Werk              auf das persönliche Innenleben legte, för-
ist nicht datiert. Es wurde in jedem Fall          derte sie ein Gefühl der Nähe zwischen dem
zwischen 1488 und 1515 hergestellt, also           Menschen und dem Göttlichen. Die Heiligen-
zwischen dem Zeitpunkt, als der Spender            darstellung sollte zum individuellen Gebet
Kantor der Kathedrale wurde, und dem               auffordern. Die Intimität des Diptychons
Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1515. Auf           passt perfekt zu dieser Praktik.
dem rechten Flügel ist Palude symbolisch
bei der Ermordung des heiligen Lambert             Im Jahr 705 wird der heilige Lambert, Bischof
anwesend. Er ist an seinem zu seinen               der Diözese Tongern-Maastricht, aus poli-
Füßen dargelegten Wappen erkennbar.                tischen Gründen, aber vor allem deshalb,
Seine Anwesenheit stellt hier einen Ana-           weil er eine außereheliche Beziehung von
chronismus dar, haben sich die Ereignisse          Pippin dem Mittlerem öffentlich bekanntge-
doch etwa acht Jahrhunderte zuvor abges-           macht hatte, ermordet. Der Mord geschieht,
pielt. Diese Darstellung sowie der Erfolg          als er in seinem Wohnsitz in Lüttich – da-
der Diptychen in unseren Breiten sind              mals noch eine kleine Ortschaft – betete.
Ausdruck einer spirituellen Strömung,              Der heilige Lambert wird in Maastricht bes-
die Ende des 14. Jahrhunderts entstand:            tattet, doch die Gläubigen verehren ihn wei-
die Devotio Moderna („neue Frömmig-                terhin in Lüttich, welches nach und nach zu
keit“). Diese Strömung der Frömmigkeit             einer wichtigen Pilgerstätte wird. Im Jahr

                                   Palude-Diptychon, Öl auf Tafel, Lüttich, nach 1488, Grand Curtius © Stadt Lüttich

                                          - 17 -
718 beschließt sein Nachfolger, der heilige
Hubertus, eine erste religiöse Stätte zu
                                                          LAMBERTUSKATHEDRALE
bauen, um die Pilger zu empfangen und die
sterblichen Überreste des heiligen Lam-
                                                       Als der heilige Hubertus den Körper
bert, welche von Maastricht nach Lüttich
                                                       des heiligen Lambert nach Lüttich
gebracht wurden, aufzunehmen. Dieses
                                                       zurückbringen lässt, lässt er auch
Ereignis zieht eine echte Entwicklung der
                                                       eine erste religiöse Stätte am Ort
Stadt nach sich – sowohl in wirtschaftli-
                                                       des Martyriums errichten. Notger,
cher als auch in politischer Hinsicht. Ende
                                                       der erste Fürstbischof und großer
des 9. Jahrhunderts wird Lüttich anstelle
                                                       Baumeister, lässt 985 den Bau einer
von Maastricht zum Sitz des Bistums.
                                                       Kathedrale beginnen. Nachdem sie
                                                       im Jahr 1185 abgebrannt war, wird
Das Diptychon stellt das Martyrium des
                                                       sie auf den Fundamenten des vorhe-
heiligen Lambert in einem vom Maler er-
                                                       rigen Baus im gotischen Stil wiede-
dachten Oratorium dar. Der heilige Lam-
                                                       raufgebaut. Die Baustelle wird 1433
bert ist in ein Bischofsgewand gekleidet
                                                       mit dem Bau des Spitzturms, eines
und wird durch den Speer eines auf dem
                                                       echten Orientierungspunkts in der
Dach versteckten Soldaten verletzt. Die
                                                       Stadt, fertiggestellt. Ein französischer
beiden Personen neben Lambert erlei-
                                                       Reisender berichtet, dass das Dach
den dasselbe Schicksal: Sie werden von
                                                       mit Gold gedeckt sei – in Wahrheit
anderen Soldaten Pippins getötet. Der
                                                       handelt es sich jedoch um vergol-
linke Flügel ist eine Darstellung der Wei-
                                                       detes Blei. Diese Anekdote hebt den
hnachtsgeschichte. Ihre Ruhe und Sanf-
                                                       Wohlstand des Fürstbistums Lüttich
theit stehen im Gegensatz zum Drama des
                                                       hervor. Dieser Zustand blieb bis zur
benachbarten Gemäldes.
                                                       Revolution erhalten. Während der
                                                       Lütticher Revolution (1789-1794) tra-
                                                       gen die Lütticher selbst das Gebäude
                                                       Stein für Stein ab. Während das Volk
                                                       in Frankreich gegen die Monarchie
                                                       und ihre absolute Macht revoltiert,
                                                       richten sich die Aufstände in Lüttich
                                                       gegen die zentrale Macht des Fürst-
                                                       bischofs. Der Abriss ist ein Zeichen
                                                       des Protests gegen seine religiöse
                                                       Macht. Erst 1827 werden die letzten
                                                       Überreste der Kathedrale eingeebnet.
                                                       Die Kalksteine der Kathedrale sollten
                                                       bei heißen Öfen für die Herstellung
                                                       von Zink zum Einsatz kommen und
                                                       auch zur Füllung der Arme der Maas
                                                       für die Schaffung des Boulevard de la
                                                       Sauvenière verwendet werden.

