Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
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03 Vorwort Vorwort 04 Statements der Beteiligten 06 Die Ortsmitte wachküssen! Fließ setzt neue Maßstäbe in der Zur Umsetzung wurde ein besonderer Entwick- Ortskernentwicklung und zeigt, wie sich lungsweg gewählt: ein klassisches Architektur- 10 Ein neuer Weg der Projektfindung die Dorfmitte wieder beleben lässt. Wettbewerbsverfahren verbunden mit einem Dialog zwischen Gemeinde, Bevölkerung und Ar- 16 Die neue Mitte des Dorfes Im Dorfzentrum von Fließ, einer Tiroler Berg- chitekten. Zum ersten Mal konnten damit Bürger- gemeinde mit rund 3000 Einwohnerinnen und beteiligung und Architekturwettbewerb auf eine 24 Lernen von Fließ Einwohnern zwischen Landeck und Fiss-Ladis, ganz neue Weise kombiniert werden. Entstanden haben sich über die Jahre mehrere Leerstände ist ein qualitativ hochwertiges und von vielen Be- 27 Impressum entwickelt, wodurch das Zentrum an Attraktivität teiligten akzeptiertes Projekt, das von den Inns- verloren hat. Die Gemeindeverantwortlichen ha- brucker ArchitektInnen Daniela Kröss und Rainer ben darauf mit viel Weitsicht reagiert und zahlrei- Köberl umgesetzt wurde und viel Anerkennung che Gebäude erworben, mit dem Ziel, das Ortszen- erntete – sowohl von der Bevölkerung als auch trum attraktiver zu machen und wieder in den von der Fachwelt. Mittelpunkt des Alltagslebens zu rücken. Auf dem leer stehenden Areal sollte ein nutzungsdurch- Das „Modell Fließ“ steht für innovative Dorfzent- mischtes Dorfhaus mit den Funktionen Wohnen, rumsentwicklung. Das gewählte Wettbewerbs- Arbeiten und Einkaufen entstehen. verfahren kombiniert mit der Bürgerbeteiligung in Form einer nonconform ideenwerkstatt förderte die Akzeptanz, legte die Basis für die Realisierung dieses Vorzeigeprojekts und gab den Anstoß für weitere spannende Projekte zur zukunftsfähigen Ortsentwicklung. Viele Menschen setzen sich in Fließ für die zukunftsfähige Entwicklung der Gemeinde ein. Im Bild (v.l.n.r.): Gemeindearzt und Obmann des Archäologievereins Walter Stefan, Vizebürgermeister Wolfgang Huter, Amtsleiter Martin Zöhrer und Bürgermeister Hans-Peter Bock Linz Wien Fließ St. Pölten Eisenstadt Salzburg Bregenz Innsbruck Graz Klagenfurt Gemeinde Fließ 2921 EinwohnerInnen Bezirk Landeck im Oberinntal Bundesland Tirol Seehöhe: 1073 m 9 Dörfer (Weiler) Fließ ist Teil des Naturparks Kaunergrat und Sitz des Nationalparkhauses. Fließ hat eine reiche Geschichte, wovon zahlreiche Funde zeugen. In der Römerzeit war der Ort eine Raststation an der Via Claudia Augusta, die direkt am Wettbewerbsgebiet der Stuemergründe vorbeiführt. So weit im Text Personen und Funktionsbezeichnungen nicht ausdrücklich in der weib- lichen und männlichen Form genannt werden, gelten die sprachlichen Bezeichnungen in der männlichen Form sinngemäß auch in der weiblichen Form. 3
„Die Zusammenarbeit „Der Prozess in Fließ ist zwischen allen Beteiligten ein wichtiges Signal in war sehr befruchtend. Richtung Basisdemokratie Die Menschen waren „Gemeinden jenseits der und gemeinschaftliches „Die Bürgerinnen und begeistert, dass nicht wie zentralen Ballungsräume Übernehmen von Bürger von Fließ haben bisher der Gemeinderat haben vor allem dann Verantwortung.“ bei der Umsetzung dieses bzw. der Bürgermeister günstige Entwicklungs- Nikolaus Juen, Land Tirol, Abteilung Bodenordnung – Geschäftsstelle für Dorferneuerung Pilotprojekts die Latte für die Entscheidungen trifft, chancen, wenn sie andere sehr hoch gelegt.“ die eigentlich die ganze Interessen der Bevölke- Hanno Vogl-Fernheim, Präsident Kammer der ZT für Tirol und Vorarlberg Bevölkerung treffen rung berücksichtigen und sollte.