DAS WICHTIGSTE FÜR DEN BESUCH - Les Musées de Liège
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SOMMAIRE Ein städtischer Komplex 3 Das Grand Curtius – eine Sammlung aus Sammlungen 6 Das Grand Curtius – einige Meisterwerke 9 • Herzförmiger Faustkeil 9 • Krug für Vorräte aus Linienbandkeramik 10 • Büstenvase von Jupille 12 • Halbkugelförmige Spruchschale 14 • Münzschatz von Vervoz 16 • Palude-Diptychon 17 • Notger-Evangeliar 19 • Die Jungfrau von Évegnée 20 • Heilig-Kreuz-Reliquiar 22 • Lambert Lombard, „Die tugendhaften Frauen“ 23 • Monstranz für Fronleichnam 25 • Oranus-Pokal 26 • Astronomische Uhr von Hubert Sarton 27 • Möbel-Ensemble des Schlosses La Chapelle-en- Serval, von Serrurier-Bovy 29 • Studio von Eugène Ysaye 31 • Spanische Kanne nach venezianischer Art 33 • Reisekelche mit Schmetterlingen 34 • Kelch „Maikäfer und Seerosen“ 35 • Horta-Vase 36 • Geerinckx- Steinschlosspistole 38 • Lütticher Gewehr von der Weltausstellung in Paris 1867 39 • Gewehr zu Ehren des kaiserlichen Prinzen, Sohn von Napoléon III 40 • Pistole mit Elfenbein- Verkleidung 42
EIN STÄDTISCHER KOMPLEX PALAIS CURTIUS (1604) JEAN DE CORTE GENANNT Das architektonische Ensemble Curtius CURTIUS umfasst ein Palais, welches als Geschäft und Gästehaus diente, eine Residenz, in Der zu seiner Zeit sehr erfolgreiche welcher die Familie Curtius lebte sowie Industrielle Jean de Corte (1551- zahlreiche Nebengebäude für die Hau- 1628) machte sein Vermögen mit sangestellten, Stallungen, eine Galerie der Herstellung von Pulver und und einen Garten. Dieser weitläufige ar- Projektilen, denn er hatte das Vorrecht chitektonische Komplex repräsentierte für deren Lieferung an die spanische die sozioökonomische Bedeutung der Armee sowie an die Niederlande inne. Eigentümer. Er besaß Ländereien, Lehensgüter Die Architektur ist typisch für die Renais- und Anteile an Kohleabbau-Betrieben. sance in unseren Regionen. Sie zeichnet Im Jahr 1617 gründete er sogar sich durch einen Wechsel aus Backstein einen Eisenhüttenkomplex im Norden und Stein, welcher der Fassade Dynamik Spaniens, für den er Maschinen und verleiht, durch ein hohes Schieferdach mit Arbeitskräfte ins Land holte – die Gesimsergänzungen, Basreliefs, soge- Lütticher nannte Maskarone aus Maaser Kalktuff Arbeiter (Porträts – Wappen – Fabelwesen – reli- h a t t e n giöse und satirische Szenen) sowie durch nämlich Kreuzfenster mit Mittelpfosten aus. An- ein großes fang des 20. Jahrhunderts kaufte die Stadt Fachwissen Lüttich den Komplex. Das Palais wird zum erworben. Glasmuseum und die Residenz zum Mu- seum der dekorativen Künste. Als beson- Jean Wiricx, Porträt ders symbolträchtiges Gebäude der Stadt von Jean de Corte, Lüttich gab das Palais Curtius diesem Mu- Gravur mit Gravur mit Gravierstichel, seumskomplex im Herzen des historischen Anvers, 1607 – Sam- mlung Grand Curtius Zentrums seinen Namen. Heute beher- © Stadt Lüttich bergt es den Bereich des Waffenmuseums. Ansicht des Palais Curtius vom Hof der Residenz aus © Stadt Lüttich -3-
MAISON DE WILDE ET BRAHY HÔTEL DE HAYME DE BOMAL (ZWEITE HÄLFTE 17. JAHRHUNDERT) (ZWEITE HÄLFTE 18. JAHRHUNDERT) Diese beiden Stadthäuser waren urs- Das Hôtel de Hayme de Bomal spiegelt die prünglich ein einziges Gebäude, dessen neoklassizistische Architektur der zweiten Bau unter dem Namen Hôtel de Haxhe Hälfte des 18. Jahrhunderts wider und ist in die zweite Hälfte des 17. Jahrhundert das perfekte Beispiel für die französische zurückreicht. Erbaut wurde es von dem Architektur in der Tradition der Pariser Lütticher Bürgermeister Conrad de Hax- Stadthäuser des späten 18. Jahrhunderts he im Jahr 1673. An dem Bau aus Ziegeln mit Parade-Appartements in der ersten und mit Kalkstein-Simsen kann man die Etage.. Der Bau wird dem Architekten architektonische Entwicklung ablesen, Barthélemy Digneffe für Jean-Baptiste de insbesondere am Verschwinden der Hayme de Bomal, einen bedeutenden Bü- Kreuzfenster zugunsten großer Erker. Um rgermeister Lüttichs, zugeschrieben. Das 1770 wird das Stadthaus in zwei Teile ge- Stadthaus ist danach Sitz der Präfektur teilt, die sich durch zahlreiche Eigentümer des Departements Ourthe und Napoleon unabhängig voneinander entwickeln Bonaparte übernachtet hier dreimal (mit sollten: der Teil zur Straße hin (Brahy-Teil) seinen jeweiligen Ehefrauen). Später wird sowie der südseitige Hauptteil (Wilde-Teil). es Sitz der holländischen Verwaltung Im 20. Jahrhundert wird das Gebäude und schließlich geht es in den Besitz von Eigentum der Stadt und als Lager genutzt. Pierre-Joseph Lemille über. Dieser über- Zu Beginn des Museumsprojekts wird der lässt es 1884 der Stadt, welche daraus ein Abriss der beiden Gebäude geplant, doch Waffenmuseum macht. schlussendlich werden sie restauriert und als Empfang und Cafeteria in den Rahme- nentwurf integriert. Hôtel de Brahy © https://fr.wikipedia.org/wiki/H%C3%B4tel_de_Haxe Hôtel de Hayme de Bomal © www.opt.be -4-
ZEITGENÖSSISCHE EINRICHTUNGEN (2003 BIS 2009) Diese historischen Gebäude sind durch zeitgenössische architektonische Einrichtungen verbunden, die ein zusammenhängendes und fast unmerkliches Durchgehen zwischen den verschiedenen Bauten der unterschiedlichen Epochen ermöglichen. Ansicht der Erhebung der Museumsgebäude, vor und nach den Umbauten von Daniel Dethier © www.dethier.be Gebäude G an der Vorderseite des Museums, Seite Rue Feronstrée, wurde vom Lütticher Architekten Daniel Dethier am Standort des früheren Maison Sauvage aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (im Hôtel de Hayme de Bomal enthalten) und einer früheren Schule in einem Gebäude mit neoklassizistischer Architektur gestaltet. AUSSENBEREICHE Die äußeren Höfe des Museums wur- den ebenfalls von einem Landschaft- sarchitekten erdacht: Erik Dhont. Im Haupthof setzte er abstrakte Objekte aus Ziegelsteinen in unterschied- lichen Größen und Formen um. Ihre Position in der Landschaft zeigt den Besuchern die möglichen Rundgänge an. Die Brunnensteine stammen von Häusern, die für den Bau moderner Gebäude abgerissen wurden. Haupthof des Grand Curtius © www.erikdhont.com -5-
