Georges-Henri Pingusson und der Bau der Französischen Botschaft in Saarbrücken
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Georges-Henri Pingusson und der Bau der Französischen Botschaft in Saarbrücken Kunstlexikon Saar Architektur und Raum
www.kunstlexikon-saar.de Ersten Weltkrieg, als die Wirtschafts region um den Mittellauf des ist ein Forschungsprojekt des Instituts Saarflusses aus dem Verbund des für aktuelle Kunst im Saarland an der Deutschen Reiches h erausgelöst Hochschule der Bildenden Künste und durch den Völkerbund ver- Saar, das im November 2006 online waltet wurde. Im Spannungsfeld geschaltet wurde. Die Stichwort- z wischen Frankreich und Deutsch- Artikel fassen auf aktuellem Stand Er- land entwickelte sich in den engen gebnisse wissenschaftlicher Forschung Grenzen des Saargebietes (1920-35) zu den verschiedenen Bereichen der eine selbstständige Kunst- und Bildenden Kunst im Saarland zusam- Kulturpflege, deren Fortführung durch men. Sie verstehen sich als Bausteine, die erneute Abtrennung nach dem mit deren wachsender Anzahl das Bild Zweiten Weltkrieg (1945/47-1957/59) der Kunstgeschichte des Saarlandes befördert wurde. Im heutigen schärfer und präziser werden wird. Bundesland Saarland bleibt diese Entwicklung spürbar und gehört zu Ausgehend von den Themenbereichen, den wesentlichen Merkmalen, die das die zu den Arbeitsschwerpunkten Land ebenso innerhalb der Bundes- des 1993 gegründeten Instituts republik Deutschland kennzeichnen gehören, werden sowohl bereits in wie innerhalb der europäischen Druckform publizierte als auch bisher Großregion Saar-Lor-Lux-Rheinland- unveröffentlichte Arbeitsresultate Pfalz-Wallonie-Französische und sowie neue Ergebnisse für das Deutschsprachige Gemeinschaft Medium des Internet-Lexikons Belgiens. aufbereitet und sukzessiv eingespeist. Inzwischen werden neben der Kunst Aus Inhalten der Internetseite der Gegenwart zunehmend auch www.kunstlexikon-saar.de wiederum Architektur, Design und die Kunst vor generiert sich die Publikationsreihe 1945 zum Gegenstand der Forschung. „Architektur und Raum“. In loser Desgleichen werden die größeren Folge werden Beispiele regionaler Kulturräume in die Betrachtung Architektur und Stadtbaukunst miteinbezogen und Wechselwirkun- vorgestellt, die als besonders aussage- gen zu den benachbarten Regionen kräftig für das Werden und Wachsen berücksichtigt. der Kulturlandschaft an der Saar angesehen werden. Das Kunstlexikon Saar trägt der Besonderheit der kulturellen Entwick- Anlass für das Erscheinen der Publika- lung des Saarlandes Rechnung. tion „Georges-Henri Pingusson und Die Herausbildung des Saarlandes der Bau der Französischen Botschaft als eigenständige politische und in Saarbrücken“ ist die bevorstehende kulturelle Einheit begann nach dem Sanierung des Gebäudes.
Marlen Dittmann Dietmar Kolling Georges-Henri Pingusson und der Bau der Französischen Botschaft in Saarbrücken Kunstlexikon Saar Architektur und Raum
Vorwort Vor wenigen Jahren noch, Es wurde zu Recht schon anlässlich der 50-Jahr-Feier der 1985 unter Schutz gestellt, ehemaligen Französischen Bot- da an der „Erhaltung ein schaft in Saarbrücken, wurde öffentliches Interesse aus in Festvorträgen und mit einer geschichtlichen, künstleri- Ausstellung die Bedeutung schen, wirtschaftlichen und des Gebäudes gewürdigt, das insbesondere städtebaulichen der französische „Urbanist“, Gründen besteht. Der Denk- Architekt und Städtebauer malschutz erstreckt sich auf Georges-Henri Pingusson im die Anlage als Ganzes, die Auftrag des französischen Gebäude, die Ausstattung Botschafters Gilbert Grandval (Einrichtung aus der Erbau- mit Unterstützung der beiden ungszeit) und die Umgebung“ deutschen Architekten (Schreiben des Konserva- Bernhard Schultheis und Hans toramtes an den M inister für Bert Baur von 1951 bis 1954 Kultus, Bildung und Wissen- errichtete. Stolz und nach- schaft vom 23. Juli 1985). denklich zugleich, erinnerte man sich an eine Zeit, da das Der Deutsche Werkbund Saar- Saarland als europäisches land ist sich bewusst, dass der Experiment angesehen wurde, Denkmalstatus des Pingusson- dessen einziges materialisier- Baus die notwendige Sanie- tes Dokument das „schmale rung schwierig und teuer Handtuch“ ist, seit 1960 Sitz macht. Doch es gibt gerade des Kultusministeriums, heute in der Kultur Aufgaben, deren des Bildungsministeriums. Erfüllung auch in wirtschaftlich Das war vor sieben Jahren, schwierigen Zeiten geschehen jetzt ist die Zukunft des muss. In diesem Fall bedeutet Hauses akut gefährdet. Eine das eine behutsame, die Archi- Betonsanierung steht an, eine tektur im Ganzen wie in den energetische Nachrüstung Details sorgfältig beachtende ist dringend, zeitgemäße Sanierung. Möglicherweise Büroräume werden von den können dabei nicht alle gesetz- Mitarbeitern erwartet. Der lichen Auflagen eingehalten dafür notwendige finanzielle werden. Ein Denkmal sollte Aufwand scheint vielen Ver- Ausnahmen erlauben. antwortlichen, Politikern und Bürgern unangemessen hoch. Mit dieser Publikation mischen wir uns nicht ein in die Sanie- Der Deutsche Werkbund rungsdiskussion, weisen aber Saarland fordert entschieden auf die historische Bedeutung den Erhalt des Hauses als ein des Hauses hin. Wir erinnern Denkmal der Geschichte und an Pingussons Planung für als ein hochrangiges Baudenk- Saarbrücken und hoffen, mal. Ein vergleichbares gibt es damit das Bewusstsein für den im Saarland nicht. Rang des Hauses zu vertiefen.