“ deren vorrangige Alltags- Hans-Peter Bock, Bürgermeister der Gemeinde Fließ bedürfnisse erfüllen.“ Johannes Trattner , Gemeinde- und Raumordnungsreferent des Landes Tirol „Das Ergebnis ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern eine „Mit dem Gemeinde- Lösung, hinter der die zentrum in Fließ „Mit dem Projekt ist es Bevölkerung steht. hat sich ein ideales gelungen, alle Tätigkeits- Ein schöner Erfolg für Pilotprojekt ergeben, „Über das konkrete alle!“ das interdisziplinäre bereiche der Dorf- Projekt hinaus öffnete erneuerung erfolgreich Johannes Kislinger, Architekt und Juryvorsitzender Ansprüche vereint.“ der Dialog eine innere miteinander zu verbinden: Hannes Gschwentner, GF Neue Heimat Tirol und ehemaliger Dynamik in Fließ, die sich Landesrat für Wohnbau Architekturwettbewerb auf politischer wie zivil- mit Bürgerbeteiligung – gesellschaftlicher Ebene nicht nur eine Wunsch- weiterentwickelte.“ vorstellung, sondern Arno Ritter, Leiter aut. architektur und tirol Realität.“ Diana Ortner, Land Tirol, Abteilung Boden- „In der neuen Ortsmitte ordnung – Geschäftsstelle für Dorferneuerung wurde Platz zum Wohnen für Jung und Alt ge- schaffen und damit zur nachhaltigen Belebung von Fließ beigetragen.“ Otto Flatscher, Land Tirol, Abt. Wohnbauförderung 4 5
Die Ortsmitte wachküssen! Die verwinkelte Altstadt, der belebte Aber stimmt dieses Bild heutzutage noch? In den Marktplatz oder das schnuckelige Dorf- meisten Orten und Städten ist das Phänomen zentrum. Diese Bilder haben wir im Kopf der aussterbenden Zentren nicht zu übersehen. und empfinden sie als schön. Aber wa- Noch nie stand die Herausforderung, wie mit die- rum? Ist es die Architektur? Sind es die sen Leerständen umzugehen ist, an so zentraler Materialien und Oberflächen? Das We- Stelle der gesellschaftlichen Diskussion wie heu- sentliche ist nicht die gebaute Welt, son- te. Denn „durch die rapide Überalterung im länd- dern es sind die Menschen, die in dieser lichen Raum und die jahrzehntelange monofunk- Welt leben und Atmosphäre mitgestalten: tionale Siedlungserweiterung an den Ortsrändern Ihre Stimmen, verschiedene Szenen, Fla- kommt es schnell zum „Donut-Effekt“1, erklärt neure und Geräusche, eine angenehme Hilde Schröteler-von Brandt, Professorin an der Form von Hektik. Ein Platz ohne Men- Universität Siegen, bei der Leerstandskonferenz schen ist nicht nur leer, sondern auch 2011. „Das bedeutet, dass sich zuerst die identi- leise. Wenn Menschen den öffentlichen tätsprägenden Ortszentren entleeren. Wo die Ein- Raum beleben, machen sie ihn für sich wohner fehlen, rutschen auch die Handelsflächen selbst lebenswert. mit ins Donut-Loch.“ Schwarzplan Was führt die Bevölkerung in das Zentrum ihrer 0 125 250 Gemeinde? Sie gehen nicht primär dorthin, um zu 1 Unter dem Donut-Effekt bezeichnet man eine flanieren, sondern um ihre Grundbedürfnisse zu Wanderungsbewegung aus der Innenstadt in die Der Ortskern: Eine Herausforderung Randbezirke und das Donut-Loch sind die meist befriedigen. Im pulsierenden Herz eines Ortes wa- damit verbundenen Leerstände, die in der Orts- ren seit jeher wichtige Funktionen des täglichen mitte entstehen. Dass Dorfzentren verstummen, hat viele Gründe Trotz hohem Leerstand in gut erschlossenen Lebens versammelt: vom Wohnen über das Arbei- – ein wesentlicher ist die gestiegene Automobi- Ortskernen werden die meisten neuen Einfami- ten bis zum Einkaufen, der Freizeit und der Kultur. lisierung der letzten Jahrzehnte, durch die sich lienhaus- oder Gewerbegebiete in flächenver- Viele dieser unterschiedlichen Nutzungen kann viele vitale Funktionen an die Ortsränder verlager- brauchenden, neuen Baugebieten am Ortsrand ein