DAS GRAND CURTIUS EINE SAMMLUNG AUS SAMMLUNGEN Das Grand Curtius versammelt an einem Kollektion eine der umfangreichsten und Museumsstandort die Sammlungen al- reichhaltigsten des Landes machen – sie ter Lütticher Museen: des Museums für umfasst fast 15.000 Stücke. Vor allem Archäologie und dekorative Kunst, des die Spende von De Puydt – das Ergebnis Museums für religiöse und maasländische persönlicher, fast 50-jähriger Forschung Kunst, des Museums für Glaskunst und des Spenders an der Stätte von Spy und des Waffenmuseums. später im Hespengau – sorgt für die inter- Der Rundgang ist nach einem chrono- nationale Reputation der Sammlung. Der logischen Faden aufgebaut, der es er- galloromanische Bestand ist das Ergeb- möglicht, von der Zeit der Vorgeschichte nis zahlreicher Ausgrabungsaktionen, die bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts unter der Leitung des I.A.L. zwischen der zurückzureisen. Dieser Weg zeichnet das große Abenteuer der Stadt Lüttich und unserer Regionen im Laufe der Zeit nach. Parallel wird in thematischen Abschnitten I.A.L. angeboten, bestimmte Wissensgebiete zu vertiefen. Zwei weitere Rundgänge sind Das Lütticher Archäologische Institut dem Glas und den Waffen gewidmet. Hier- (I.A.L.) wurde 1850 gegründet. Sein Ziel bei handelt es sich um jene industrielle ist es, archäologische Kunstwerke und Tätigkeitsbereiche, in denen Lüttich sein Denkmäler aus der Provinz Lüttich zu großes Fachwissen unter Beweis stellen untersuchen, zusammenzutragen und konnte. aufzubewahren. Es besteht aus Lütti- cher Wissenschaftlern, Archäologen, Historikern, Architekten etc. DEPARTEMENT FÜR ARCHÄOLOGIE Seit den 1860er-Jahren widmet das Lütti- cher Archäologische Institut (I.A.L.) einen erheblichen Teil seines Budgets dem Erwerb von Antiquitäten (Ankäufe, Aus- grabungen etc.). Diese werden seit 1874 in einem Flügel des Fürstbischöflichen Pa- lastes untergebracht. 1901 beschloss die Stadt Lüttich, diese Sammlung im Maison Curtius unterzubringen. Das neue Mu- seum, das zunächst als Lütticher Archäo- logisches Museum bezeichnet wurde, wurde 1909 eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt gab es bei der Archäologie in Lüttich eine starke Entwicklung. Große Forscher wie Marcel De Puydt stehen am Beginn dessen, was man später als „Lütticher Schule der Vorgeschichte“ bezeichnen sollte. Zwei Spenden (die Spende von Georges Cumont im Jahr 1914 und die Spende von Marcel De Puydt 1920) sollten aus der Lütticher Ansicht des gesamten Departements für Archäologie © Stadt Lüttich -6-
zweiten Hälfte des 19. und dem ersten LÜTTICHER SCHULE DER Viertel des 20. Durchgeführt wurden. Aus dem Kontext von Gräbern oder Behausun- VORGESCHICHTE gen stammend, bewahrt die Sammlung das bei Ausgrabungen entdeckte archäo- Das Interesse an den Naturwis- logische Material der gallorömischen Vil- senschaften entwickelt sich im 19. Jah- la vom Place Saint-Lambert, der Villa von rhundert. Forschungen in der Geologie Haccourt oder – am aktuellsten – von ver- und in der Mineralogie führten zur Ent- schiedenen Stätten in Jupille auf. deckung von sowohl tierischen als auch menschlichen Fossilien. Der Nachweis ihres hohen Alters führte dazu, dass DEPARTEMENT FÜR RELIGIÖSE die Schöpfungstheorie in Frage gestellt UND MAASLÄNDISCHE KUNST wurde. Bei letzterer ging man davon aus, dass der Mensch, so wie er jetzt ist, Dieses Departement ist zum Teil ein schon seit seinem Erscheinen auf der Nachfolger des Lütticher Diözesanmu- Erde bestand. Der Lütticher Philippe seums, welches 1880 von der Gesellschaft Charles Schmerling (1791-1836), Pro- für Kunst und Geschichte der Diözese Lüt- fessor an der Universität Lüttich, weist tich (S.A.H.D.L.) gegründet wurde. Im Jahr die Existenz des fossilen Menschen wis- 1976 wird es zum Museum für religiöse senschaftlich nach. Damit gehört die und maasländische Kunst (M.A.R.A.M.) Universität Lüttich zu den ersten, die und sein Betrieb wird von der Stadt Lüt- sich für das Wissen über den prähis- tich übernommen. Seit 2009 stellt es torischen Menschen interessieren. eines der Departements des Museums- Nach Schmerling tun sich noch weitere komplexes Grand Curtius dar. Über all Archäologen mit ihren Forschungen diese Generationen hinweg blieb das Ziel hervor – sie bilden die „Lütticher Schule gleich: die Bewahrung und Wertschät- der Archäologie“. zung des religiösen Erbes. Seit über zehn Jahrhunderten im Herzen eines mächti- gen kirchlichen Fürstentums gelegen, ist Lüttich ein ganz besonderer Zeuge des bemerkenswerten Aufschwungs der re- ligiösen und insbesondere der maaslän- MARCEL DE PUYDT dischen Kunst. Die Kollektion wird durch Spenden und Einlagerungen verschiede- Marcel De Puydt (1855–1940) ist Doktor nen Ursprungs erweitert. Auch die Ar- der Rechts- und Politikwissenschaft. chivbestände der Glashersteller Osterrath Er ist zwar von 1880 bis 1920 Leiter und der Goldschmiede Dehin werden hier der Rechtsabteilung der Stadt Lüttich, aufbewahrt. Gemeinsam mit den Sam- zeichnet sich aber vor allem als bril- mlungen des ehemaligen Curtius-Mu- lanter Prähistoriker aus. Im Kreise von seums und mit einigen Werken aus den Paläontologen und Geologen entdeckte Kollektionen des Museums der Schönen er 1886 in der Höhle von Spy Spuren Künste bietet das Departement einen der Existenz eines Menschen, der sich Rundgang, der die künstlerische En- von dem heutigen modernen Menschen twicklung der religiösen Kunst nachzeich- unterschied – es handelte sich um den net und die ideologischen Veränderungen Neandertaler. Als Begründer der Ab- vom Hochmittelalter bis heute darlegt. teilung für Vorgeschichte des Lütticher Archäologischen Museums trägt er mit häufigen Spenden entscheidend zu de- ren Erweiterung bei. -7-
DEPARTEMENT FÜR DEKORATIVE WAFFENMUSEUM KUNST Im Jahr 1885 öffnet das Waffenmuseum Ursprünglich gemeinsam mit der archäo- von Lüttich im alten Hôtel de Hayme de Bo- logischen Sammlung im Palais Curtius mal seine Pforten. Das Museum verdankt ausgestellt, wurde die Sammlung dekora- seine Sammlung dem Lütticher Pierre-Jo- tiver Kunst dank zahlreicher Spenden be- seph Lemille, einem Waffenhersteller und gründet. Diese Sammlung ist gleichzeitig vor allem einem großen Sammler. Ziel des umfang- und abwechslungsreich. Sie bein- Museums war es, möglichst viele Modelle haltet Meisterwerke der maasländischen von Handfeuerwaffen aus der ganzen Welt Kunst, Fragmente von Altaraufsätzen, zusammenzutragen. Durch Ankäufe und Möbel, Werke renommierter Lütticher Spenden wurde das Waffenmuseum von Künstler wie Jean Del Cour, Jean Varin und Lüttich eines der weltweit bedeutendsten Guillaume Evrard, einzigartige Werke der in dieser Fachrichtung Seit 2018 im Pa- Renaissance sowie italienisches, chine- lais Curtius untergebracht, stellt die neue sisches, deutsches, englisches oder auch Gestaltung knapp 600 zivile Waffen vor und niederländisches Steingut und Porzellan. zeichnet die Geschichte der Waffenhers- tellung vom 16. bis zum 21. Jahrhundert DEPARTEMENT FÜR GLAS nach. Ende des 19. Jahrhunderts beginnt Alfred Baar, Präsident des Lütticher