                                              - 18 -
NOTGER-EVANGELIAR
                                                                      LÜTTICH, KIRCHLICHES
Das um 930 verfasste Manuskript, das                                     FÜRSTENTUM
diesen Einband umfasst, stammt aus der
Abbaye de Stavelot oder aus Reims. Die                            Von 972 bis 1008 wird die Diözese
obere Platte des Einbands ist mit einem                           Lüttich von Bischof Notger regiert.
zusammengesetzten Dekor verziert, wel-                            Der deutsche Kaiser Otto II. verlei-
ches vom außergewöhnlichen Können der                             ht ihm den Titel eines Fürstbischofs
maasländischen Kunsthandwerker zeugt.                             und schickt ihn in diese turbulente
In der Mitte trägt geschnitztes Elfen-                            Region, welche der französische
bein vom Ende des 10. Jahrhunderts eine                           König begehrt. Lüttich wird zu einem
umrandende lateinische Inschrift: „Und                            kirchlichen Fürstentum, in welchem
ich, Notger, belastet durch das Gewicht der                       Notger alle Macht hat – sowohl im zi-
Sünde, knie vor Dir, der Du das Universum                         vilen als auch im religiösen Bereich.
erzittern lässt.“ Das obere Register stellt                       Der reiche und mächtige Notger leitet
den thronenden Christus dar. Seine Füße                           eine Politik der großen Werke ein: Er
ruhen auf einer Kugel. Auf dem unteren                            lässt die Stadt mit einer Ringmauer
Register ist der wahrscheinliche Spender                          umgeben, innerhalb derer er sieben
kniend abgebildet und hat ein Buch in der                         Kollegiatkirchen und zwei Abteien
Hand. Es könnte sich um Notger handeln,                           bauen lässt – ganz zu schweigen von
den ersten Fürstbischof von Lüttich und                           der imposanten Lambertuskathedrale
Gründer der Johanneskirche, aus welcher                           neben seinem neuen Bischofspalast,
das Evangeliar stammt.                                            einem Symbol seiner religiösen und
Das mittlere Elfenbein ist von Chample-                           politischen Macht.
vé-Emaille aus dem Jahr 1160 umgeben.
Es werden die allegorischen Figuren der
Tugenden (Mut – Gerechtigkeit – Mäßigung)
sowie die vier Flüsse des Paradieses (Pi-
son – Geon – Tigris – Euphrat) dargestellt.
Schließlich wurden im 15. Jahrhundert
vergoldete ziselierten Platten hinzugefügt:
Sie stellen ein Blattdekor dar, das für die
gotischen Verzierungen mit Ornamenten in
der Goldschmiedekunst der 1400er-Jahre
typisch ist. Auf dieser Einbandplatte zeu-
gen ganze 400 Jahre der Anreicherung der
Dekorationen von der Bedeutung, die die-
sem Manuskript beigemessen wird.