funktionierendes Zentrum ermöglichen. Die ten und die Nutzungstrennung forcierten. Zuerst umgesetzt. Es wäre jedoch wesentlich klüger und Ortsmitte hält ein Dorf zusammen und versorgt sie entstanden ausgedehnte Einfamilienhausgebiete, vor allem ressourcenschonender, die verödeten wie das Herz seinen Organismus. bald folgten die Handels- und Einkaufszentren Ortszentren mit kreativen und zeitgemäßen For- und mittlerweile finden sich da und dort auch Ver- men von Wohnen, Arbeiten, Handel, Kultur und waltungs- oder Gesundheitseinrichtungen in peri- Freizeit zu beleben, vorhandene Gebäude und Luftbild der Gemeinde Fließ pheren Lagen. Flächen zu nutzen, umzubauen, weiterzubauen Aber dieser Donut-Effekt – die Verlagerung an den oder, wo noch Platz ist, neu zu errichten. Diese Rand und die damit einhergehende Verödung der kompaktere Bauweise und höhere Dichte sowie Zentren – ruiniert die Gemeinden. Er entzieht den die dabei entstehenden Nutzungsdurchmischun- Orten ihren Boden und ihre Identität und macht gen dämmen den Flächenverbrauch ein und sind sie für kommende Generationen unattraktiv. essenziell für den Sozialraum der Menschen und auch für ein intaktes Ortsbild. Wir brauchen ein umfassendes Bewusstsein für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Grund und Boden. Das wird zwar in vielen Papie- ren formuliert und gefordert, jedoch werden nach wie vor täglich durchschnittlich rund 80 Hektar in Deutschland (u. a. Deutscher Baukulturbericht) bzw. 20 Hektar in Österreich (u. a. Österreichischer Baukulturreport) verbaut, was mit 100 Fußball- feldern in Deutschland bzw. 30 Fußballfeldern in Österreich gleichzusetzen ist. Ortskern mit Baulücke 6 7
Das gelbe Ideenband mit Der Handel in seiner klassischen Form ist flächen- Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung ei- seinem Wieder- deckend wohl nicht mehr zurückzuholen, die Kir- nes umfangreichen Raumrezeptes, mit dem sich erkennungswert che als Dorfzentrum hat ebenfalls an Bedeutung am Ende die ganze Gemeinde wohlfühlt. Die macht auf Veränderung verloren. Dennoch darf in der Mitte, im Zentrum, Bürgerinnen und Bürger sind vom ersten Akt der aufmerksam. kein Loch, keine Leere, sein. Hier braucht es die Ideenfindung bis zur konkreten Umsetzung als Das zu Fülle des Lebens. Damit das süße Leben wieder in Expertinnen und Experten für den eigenen Ort bearbeitende Areal auf den die Ortszentren zurückkehren kann, sind ein um- in die Veränderungsarbeit einzubeziehen. Gleich- Stuemergründen fassendes Bündel an Maßnahmen und vor allem zeitig muss das Bewusstsein in der Bürgerschaft mitten im das Rückgrat und die Ausdauer der handelnden für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Ortszentrum von Fließ Personen vor Ort notwendig: Grund und Boden umfassend geschärft werden. wurde als Gesamtes mit dem Ideenband eingepackt. 1 3 An oberster Stelle steht das Bekenntnis der Politik Der dritte Schritt zum Krapfen-Effekt ist die Instal- und Verwaltung zu Innenentwicklung vor Außen- lierung eines Zentrumskümmerers. Es hat sich ge- entwicklung. Das bedeutet: volle Konzentration zeigt, dass für eine erfolgreiche Ortskernbelebung auf die Stärkung der Ortszentren und die Poten- sogenannte Kümmererpersonen erforderlich sind, ziale der Nachverdichtung im Bestand. Damit ver- die dafür Sorge tragen, dass die im Masterplan bunden ist eine klare Absage an die Zersiedelung vorgesehenen Projekte bedarfsorientiert und im Speckgürtel, die „den Donut“ fördert. zeitgemäß umgesetzt werden. Diese Person bzw. In Fließ haben die Gemeindeverantwortlichen rund Personengruppe stellt nicht nur das Gesicht des um Bürgermeister Hans-Peter Bock über Jahre Veränderungsprozesses dar, sondern