Handelsge- richts, zahlreiche Werke der Glaskunst zu sammeln. Es handelt sich hier um eine außergewöhnliche Glaskunstsammlung, die von der Antike bis ins 19. Jahrhundert reicht. Nach seinem Tod 1907 führt sein Sohn Armand die Erweiterung der Sam- mlung des Vaters fort. Als echter Kurator katalogisiert er die Objekte, beschreibt und nummeriert sie und erstellt Grup- pierungen, die es ihm ermöglichen, eine Geschichte der Glaskunst zu verfassen. Im Jahr 1946 deponiert die Witwe von Armand Baar die Sammlung im Curtius-Museum. Die Stadt Lüttich kauft sie sechs Jahre später und gründet anschließend im Jahr 1959 das Glasmuseum. Im Folgenden wer- den zahlreiche Anschaffungen getätigt, die die Glassammlung mit Stücken aus aller Herren Länder aus dem 19. bis 20. Jah- rhundert bereichern. Schwerpunkte sind dabei die Epochen des Jugendstils, des Art déco und des Designs der 1950-er und 1960er-Jahre. Dank der engen Kontakt zu den Cristalleries du Val-Saint-Lambert er- möglicht es eine große Anzahl an Stücken, die Geschichte der Herstellung sowie der zeitgenössischen Werke nachzuverfolgen. Heute ist die Sammlung eine der prestige- trächtigsten der Welt. -8-
DAS GRAND CURTIUS EINIGE MEISTERWERKE HERZFÖRMIGER FAUSTKEIL Der Faustkeil ist ein „multifunktionales“ Werkzeug, welches an zwei Seiten tropfen- förmig bearbeitet wurde (in Herzform). Zu schwer, um mit einem Griff ausgestattet zu werden, verleiht der abgerundete un- tere Teil dem Stein eine gute Ergonomie, um ihn einfach in der Hand zu halten Der spitze Teil oben ermöglicht ein Durchboh- ren, während die mit Splittern ausgestat- teten Teile dafür sorgten, dass man sch- neiden, durchschneiden, aber auch von Häuten abkratzen konnte. Der Mensch entschied sich für Feuerstein, welcher gleichzeitig widerstandsfähig und einfach durch Schläge und Splitter zu bearbeiten ist. Die Wirtschaft dieser Menschen basiert auf Jagd, Fischfang und Sammeln. Es han- delt sich um eine nomadisch lebende Be- völkerung, die ihrer „Speisekammer“ folgt und sich in Gruppen bewegt. PALÄOLITHIKUM Das Paläolithikum (aus dem Grie- Herzförmiger Faustkeil – Altpaläolithikum (- 300 000), Visé, chischen, paleo = alt; lithos = Stein) ist Departement für Archäologie, Grand Curtius © Stadt Lüttich der früheste und längste Zeitabsch- nitt der Vorgeschichte. Es beginnt vor etwa 2,9 Millionen Jahren. Die ersten Spuren menschlicher Besiedelung in Westeuropa reichen fast eine Mil- lion Jahre zurück (Homo Erectus). In unseren Breiten wurden die ältesten Spuren einer Besiedelung in Spri- mont, im Bereich der Stätte von La Belle Roche entdeckt – sie gehen bis 500.000 Jahre zurück. Während die- ser Zeit entwickelt der Mensch eine Bedarfswirtschaft, welche auf Jagd, Fischfang und Sammeln basiert und zu einer nomadischen Lebensweise führt. -9-
KRUG FÜR VORRÄTE AUS LINIENBANDKERAMIK NEOLITHIKUM Keramikgefäße treten mit den Anfor- Das Neolithikum (aus dem Grie- derungen der Landwirtschaft auf. Sie er- chischen, neo = neu; lithos = Stein), möglichen die Aufbewahrung von Lebens- ist die jüngste Zeitspanne der mitteln. In unseren Breiten wurde Keramik Vorgeschichte, in welcher Stein in Wulst-Technik geformt (Übereinanderle- geschliffen, jedoch auch durch Po- gen von Wülsten aus Ton) und mit einem lieren bearbeitet wird. Diese Periode Mühlstein in einem in die Erde gegrabenen der Menschheit ist durch tiefgreifende Loch mit einem Feuer darüber gebrannt. technische und soziale Veränderun- Das auf die Wände des Behälters aufge- gen geprägt. Diese sind mit der Ein- brachte dekorative Motiv variiert je nach führung einer Produktionswirtschaft geografischem Gebiet. Hier besteht es auf der Grundlage von Landwirtschaft aus einer Abfolge von Linien und Punkten und Viehzucht durch Gruppen von in Bändern, welche mit einem Zahneisen Menschen verbunden, was zumeist geschaffen wurden. mit einem Sesshaftwerden der Völk- er einhergeht. Somit ist der Mensch Diese Motive sind für die Bandkeramikkul- nicht mehr von der Natur abhän- tur charakteristisch. Die bandkeramische gig, sondern hat für sein Überleben Kultur ist eine kulturelle Strömung, die wirklichen Einfluss auf seine Umge- ursprünglich vom Balkan zu stammen bung – er produziert seine eigenen scheint. Diese Bevölkerungsgruppen Ressourcen. ließen sich durch Migration entlang der Sambre und Maas nieder, hauptsächlich im Tal der Mehaigne und in der Geer-Re- gion im Hespengau. So sind die deko- rativen Motive der Keramiken wie ein Ausweis, der das Erkennen verschiedener kultureller Ausdrücke ermöglicht. Diese ersten Bauern entwickeln Werkzeuge, die das Anlegen von bewirtschaftbaren Flächen ermöglichen – hierzu zählen etwa geschliffene Beile, die zum Roden einge- setzt werden. Durch das Schleifen sind diese Steinwerkzeuge sind widerstands- fähiger und haben eine regelmäßigere und schärfere Schneide. Weitere Erfindungen ermöglichen die Verarbeitung von Rohstof- fen (wie etwa der Mühlstein, der Vorläufer der Mühle). So kann man erste Kulturen als Getreidekulturen identifizieren, die vor allem zu Mehl gemahlen werden. Birnenförmige Vase, Jungsteinzeit (-500 bis-4900), aufgefunden Place Saint-Lambert in Lüttich, Grand Curtius © Stadt Lüttich - 10 -
DAS ZAHNEISEN VOM PLACE SAINT-LAMBERT: EIN KLEINER KAMM, DER VIEL AUSSAGT 1907 wurden im Rahmen der Aushe- bung eines Grabens für die Verle- gung von Gasleitungen am Place Saint-Lambert in Lüttich archäolo- gische Überreste entdeckt, die eine Fülle von Informationen über die Urs- prünge der Glühenden Stadt mit sich bringen. Vor allem wurden zwei Gru- ben entdeckt, die Gegenstände von bandkeramischen Kulturen aus dem frühen Neolithikum enthielten. Hierzu zählt ein kleiner Kamm aus Knochen, der dank der organischen Natur des Bodens gut erhalten ist. Das Werkzeug enthält vier kleine, kurze Zähne und hat eine glatte, geschärfte Seite für die Bearbeitung der Form des Topfes. Der gezackte Teil wie- derum ermöglichte das Dekorieren. Diese Entdeckung zeigt, dass der Place Saint-Lambert hier der erste Ort menschlicher Besiedlung war und zwar in der Nähe der Légia. Diese mündete in die Maas ganz in der Nähe und formte und einen fruchtbaren, vor Überschwemmungen geschützten Schwemmkegel. - 11 -