     Sogenanntes Notger-Evangeliar, Manuskript: Reims (?),
     um 930; Elfenbein: 11. Jahrhundert; Emaillen: um 1160;
          gravierte Platten: 15. Jahrhundert, Grand Curtius
                                            © Stadt Lüttich
                                                         - 19 -
DIE JUNGFRAU VON ÉVEGNÉE

Seit dem 11. Jahrhundert wird Lüttich auch
als „Athen des Nordens“ bezeichnet. Es ist
eine der größten Städte des Germanischen
Reiches. Die nachfolgenden Fürstbischöfe
machen aus dem Sitz des Fürstentums eine
Stadt der Kirchen voll mit Kollegiatkirchen,
großen Abteien und Prioratskirchen. Im 12.
Jahrhundert zählt Lüttich mehr als zwan-
zig Pfarren. Diese Institutionen bieten Bil-
dung und fördern wichtige künstlerische
Tätigkeit. Die maasländische mittelalter-
liche Ikonografie ist vor allem vom typolo-
gischen Symbolismus geprägt, welcher bei
der Abbildung religiöser Themen auf Ähn-
lichkeiten zwischen dem Alten und dem
Neuen Testament setzt.

Bei dieser Madonna mit Kind handelt es
sich um eine Sedes sapientiae (Latein:
„Sitz der Weisheit“). Die sitzende Jungfrau
ist eins mit ihrem Sitz, sie materialisiert
den Thron der Weisheit, welcher von ihrem
Sohn verkörpert wird. In einer Hand hält
sie einen Apfel – die Jungfrau ist die „neue
Eva“, die die Vergebung der Erbsünde er-
möglicht, indem sie den Sohn Gottes zur
Welt bringt. Das Kind ähnelt eher einem
kleinen Erwachsenen. Mit einer Hand er-
teilt es einen lateinischen Segen (mit den
beiden letzten Fingern gebeugt) und in der
anderen Hand hält es ein Buch. Zwischen
Mutter und Sohn gibt es keinerlei Geste der
Zuneigung. Sie macht eher einen strengen
Eindruck. Die wenigen Spuren der Poly-
chromie sind ursprünglich, der Aufbau
ist archaisch und quasi schematisch. Die
Reliefs sind auf den einfachsten Ausdruck
reduziert, vor allem bei der Darstellung
von Anatomie und Kleidung. Aufgrund ei-
ner Brandbeschädigung ist das Werk heute
teilweise verkürzt. Es handelt sich um eine
der ältesten maasländischen Sedes sa-
pientiae-Darstellungen.

                                                            Sedes sapientiae, sogenannte Jungfrau von Évegnée, poly-
                                                        chromes Holz, maasländische Region, um 1060, Grand Curtius
                                                                                                     © Stadt Lüttich
                                               - 20 -
MAASLÄNDISCHE KUNST