hat auch die Die Situation in Fließ Wir brauchen einen Krapfen-Effekt! hinweg und mit viel Weitsicht leere Gebäude im Aufgabe, die richtigen Menschen in den richtigen Zentrum erworben und mit einem Pilotprojekt ei- Situationen zusammenzubringen, offen zu sein für „Wie viele ländliche Gemeinden haben wir vor ei- An dieser Situation wollte die Gemeinde Fließ et- nen entscheidenden, nachhaltigen Impuls zur At- neue Ideen und Vorschläge, nützliche Netzwerke nigen Jahren stark mit Abwanderung gekämpft was ändern und startete einen ganzheitlichen Ge- traktivierung der Ortsmitte gesetzt. aufzubauen sowie Wissen sichtbar zu machen, im und wollten etwas dagegensetzen“ so Hans-Peter meindeentwicklungsprozess. Hintergrund die Fäden zu ziehen und Umsetzun- Bock, seit 1989 Bürgermeister von Fließ. gen zu managen. Das alles ist notwendig, um eine Denn es ist dringend an der Zeit, dass aus Donuts 2 neue Kultur von Nutzungen in die Ortskerne zu Die Tiroler Berggemeinde Fließ mit rund 3000 Krapfen3 werden! bringen, von denen man bis dato vielleicht noch Einwohnerinnen und Einwohnern ist ein Haufen- Ein weiterer Schritt ist es, die Bürgerschaft mit nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Ein richtiger dorf im Tiroler Oberland auf einem Plateau etwa mutiger Öffentlichkeitsbeteiligung zum gemein- Zentrumskümmerer sieht in der Ortsmittenstär- 200 Meter über dem Inn. Die Topografie der Ge- 3 In einigen Regionen in Deutschland sagt man dazu samen Weiterdenken zu motivieren und mit ihr kung nicht nur einen Job, sondern eine Berufung. meinde schafft einige Herausforderungen: Neben Berliner oder Pfannkuchen. eine Vielzahl an Ideen gemeinsam zu entwickeln. In Fließ ist eine Kümmerergruppe aktiv. Diese Per- dem Hauptort gibt es rund 75 Weiler, ca. 80 Kilo- sonen aus Politik, Verwaltung und Vereinen agie- meter Gemeindestraßen, 80 Kilometer Waldwege, Die Dorfstraße ren zwischen heute und übermorgen und treiben sieben Schulen, fünf Kindergärten und ca. 80 Ver- vor dem die Umsetzung der Maßnahmen sowohl mit Weit- eine. Im Laufe der Jahre sperrten das Postamt, die Prozess sicht als auch mit Pragmatismus voran. Auf dem beiden Nahversorger, der Drogeriemarkt und die und den leerstehenden Areal entstand ein nutzungsdurch- Umbaumaßnahmen Großtischlerei zu. Dadurch ging die Kommunal- mischtes Dorfensemble mit den Funktionen Woh- steuer zurück, im Ortskern standen Gebäude leer nen, Arbeiten und Einkaufen. „Endlich treffen wir und die Einnahmen aus dem Tourismus sanken – uns wieder am Dorfplatz und nicht mehr nur am ein großes Donut-Loch ist entstanden. Außerdem Friedhof“, so eine Bürgerin bei der Eröffnung der waren alleinstehende ältere und in ihrer Mobilität neuen Ortsmitte. eingeschränkte Bewohnerinnen und Bewohner Und rund um dieses erste Projekt ist eine Vielzahl der Weiler vom Geschehen im Ortszentrum ab- an weiteren Maßnahmen zur Stärkung des Fließer geschnitten. Wenn sie niemanden hatten, der sie Zentrums entstanden, die lokale, regionale und unterstützte und zum Einkaufen, zum Arzt, zum Fri- überregionale Anerkennung und Zuspruch finden. seur und in die Kirche brachte, mussten sie in eine betreute Einrichtung in einer anderen Gemeinde Die Gemeinde Fließ zeigt den gelebten Krapfen- übersiedeln. Die Jungen wiederum fanden keine Effekt im Sinne innovativer Gemeindezentrums- leistbaren Startwohnungen.2 entwicklung mit Bürgerbeteiligung und hat die Basis für eine positive Veränderung des Ortes für die nächsten Jahrzehnte gelegt. Fließ ist zu einem mutigen Vorzeigeprojekt für andere geworden. 2 Baukultur gewinnt“, Publikation zum LandLuft Baukulturgemeinde-Preis 2016, hg. vom Verein LandLuft; Wien 2016 8 9