BÜSTENVASE VON JUPILLE ROMANISIERUNG Diese Büstenvase aus Terrakotta – her- gestellt zwischen dem Ende des ersten Bei dem Begriff „gallisch“ handelt es Jahrhunderts und dem Ende des dritten sich um jenen Namen, den die Römer Jahrhunderts – ist bis heute ein Rätsel der keltischen Bevölkerung gaben, die für die Archäologen. Man weiß zwar, dass in Gallien (nach der Definition Julius diese Kategorie von Vasen vor allem in der Cäsars) ansässig war. Dieses Gebiet Region von Bavay (Nordfrankreich) her- umfasste Frankreich, Belgien, den gestellt wurde und dem einheimischen Süden der Niederlande, die Schweiz Kult vorbehalten war. Die Identifizierung sowie den Norden des heutigen Italien. der Büsten konnte jedoch noch nicht mit Die zahlreichen Völker mit keltischem Sicherheit erfolgen. Das Objekt wurde Ursprung, die in diesem Gebiet lebten, auf Grundlage einiger Originalscherben, bildeten keinen organisierten Staat. die 1872 bei einer Ausgrabungsaktion am Im Sinne seiner Eroberungen schuf Place Gît-le-coq in Jupille entdeckt wur- Cäsar künstlich dieses geografische den, restauriert. So erhielten die gefor- Gebilde. mten Büsten ihre Gesichter zurück. Im Jahr 58 v. Chr. beginnt der rö- mische General Julius Cäsar den Gal- Drei bärtige und drei bartlose Bildnisse lienfeldzug. Um das Jahr 51 v. Chr. mit gepflegten Frisuren rahmen dabei ein behauptete er seine Souveränität über dreiköpfiges Gesicht mit vier Augen ein. diese neu eroberten Gebiete. Die zu Letzteres wurde auf Grundlage des De- Galloromanen gewordenen Gallier kors anderer Büstenvasen völlig neu inter- übernehmen nach und nach die Sitten pretiert. Es hat zudem ein Paar Flügel im und Gebräuche der Römer und ver- Haar, was ein Attribut des Gottes Merkur binden sie mit ihren eigenen lokalen ist. Diese Art der Darstellung des Gottes Traditionen. Dies ist der Beginn der des Reisens und des Handels stammt aus Romanisierung. Das imperiale Gallien der keltischen Tradition und war in Gallien ist in drei Provinzen eingeteilt: Gal- sehr verbreitet. Lange Zeit wurden diese lia Belgica, Gallia Lugdunensis und sieben Figuren mit den Planetengottheiten Gallia Aquitania. Der Gallienfeldzug assoziiert: Saturn, Sol, Luna, Mars, Merkur, erfordert schnelle Bewegungen der Jupiter, Venus – entsprechend auch den militärischen Truppen. Daher richtete Tagen der Woche. Da eindeutige ikonogra- die römische Armee ein weitläufiges fische Elemente, welche eine Bestätigung Straßennetz ein, welches von und für ermöglichen würden, fehlen, wurde diese Soldaten gebaut wurde. Im Folgenden Hypothese von der Wissenschaft aufgege- sollten diese Wege die Entwicklung ben. des Handels im gesamten Römischen Reich ermöglichen. Entlang des ge- samten Netzes sollten Raststätten und Lager entstehen. Nach und nach entwickelten sich einige dieser Halte- punkte zu Vici (kleine Siedlungen) oder zu Civitates (größere städtische Siedlungen, im eigentlichen Sinne Städte). Zwei Jahrhunderte lang her- rschte im Römischen Reich Frieden, was die Entwicklung der gallorö- mischen Zivilisation begünstigte (Pax Romana). - 12 -
DER VICUS VON JUPILLE Dank der Archive sowie verschiede- ner Ausgrabungsaktionen in Jupille haben die Archäologen heute gute Kenntnisse über die Stätte zu Zeiten der Römer. Zwischen dem ersten und dem dritten Jahrhundert ist Ju- pille eine Siedlung, die zur Stadt Ton- gern in der Provinz Germania inferior gehörte. Die Siedlung ist das erste Etappenziel zwischen Tongern und Trier. Die strategische Position die- ser Siedlung begünstigte auch ihre Entwicklung. Heute weiß man, dass es in Jupille zwei Arten handwerkli- cher Tätigkeit gab – einerseits Tätig- keiten der Metallverarbeitung, welche durch die Entdeckung von Schmie- deöfen belegt sind und andererseits Töpferei-Aktivitäten, belegt durch die Entdeckung von Öfen und Resten von Keramiken. Die Bedeutung der Stadt zeigt sich auch in der Existenz eines Apollo gewidmeten Heiligtums. An der Hauptstraße der Siedlung gelegen. Büstenvase, gallorömische Epoche, Jupille © Stadt Lüttich - 13 -
HALBKUGELFÖRMIGE SPRUCHSCHALE SIEGELKERAMIK Diese Spruchschale aus der ersten Hälfte Diese Keramik verdankt ihre strahlend des vierten Jahrhunderts wurde in Lauw in rote Farbe einem Schlicker und der der Nähe von Tongern entdeckt. Sie wurde oxidierenden Atmosphäre im Ofen aus einer rötlichen Masse geformt und hat während des Brennens. Ihre rech- eine schwarze Abdeckung, die ursprünglich teckige Form stammt vom Einsatz der ein metallisches Aussehen hatte. Nach Töpferscheibe. Die Töpferscheibe wird einem ersten Brennen bringt der Töpfer 3500 v. Chr. im Nahen Osten erfunden eine Dekoration mit farbigem Schlicker- und taucht etwa tausend Jahre später guss, einer flüssigen Tonmasse, auf. Dabei auch in Europa auf. Dieses Werkzeug handelt es sich häufig um Punkte, Ranken ermöglicht eine schnellere und und gewellten Linien, die eine Legende be- größere Produktion, vor allem aber gleiten. Der Spruch INPLE, bei welchem wird diese gleichmäßiger und stan- die Buchstaben durch je drei übereinander dardisierter. Die Relief-Motive wer- liegende Punkte getrennt sind, stellt eine den mithilfe einer Form umgesetzt. Einladung zum Konsum dar: INPLE ME Die Umsetzung dieses Dekors mit bedeutet „fülle mich“. Das antike Trier ist Form ermöglicht es, große Mengen im dritten und vierten Jahrhundert n. Chr. an Geschirr mit demselben Dekor zu ein wichtiges Zentrum für die Herstellung erhalten. Die Einführung der Töpfer- dieser Art von luxuriösem Geschirr. Dieses scheibe und der Form trägt zu einer wird im großen Stil in Gallia Belgica, im semi-industriellen Produktion dieser Süden des römischen Britannien (England) luxuriösen Keramik bei. Der Begriff sowie in Germania inferior und Germania „Siegel“ (aus dem Lateinischen sigil- superior verbreitet. Die Inschriften, die am lum = Siegel oder Stempel) bezieht häufigsten auf diese Vasen gemalt wur- sich auf das Zeichen, das häufig auf den, beziehen sich auf das Trinken oder die dem Boden dieses Tafelgeschirrs Freude am Trinken: MITTE MERVM (ser- angebracht ist und das es ermöglicht, viere unverdünnten Wein), MISCE (mische die Töpferwerkstatt, die das Gefäß mich), BIBE (trinke), FRVI (genieße) oder hergestellt hat, zu identifizieren. DA AMICO (gib es dem Freund). Diese Art der Keramik sollte im ge- samten Römischen Reich enorm er- folgreich sein. Zunächst ab der Mitte des ersten Jahrhunderts vor Chr. auf der italienischen Halbinsel produziert, wird sie über die römischen Kommu- nikationswege rasch nach Gallien importiert. Diese Keramik wurde in sehr großen Mengen hergestellt und die Archäologen fanden viel davon bei verschieden Ausgrabungen. Dieses reichlich vorhandene Material er- möglichte Vergleiche und Archäologen verfügen über eine echte chronolo- gische Typologie dieser Siegelkera- mik. Der Fund von Siegelkeramik auf einer Ausgrabungsstätte bietet somit eine hervorragende zeitliche Angabe und ein gutes Element zur Datierung. - 14 -