Unter Bischof Notger stellt die Maas
einen Weg des wirtschaftlichen, in-
tellektuellen    und      künstlerischen
Austausches dar. Die Methoden und
Traditionen der Bevölkerungen mit ger-
manischer oder romanischer Herkunft
wurden so entlang dieser wichtigen
Verkehrsachse verbreitet und aus-
getauscht. Damit war Lüttich eine
Drehscheibe der Zivilisationen an der
Kreuzung der Wege in alle Richtungen
Europas. Die Künstler unserer Region
schafften es, von allen Strömungen, die
in Lüttich zusammenkamen, das Beste
zu nehmen, um ein kohärentes künst-
lerisches Ganzes zu schaffen. Dank
dieser besonderen geografischen Lage
entwickelte sich im Maastal zwischen
Ende des 10. und der Mitte des 14. Jah-                   UNGESCHICKTE KUNS-
rhunderts die sogenannte maaslän-                           THANDWERKER?
dische (von Mosa – Maas) Kunst. Die
zahlreichen Kirchen und Abteien bieten               Zwischen dem 10. und 12. Jahrhun-
Lehre und Förderung für künstlerische                dert messen die Kunsthandwerker
Aktivitäten. Die Metallverarbeitung flo-             einer naturgetreuen Anatomie der
riert und erreicht ihren Höhepunkt. Die              Figuren nur wenig Bedeutung bei. Sie
maasländischen Goldschmiede beherr-                  werden schematisch und manchmal
schen weit entwickelte Techniken: das                mit ungleichen Dimensionen dar-
Emaillieren, die Dinanderie, Filigranar-             gestellt. Dieses Phänomen ist jedoch
beiten, den Braunfirnis etc. Die Künstler            nicht das Resultat einer Unfähigkeit
setzen die Gedanken der Theologen auf                der Bildhauer dieser Epoche. Die
materieller Ebene um. Sie sind Urheber               Symbolik ist für die Künstler wichti-
von Juwelen der abendländischen Zivi-                ger als der Realismus der von ihnen
lisation.                                            erzeugten Bilder. Die Konzepte des
                                                     dargestellten Themas bestimmen den
                                                     formalen Aspekt der Bilder. Die größe-
                                                     ren Figuren sind am wichtigsten – dies
                                                     bezeichnet man als „moralische Pers-
                                                     pektive“. Ihr Ausdruck ist unabhängig
                                                     von der Situation, in welcher sie dar-
                                                     gestellt werden, neutral (so scheint
                                                     etwa der gekreuzigte Christus nicht
                                                     unter seinem Martyrium zu leiden).
                                                     Die Ästhetik der Skulpturen dient dem
                                                     hohen moralischen Wert ihrer Helden.
                                                     Diese stellen ein Vorbild für die Gläu-
                                                     bigen dar, welche zumeist Analphabe-
                                                     ten sind.