L‘Ambassade de France Wir schreiben das Jahr 1951. Grandval hatte zuvor schon den Marlen Dittmann Die politische Struktur des Architekten Georges-Henri Saargebietes ist ein Provi Pingusson (1894-1978) mit sorium, die Zukunft noch dem Bau einer Botschaft ungewiss, wirtschaftlich beauftragt. Pingusson zählte ist das Land mit Frankreich zur Elite der französischen verbunden. Mit den Saar Architekten, war ein Freund konventionen wurde 1950 die und Geistesverwandter Autonomie anerkannt. Die Le Corbusiers, Gründungs- Saarfrage soll endgültig im mitglied der Union d`Artiste Zuge einer Europäisierung des Moderne (UAM) und des Landes gelöst werden. Vorerst Congrès International ist das Land assoziiertes Mit- d`Architecture Moderne glied im Europarat, bemüht (CIAM) sowie Hochschullehrer sich um die Vollmitgliedschaft an der Pariser École des Beaux sowie die Aufnahme in die Arts 1. Die städtebauliche Pla- Montanunion, deren Haupt- nung für Saarbrücken konnte stadt Saarbrücken werden Pingusson nicht umsetzen könnte. Bis 1955 wird man und so war er 1949 resigniert für einen künftigen Haupt- nach Paris zurückgekehrt. stadtsitz planen und einen Gleichwohl sah er im Auftrag, internationalen Architekten- eine Botschaft zu bauen, wettbewerb „Montanhaupt- den Auftakt zur Realisierung stadt Saarbrücken“ durch- seiner Pläne. „La construction führen. Diese Aufgabe wird de l`Ambassade de France hinfällig, als die Saarländer à Sarrebruck constitue une sich 1955 gegen das im Jahr étape dans la réalisation du zuvor zwischen Frankreich und plan d`urbanisme.“ 2 der Bundesrepublik ausgehan- delte Saarstatut aussprechen. Gleichzeitig symbolisierte die In der Folge wird das Saarland Botschaft in seinen Augen ein elftes Bundesland. Zeichen des Friedens zwischen den Völkern, vor allem aber Eine wichtige Rolle bei allen repräsentierte sie die „Grande Entscheidungen spielt der Nation“ und deren Kultur. Als Vertreter Frankreichs, der Hohe Pingusson 1965 den Grand Kommissar Gilbert Grandval, Prix d`Architecture erhielt, dessen „Haut Commissariat“ äußerte es sich auch zur Bot- 1951 in die „Mission Diplo- schaft: „Ce que j`ai recherché matique Française en Sarre“ dans le plan de l`Ambassade, umgewandelt wird. cette pierre française à la Sarre, S. 4 Ehrenhof und Haupteingang S. 9 Rohbau Bauphase 1952-1954 S. 6/7 Südfassade S. 10/11 Ansicht von Süden 8
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c`était le sentiment de cet Das Stadtbild prägt vor allem räumlich zu trennende funk- ordre tranquille, de force sans die lange Scheibe des Verwal- tionale Aspekte zu berück- contrainte qu‘ apportait notre tungstraktes, im Volksmund sichtigen: den öffentlichen présence, par le rhythme des „schmales Handtuch“ oder und für die Öffentlichkeit facades, comme par la disposi- „Schokoladenstückchen“ zugängigen Verwaltungs- tion du plan …” 3 genannt. Die weiteren Bauteile teil, den halböffentlichen treten kaum in Erscheinung Gesellschafts- und Repräsen- Nach schwierigen Grundstücks- und sind daher fast unbekannt. tationsteil und die privaten verhandlungen mit 50 Eigen Das dürfte in den 1950er Wohnräume des Botschafters. tümern hatte das Saarland ein Jahren noch anders gewesen Über Jahrhunderte hinweg Gelände zwischen Saar und sein, als hier die Staatsgäste befanden sie sich unter einem Alt-Saarbrücken erworben, empfangen wurden. Damals Dach, erst in neueren Resi- begrenzt von der damaligen stand die Botschaft als ein denzen wird zum größeren Saaruferstraße, der Hohen Zeichen des Aufbruchs in Schutz der Privatsphäre auf zollern-, Kepler- und der einem noch wüsten, kriegs- die Wohnung verzichtet, wie Roonstraße. An diesem mit zerstörten Gelände. Damals es z.B. die Botschaftsbauten Bedacht gewählten Ort sollte versperrte noch keine Stadt in Berlin deutlich machen. die Botschaft den perspekti autobahn den direkten Zugang Pingusson nun musste alle vischen Abschluss eines auf an der Saaruferstrasse. Auch drei Ansprüche noch zu der Hafeninsel geplanten keine Westspange bedrängte, einem stimmigen Gesamt- Platzes bilden. Hier errich- keine Reklame verunstaltete gefüge vereinen. Pingusson tete Pingusson von 1951 bis die Stirnseite des Hauses, sie zur Seite gestellt wurden die 1954 die „Ambassade de konnte sich mit ihren schmalen beiden deutschen Architekten France“, die Französische Dimensionen und der raffinier- Bernhard Schultheis und Hans Botschaft, seit 1960 Heim- ten Detaillierung ins Gedächt- Bert Baur, die die örtliche statt des Kultusministeriums, nis graben. Auf der Südseite Bauleitung übernahmen. jetzt des Bildungsministe- breitete sich der parkähnliche, riums. Sie verkörpert bis große Garten aus, eine Pergola Nach mehreren Vorentwürfen heute eine wichtige Etappe führte auf den Eingang des entstand der Realisierungsplan der Nachkriegsgeschichte Verwaltungstraktes in der 1951 mit der charakteristi- des Landes und steht seit Roonstraße zu. Der für eine schen funktionalen und forma- 1985 unter Denkmalschutz. Botschaft in einem kleinen Land len Trennung von Residenz im Bisher konnten damit alle eigentlich überdimensionierte Flachbau und Verwaltungsbau den Bau beeinträchtigenden Bau lässt sich nur mit der im Hochhaus. In der Baube- schwerwiegenden Maß zunächst nicht ganz unrealisti- schreibung vom 21. Januar nahmen verhindert werden. schen Vorstellung erklären, in 1951 gliedern die Architekten Saarbrücken Europäische Insti- die Botschaft in zwei Blöcke: Weithin sichtbar am Ufer der tutionen ansiedeln zu können. die eigentliche Botschaft, zu Saar erhebt sich seit nun- der sie die Repräsentations- mehr sechs Jahrzehnten das Beim Bau einer Botschaft sind und Büroräume des Botschaf- bemerkenswerte Bauensemble. immer unterschiedliche, auch ters und die dazugehörenden Ansicht von Süden mit Eingang zum Verwaltungsblock 12
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Fotodokumentation des Neubaus in „Natur und Technik. Zeitschrift für Kunst, Naturwissenschaft, Technik“, 1955 Grundriss des 1. Obergeschosses 15