TERRA RUBRA UND TERRA NIGRA Die Siegelkeramik ist derart erfolgreich und die Produktion so umfangreich, dass „Imitationen“ auf- tauchen. Tatsächlich gibt es lokalere Produktionen wie etwa die Terra rubra und die Terra nigra, welche in unseren Breiten ab den Jahren 20 bis 10 v. Chr. hergestellt werden. Diese lokalen Versuche mischen Modelle der Sie- gelkeramik mit Formen aus dem keltischen Repertoire. Diese Produkte sind gröber, weniger fein und weniger verziert. Die Terra rubra wurde in einer oxidierenden Atmosphäre gebrannt und mit einem rot-orangefarbenen Schlicker überzogen. Die Terra nigra wiederum wurde in einer reduzierenden Atmosphäre gebrannt, welche Farben von Silbergrau bis Schwarz ermöglichte. Spruchschale, Terrakotta, gallorömische Epoche © Stadt Lüttich - 15 -
MÜNZSCHATZ VON VERVOZ DIE INVASIONEN Um 255-256, als dieser Schatz vergraben DER BARBAREN wurde, ist die politische Instabilität in un- seren Breiten groß. Diese ist mit einer Im dritten Jahrhundert begannen die Periode der wirtschaftlichen Rezession von den Hunnen vertriebenen germa- verbunden, die zu Geldentwertungen füh- nischen Gruppen eine Wanderungs- rte. Dies wiederum brachte viele dazu, ihre bewegung in Richtung Westeuropa angesparten Münzen zu horten. Dieser und drangen in das Gebiet des Rö- Krug aus Bronze enthält 1680 Silbermün- mischen Reiches vor. Die Franken zen (1085 Denare und 595 Antoniniane). nehmen im Gebiet von Gallia Belgica Die älteste Münze stammt dabei aus dem Plünderungen vor. Man spricht hier Jahr 186, der Zeit der Herrschaft des Kai- von Invasionen der Barbaren, weil die sers Commodus und die jüngste mit dem Römer und Galloromanen alle, die Abbild des Kaisers Gallienus stammt aus kein Latein sprachen, als Barbaren dem Jahr 254. Das heißt, zwischen dem betrachteten. Durch seine Eroberun- ältesten und dem neuesten Stück liegen gen ermüdet und zudem von allen ganze 68 Jahre! Über 60 Jahre hinweg Seiten von barbarischen Völkern aus behielten die Münzen sicherlich nicht ihren dem Osten und Norden angegriffen, Wert, aber man bewahrte sie zumindest gerät das Römische Reich ins Wan- für den Wert an sich, in diesem Fall für den ken. Die Franken stammten ursprün- Wert des Silbers, auf. glich aus Germanien. Auf der Suche nach fruchtbarem Boden überqueren sie den Rhein, stellen sich erbitterten Schlachten und breiten sich immer mehr im Bereich unseres Landes und auf einem großen Teil Galliens aus. Sie gründen mehrere Staaten, die zwar unabhängig sind, aber von den Fürsten ein- und derselben Dynastie, nämlich aus jener der Merowinger, re- giert werden. Sie begründen die erste Dynastie der Könige Frankreichs. Dies markiert das Ende der gallorö- mischen Antike und den Beginn des Mittelalters. Münzschatz von Vervoz © Stadt Lüttich - 16 -
PALUDE-DIPTYCHON Henri ex Palude schenkte der Lamber- sollte das religiöse Leben in ganz Nordeu- tuskathedrale dieses Diptychon anlässlich ropa verändern. Indem sie den Schwerpunkt seiner Ernennung zum Kantor. Das Werk auf das persönliche Innenleben legte, för- ist nicht datiert. Es wurde in jedem Fall derte sie ein Gefühl der Nähe zwischen dem zwischen 1488 und 1515 hergestellt, also Menschen und dem Göttlichen. Die Heiligen- zwischen dem Zeitpunkt, als der Spender darstellung sollte zum individuellen Gebet Kantor der Kathedrale wurde, und dem auffordern. Die Intimität des Diptychons Zeitpunkt seines Todes im Jahr 1515. Auf passt perfekt zu dieser Praktik. dem rechten Flügel ist Palude symbolisch bei der Ermordung des heiligen Lambert Im Jahr 705 wird der heilige Lambert, Bischof anwesend. Er ist an seinem zu seinen der Diözese Tongern-Maastricht, aus poli- Füßen dargelegten Wappen erkennbar. tischen Gründen, aber vor allem deshalb, Seine Anwesenheit stellt hier einen Ana- weil er eine außereheliche Beziehung von chronismus dar, haben sich die Ereignisse Pippin dem Mittlerem öffentlich bekanntge- doch etwa acht Jahrhunderte zuvor abges- macht hatte, ermordet. Der Mord geschieht, pielt. Diese Darstellung sowie der Erfolg als er in seinem Wohnsitz in Lüttich – da- der Diptychen in unseren Breiten sind mals noch eine kleine Ortschaft – betete. Ausdruck einer spirituellen Strömung, Der heilige Lambert wird in Maastricht bes- die Ende des 14. Jahrhunderts entstand: tattet, doch die Gläubigen verehren ihn wei- die Devotio Moderna („neue Frömmig- terhin in Lüttich, welches nach und nach zu keit“). Diese Strömung der Frömmigkeit einer wichtigen Pilgerstätte wird. Im Jahr Palude-Diptychon, Öl auf Tafel, Lüttich, nach 1488, Grand Curtius © Stadt Lüttich - 17 -
718 beschließt sein Nachfolger, der heilige Hubertus, eine erste religiöse Stätte zu LAMBERTUSKATHEDRALE bauen, um die Pilger zu empfangen und die sterblichen Überreste des heiligen Lam- Als der heilige Hubertus den Körper bert, welche von Maastricht nach Lüttich des heiligen Lambert nach Lüttich gebracht wurden, aufzunehmen. Dieses zurückbringen lässt, lässt er auch Ereignis zieht eine echte Entwicklung der eine erste religiöse Stätte am Ort Stadt nach sich – sowohl in wirtschaftli- des Martyriums errichten. Notger, cher als auch in politischer Hinsicht. Ende der erste Fürstbischof und großer des 9. Jahrhunderts wird Lüttich anstelle Baumeister, lässt 985 den Bau einer von Maastricht zum Sitz des Bistums. Kathedrale beginnen. Nachdem sie im Jahr 1185 abgebrannt war, wird Das Diptychon stellt das Martyrium des sie auf den Fundamenten des vorhe- heiligen Lambert in einem vom Maler er- rigen Baus im gotischen Stil wiede- dachten Oratorium dar. Der heilige Lam- raufgebaut. Die Baustelle wird 1433 bert ist in ein Bischofsgewand gekleidet mit dem Bau des Spitzturms, eines und wird durch den Speer eines auf dem echten Orientierungspunkts in der Dach versteckten Soldaten verletzt. Die Stadt, fertiggestellt. Ein französischer beiden Personen neben Lambert erlei- Reisender berichtet, dass das Dach den dasselbe Schicksal: Sie werden von mit Gold gedeckt sei – in Wahrheit anderen Soldaten Pippins getötet. Der handelt es sich jedoch um vergol- linke Flügel ist eine Darstellung der Wei- detes Blei. Diese Anekdote hebt den hnachtsgeschichte. Ihre Ruhe und Sanf- Wohlstand des Fürstbistums Lüttich theit stehen im Gegensatz zum Drama des hervor. Dieser Zustand blieb bis zur benachbarten Gemäldes. Revolution erhalten. Während der Lütticher Revolution (1789-1794) tra- gen die Lütticher selbst das Gebäude Stein für Stein ab. Während das Volk in Frankreich gegen die Monarchie und ihre absolute Macht revoltiert, richten sich die Aufstände in Lüttich gegen die zentrale Macht des Fürst- bischofs. Der Abriss ist ein Zeichen des Protests gegen seine religiöse Macht. Erst 1827 werden die letzten Überreste der Kathedrale eingeebnet. Die Kalksteine der Kathedrale sollten bei heißen Öfen für die Herstellung von Zink zum Einsatz kommen und auch zur Füllung der Arme der Maas für die Schaffung des Boulevard de la Sauvenière verwendet werden. - 18 -