                                            - 21 -
HEILIG-KREUZ-RELIQUIAR                                 Stils zeigt sich im Einsatz der Vergoldung
                                                       und in der Form und Komposition des En-
Im 12. Jahrhundert entwickelt sich der                 sembles. Diese Prozesse sind häufig in der
Reliquienkult. Dieses Triptychon enthält               maasländischen Region zu finden.
eine Reliquie vom Heiligen Kreuz, die
Kaiser Heinrich II. 1006 der Kollegiatkir-
che Heilig-Kreuz schenkte. Es besteht
aus vergoldeten Kupferblättern, die auf                                RELIQUIEN UND
einem Kern aus Holz aufgebracht sind.                                  RELIQUIENKULT
Die Reliquie ist in einem kleinen golde-
nen Kreuz eingeschlossen, ergänzt durch                   Bei Reliquien (aus dem Lateinischen
eine Inschrift: lignu vite (Lebensbaum).                  reliquiae = Überrest) handelt es sich
Erst 1160 wurde das kleine Kreuz in das                   um materielle Überreste, die eine als
Triptychon integriert. Dies war eine im 12.               heilig verehrte Person nach ihrem Tod
Jahrhundert übliche Form des Reliquiars,                  zurücklässt. Es gibt zwei Arten von
welche Godefroy von Huy zugeschrieben                     Reliquien: Direkte Reliquien = körper-
wird. Zwei Allegorien der Wahrheit und des                liche Überreste, das heißt Körper oder
Urteils tragen in der einen Hand die Tru-                 Körperteile wie Knochen, Haare oder
he des Reliquiars und in der anderen eine                 Zähne. Indirekte Reliquien = alle Arten
Lanze. Dabei handelt es sich um eine der                  von nicht-körperlichen Dingen wie
Waffen der Leidenschaft. Ein Bergkristall,                etwa Kleidung und Objekte, die dem
der ein Kuppelauge bildet, umschließt Re-                 Heiligen gehörten oder mit welchen
liquien von Johannes dem Täufer und dem                   dieser Kontakt hatte. Die am meisten
Heiligen Vinzenz. Die Allegorie der Bar-                  geschätzten Reliquien waren jene,
mherzigkeit ist mit Champlevé-Emaille                     die an das Leben von Jesus erinnern:
dargestellt. Ihre Haltung ähnelt jener von                Stücke vom Heiligen Kreuz, Dornen
Christus in der Kuppel, welche das Trip-                  von der Dornenkrone, Zähne von Jo-
tychon krönt (der auferstandene Christus                  hannes dem Täufer, Tropfen von der
enthüllt seine Wunden). Im unteren Regis-                 Milch der Madonna. Historisch gese-
ter befinden sich unter einem Bogen fünf                  hen geht der Reliquienkult auf die
Auserwählte mit Heiligenschein und der                    Märtyrer der ersten Christen zurück.
ergänzenden Inschrift „Auferstehung der                   Die Gläubigen beteten an ihren Grä-
Heiligen“. Auf den Flügeln sind die zwölf                 bern. Im Mittelalter waren Reliquien –
Apostel bis zur Körpermitte dargestellt,                  egal, ob echt oder falsch – Gegenstand
angeordnet jeweils zu zweit in den drei Re-               eines regelrechten Handels. Zwischen
gistern. Sie bilden die Versammlung der                   110 und 1200 werden zahlreiche Reli-
Richter. Der Einfluss des byzantinischen                  quien im Rahmen der Kreuzzüge aus
                                                          dem Orient mitgebracht. Zu einer
                                                          Zeit, in der gilt: „Sehen heißt glauben“
                                                          kommt der Reliquie eine hohe Bedeu-
                                                          tung zu.
                                                          So entsteht im Mittelalter ein Markt
                                                          für Reliquien.         Immer häufiger
                                                          tauchen „falsche Reliquien“ auf. Ab-
                                                          teien, Klöster und Kirchen stehen vor
                                                          dem Problem dieses zweifelhaften
                                                          Handels und zudem gibt es viele Die-
                                                          bstähle.

                                                       Heilig-Kreuz-Triptychon, maasländische Region, 11. Jahrhu-
                                                       ndert, Silber, Kupfer, Emaille, um 1160-1170 © Stadt Lüttich