Wirtschafts- und Diensträume Bevor wir das Botschafts zählen, wie auch den privaten ensemble im Einzelnen Das Botschaftsensemble Bereich, die Wohnung Grand- betrachten, noch ein k urzer vals. 4 Der zweite Block umfasst Rückblick. Pingussons be- die Verwaltung mit 180 Büros, rühmtester Bau, das Hôtel Die Botschaft nun erstreckt den dazu gehörenden Neben- Latitude 43 in Saint Tropez sich über die gesamte räumen und Erschließungen. (1931) ist ebenfalls aus unter- Grundstückslänge in Ost- schiedlich hohen Baukörpern Westrichtung mit dem präg Das Büro des Botschafters zusammen gefügt, darunter nanten Abschluss des fast fungiert als Bindeglied auch einer Hochhausscheibe. 100 m langen, aber nur 8 m zwischen den beiden Blöcken, Der mittige Treppenturm ver- breiten Verwaltungstraktes, die damit eine organische leiht ihr plastische Prägnanz. der in einen nur wenig Einheit bilden, ohne ihre breiteren „Kopf“ mündet. Eigenständigkeit zu verlieren. In der Publikation „Die Saar. Dieser erschließt sämtliche „C`est autour de la personne Städtebau“, erschienen Etagen und bündelt Treppen, même de l`Ambassadeur et bereits 1946, ist die Skizze Fahrstühle und Serviceeinrich- de son poste de travail que für ein „großes Hotel für tungen. Pingusson weicht also s`ordonne la composition des Saarbrücken“ abgebildet, ein von seiner Idee der vor die divers éléments depuis les auf Stützen stehender Bau Fassaden gestellten Treppen- locaux de caractère public mit flachem Dach, betonten türme ab. Eine Begründung et officiel jusqu`à ceux de Erschließungstürmen, einer ist weder in den Archivalien caractère privé.” Schon in der herausgehobenen Eingangs noch der Literatur zu finden. Baubeschreibung erläutern die situation und Geschosshöhen, So muss spekuliert werden: Architekten das „système de die zwei Ebenen einnehmen. Vorgelagerte Treppentürme travées“, das „Jochsystem“ bedingen eine Erschließung der Büroetagen, das 1,20 m Auch der Vorschlag für ein von der Saaruferstraße. Ein breit, je nach Bedarf Räume Verwaltungsgebäude von Eingang hier wäre jedoch eine unterschiedlicher Größe er- 1948 zeigt eine auf Piloti ge- Konkurrenz zum repräsenta laubt. Die Wahl des Baumate- stellte lange R echteckscheibe, tiven Haupteingang im rials – Stahlbeton oder Stahl mit untergeschobener Ein- Ehrenhof und dürfte die – machten sie abhängig von gangshalle und rhythmisiert gewünschte funktionale der billigeren Konstruktion, von Treppentürmen. Bei all Trennung nicht mehr zulassen. vorgesehen waren selbstver- diesen Bauten wird das Über- Eine unliebsame Konsequenz ständlich Zentralheizung und einanderlagern der Geschosse der gewählten Kopfbauer- Klimaanlage. durch eine streng horizontale schließung sind lange Wege Als Resumé heißt es: „Pour Ausrichtung betont, Fenster für die Mitarbeiter. l`équipement de l`édifice, bänder und auskragende Ein eingeschossiges, zwei il a été fait appel à tous les Balkone oder Laubengänge seitig verglastes Entree schiebt moyens de la technique unterstreichen diese Tendenz, sich in den Garten, setzte sich moderne, en particulier pour le während die vorgestellten früher in einer Pergola fort. demeure de l`Ambassadeur qui Treppentürme sie wieder Sie wies den Besuchern den doit comporter un aménage- durchbrechen und für ein Weg und trennte Garten und ment digne et correspondant à harmonisches Gleichgewicht anschließende Parkplätze an son but representative”. 5 sorgen. der Roonstraße. 16
1962 wurde die transparente Wand durch eine von Karl- Heinz Grünewald kunstvoll gestaltete Betonverglasung ersetzt, auch sie ist heute entfernt. 6 Damals fiel der Blick ungehindert aus dem Entree in den weitläufigen Garten. Der Betrachter entdeckte die ebenerdige offene Pfeiler- halle aus zwei Reihen eng nebeneinander stehender, sich nach unten verjüngender Stützen, sogenannten Pilotis. Sie heben den Bau vom Boden ab, Straßenraum und Garten fließen ineinander und die Blicke können ungehindert schweifen. Die Öffentlichkeit der Verwaltung korrespondiert auf der Erdgeschossebene mit einer Durchlässigkeit des Baus, während der „Kopf“ ihn fest im Boden verankert. Rechtwinklig an diese lange Scheibe schließt, weit in den Garten vorgeschoben, die Dreiflügelanlage des Reprä- sentationstraktes an und umfängt einen „Ehrenhof“, der sich in die Saaruferstraße als Besucher Ein- und Vor- Modell aus der Bauzeit, Ansicht von Süd-Osten fahrt öffnet. Die Mitte, das Modell, angefertigt von Studierenden der HTW Saarbrücken im Rahmen einer Corps-de-Logis, nimmt die Projektwoche 2007 mit dem Titel „Vision d‘une Ville“, Ansicht von Nord-Osten Gesellschaftsräume auf, der westliche Flügel den Arbeits- bereich des Botschafters, der östliche Wirtschaftsräume. Mit dem erneuten Wechsel der Funktionen differenziert auch die Baufigur zum letzten Mal. In L-Form beenden die Wohn- räume des Botschafters den Gesamtkomplex im Osten. 17
Auf der Südseite entstand ein Baubeschreibung, das sich sind es Elemente aus hoch- geschützter privater Garten- aus Stützen und Längsträ- rechteckigen Fensteröffnun- bereich, auf der Nordseite war gern zusammensetzt. Sie gen und niedrigen quadra- Platz für einen Wirtschaftshof, bestimmen das Fassadenbild tischen Brüstungen, etwa über den die Wohnung von sowohl der Nord- wie der im Verhältnis eins zu zwei der Keplerstraße aus betreten Südseite und charakterisieren geteilt. Auf der Nordseite wurde. Drei eigenständige sieben Bürogeschosse mit ist das Verhältnis ein ande- Eingänge ermöglichten somit einem streng rechtwinkligen res, ein betont dreigeteiltes, eine konsequente Trennung Raster aus h orizontalen und nämlich: Brüstung – Fenster – der Besucher und entsprechen vertikalen Linien, die wie Brüstung, wobei sich untere der Dreiteilung der Aufgabe. ein Kunstwerk von einem und obere Brüstung über Analog zu diesen verschiede- umlaufenden breiten Wand- die Etagen hinweg zu einem nen Funktionen konstruierte streifen gerahmt werden. Mit langrechteckigen Feld zu- Pingusson auch den Bau kostbaren Muschelkalkplat- sammenschließen. In dieser in unterschiedlicher Weise. ten verkleidet, fängt er das Teilung steckt ein Überbleib- Verwaltungsbau, Botschaf- Stakkato der Stützen auf, das sel der ersten Pläne, in denen terflügel und Corps de Logis sich wie ein Netz als äußerste Pingusson zweigeschossige mit den Gesellschaftsräumen Wandschicht über die Fassade Büroräume vorschlug. Sie sind als Stahlbetonbau bzw. spannt und dieser ein betont sollten sich mit einer Empore als Stahlbetonskelett errichtet, senkrechtes Profil verleiht. Im in den langen, notwendiger der Wirtschaftsflügel und Gegensatz zu Pingussons frü- weise schmalen Korridor die Wohnung als Massivbau. heren Entwürfen tritt hier die schieben und hätten nicht Konsequent entwickelte er horizontale Konstruktion in den nur Licht von zwei Seiten be aus der Konstruktion auch die Hintergrund und bleibt den- kommen, sondern auch den äußere Gestalt. Das Sichtbar- noch wirksam. Denn Gesims- Blick auf die Saar erlaubt. machen der Konstruktion war bänder und Brüstungsfelder ein herausragendes Merkmal unter den Fenstern verbinden Dieses Prinzip hatte er erfolg- der modernen Architektur, sich im Auge des Betrachters reich im Hotel Latitude 43 bevor sich der „curtain wall“, zu einer breiten durchgehen- erprobt. Dass nur der lange die Vorhangfassade durch- den Linie. Schließlich entfaltet Flur übrig blieb, haben die setzte, die die Konstruktion sich in der perspektivischen beiden hiesigen Architekten nun wieder versteckte. Ansicht eine wahre Dynamik, zu verantworten, die den wenn diese scheinbar als Pingusson-Plan vereinfachten, flache Ebene komponierte aber sicher nicht verbesserten. Wand sich im immer engeren „Die Abschirmung der Büro- Der Verwaltungsblock Takt verdichtet. Die Lebendig- räume zur Saar machen einen keit der Fassade verstärkten der Kompromisse deutlich, die zusätzlich noch individuell Pingusson bei der Realisierung Das Stahlbetonskelett des zu öffnende, horizontal zu eingehen musste.