Ein neuer Weg der Wettbewerbsstufe zwei zur Präzisierung des Raumprogramms: 2015 Weitere Projekte zur Projektfindung eine Ideenwerkstatt mit Dorfkern- Eröffnung stärkung Bürgerschaft, Architekturbüros, Dorfhausensemble Raumprogramm mit Wettbewerbsstufe eins: 2013 – 2014 Fließ 2016 Gemeinderat und Jury Kostenschätzung Bewerbungsverfahren und Planungsphase Europäischer Vorauswahl Jurysitzung Dorferneuerungspreis Breite Bürgerbeteiligung und offener und Landluft Arbeitsgruppe Gemeinderatsbeschluss Ausarbeitungsphase Präsentation Gewinnerteam 2014 – 2015 Baukulturgemeinde-Preis Architekturwettbewerb in einem – DER Entwurf Köberl & Kröss Baustelle Schlüssel für zukunftsfähige Projekte in Gemeinden. Wie viele ländliche Gemeinden hatte auch Fließ in der Vergangenheit stark mit Abwanderung und den damit verbundenen Problemen (Schließung von Geschäften und Betrieben, Rückgang der Steuereinnahmen, Reduktion des sozialen Mitein- anders, Verödung des Dorfkerns) zu kämpfen. Be- reits seit den 1990er-Jahren verfolgt die Gemein- de eine aktive Politik zur Belebung und Attrakti- Der Wunsch nach gemeinschaftlichem vierung. Als sich 2012 die Möglichkeit bot, leer ein qualitativ hochwertiges und von vielen Beteilig- Wohnen wird durch eine stehende alte Wohngebäude und einen Stadel im ten akzeptiertes Projekt entstand. Gemeinschaftsfläche von Ortszentrum zu erwerben, entschloss sich Fließ Umgesetzt wurde das gesamte Wettbewerbsver- 50 m2 für die Bewohner und Bewohnerinnen der zu einem Pilotprojekt zur nachhaltigen Aufwer- fahren als Verknüpfung eines Bürgerbeteiligungs- Durch eine Starterwohnungen und - Lager + tung des Dorfzentrums mittels eines partizipativen verfahrens mit einem klassischen Architektur- gemeinsame des Betreuten Wohnens Flächennutzung Jugendzentrum Wettbewerbs. Damit entstand ein nutzungsdurch- wettbewerb. Nach dem Gemeindesratsbeschluss können die neu ermöglicht. mischtes Dorfhaus mit den Funktionen Wohnen, zur Errichtung eines neuen Gemeindezentrums Lagerflächen Betreutes Wohnen Arbeiten und Einkaufen. mitten im Dorf, entwickelte eine Arbeitsgruppe, um die Hälfte reduziert werden. bestehend aus Gemeinderäten sowie Bürgerin- Sowohl das Gebäude mit seinem Freiraum als ins- nen und Bürgern, ein erstes grobes Raumpro- Friseur Durch das Zusammenlegen der besondere auch der Projektentwicklungsprozess gramm, eine Art „Wunschkatalog“, was dort alles Parkflächen kommt es stellen zudem einen wesentlichen Beitrag für die untergebracht werden könnte/sollte. Auf Basis zu einer Reduktion Dorfplatz als Tiefgarage Zukunft der Tiroler Wohnbaudiskussion dar – als dieser räumlichen Anforderungen wurden eine Treffpunkt der Parkplätze um 20 Prozent. Teil einer ganzheitlichen Ortsentwicklung. grobe Kostenschätzung erstellt, die Gebäude und - Bei dem Pilotprojekt standen der Dialog der Ge- notwendigen Grundstücke erworben und ein „GO“ + Sprengelarzt meinde und ihrer Bürgerinnen und Bürger mit den für den Projektstart durch einen Gemeinderatsbe- Architekturschaffenden im Vordergrund, woraus schluss gegeben. Nahversorger Gemeindeamt Die erforderlichen Parkplätze für den Die Schüler und + Nahversorger werden - - Schülerinnen erarbeiteten in die Tiefgarage mit ihren Lehrerinnen verlegt. und Lehrern einzelne Ideenvorschläge und inszenierten diese als kleine Theaterstücke. Verkaufsfläche Dadurch gelang es wird als Selbst- ihnen, wichtige Themen bedienungs- in den Köpfen der nische anstatt Gemeindeverantwortlichen im Gemeindeamt und der Architektur- im Nahversorger schaffenden zu besetzen, integriert. die auch Eingang ins Raumprogramm fanden. Ein Mehrwert der gemeinsamen Entwicklung des Raumprogramms ist die Reduktion der gebauten Flächen: Durch die Kombination von Architekturwettbewerb und Bürgerbeteiligung kann der Bedarf maßgeschneidert an die Bedürfnisse der Beteiligten angepasst werden und es ergeben sich Synergien in der Flächennutzung. 10 11