NOTGER-EVANGELIAR LÜTTICH, KIRCHLICHES Das um 930 verfasste Manuskript, das FÜRSTENTUM diesen Einband umfasst, stammt aus der Abbaye de Stavelot oder aus Reims. Die Von 972 bis 1008 wird die Diözese obere Platte des Einbands ist mit einem Lüttich von Bischof Notger regiert. zusammengesetzten Dekor verziert, wel- Der deutsche Kaiser Otto II. verlei- ches vom außergewöhnlichen Können der ht ihm den Titel eines Fürstbischofs maasländischen Kunsthandwerker zeugt. und schickt ihn in diese turbulente In der Mitte trägt geschnitztes Elfen- Region, welche der französische bein vom Ende des 10. Jahrhunderts eine König begehrt. Lüttich wird zu einem umrandende lateinische Inschrift: „Und kirchlichen Fürstentum, in welchem ich, Notger, belastet durch das Gewicht der Notger alle Macht hat – sowohl im zi- Sünde, knie vor Dir, der Du das Universum vilen als auch im religiösen Bereich. erzittern lässt.“ Das obere Register stellt Der reiche und mächtige Notger leitet den thronenden Christus dar. Seine Füße eine Politik der großen Werke ein: Er ruhen auf einer Kugel. Auf dem unteren lässt die Stadt mit einer Ringmauer Register ist der wahrscheinliche Spender umgeben, innerhalb derer er sieben kniend abgebildet und hat ein Buch in der Kollegiatkirchen und zwei Abteien Hand. Es könnte sich um Notger handeln, bauen lässt – ganz zu schweigen von den ersten Fürstbischof von Lüttich und der imposanten Lambertuskathedrale Gründer der Johanneskirche, aus welcher neben seinem neuen Bischofspalast, das Evangeliar stammt. einem Symbol seiner religiösen und Das mittlere Elfenbein ist von Chample- politischen Macht. vé-Emaille aus dem Jahr 1160 umgeben. Es werden die allegorischen Figuren der Tugenden (Mut – Gerechtigkeit – Mäßigung) sowie die vier Flüsse des Paradieses (Pi- son – Geon – Tigris – Euphrat) dargestellt. Schließlich wurden im 15. Jahrhundert vergoldete ziselierten Platten hinzugefügt: Sie stellen ein Blattdekor dar, das für die gotischen Verzierungen mit Ornamenten in der Goldschmiedekunst der 1400er-Jahre typisch ist. Auf dieser Einbandplatte zeu- gen ganze 400 Jahre der Anreicherung der Dekorationen von der Bedeutung, die die- sem Manuskript beigemessen wird. Sogenanntes Notger-Evangeliar, Manuskript: Reims (?), um 930; Elfenbein: 11. Jahrhundert; Emaillen: um 1160; gravierte Platten: 15. Jahrhundert, Grand Curtius © Stadt Lüttich - 19 -
DIE JUNGFRAU VON ÉVEGNÉE Seit dem 11. Jahrhundert wird Lüttich auch als „Athen des Nordens“ bezeichnet. Es ist eine der größten Städte des Germanischen Reiches. Die nachfolgenden Fürstbischöfe machen aus dem Sitz des Fürstentums eine Stadt der Kirchen voll mit Kollegiatkirchen, großen Abteien und Prioratskirchen. Im 12. Jahrhundert zählt Lüttich mehr als zwan- zig Pfarren. Diese Institutionen bieten Bil- dung und fördern wichtige künstlerische Tätigkeit. Die maasländische mittelalter- liche Ikonografie ist vor allem vom typolo- gischen Symbolismus geprägt, welcher bei der Abbildung religiöser Themen auf Ähn- lichkeiten zwischen dem Alten und dem Neuen Testament setzt. Bei dieser Madonna mit Kind handelt es sich um eine Sedes sapientiae (Latein: „Sitz der Weisheit“). Die sitzende Jungfrau ist eins mit ihrem Sitz, sie materialisiert den Thron der Weisheit, welcher von ihrem Sohn verkörpert wird. In einer Hand hält sie einen Apfel – die Jungfrau ist die „neue Eva“, die die Vergebung der Erbsünde er- möglicht, indem sie den Sohn Gottes zur Welt bringt. Das Kind ähnelt eher einem kleinen Erwachsenen. Mit einer Hand er- teilt es einen lateinischen Segen (mit den beiden letzten Fingern gebeugt) und in der anderen Hand hält es ein Buch. Zwischen Mutter und Sohn gibt es keinerlei Geste der Zuneigung. Sie macht eher einen strengen Eindruck. Die wenigen Spuren der Poly- chromie sind ursprünglich, der Aufbau ist archaisch und quasi schematisch. Die Reliefs sind auf den einfachsten Ausdruck reduziert, vor allem bei der Darstellung von Anatomie und Kleidung. Aufgrund ei- ner Brandbeschädigung ist das Werk heute teilweise verkürzt. Es handelt sich um eine der ältesten maasländischen Sedes sa- pientiae-Darstellungen. Sedes sapientiae, sogenannte Jungfrau von Évegnée, poly- chromes Holz, maasländische Region, um 1060, Grand Curtius © Stadt Lüttich - 20 -
MAASLÄNDISCHE KUNST Unter Bischof Notger stellt die Maas einen Weg des wirtschaftlichen, in- tellektuellen und künstlerischen Austausches dar. Die Methoden und Traditionen der Bevölkerungen mit ger- manischer oder romanischer Herkunft wurden so entlang dieser wichtigen Verkehrsachse verbreitet und aus- getauscht. Damit war Lüttich eine Drehscheibe der Zivilisationen an der Kreuzung der Wege in alle Richtungen Europas. Die Künstler unserer Region schafften es, von allen Strömungen, die in Lüttich zusammenkamen, das Beste zu nehmen, um ein kohärentes künst- lerisches Ganzes zu schaffen. Dank dieser besonderen geografischen Lage entwickelte sich im Maastal zwischen Ende des 10. und der Mitte des 14. Jah- UNGESCHICKTE KUNS- rhunderts die sogenannte maaslän- THANDWERKER? dische (von Mosa – Maas) Kunst. Die zahlreichen Kirchen und Abteien bieten Zwischen dem 10. und 12. Jahrhun- Lehre und Förderung für künstlerische dert messen die Kunsthandwerker Aktivitäten. Die Metallverarbeitung flo- einer naturgetreuen Anatomie der riert und erreicht ihren Höhepunkt. Die Figuren nur wenig Bedeutung bei. Sie maasländischen Goldschmiede beherr- werden schematisch und manchmal schen weit entwickelte Techniken: das mit ungleichen Dimensionen dar- Emaillieren, die Dinanderie, Filigranar- gestellt. Dieses Phänomen ist jedoch beiten, den Braunfirnis etc. Die Künstler nicht das Resultat einer Unfähigkeit setzen die Gedanken der Theologen auf der Bildhauer dieser Epoche. Die materieller Ebene um. Sie sind Urheber Symbolik ist für die Künstler wichti- von Juwelen der abendländischen Zivi- ger als der Realismus der von ihnen lisation. erzeugten Bilder. Die Konzepte des dargestellten Themas bestimmen den formalen Aspekt der Bilder. Die größe- ren Figuren sind am wichtigsten – dies bezeichnet man als „moralische Pers- pektive“. Ihr Ausdruck ist unabhängig von der Situation, in welcher sie dar- gestellt werden, neutral (so scheint etwa der gekreuzigte Christus nicht unter seinem Martyrium zu leiden). Die Ästhetik der Skulpturen dient dem hohen moralischen Wert ihrer Helden. Diese stellen ein Vorbild für die Gläu- bigen dar, welche zumeist Analphabe- ten sind. - 21 -