“ 7 Baur und Verwaltungsbaus gewann kippende Fenster. Sie wurden Schultheis begründen ihren Pingusson aus aneinander um 1985 ersetzt. Eingriff so: „Die Flurfenster gereihten vorfabrizierten Auch die scheinbar gleichen gegen die Saar hin sind ihrem 1,20 m breiten Moduli, Brüstungsfelder variieren. Auf Zweck entsprechend be- dem „Jochsystem“ der der Gartenseite im Süden wusst klein gehalten, wobei 18
Hall d‘honneur die große Wandfläche durch entschieden zwischen Erschlie- zu unterstützen, nutzt er als Betonung der Pfeilergliederun- ßung und Arbeitsräumen, nicht gestalterisches Moment. Er teilt gen und farbige Behandlung nur in der Anlage des Grundris- die Fläche nach einem an den der Fensterbrüstungen inner- ses, sondern auch in der ästhe- Muschelkalkplatten abzule- halb eines wohltuenden Rah- tischen Aussage der Fassaden. senden Zahlenverhältnis 2:3:5, mens einen reizvollen Kontrast Dieses Prinzip zeigt sich im ge- ein Zahlenverhältnis, das in der bilden.“ 8 Die Folge aber war, samten Komplex der Botschaft, Architektur seit der Antike als dass trotz der variablen Breite hier im Verwaltungstrakt in der ein besonders ausgewogenes und der Ausrichtung nach unterschiedlichen Behandlung harmonisches Verhältnis gilt. Süden, nur schlecht beleuch- der Süd- und der Nordseite Der zwei Platten breite Streifen tete Büroräume entstanden, sowie des Baukörperkopfes, gehört zum Rahmen wie zum die heute zudem mangelhaft der mit breiter, weitgehend Kopf und vermittelt zwischen isoliert sind, aber damals dem geschlossener Wandfläche offener Fensterfront und ge- Stand der Technik entsprachen. die Fassadenlänge eindeu- schlossener Wand. Pingusson war zwar ein tig begrenzt. Ein Prinzip der Drei Platten breit zeigt sich die Verfechter des funktionalen klassischen Baukunst, damals senkrechte Reihe aus jeweils Bauens, lehnte jeglichen Dog- notwendig, um die Festigkeit zur Vierergruppe zusammen matismus aber ab. Er trennte der Statik durch Mauerwerk gefasster kleiner Rundfenster. 19
Den Abschluss mit einer Dachterrasse hatte Pingusson bereits im Hotel Latitude 43 erprobt – wie dieses Motiv viele Architekten der Moderne nutzten, häufig allerdings nur bei Einfamilienhäusern. Einen Bau vergleichbarer Länge errichtete damals auch Le Corbusier, der wenige Jahre zuvor die Maison d`Habitation in Marseille mit einem Dachgarten ausstattete. In der Botschaft betrat man das Dach über das Mitarbeiter- Casino im 7. Obergeschoss; es soll bei schönem Wetter auch eifrig besucht worden sein. Allerdings halten Schönwet- terperioden in Saarbrücken im Gegensatz zu Marseille nicht lange und die Bedeutung der Dachterrasse als Erholungs- und Feierraum ging verloren. Auch das Casino, Speise- und Ruhe- und Lesezimmer der Mitarbeiter, wurde funkti- Petit salon d‘accueil onslos und zu Büroräumen umgenutzt und die künstleri- Sie perforieren die Wand und Rundfenster, die sorgfältig in sche Ausgestaltung entfernt, markieren die Mittelachse, die Plattenstruktur eingebun- teilweise auch zerstört. während die fünf Platten den sind. Die Stirnwand schmückte ur- breite zweite Wandhälfte sprünglich ein Wandrelief von geschlossen bleibt. Auch In der traditionellen Architek Boris Kleint. Die plastischen die Stirnseite proportioniert tur bildete das Dach mit Farbformen setzten sich als Pingusson nach einem Zah- seinen verschiedensten farbige Flächen auf drei Glas- lenrhythmus. Ein Drittel der Formen den krönenden Ge- elementen fort, die mit Hilfe Fassadenbreite beherrscht ein bäudeabschluss. Hier tritt an eines Trägersystems zu einem weit vorstehendes Fenster- seine Stelle die Dachterrasse. transparenten R aumteiler band aus Glasbausteinen, Die umlaufende gedeckte verbunden waren. 9 das vom Boden bis zum Pergola hoch oben erscheint Dach aufsteigt. Die seitlichen in der Ansicht als Flugdach. Obwohl im Kern nur eine Wandabschnitte unterbre- Sie begrenzt den Bau eindeu- standardisierte monotone chen wieder das Motiv der tig gegen den Himmel. Anhäufung von Arbeitszellen, 20
wird der Verwaltungstrakt durch seine ungewöhnlichen Proportionen, durch Pilotis und Dachterrasse, die über das tatsächliche Bauvolumen hin- wegtäuschen und es leichter erscheinen lassen, durch die raffinierte Detaillierung und verhaltene Dynamik seiner Fassaden zu einem p oetischen Signal der Baukunst. Der Repräsentationsblock Die im Gesamtensemble her- ausragende Rolle des Reprä- sentationstraktes wird nach Außen durch die Bauanlage betont: einem „Ehrenhof“ im Norden und einer großzügi- gen Gartentreppe im Süden. Sie begleitet den Corps-de- Logis in ganzer L änge und verbindet die Innenräume mit dem parkartigen Garten. Petit salon d‘accueil Erneut arbeitet der Archi- tekt mit einem bewährten seitlich begleitet von schma- moderner Architekten, den traditionellen System, das sich leren Feldern. So entsteht Zusammenhang von Innen- in der klassischen französi- ein geradezu leichtfüßiger und Außenraum zu verdeut- schen wie auch der deutschen Rhythmus, wie ein Walzertakt lichen. Die gläserne Wand als Schlossarchitektur immer aus: eins, zwei, drei oder: Kristallisation zweier Räume wieder findet, dem Pingusson breit – schmal – schmal. Die haben Bauhausarchitekten und aber mit den Mitteln der untergeordnete horizontale insbesondere Mies van der modernen Architektur ein Linienführung in der Wand Rohe oder Le Corbusier vor- zeitgemäßes Gesicht verleiht. deuten nur ein durchlau- bildlich gelöst, Pingusson steht Filigrane Stützen unterbre- fender schmaler Steg über dem nicht nach. Der westliche chen die ganz in Glas auf- den Türen sowie das leicht Teil dieser Gartenfassade nun gelöste Wand und gliedern auskragende Dachgesims an. scheint wieder fest gefügter, sie in einzelne Elemente. Sonnensegel unterstreichen dem Arbeitszimmer des Deren jeweilige Mitte öffnen den beschwingten Charakter. Botschafters gemäßer, das sich zweiflügelige Terrassentüren, Immer wieder galt das Streben dahinter befindet. 21