Im Turnsaal der Gemeinde wurden die Stunden der Entscheidung verbracht. Für die Jurysitzung wurde ausreichend Zeit reserviert – insgesamt eineinhalb Tage für fünf Projektvorschläge. Ein Teil war nur der Jury vorbehalten, ein Teil der Jurysitzung war öffentlich zugänglich. Während der Ideenwerkstatt war das offene Büro durchgehend besetzt und bot der Bevölkerung die Möglichkeit, ihre Ideen einzubringen. Ausarbeitungsphase Jurysitzung Wettbewerb und nonconform ideenwerkstatt Am Ende der zwei Tage stand die endgültige Fi- Die Konzeptentwicklung und der Projektentwurf Die Jurysitzung dauerte eineinhalb Tage. Der erste xierung des Raumprogramms, welches sich durch erfolgten in den darauffolgenden fünf Tagen. Ei- Teil – entsprechend dem Bundesvergabegesetz – In der Folge wurde ein zweistufiger, offener Archi- den intensiven Dialog gegenüber dem Stand zu nige der Teams arbeiteten noch eine gewisse Zeit war anonym. Das bedeutet, dass alle Teams ihre tekturwettbewerb nach den Kriterien des Bundes- Beginn verändert hatte. Dieses Raumprogramm vor Ort, andere fuhren nach dem Hearing umge- Projekte ohne Namen abgeben mussten. In einem vergabegesetzes ausgeschrieben. Die erste Stufe wurde von allen gemeinsam – Bevölkerung, Ar- hend ins eigene Büro, da sie die gewohnte Umge- ersten Jurydurchgang wurde versucht, die einzel- war offen für alle interessierten Architektinnen, chitekturteams und Gemeinderäte – einstimmig bung und ihre Infrastruktur für das Arbeiten vorzo- nen Projekte zu verstehen, Unklarheiten wurden Architekten und Architektenteams. Wesentliche beschlossen und bildete die Basis für die Entwick- gen. Im Zentrum dieser Ausarbeitungen stand die notiert und in Fragen formuliert. Am Abend des Kriterien bei der Juryentscheidung zur Auswahl lung von konkreten Projektentwürfen. Ideenfindung, wobei die Art der Präsentation frei ersten Jurytages erfolgte die Aufhebung der Ano- der eingeladenen Teams für die zweite Stufe wählbar war. nymität und die Architekturteams wurden eingela- waren die Themen Bürgerbeteiligung, leistbares den, unabhängig voneinander vor der versammel- Wohnen sowie ein entsprechendes Referenzpro- ten Bevölkerung, ihre Projekte zu präsentieren. jekt – nach diesen Parametern wurden fünf Büros Dabei hatten sie auch Gelegenheit, die von der für die weitere Arbeit ausgewählt. Jury und den Bürgerinnen und Bürgern formu- Den Auftakt dieser zweiten Wettbewerbsphase lierten Fragen zu beantworten. Auch am darauf- bildete ein Hearing – bei dem das Besondere war, folgenden Vormittag war die Jurysitzung für alle dass es zwei Tage dauerte und direkt vor Ort als Interessierten offen, die Projekte wurden noch- nonconform ideenwerkstatt gemeinsam mit der mals diskutiert und gemeinsam Stimmungsbilder Bevölkerung stattfand. eingeholt, die in die Entscheidungsbildung ein- Dabei wurden zahlreiche Aktivitäten, wie z. B. Ge- flossen. Ab Mittag wurden die Türen geschlossen spräche, Stammtische, Vorträge etc., angeboten, und die Jury hatte den gesamten Nachmittag Zeit, bei denen die geladenen Architektenteams mit der um in ausführlichen Diskussionsrunden das beste Bevölkerung gemeinsam Ideen finden und disku- Projekt auszuwählen, wobei die Entscheidung ein- tieren konnten. So hatten alle Gemeindebürgerin- stimmig fiel. nen und -bürger Gelegenheit, ihre Raumwünsche nochmals durchzudenken und zu präzisieren. Begleitet wurde dieser partizipative Prozess von einer eigens eingerichteten Website inklusive ei- nem Gewinnspiel, um insbesondere auch die jun- gen Menschen in das Projekt einzubinden. Einige Schulklassen hatten ihre Überlegungen für das zukünftige Gemeindezentrum in Form eines Thea- terstückes erarbeitet, welches sie den Architektin- Bei der nen und Architekten präsentierten. Jurysitzung haben Bevölkerung und Fachleute intensiv diskutiert. 12 13