                                              - 22 -
LAMBERT LOMBARD
„DIE TUGENDHAFTEN FRAUEN“                                                           RENAISSANCE

Lambert Lombard (Lüttich, 1505-1566) ist                             Von Florenz ausgehend, stellt die Re-
ein bekannter Maler, Architekt und Zeich-                            naissance eine Zeit des „Wiederau-
ner der Renaissance aus der Region Lüt-                              flebens“ dar – je nach geografischem
tich. 1532 wird er Hofmaler bei Fürstbischof                         Gebiet zwischen dem 15. und dem 16.
Erard de La Marck. Beide teilen die huma-                            Jahrhundert. In Italien spricht man
nistischen Werte der italienischen Renais-                           beim 15. Jahrhundert von der „ersten
sance. Der Fürstbischof, ein schwerreicher                           Renaissance“ oder dem Quattrocento
Mäzen, der Kunst und Literatur förderte,                             (was den 1400er-Jahren entspricht).
bietet Lombard ein Stipendium für ein                                Die „zweite Renaissance“ (auch „Cin-
Studium und eine Ausbildung in Rom an.                               quecento“, 1500er-Jahre, genannt)
Dort studiert er antike Bildhauerei, Nu-                             erobert ganz Europa im 16. Jahrhun-
mismatik und die Werke der Renaissance.                              dert. Die Renaissance gilt als Bruch
Er kehrt mit antikem und italienischem                               mit dem Mittelalter und wurde von der
künstlerischem Wissen nach Lüttich                                   griechisch-römischen Antike und dem
zurück – eine Seltenheit für die damalige                            von ihr vorgegebenen soziokulturellen
Zeit. Diese Reise markiert eine drastische                           Modell inspiriert.
Veränderung der künstlerischen Konzep-
tionen Lombards, der sich damit von der
noch mittelalterlichen Tradition entfernt,
welche im Fürstbistum Lüttich im 16. Jah-
rhundert noch besteht. Er schöpft seine
Inspiration aus der römischen Kunst, vor
allem, was den Hintergrund, die Anatomie
der Körper und die Kompositionslinien be-
trifft. Der Einsatz kräftiger Farben steht
der Arbeit der toskanischen Manieristen
nahe. Im Mittelpunkt der Kunst Lombards
steht vor allem die ständige Suche nach
der idealen Schönheit.

Lambert Lombard, Zyklus der „Tugendhaften Frauen“, um 1530-1535, Lüttich, Museum der schönen Künste © Stadt Lüttich

                                                          - 23 -
Der Zyklus der „Tugendhaften Frauen“
(heute aufgeteilt und zweifellos unvolls-
                                                          DIE SUJETS DER VIER
tändig) umfasst acht Gemälde, welche in
Lüttich und in der Kirche Saint-Amand in                   IM GRAND CURTIUS
Stokrooie (Limburg) aufbewahrt werden.                  AUFBEWAHRTEN GEMÄLDE
Das Ensemble stammt mit großer Si-
cherheit aus der Zisterzienserinnenabtei               Coriolan empfängt seine Mutter und
Herkenrode in Kuringen. Dabei handelt                  seine Frau : nach Plutarch ist Coriolan
es sich um eine der prestigeträchtigsten               eine Figur der alten römischen Repu-
Klostereinrichtungen für Frauen der alten              blik Er hasste Rom und seine Tribunen
Diözese Lüttich. Jedes der Gemälde re-                 und forderte die Kolonien auf, sich ge-
präsentiert eine der wichtigsten Episoden              gen den Staat zu erheben und gegen
im Leben acht tugendhafter (oder eher                  Rom zu marschieren. Doch er erhöhte
heldenhafter) Frauen. Diese Betonung                   das Flehen seiner Mutter und seiner
des Mutes der Frauen sollte als Medita-                Frau und ließ von seinem Plan ab.
tionsobjekt für die Nonnen dienen. Quellen
sind das Alte Testament sowie Legenden                 David und Abigail : Abigail setzte sich
der heidnischen Antike. Diese thematische              beim späteren König David für die
Wahl unterstreicht das intellektuelle Ni-              Rettung ihres Mannes Nabal ein, wel-
veau dieser religiösen Gemeinschaft sowie              cher es zuvor abgelehnt hatte, David
jenes des Künstlers, der Rom besucht hatte             zu helfen.
und als einer der größten Antiquitätenhän-
dler seiner Zeit galt. Die Entscheidung für            Rebekka und Elieser am Brunnen :
Heldinnen der antiken Geschichte gemein-               Abraham gibt seinem alten Diener
sam mit Quellen aus dem Alten Testament                Elieser die Aufgabe, nach Mesopo-
weist auf das in der Renaissance übliche               tamien zu gehen, um eine Frau für
Korrespondenzspiel hin, welches den                    seinen Sohn Isaak zu finden. Elieser
heidnischen Helden einen moralischen                   kommt mit seinen zehn Kamelen in
Wert zuweist, der jenen der biblischen Fi-             die Nähe eines Brunnens und trif-
guren entspricht. Aus künstlerischer Sicht             ft dort unter den Mädchen, die zum
verfolgt die Renaissance eine naturge-                 Wasserschöpfen kommen, Rebekka.
treue Abbildung der Welt und bricht damit              Sie ist „schön anzusehen“ und gibt
mit dem Symbolismus des Mittelalters.                  ihm und seinen Kamelen zu trinken.
Dieses Streben äußert sich in einer Suche              Elieser sieht darin ein Zeichen von
nach Gleichgewicht und Symmetrie durch                 Jahwe, bietet Rebekka einen Goldring
eine Darstellung des Volumens, der Ana-                und zwei Armbänder an, welche sie
tomie und der Proportionen des Körpers,                als zukünftige Frau Isaaks kennzeich-
im Einsatz der linearen Perspektive, um                nen.
die Illusion von Tiefe von Räumen zu er-
schaffen und schließlich in einer idealen              Jaël und Sisara : Jaël tötet den
Vereinigung des Realen mit den Regeln                  kanaanäischen Sisara, Feind der He-
des Geistes. Lambert Lombard wurde von                 bräer, indem sie ihm im Schlaf die
diesen grafischen „Neuerungen“, die er bei             Schläfe durchstößt. Zuvor hatte sie ihn
seiner Reise nach Rom entdeckte, beein-                vergiftet. So stellt sie den Frieden im
flusst. Er setzte viele dieser ästhetischen            Königreich Israel wieder her.
Neuerungen um, behielt aber gleichzeitig
einige Methoden aus der mittelalterlichen
Tradition von nördlich der Alpen bei.