Einzig ein großes quadrati- Der Besucher betrat die Bot- sches Fenster mit weit auskra- schaft durch den Eingang in genden Gewänden beherrscht der Mitte des Corps-de-Logis, die weiß verputzte Wand. einen fragilen Windfang aus Glas, über den ein weit Als ein ebenfalls klassisches auskragendes, schützendes Architekturelement präsen- Dach zu schweben scheint, tiert sich die Anlage eines das tatsächlich jedoch von „Ehrenhofs“, dessen Fassa- zwei Säulen, hier allerdings den der jeweiligen Funktion ohne Basis und Kapitell, getra- entsprechend gegliedert sind. gen wird und als zeitgemäße Die Sockelzone des westlichen Variante eines Eingangstores Flügels schmückt ein Sgraffito angesehen werden kann. von Otto Lackenmacher und Die transparente Über- Peter Guggenbühler, darüber gangszone von außen nach sind in zwei Etagen dreiteilige innen führt in eine elegante Fensterelemente aneinander- zweigeschossige Vorhalle, gereiht und werden wie im die die gesamte Länge des Verwaltungstrakt von einem Corps-de-Logis einnimmt, rahmenden Band zusam- und stößt im Eingangsge- mengefasst. Auf der großen schoss zunächst auf eine Wandfläche des gegenüber- geschlossene, mit Marmor liegenden Flügels wiederholt verkleidete Wand – dahinter sich das bekannte Motiv der verbergen sich G arderoben perforierenden Rundfenster. und Toilettenräume. Diese dient gleichzeitig als hoher Die Hauptrolle jedoch spielt massiver, durch Lisenen die transparente Fassade des gegliederter Sockel, über Corps-de-Logis. Schlanke denen sich eine Säulenreihe Stützen führen hoch hinauf bis mit dazwischen geschobe- zu einem schmalen horizon- nem Geländer erhebt. Sie talen Wandstreifen unter dem begrenzen die „Ehrengalerie“ auskragenden Dachgebälk im Obergeschoss, das auf der und geben den Teilungsrhyth- Ebene des Gartens liegt, und mus der Glaswand vor. Als öffnen und schließen diese moderne Interpretation einer Empfangszone. Dem engen Kolossalordnung, erinnert sei Raster der Stützen in der an die Louvre-Kolonnaden von transparenten Außenwand Perrault, symbolisiert sie die der Vorhalle antworten weit politische Bedeutung einer Bot- auseinander stehende Säulen schaft, die Kultur und Macht als gefühlter, jedoch keines- des Heimatlandes nicht mehr wegs trennender, da durch- demonstrativ, dennoch aber lässiger Abschluss. In diese Raumteiler und Wandgestaltung verschleiert zur Schau stellt. über zwei Ebenen fließende von Boris Kleint im Casino 22
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Raumeinheit schiebt sich als grandioser Auftakt eine raumbreite Treppe mit weißen Marmorstufen, beidseitig begleitet von einem massiven Geländer aus dem Wand- material. Ein umlaufendes Band aus farbig abgesetztem Marmor fasst die Wangen ein. Den Handlauf formen schlich- te eng nebeneinander stehen- de Baluster. Dieses Motiv setzt sich im Geländer der Galerie fort. Wieder nutzt Pingusson ein traditionelles Architektur- motiv, übersetzt in die klare Sprache der Moderne. Von oben können Ankommende gesehen werden, wenn sie hinauf schreiten in zunehmen- de Weite und immer stärkere und intensivere Lichterfülle. Jetzt entdeckt der Besucher auch eine zweite parallele Säulenreihe, die Galerie über- nimmt die Rolle eines Foyers oder Wandelganges vor den Repräsentationsräumen. In einer Enfilade folgen auf einander: der langgestreckte Speisesaal im Osten, der mittlere, größte Saal und im Westen der Salon mit einer kleinen, in einer Klappwand versteckten Bühne. Klappwände trennen die einzelnen Räume voneinan- der, so dass sie sich zu einem einzigen großen Festsaal vereinen lassen. Arbeitszimmer des Botschafters aktueller Zustand 24
Ebenfalls fügen sich Wand elemente zu einer beweg- lichen Längswand, die, zusammengeschoben, eine geschlossene, auch optische Grenze bilden. Aber geöffnet fällt der Blick auf die trans- parente Außenwand und weiter hinaus in den Garten, die Wirkung von Weite und Lichterfülle steigernd. Sind schließlich auch noch die Querwände zusammen geklappt, steht der Besucher in einem lichtdurchfluteten Raumkontinuum von höchster Flexibilität und beeindrucken- der Transparenz, das in seiner Abfolge von Vorhalle, Ehren- galerie und Empfangsräumen protokollgerecht genutzt wer- den konnte. Dieser Eindruck bietet sich uns Heutigen. Die Differenzierung der Räume lässt sich auch an Details ablesen, etwa dem Wechsel im Fußbodenbelag: Marmorplatten mit einem sparsam verteilten Muster aus kleinen Dreiecken gehen über in dunkles, in diagonalem Schachbrettmuster verlegtes Parkett. Eine raffinierte, von Pingusson für diesen Bau entwickelte künstliche Deckenbeleuch- tung verstärkt den vornehm- eleganten, großzügigen Raumeindruck. Wanddgliederung im Foyer 25
Große runde Deckenleuchten, auch den Raumeindruck. Die von kleinen Rundstrahlern wie Ausstattung ging verloren, Satelliten umgeben, beto- aber das Farbkonzept wird be- nen die Längsrichtung von schrieben: „braune Fell- und Vorhalle und Ehrengalerie, graue Wollteppiche, senfgelbe während in den Gesellschafts- Lehnsessel, einen Couch- räumen eine Leucht- und tisch aus Birnbaumholz mit Akustikdecke überrascht. Das teilweise grauer Lackierung, Stakkato herabhängender sowie graue Sessel mit bunten Platten aus einem schalldäm- Kissen dekoriert.“ 10 menden Material rhythmisiert die Raumrichtung. Auf die Aus der Ebene der Gesell- Stützen in der Fensterwand schaftsräume führt die Treppe werfen die gebündelten Stäbe in einem zweiten kürzeren der Wandlampen ihr Licht. Lauf hinauf in den Botschaf- terflügel. Hier glänzte das Ar- Die Stirnwände der Vorhalle beitszimmer des Botschafters schmücken kostbare Wand mit wertvoller Ausgestaltung, tapisserien von François Arnal. entworfen von dem Pariser Mit der Inneneinrichtung Künstler Raphael: die Wände wurde nicht Pingusson, der verkleidet mit Marmorplatten diese Aufgabe gerne über- und honigfarbenem Lack- nommen hätte, sondern sein furnier, ein Schreibtisch aus UAM-Freund Jacques Dumand Buchenholz und ein dazu von Grandval beauftragt. Sie passendes Sideboard, ein verkörpert trotz einer formal Besprechungstisch mit Alumi- sachlichen Formensprache den niumgestell und Glasplatte. Luxus französischer Innen- Einiges davon ist erhalten. raumgestaltung. Auf dicken Teppichen sind einzelne Die Enfilade der Repräsenta- Sitzgruppen im Raum verteilt. tionsräume setzt sich fort mit Jedes der unterschiedlich den privaten Gesellschafts- gestalteten Sitzmöbel, jeder räumen des Botschafters, Tisch oder die Bar sind ein nachdem zunächst eine Unikat und noch handwerk- kleine Halle beide Bereiche lich hergestellt, während voneinander trennt. Auf das der von der französischen ganz in Holz ausgekleide- wie deutschen Avantgarde te Speisezimmer folgt der durchgesetzte Trend bereits Salon, erst danach beginnt zu industriell, in Serie fabrizier- die eigentliche Privatsphäre. ten Möbeln gegangen war. Eine hölzerne Treppe mit Vor der Fensterwand hingen schmiedeeisernem Geländer Vorhänge und verhinderten führt hinauf in die obere den Einblick aber veränderten Etage mit dem Rauchsalon, 26