HEILIG-KREUZ-RELIQUIAR Stils zeigt sich im Einsatz der Vergoldung und in der Form und Komposition des En- Im 12. Jahrhundert entwickelt sich der sembles. Diese Prozesse sind häufig in der Reliquienkult. Dieses Triptychon enthält maasländischen Region zu finden. eine Reliquie vom Heiligen Kreuz, die Kaiser Heinrich II. 1006 der Kollegiatkir- che Heilig-Kreuz schenkte. Es besteht aus vergoldeten Kupferblättern, die auf RELIQUIEN UND einem Kern aus Holz aufgebracht sind. RELIQUIENKULT Die Reliquie ist in einem kleinen golde- nen Kreuz eingeschlossen, ergänzt durch Bei Reliquien (aus dem Lateinischen eine Inschrift: lignu vite (Lebensbaum). reliquiae = Überrest) handelt es sich Erst 1160 wurde das kleine Kreuz in das um materielle Überreste, die eine als Triptychon integriert. Dies war eine im 12. heilig verehrte Person nach ihrem Tod Jahrhundert übliche Form des Reliquiars, zurücklässt. Es gibt zwei Arten von welche Godefroy von Huy zugeschrieben Reliquien: Direkte Reliquien = körper- wird. Zwei Allegorien der Wahrheit und des liche Überreste, das heißt Körper oder Urteils tragen in der einen Hand die Tru- Körperteile wie Knochen, Haare oder he des Reliquiars und in der anderen eine Zähne. Indirekte Reliquien = alle Arten Lanze. Dabei handelt es sich um eine der von nicht-körperlichen Dingen wie Waffen der Leidenschaft. Ein Bergkristall, etwa Kleidung und Objekte, die dem der ein Kuppelauge bildet, umschließt Re- Heiligen gehörten oder mit welchen liquien von Johannes dem Täufer und dem dieser Kontakt hatte. Die am meisten Heiligen Vinzenz. Die Allegorie der Bar- geschätzten Reliquien waren jene, mherzigkeit ist mit Champlevé-Emaille die an das Leben von Jesus erinnern: dargestellt. Ihre Haltung ähnelt jener von Stücke vom Heiligen Kreuz, Dornen Christus in der Kuppel, welche das Trip- von der Dornenkrone, Zähne von Jo- tychon krönt (der auferstandene Christus hannes dem Täufer, Tropfen von der enthüllt seine Wunden). Im unteren Regis- Milch der Madonna. Historisch gese- ter befinden sich unter einem Bogen fünf hen geht der Reliquienkult auf die Auserwählte mit Heiligenschein und der Märtyrer der ersten Christen zurück. ergänzenden Inschrift „Auferstehung der Die Gläubigen beteten an ihren Grä- Heiligen“. Auf den Flügeln sind die zwölf bern. Im Mittelalter waren Reliquien – Apostel bis zur Körpermitte dargestellt, egal, ob echt oder falsch – Gegenstand angeordnet jeweils zu zweit in den drei Re- eines regelrechten Handels. Zwischen gistern. Sie bilden die Versammlung der 110 und 1200 werden zahlreiche Reli- Richter. Der Einfluss des byzantinischen quien im Rahmen der Kreuzzüge aus dem Orient mitgebracht. Zu einer Zeit, in der gilt: „Sehen heißt glauben“ kommt der Reliquie eine hohe Bedeu- tung zu. So entsteht im Mittelalter ein Markt für Reliquien. Immer häufiger tauchen „falsche Reliquien“ auf. Ab- teien, Klöster und Kirchen stehen vor dem Problem dieses zweifelhaften Handels und zudem gibt es viele Die- bstähle. Heilig-Kreuz-Triptychon, maasländische Region, 11. Jahrhu- ndert, Silber, Kupfer, Emaille, um 1160-1170 © Stadt Lüttich - 22 -
LAMBERT LOMBARD „DIE TUGENDHAFTEN FRAUEN“ RENAISSANCE Lambert Lombard (Lüttich, 1505-1566) ist Von Florenz ausgehend, stellt die Re- ein bekannter Maler, Architekt und Zeich- naissance eine Zeit des „Wiederau- ner der Renaissance aus der Region Lüt- flebens“ dar – je nach geografischem tich. 1532 wird er Hofmaler bei Fürstbischof Gebiet zwischen dem 15. und dem 16. Erard de La Marck. Beide teilen die huma- Jahrhundert. In Italien spricht man nistischen Werte der italienischen Renais- beim 15. Jahrhundert von der „ersten sance. Der Fürstbischof, ein schwerreicher Renaissance“ oder dem Quattrocento Mäzen, der Kunst und Literatur förderte, (was den 1400er-Jahren entspricht). bietet Lombard ein Stipendium für ein Die „zweite Renaissance“ (auch „Cin- Studium und eine Ausbildung in Rom an. quecento“, 1500er-Jahre, genannt) Dort studiert er antike Bildhauerei, Nu- erobert ganz Europa im 16. Jahrhun- mismatik und die Werke der Renaissance. dert. Die Renaissance gilt als Bruch Er kehrt mit antikem und italienischem mit dem Mittelalter und wurde von der künstlerischem Wissen nach Lüttich griechisch-römischen Antike und dem zurück – eine Seltenheit für die damalige von ihr vorgegebenen soziokulturellen Zeit. Diese Reise markiert eine drastische Modell inspiriert. Veränderung der künstlerischen Konzep- tionen Lombards, der sich damit von der noch mittelalterlichen Tradition entfernt, welche im Fürstbistum Lüttich im 16. Jah- rhundert noch besteht. Er schöpft seine Inspiration aus der römischen Kunst, vor allem, was den Hintergrund, die Anatomie der Körper und die Kompositionslinien be- trifft. Der Einsatz kräftiger Farben steht der Arbeit der toskanischen Manieristen nahe. Im Mittelpunkt der Kunst Lombards steht vor allem die ständige Suche nach der idealen Schönheit. Lambert Lombard, Zyklus der „Tugendhaften Frauen“, um 1530-1535, Lüttich, Museum der schönen Künste © Stadt Lüttich - 23 -
Der Zyklus der „Tugendhaften Frauen“ (heute aufgeteilt und zweifellos unvolls- DIE SUJETS DER VIER tändig) umfasst acht Gemälde, welche in Lüttich und in der Kirche Saint-Amand in IM GRAND CURTIUS Stokrooie (Limburg) aufbewahrt werden. AUFBEWAHRTEN GEMÄLDE Das Ensemble stammt mit großer Si- cherheit aus der Zisterzienserinnenabtei Coriolan empfängt seine Mutter und Herkenrode in Kuringen. Dabei handelt seine Frau : nach Plutarch ist Coriolan es sich um eine der prestigeträchtigsten eine Figur der alten römischen Repu- Klostereinrichtungen für Frauen der alten blik Er hasste Rom und seine Tribunen Diözese Lüttich. Jedes der Gemälde re- und forderte die Kolonien auf, sich ge- präsentiert eine der wichtigsten Episoden gen den Staat zu erheben und gegen im Leben acht tugendhafter (oder eher Rom zu marschieren. Doch er erhöhte heldenhafter) Frauen. Diese Betonung das Flehen seiner Mutter und seiner des Mutes der Frauen sollte als Medita- Frau und ließ von seinem Plan ab. tionsobjekt für die Nonnen dienen. Quellen sind das Alte Testament sowie Legenden David und Abigail : Abigail setzte sich der heidnischen Antike. Diese thematische beim späteren König David für die Wahl unterstreicht das intellektuelle Ni- Rettung ihres Mannes Nabal ein, wel- veau dieser religiösen Gemeinschaft sowie cher es zuvor abgelehnt hatte, David jenes des Künstlers, der Rom besucht hatte zu helfen. und als einer der