                                              - 24 -
MONSTRANZ FÜR FRONLEICHNAM
                                                                             FRONLEICHNAM
In der früheren Kollegiatkirche St. Mar-
tin von Lüttich wurde Fronleichnam 1246                             Der Ursprung dieses Feiertags des
erstmals begangen. Dieser Kult erlangt                              Allerheiligsten Sakramentes geht auf
nach dem Konzil von Trient große Bedeu-                             das 13. Jahrhundert zurück. Der Ein-
tung: Die katholische Kirche wollte die                             satz für dieses Fest ist auf die heilige
Verehrung des Allerheiligsten (des Leibes                           Juliana von Cornillon zurückzuführen.
und Blutes Christi) und der Eucharis-                               Ab 2019 hat sie mystische Visionen:
tie (geweihtes Brot und Wein) stärken. In                           Es erscheint ihr ein unvollständiger
der Lütticher Goldschmiedekunst zeigen                              Mond. Sie interpretiert diese Vision
Monstranzen seit dem 13. Jahrhundert die                            als Zeichen dafür, dass der Kirche
Form eines Türmchens. Ab 1670 setzt sich                            ein Feiertag fehlt. Völlig überzeugt
im Zusammenhang mit der katholischen                                setzt sie sich für die Einführung von
Reform die triumphierende Form der                                  Fronleichnam ein. Um dies zu un-
Monstranz als Sonne durch. Ausgehend                                terstützen, erbittet sie Hilfe von Eva
von der Lunula, dem zentralen Teil, der                             von Lüttich, eine Reklusin in der
eine geweihte Hostie enthält, breiten sich                          Martinskirche. Ziel dieses neuen
Strahlen aus und unterstreichen die sym-                            Feiertages ist es, den Glauben der
bolische Dimension. Aufgrund der Punze                              Gläubigen wiederzubeleben, doch
wird das Stück dem besten Goldschmied                               die Lütticher Bürger sind dagegen,
seiner Zeit zugeschrieben: Charles de                               da dies einen zusätzlichen Fastentag
Hontoir. Diese Monstranz zeigt eine deko-                           bedeuten würde. Nach einem langen
rative Überladung voller Cherubinen, mit                            Kampf der heiligen Juliana wurde der
zackigen Strahlen, Putten, die Waffen der                           Feiertag 1246 in der Diözese Lüttich
Leidenschaft tragen und mit Abbildungen                             eingeführt. Nach dem Tode Julianas
des heiligen Johannes (des Täufers und                              setzt Eva die Bemühungen fort und
des Evangelisten) und schließlich mit der                           erreicht die Einführung des Feiertags
Taube des Heiligen Geistes. Das Ensemble                            in der gesamten Kirche im Jahr 1264.
ist von einer Darstellung Gottes als se-
gnendem Vater gekrönt.