Eingang zum Verwaltungsgebäude, Fenster von Karl Heinz Grünewald, 1962 Hall d‘honneur, Wandteppich von François Arnal, 1954 27
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dem privaten Arbeitszimmer Anmerkungen des Botschafters und den 1 s . Marlen Dittmann: www.kuenst- Schlafräumen. lerlexikon-saar.de/Pingusson In die kostbar mit Leder 2V gl. L‘Architecture d`Aujourd`hui, ausgekleideten Wände des 1953, S. 82 Arbeitszimmers sind Bücher- 3 Z itiert nach: Simon Texier: schränke und Rundfunkgeräte Georges-Henri Pingusson. eingebaut. Dieser Teil der Architecte, 1894-1978. Editions Botschaft ist heute umfunkti- Verdier, Paris 2006, S. 222 oniert zu Büroräumen, doch 4 P rojet descriptif de la construction. nach wie vor in seinem Cha- 46 IFA 30/298, Archives nationa- rakter bewahrt. les/Institut français d‘architecture, Archives d‘architecture du XXe Le Corbusier und Pingusson, siècle, Paris Zeit- und Weggefährten, 5 Zitiert nach Texier, S. 220 blieben zeitlebens einem 6 J o Enzweiler (Hg.): Kunst im öffent- funktionalen Bauen verhaftet. lichen Raum. Saarbrücken Bezirk Doch während Le Corbusier Mitte. Saarbrücken 1997, S. 183 begann, aus dem starren 7A nne Katrin Haufe-Wadle: Beton organische Formen zu Repräsentation zwischen gießen, gewann Pingusson Funktionalismus und Poesie. die Poesie seiner Bauten aus Zur Architektur der ehemaligen der künstlerischen Freiheit, „Ambassade de France“ von architektonische Zwänge zu Georges-Henri Pingusson. überspielen. Betrachtet man In: Saar-Geschichten 2006, das scheinbar so rationale Heft 2, S. 10 Gesamtgefüge des Botschafts s. a. Anne Katrin Wadle:Die ensembles genauer, entdeckt ‚Ambassade de France‘ an der Saar man überall die raffinierten von Georges-Henry Pingusson. Abweichungen von der Regel, Unveröffentlichte Magisterarbeit, die Beachtung der Angemes- Universität des Saarlandes, senheit, auch den Rückgriff Saarbrücken 1995 auf traditionelle Wurzeln und 8D er Neubau der französischen Bezüge und das meisterliche Botschaft in Saarbrücken. In: Natur Können, jeder Funktion die und Technik. Zeitschrift für Kunst, ihr gemäße Aussagekraft zu Naturwissenschaft, Technik, verleihen, um daraus ein har- Heft 4, 1955, S. 57 monisch aufeinander bezoge- 9 E nzweiler (Hg.) 1997, S. 206 nes untrennbares Ganzes, ein 10 Haufe-Wadle 2006, S. 11 Gesamtkunstwerk zu formen. Foyer des Repräsentationsblocks, Treppenaufgang 29
Die Französische Botschaft Sieben Hochhäuser sah die und der Aufbauplan von städtebauliche Planung des Georges-Henri Pingusson französischen Architekten für Saarbrücken Georges-Henri Pingusson im Bereich des Saarufers von Alt- Dietmar Kolling Saarbrücken vor, in Doppel reihe, streng in Ost-West- Richtung, mit der Hauptfassade nach Süden hin orientiert, jeweils etwa 12 Geschosse hoch. Die geplanten Hoch haus-Scheiben entsprachen der Idee der „Unité d’Habitation“ (Wohneinheit), welche etwa zur gleichen Zeit von dem Architek- ten Le Corbusier in Marseille geplant und gebaut wurde (1946-52). Pingusson und Le Corbusier waren befreundete Architekten, tauschten sich bezüglich ihrer beruflichen Auf- fassungen gegenseitig aus und nahmen beide an den „Congrès Internationaux d’Architecture Moderne“ teil. Gebaut wurde nur eines dieser Scheiben- Hochhäuser, allerdings nicht, wie ursprünglich gedacht, als Wohngebäude, sondern als „Ambassade“ für den franzö- sischen Botschafter im neuen Saarstaat, Gilbert Grandval. Geschichtlicher Hintergrund Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 und der sich anschließenden Übernahme der besatzungsgemäßen Verwaltung des Saarlandes 30
durch Frankreich, rief der einge- wirtschaftlichen Ressourcen Wie sehr das Denken über setzte französische Gouverneur des Saarlandes, Verewigung das moderne Bauen in der Gilbert Grandval zahlreiche des Bandes, welches das Saar- Avantgarde der beiden französische Architekten ins land an Frankreich knüpfte“. 1 Länder Deutschland und Saarland, um bei der Planung Frankreich noch bis Anfang des Wiederaufbaus, vor allem Grandval gründete gleich zu der 1930er Jahre verknüpft der stark zerstörten Städte Beginn seines Gouvernements war (auch Walter Gropius Saarbrücken, Neunkirchen und eine Abteilung „Wiederaufbau war seit seiner Gründung Saarlouis mitzuwirken. und Stadtplanung“ innerhalb regelmäßiger Teilnehmer der der Militärregierung und CIAM, er war ihr Vizepräsi- Hierbei stand ihm der franzö- nutzte seine Verbindungen dent von 1929-57) 3, belegen sische Designer und Metall zu Prouvé, der ihm Empfeh- zum Beispiel diese Gebäude: konstrukteur Jean Prouvé lungen für die Besetzung der das bereits 1929-32 von zur Seite, den Grandval aus zu schaffenden Stellen gab. Pingusson errichtete Hotel der Zeit des französischen Alle daraufhin angeworbenen Latitude 43 in St. Tropez oder Widerstandes, genauer aus französischen Architekten das etwa zur gleichen Zeit der Bewegung „Ceux de la kamen aus dem Umfeld Le durch Le Corbusier erbaute Résistance“ kannte. Prouvé Corbusiers, gehörten der Zentrosojus-Gebäude in hatte ihn mit den Ideen der 1929 gegründeten „Union des Moskau. modernen Architektur und Artistes Modernes“ (UAM) an des Städtebaus bekannt und hatten an den „Congrès Beide Projekte spiegeln in gemacht und Grandval Internationaux d’Architecture ihrer Erscheinung den Einfluss glaubte, mit den Mitteln des Moderne“ (CIAM) teilgenom- des avantgardistischen Bauens funktionalistischen Städtebaus men. Neben Marcel Roux, der 1920er Jahre in Deutsch- seine (erklärten!) Besatzungs- Edouard Menkès, André Sive, land (Erich Mendelsohn, Thilo ziele umsetzen zu können: Jean Mougenot, Pierre Lefèvre, Schoder) und insbesondere „Auslöschung des preußi- René Herbst u. a. war dies des Bauhauses (Walter Gropius, schen Geistes, Nutzung der Georges-Henri Pingusson. 2 Mies van der Rohe) wider. Exkurs 1 der Gesellschaft fest und betonen zu bringen mit den großen Aufgaben CIAM 1928 hierbei im einzelnen, dass sie unter der Zeit und den großen Zielen der Aus der Erklärung von Bauen eine ganz elementare Tätigkeit Gesellschaft, der sie angehören, und La Sarraz (Schweiz) des Menschen verstehen, die in ihre Werke danach zu gestalten… . Die unterzeichneten Architekten ihrem ganzen Umfang und in ihrer Sie haben deshalb beschlossen, sich stellen unter sich eine grundlegende ganzen Tiefe an der gestalterischen in Zukunft über die Grenzen ihrer Übereinstimmung ihrer Auffas- Entfaltung unseres Lebens beteiligt Länder hinaus gegenseitig in ihren sungen vom Bauen sowie ihrer ist. Die Aufgabe der Architekten ist Arbeiten zu unterstützen. 4 beruflichen Verpflichtung gegenüber es deshalb, sich in Übereinstimmung 31