größten Antiquitätenhän- dler seiner Zeit galt. Die Entscheidung für Rebekka und Elieser am Brunnen : Heldinnen der antiken Geschichte gemein- Abraham gibt seinem alten Diener sam mit Quellen aus dem Alten Testament Elieser die Aufgabe, nach Mesopo- weist auf das in der Renaissance übliche tamien zu gehen, um eine Frau für Korrespondenzspiel hin, welches den seinen Sohn Isaak zu finden. Elieser heidnischen Helden einen moralischen kommt mit seinen zehn Kamelen in Wert zuweist, der jenen der biblischen Fi- die Nähe eines Brunnens und trif- guren entspricht. Aus künstlerischer Sicht ft dort unter den Mädchen, die zum verfolgt die Renaissance eine naturge- Wasserschöpfen kommen, Rebekka. treue Abbildung der Welt und bricht damit Sie ist „schön anzusehen“ und gibt mit dem Symbolismus des Mittelalters. ihm und seinen Kamelen zu trinken. Dieses Streben äußert sich in einer Suche Elieser sieht darin ein Zeichen von nach Gleichgewicht und Symmetrie durch Jahwe, bietet Rebekka einen Goldring eine Darstellung des Volumens, der Ana- und zwei Armbänder an, welche sie tomie und der Proportionen des Körpers, als zukünftige Frau Isaaks kennzeich- im Einsatz der linearen Perspektive, um nen. die Illusion von Tiefe von Räumen zu er- schaffen und schließlich in einer idealen Jaël und Sisara : Jaël tötet den Vereinigung des Realen mit den Regeln kanaanäischen Sisara, Feind der He- des Geistes. Lambert Lombard wurde von bräer, indem sie ihm im Schlaf die diesen grafischen „Neuerungen“, die er bei Schläfe durchstößt. Zuvor hatte sie ihn seiner Reise nach Rom entdeckte, beein- vergiftet. So stellt sie den Frieden im flusst. Er setzte viele dieser ästhetischen Königreich Israel wieder her. Neuerungen um, behielt aber gleichzeitig einige Methoden aus der mittelalterlichen Tradition von nördlich der Alpen bei. - 24 -
MONSTRANZ FÜR FRONLEICHNAM FRONLEICHNAM In der früheren Kollegiatkirche St. Mar- tin von Lüttich wurde Fronleichnam 1246 Der Ursprung dieses Feiertags des erstmals begangen. Dieser Kult erlangt Allerheiligsten Sakramentes geht auf nach dem Konzil von Trient große Bedeu- das 13. Jahrhundert zurück. Der Ein- tung: Die katholische Kirche wollte die satz für dieses Fest ist auf die heilige Verehrung des Allerheiligsten (des Leibes Juliana von Cornillon zurückzuführen. und Blutes Christi) und der Eucharis- Ab 2019 hat sie mystische Visionen: tie (geweihtes Brot und Wein) stärken. In Es erscheint ihr ein unvollständiger der Lütticher Goldschmiedekunst zeigen Mond. Sie interpretiert diese Vision Monstranzen seit dem 13. Jahrhundert die als Zeichen dafür, dass der Kirche Form eines Türmchens. Ab 1670 setzt sich ein Feiertag fehlt. Völlig überzeugt im Zusammenhang mit der katholischen setzt sie sich für die Einführung von Reform die triumphierende Form der Fronleichnam ein. Um dies zu un- Monstranz als Sonne durch. Ausgehend terstützen, erbittet sie Hilfe von Eva von der Lunula, dem zentralen Teil, der von Lüttich, eine Reklusin in der eine geweihte Hostie enthält, breiten sich Martinskirche. Ziel dieses neuen Strahlen aus und unterstreichen die sym- Feiertages ist es, den Glauben der bolische Dimension. Aufgrund der Punze Gläubigen wiederzubeleben, doch wird das Stück dem besten Goldschmied die Lütticher Bürger sind dagegen, seiner Zeit zugeschrieben: Charles de da dies einen zusätzlichen Fastentag Hontoir. Diese Monstranz zeigt eine deko- bedeuten würde. Nach einem langen rative Überladung voller Cherubinen, mit Kampf der heiligen Juliana wurde der zackigen Strahlen, Putten, die Waffen der Feiertag 1246 in der Diözese Lüttich Leidenschaft tragen und mit Abbildungen eingeführt. Nach dem Tode Julianas des heiligen Johannes (des Täufers und setzt Eva die Bemühungen fort und des Evangelisten) und schließlich mit der erreicht die Einführung des Feiertags Taube des Heiligen Geistes. Das Ensemble in der gesamten Kirche im Jahr 1264. ist von einer Darstellung Gottes als se- gnendem Vater gekrönt. Monstranz für Fronleichnam, Goldschmied Charles de Hontoir, Silber und Messing, Lüttich, 1722 © Stadt Lüttich - 25 -
ORANUS-POKAL HUMANISMUS In der Mitte dieses flachen Pokals aus ge- punztem und ziseliertem Silber zeigt sich Der in der zweiten Hälfte des 19. das Motiv eines Bischofshuts mit breitem Jahrhunderts geprägte Begriff des Rand, ergänzt durch eine erhöhte Kor- „Humanismus“ bezeichnet eine im del mit Quasten. Dieses Motiv verweist 14. Jahrhundert in Italien entstande- auf das Wappen seines ersten Besitzers: ne intellektuelle und künstlerische Fürstbischof Robert de Berghes. Dieser Strömung, die den Menschen als schenkt den Pokal dem Ratsherrn Fran- vollwertiges Individuum mit unbeg- çois d’Heure – dessen Beiname „Oranus“ renzten geistigen Fähigkeiten, einem diesem außergewöhnlichen Stück der zentralen Platz in der Schöpfung und Goldschmiedekunst seinen Namen gab vor allem mit einer von einer gött- – als Dank für dessen Engagement beim lichen Güte unabhängigen Existenz Rücktritt von seinem Bischofsamt. Dieser anerkennt. Die Realität, die Welt und von den „tazza“ („Tasse“)-Modellen der ihre Funktionsweise zu kennen be- italienischen Goldschmiede inspirierte deutet, die Möglichkeit zu haben, zu Pokal trägt die Goldschmied-Punze „HG“ agieren, um diese zu verändern. Die oder „GH“ – letztere konnte nach wie vor Leitidee des Humanismus ist der nicht zugeordnet werden. Die Datumspu- Wille, die antike Welt wieder auferste- nze „L“ legt nahe, dass dieser Pokal wahr- hen zu lassen und deren Größe wieder scheinlich um 1564 hergestellt wurde. Im zu erreichen. Pokal sind zwölf antike kaiserliche Deniers eingefasst. Diese bestehen aus Silber und stammen aus der Zeit der Herrschaft von Domitian (81-96) bis Antoninus Pius (138- 161). Auf diesen Münzen erkennt man die Bildnisse der Kaiser Trajan und Hadrian. Diese zwölf Münzen scheinen Gegens- tand einer gut durchdachten Auswahl aus Sammlungen gewesen zu sein, welche die Gelehrten und Humanisten dieser Zeit anlegten. Oranus erhielt den Pokal zu ei- ner Zeit, in der sich Münzsammlungen nördlich der Alpen verbreiteten und zur Entstehung der Wissenschaft der Numis- matik (Münzkunde) führten. Hubert Golt- zius, ein Maler, Kupferstecher und Medail- leur, der aus den Vereinigten Niederlanden stammt, berichtet in seinen Werken über seine Sammlungsbesichtigungen, die er bei allen großen Humanisten und Samm- lern Lüttichs, wie etwa Lambert Lombard oder Laevinus Torrentius, absolviert. Oranus-Pokal, Silber, Punze des Goldschmiedemeis- ters GH oder HG, Lüttich, 1564 © Stadt Lüttich - 26 -
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