Die beiden Hauptinitiatoren – „„Es ist nicht der erste Ar- Bürgermeister Hans- Peter Bock und der chitekturwettbewerb, bei damalige Landesrat Hannes Gschwentner dem ich dabei war. Nor- malerweise ist es danach – gratulieren dem siegreichen Architekten aber immer recht schwie- Rainer Köberl. rig, den Leuten zu erklä- ren, warum ausgerechnet dieses oder jenes Projekt gewonnen hat. Bei diesem Der Juryvorsitzende Johannes Kislinger und Otto Flatscher mit dem Modell des siegreichen Projekts. Verfahren ist das komplett Jurymitglieder* anders. Durch die intensi- Hans-Peter Bock, Bürgermeister Gemeinde Fließ ve Beschäftigung mit den Otto Flatscher, Land Tirol, Abt. Wohnbauförderung Hannes Gschwentner, Landeshauptmannstellvertreter und Präsentation und Beauftragung Reflexionsrunde Projekten ist es nun ein Wohnbaureferent – zum Zeitpunkt des Verfahrens Wolfgang Huter, Vizebürgermeister Gemeinde Fließ Den Abschluss der Jurysitzung bildete eine öf- Einen Monat nach der Juryentscheidung fand Leichtes, die Vorteile des Nikolaus Juen, Geschäftsstelle für Dorferneuerung Tirol Johannes Kislinger, freischaffender Architekt – fentliche Präsentation mit kulinarischer und musi- eine ausführliche Feedbackrunde statt. Dabei dis- kalischer Umrahmung. Dabei wurden alle Projekte kutierten die Gemeindeverantwortlichen, die teil- siegreichen Projekts in ei- Juryvorsitzender Günter Knabl, Gemeinderat vorgestellt und die Jury begründete ihre Entschei- nehmen Architekturbüros, die Initiatoren, die Mit- nem Satz den Menschen Anita Posch, Gemeinderätin Arno Ritter, aut. architektur und tirol dung für den siegreichen Entwurf. Das Gewin- glieder der Jury sowie die Prozessbegleitung das Peter Schlatter, Gemeinderat nerteam wurde vom Bürgermeister, als Vertreter neuartige Wettbewerbsformat. Der grundsätzliche zu erklären.“ Walter Stefan, Gemeindearzt, Obmann Archäologieverein des Auftraggebers, mit der Durchführung der Ar- Tenor dabei war sehr positiv und zeigte eine hohe Hanno Vogl-Fernheim, freischaffender Architekt, Kammer Wolfgang Huter, Vizebürgermeister der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Tirol und chitekturleistungen beauftragt. Auch die Medien Zufriedenheit mit dieser Art der partizipativen Ein- Vorarlberg wurden vom Verfahren und seinem Ausgang in- bindung. Einige Anregungen zur Verbesserung Johannes Wiesflecker, freischaffender Architekt formiert. sollten bei zukünftigen Projekten berücksichtigt Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde Fließ waren im öffentlichen Teil der Jurysitzung beratend einbezogen. werden: * alphabetisch, ohne Titel Mehr Bearbeitungszeit für die Architekturteams: Die Jury nach erfolgter Entscheidung. Es sollten jedenfalls zwei Wochen sein und kann bis zu den üblichen acht Wochen reichen. Keine Aufhebung der Anonymität während der Jurysitzung: da dies ein hohes Gefahrenpotenzial im Rahmen des Vergaberechts darstellt. Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger: (eventuell gegen Anmeldung im Vorfeld) den ge- samten Juryprozess mitzuerleben – da dies die beste Form der Baukulturvermittlung darstellt. Resümee Bei diesem Verfahren war die intensive Ausein- andersetzung der Architektinnen und Architekten Architekt Rainer Köberl bei der Präsentation des mit den wirklichen Bedürfnissen der Bevölkerung Siegerprojekts an die Bevölkerung unmittelbar nach der der Schlüssel zum Erfolg. Diese Interaktion hat Juryentscheidung. viele Barrieren auf beiden Seiten abgebaut und eine neue Qualität des Dialogs mit sich gebracht. Das gegenseitige Zuhören wurde wertgeschätzt. Zwei Zitate stehen stellvertretend für diese neue Gesprächskultur. 14 15