(je 1200 Exemplare), eine Bro- Schwierigkeiten auf schüre mit den Resultaten der dem Weg zur Moderne französischen Planungen für das ganze Saarland.8 Teil dieser Veröffentlichungen waren sehr Der Einsatz der Architekten anschauliche Modellfotografi- und Städteplaner im Saar- en, welche die Vorschläge aus land wurde von Grandval der Vogelperspektive zeigten. genau festgelegt. Pingusson Das zugrunde liegende Modell sicherte sich den Löwenan- der Planung, das vor allem der teil mit dem Bebauungsplan Information der Bevölkerung für den Wiederaufbau von dienen sollte, wurde nicht Saarbrücken. Menkès über- etwa im Planungsamt der Stadt nahm den von Saarlouis, Saarbrücken gefertigt, sondern Lefèvre jenen des Industrie von Studenten des (von den gebiets von Neunkirchen. Franzosen) neu gegründe- Paul Colin, Union des Artistes Sive und Roux wurden beauf- ten „Centre de métiers d‘art Modernes (UAM), tragt, den Regionalplan des sarrois“ (Staatliche Schule für Ausstellungsplakat 1930 Saarlandes zu erarbeiten. 5 Kunst und Handwerk), wobei Innerhalb eines Jahres, aller- der Direktor Henry Gowa9 und dings mit einigen späteren der Leiter der Klasse Architektur Anpassungen und Änderun- Gabriel Guévrékian10 besondere gen, wurde der Aufbau-Plan Unterstützung leisteten. für Saarbrücken von Pingusson Die deutschen Kollegen im erstellt.6 Doch außer bei Otto städtischen Planungsamt Renner, Architekt, Herausgeber formierten sich aber – je länger und Redakteur der anspruchs- das Kriegsende zurücklag und vollen „Bau Zeitschrift wohnen, die politischen Verhältnisse sich arbeiten, sich erholen“ (sie er- änderten – in zunehmender schien nur in drei Ausgaben in Opposition. Vor allem Stadt- Saarbrücken), fand das planeri- baudirektor Wilhelm Feien 11 sche Resultat bei den ansässi- und Oberbaurat Karl Cartal 12 gen Fachleuten und Architekten entwickelten sich zu Wider- kaum Interesse und insbe- sachern der französischen sondere bei den deutschen Initiativen. Schnell klärten sich Fachplanern in den Behörden die Fronten: Pingusson stand wenig Anerkennung. Renner für den Städtebau von mor- veröffentlichte die Ergebnisse gen, Feien und Cartal waren in „Bau Zeitschrift“ Nr. 1 und die Beschützer des Bestandes. die Franzosen selbst in der Zeit- Pingusson sah angesichts der schrift „Urbanisme“ 7. Gleich- weitgehenden Zerstörung der zeitig erschien in deutscher Stadt die Chance, diese für die und in französischer Sprache, Aufgaben der Zukunft zu kon- allerdings in geringer Auflage ditionieren, seine Widersacher 32
reagierten auf die Herausforde- Hatte sich Pingusson bei seiner rungen überaus pragmatisch, Entwurfsarbeit in die akute Not sie erinnerten an die erst vor und die unmittelbaren existen- wenigen Jahren neu verlegten ziellen Sorgen aber auch in den Abwasserkanäle und Versor- unbändigen Wiederaufbauwillen gungsleitungen und lehnten der Bevölkerung hineingedacht? neue, abweichende Stra- Vermutlich schon. Doch der ßentrassen alleine schon aus Widerstreit zwischen den Interes- ökonomischen Gründen ab. sen und Nöten Einzelner und der Natürlich ging es dabei auch, Umsetzung eines am Gemein- wenn auch nicht ausgespro- wohl orientierten Plans für den chen, um die bis zum heutigen Aufbau einer zukunftsfähigen Tag gestellte Frage was besser Stadt war ohne die Mittel der sei: „sich beim Wiederaufbau Aufklärung (Presse) und eines der Stadt an die alte anzuleh- großzügigen materiellen Aus- Titelblatt der Zeitschrift „Urbanisme“, nen oder das nie Dagewesene, gleichs nicht lösbar. 16. Jg., Paris 1947, Nr. 115, Themen- allenfalls kühn Geträumte zu In der konkreten Praxis war heft zum Wiederaufbau an der Saar verwirklichen“. 13 – trotz gegenteiliger Beteue- rungen – die Unterstützung für die Ideen Pingussons durch die deutschen Kollegen aus den Zur Soziologie der Fachämtern eher gering. Auch Planungsentscheidungen ein gewisses Konkurrenzden- ken ist nachweisbar. An einer Aufklärung und Beteiligung der Es lag in der Natur der Sache, Bürger am Planungsgeschehen, dass die unterschiedlichen beispielsweise durch Veröffent beruflichen und gesellschaft- lichung der Pläne, bestand lichen Rollen zu unterschied seitens des städtischen Wie- lichen Positionen bzw. Ver deraufbauamtes zu Beginn des haltensmustern zwangen. Jahres 1947, nach Vorlage der Das Elend der ausgebombten ersten Pläne kein Interesse. Eine Menschen, die zu Tausenden entsprechende Anfrage des in Behelfsunterkünften (meist Stadtamtes IV A/5 beispielswei- Kellerräumen) hausten, ließen se, die Pläne und vorhandenen den unmittelbar für den Wie- Modelle über den Wiederauf- deraufbau Verantwortlichen bau der Öffentlichkeit zugäng- (Pingusson bezeichnete Cartal lich zu machen, beantwortete Titelblatt der „Bau Zeitschrift – als die „Exekutive“) kaum Zeit Oberbaurat Cartal abschlägig.14 wohnen, arbeiten, sich erholen“, zur Entwicklung eigener städte- Soweit die Saarbrücker Bürger 1. Jg., Saarbrücken 1947, Heft 1, baulicher Visionen, geschweige aber doch durch die Presse mit Beiträgen über den internationa- denn dazu die Visionen anderer zum Thema Pingusson-Pläne len modernen Städtebau und richtig zu bewerten und ent- informiert wurden, reagierten die Planungen für den Wiederaufbau sprechend einzuordnen. sie mehrheitlich ablehnend. an der Saar 33