   Monstranz für Fronleichnam, Goldschmied Charles de Hontoir, Silber
   und Messing, Lüttich, 1722 © Stadt Lüttich

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ORANUS-POKAL
                                                                               HUMANISMUS
In der Mitte dieses flachen Pokals aus ge-
punztem und ziseliertem Silber zeigt sich                            Der in der zweiten Hälfte des 19.
das Motiv eines Bischofshuts mit breitem                             Jahrhunderts geprägte Begriff des
Rand, ergänzt durch eine erhöhte Kor-                                „Humanismus“ bezeichnet eine im
del mit Quasten. Dieses Motiv verweist                               14. Jahrhundert in Italien entstande-
auf das Wappen seines ersten Besitzers:                              ne intellektuelle und künstlerische
Fürstbischof Robert de Berghes. Dieser                               Strömung, die den Menschen als
schenkt den Pokal dem Ratsherrn Fran-                                vollwertiges Individuum mit unbeg-
çois d’Heure – dessen Beiname „Oranus“                               renzten geistigen Fähigkeiten, einem
diesem außergewöhnlichen Stück der                                   zentralen Platz in der Schöpfung und
Goldschmiedekunst seinen Namen gab                                   vor allem mit einer von einer gött-
– als Dank für dessen Engagement beim                                lichen Güte unabhängigen Existenz
Rücktritt von seinem Bischofsamt. Dieser                             anerkennt. Die Realität, die Welt und
von den „tazza“ („Tasse“)-Modellen der                               ihre Funktionsweise zu kennen be-
italienischen Goldschmiede inspirierte                               deutet, die Möglichkeit zu haben, zu
Pokal trägt die Goldschmied-Punze „HG“                               agieren, um diese zu verändern. Die
oder „GH“ – letztere konnte nach wie vor                             Leitidee des Humanismus ist der
nicht zugeordnet werden. Die Datumspu-                               Wille, die antike Welt wieder auferste-
nze „L“ legt nahe, dass dieser Pokal wahr-                           hen zu lassen und deren Größe wieder
scheinlich um 1564 hergestellt wurde. Im                             zu erreichen.
Pokal sind zwölf antike kaiserliche Deniers
eingefasst. Diese bestehen aus Silber und
stammen aus der Zeit der Herrschaft von
Domitian (81-96) bis Antoninus Pius (138-
161). Auf diesen Münzen erkennt man die
Bildnisse der Kaiser Trajan und Hadrian.
Diese zwölf Münzen scheinen Gegens-
tand einer gut durchdachten Auswahl aus
Sammlungen gewesen zu sein, welche
die Gelehrten und Humanisten dieser Zeit
anlegten. Oranus erhielt den Pokal zu ei-
ner Zeit, in der sich Münzsammlungen
nördlich der Alpen verbreiteten und zur
Entstehung der Wissenschaft der Numis-
matik (Münzkunde) führten. Hubert Golt-
zius, ein Maler, Kupferstecher und Medail-
leur, der aus den Vereinigten Niederlanden
stammt, berichtet in seinen Werken über
seine Sammlungsbesichtigungen, die er
bei allen großen Humanisten und Samm-
lern Lüttichs, wie etwa Lambert Lombard
oder Laevinus Torrentius, absolviert.

      Oranus-Pokal, Silber, Punze des Goldschmiedemeis-
           ters GH oder HG, Lüttich, 1564 © Stadt Lüttich

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