Dies vorweg: Wie sähe Saarbrücken wohl aus, wären die Vorschläge Pingus- sons umgesetzt worden? Nun, Saarbrücken wäre heute in einigen Bereichen möglicherweise attraktiver, in jedem Fall verkehrstechnisch besser erschlossen, damit zu- kunftsfähiger. Es gäbe keine Stadtautobahn am Ufer der Saar und keine Hochhäuser auf den umliegenden Hügeln, stattdessen einige wenige Wohn-Hochhausscheiben in Tal-Lage. Die Stadt hätte mit dem Bau einer U-Bahn be- gonnen (unter der Trierer- und der Bahnhofstraße) und einen Bateau-Bus-Verkehr auf der Saar. Es gäbe ein attraktives Stadtzentrum (im Bereich des ehemaligen Kohlehafens) und viele Grün- und Parkanlagen, die Messe läge an geeigneter Stelle und das Regierungsvier- tel an einem repräsentativen, zentralen Ort, die Fußgänger- zone am St. Johanner Markt wäre schon 30 Jahre früher eingerichtet worden, die Umgehungsstraße durch das Deutschmühlental zusammen Aufbauprojekt von Georges-Henri mit der Schanzenberg-Brücke Pingusson für Saarbrücken, nach Malstatt und Burbach Skizze: neues Regierungsviertel (links), wären längst gebaut. Um geplante Wohnhochhäuser (rechts) Saarbrücken herum gäbe es einen Autobahnring in Form von Tangenten... 34
Aufbauprojekt von Georges-Henri S. 36/37: Aufbauprojekt von Pingusson für Saarbrücken, Georges-Henri Pingusson für Skizze: Nord-Süd-Achse mit Saarbrücken, Städtebauliches Modell, kreuzungsfreiem Straßenverlauf Blick von Ost nach West 35
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Hauses Zastrostraße 2 auf dem Der alltägliche Konflikt Punkt sind, in Angriffe genom- men zu werden. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, Die Auffassungen der deut- dass, wenn diese Arbeiten schen Architekten und des ohne die Genehmigung französischen Chefplaners du Gouvernement Militaire Pingusson klafften demnach ausgeführt werden, ich ... das gewaltig auseinander. Ein Bauamt verantwortlich mache Schreiben der Verwaltungs- und mir alle Konsequenzen, kommission des Saarlandes die eine derartige Initiative in für Wirtschaft und Verkehr sich birgt, vorbehalte“ 16. Der vom 21. Juli 1947 an die Abt. Wiederaufbau des Gebäudes Städtebau und Wiederaufbau stand den Neuplanungen (Reconstruction et Urbanisme) Pingussons entgegen. erzählt viel über die Art des Mit- bzw. Gegeneinanders: „Hochverehrter Herr Directeur! Ich habe die Ehre, Ihnen in Vision eines Stadtumbaus Abschrift den Bericht der Stadt nach den Prinzipien der Saarbrücken betreffend die Un- „Charta von Athen“ terbringung von 100 Familien, die sich z. Zt. in Elendsunter- künften befinden, zu unter- Pingusson, im Innersten von breiten. Die Stadt Saarbrücken seinen Ideen eines humanen schlägt vor, diese Familien Städtebaus überzeugt, hatte anstatt in Holzbaracken, in die Erwartung, dass sich die von ihr angegebenen, instand Saarbrücker Bevölkerung für zusetzenden Gebäuden seine Vorschläge begeistern noch vor Eintritt des Winters würde. Da die Kernstadt unterzubringen, wenn ihr die durch den Bombenkrieg sehr angegebenen Baustoffe sofort stark zerstört war, sah er sich zugeteilt werden könnten. legitimiert, in freier Entfaltung Die Instandsetzungen würden seiner fachlichen Fähigkeiten, auf Kosten der Gebäude die modernen Städtebautheo- eigentümer erfolgen“. 15 Doch rien ohne Rücksicht etwa auf an einem der aufgelisteten gegebene Parzellenstrukturen Gebäude war es bereits zu oder Eigentumsverhältnisse Bautätigkeiten gekommen, umzusetzen. Doch im Den- welche Pingusson zu einer ken der Menschen war für Aktennotiz für „Herrn Cartal“ Zukunftsvisionen kein Platz. veranlassten: „Es ist mir Sie hatten andere Sorgen. bekannt geworden, dass die Das wichtigste war ihnen ein Wiederaufbauarbeiten des Dach über dem Kopf sowie 38
das bisschen Besitz, das ihnen (etwas ähnliches hat beispiels- anonym verbreiteten Schrift vielleicht geblieben war, die weise im britischen Sektor wurden diese Thesen für ein kleine Parzelle mit einer Ruine, Deutschlands, nämlich in größeres Publikum erstmalig vor einer eventuellen Enteig- Hamburg mit einer sehr ähn- öffentlich gemacht. nung zu retten. Sie wollten lichen Hochhausstruktur wie das Häuschen, so wie es frü- sie Pingussons Plan vorsah, In der These Nr. 77 heißt es: her einmal ausgesehen hatte, fast problemlos funktioniert) 17, „die Schlüssel zum Städte schnell wieder aufbauen. Und sondern er wollte die Um- bau liegen in folgenden keinesfalls wollten sie in eine wandlung, die völlige Überfor- vier Funktionen: wohnen, 12-stöckige „Wohnmaschine“, mung der vorhandenen Stadt, arbeiten, sich erholen, sich wie die Wohnhochhäuser er wollte die „funktionelle“ bewegen (Verkehr)“ und in damals auch genannt wurden, Stadt. Das war nach den der These 78 heißt es weiter: ziehen, um dort zu leben. Theorien der europäischen „die Planungen werden Architektur-Avantgarde die die Struktur jedes den vier Pingussons Irrtum war es, ein Stadt, welche den Prinzipi- Schlüsselfunktionen zuge- Stadtgebiet, wenn auch ein en der „Charta von Athen“ wiesenen Viertels bestim- zerstörtes, also eine Trümmer- folgte. Diese Resolution des men, und sie werden deren landschaft, zu bewerten wie Kongresses CIAM IV – welcher entsprechende Lokalisierung unbesiedeltes Terrain, wie die 1933 an Bord der Patris II auf innerhalb des Ganzen fixie- „grüne Wiese“, wo man frei dem Weg von Marseille nach ren“. 18 Es ist die Geburt des und ohne Rücksichten hätte Athen durchgeführt wur- „funktionellen Städtebaus“, walten können. Was er wollte, de – formulierte in zahlrei- von den meisten Architekten war nicht die „Trabanten- chen Thesen städtebauliche (etwas verkürzt) als Auffor- stadt“ draußen, außerhalb der Zielsetzungen. In einer von Le derung verstanden, die vier alten, in ihrer Struktur noch Corbusier während der deut- „Schlüsselfunktionen“ stadt- bestehenden Stadtlandschaft schen Besatzungszeit in Paris räumlich zu separieren. Exkurs 2 existent gewesen. Die Überschrift der Stadtplanung – veröffentlichte. Daher Zum Begriff Charta von Athen Resolution des Kongresses von 1933 weiche sie in mehreren Punkten von Der Initiant des 1968 an der ETH habe „Die funktionelle Stadt – Fest- der Originalfassung ab. Hierzu gehöre Zürich gegründeten „CIAM-Archiv“, stellungen und Richtlinien“ gelautet. auch der Vorwurf, die Charta fordere Alfred Roth sah sich 1979 zu einer Der Begriff „Charta von Athen“ sei „eine absolute Trennung der Funkti- Klarstellung des Begriffs „Charta von eine typische Kreation von Le Corbu- onen“. Tatsächlich habe aber keine Athen“ veranlasst. Roth, selbst Mit- sier gewesen, der die Athener Reso- Absicht bestanden, diese Funktionen glied der „Internationalen Kongresse lutionen unter diesem Titel im Pariser (Wohnen, Erholen, Arbeiten, Verkehr) für neues Bauen CIAM“, stellt es Verlag Plon in französischer Sprache beim Aufbau oder Rekonstruktion von folgendermaßen dar: Der Begriff sei – allerdings bei Einbringung seiner Städten zu trennen. (Schreiben von im Jahre 1933 und auch später nicht sehr persönlichen Auffassungen über Roth an die „Bauwelt“)19 39
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