Die neue Mitte des Dorfes Bei der Eröffnung treffen Jung und Alt in entspannter Stimmung auf Alt und Neu. Der Tiroler Ortschaft Fließ glückte es, ih- ren Dorfkern wieder zu beleben. Ein Dach, ein Brunnen, drei neue Häuser mit unter- schiedlichen Nutzungen und eine Tief- garage mit freigelegten archäologischen Funden bringen nachhaltig Leben in die A Ortsmitte. Isabella Marboe „Dörfer brauchen keinen Bilbao- Effekt mit Architektur, die als eitler Solitär vom Himmel fällt. Denn bei A der Operation am offenen Herzen des Ortskerns geht es vor allem darum, alle Generationen in 0 10 20 die Mitte zu holen. Dann kann ein Grundriss Brunnenplatz Haus einen Platz beleben und beides ein Dorf.“ Durch die Integration eines Supermarkts am Brunnenplatz Maik Novotny: Ein Haus, ein Platz, ein Dorf, in: Der Standard, 4. April 2015 kann direkt im Dorf eingekauft werden. Fließ ist ein Bergdorf in Tirol. Die Gemeinde liegt Die Hauptstraße durch das Dorf geht auf die Via auf etwa 1073 Metern Seehöhe im Bezirk Lan- Claudia Augusta zurück, die bereits zur Römer- deck auf einem Plateau über dem Inntal am Fuß zeit durch den Ort führte. Damals war Fließ eine des Krahbergs. Fast 3000 Menschen leben hier, wichtige Raststation, auch die katholische Kirche echte Bausünden sind im Ortskern kaum zu fin- Mariä Himmelfahrt ist eine der ältesten der Regi- den. Dafür umso mehr alte Bauernhäuser mit on. Noch immer ist die Straße bestimmend für das mächtigen, steinernen Sockelgeschoßen und Dorf. Trotzdem hatte der Ort massiv mit Leerstän- ausgefachten Holzfachwerken unter ausladenden den im Zentrum zu kämpfen: Die alte Volksschule Dächern. Der Schwarzplan zeigt eine weitgehend stand leer, weil eine neue am Ortsrand errichtet intakte, kleinteilige Dorfstruktur mit vielen Frei- worden war, der letzte Greisler hatte schon lang räumen. Dicht schmiegen sich die alten Häuser, das Handtuch geworfen, der Ort keinen Nah- Ställe und Stadel an die Hauptstraße, dazwischen versorger mehr. Das ehemalige Gasthaus „Zum wuchern üppige Bauerngärten, auch Neubauten weissen Kreuz“ bei der Busstation war ebenso fügen sich weitgehend dezent ein. Die Besied- verwaist wie umliegende Wohnhäuser. Selbst die lungsgeschichte von Fließ reicht sehr weit zurück. Gemeinde nutzte eine ehemalige Arztwohnung im Der neue Marktplatz Viele bedeutende archäologische Funde wurden zweiten Stock, die nicht barrierefrei war, als Büro. bietet hier geborgen und von einem sehr engagierten vielseitige Verein im Museum Fließ ausgestellt. Dies wird auf Nutzungs- Cortenstahltafeln schon an der Bundesstraße an- möglichkeiten für die gekündigt. BewohnerInnen von Fließ. 16 17
Ein neues Dach für den Dorfbrunnen „Primär wollten wir den Straßenraum nicht auf- reißen, aber trotzdem regen- und schneesichere Zu- und Abgänge schaffen.“ Die Untersicht des Daches ist mit Holz verkleidet und mit Beleuch- tungskörpern aus schwarz pulverbeschichtetem Blech ausgestattet: Dadurch wirkt es wohnlich und kann auch nachts den Platz erleuchten. Er ist „Durch das Hearing in ein strategisch wichtiger Verteiler und wirkt schon auf der Straße als Signal für die neue Sequenz an Form der Ideenwerkstatt, öffentlichen Räumen, die von den drei Neubauten wo wir zwei Tage Zeit gerahmt und definiert werden. Jeder ist anders konfiguriert und fügt sich so in die Struktur und hatten, einfach nur zu- die Topografie des Ortes. zuhören, konnte im Kopf eine ganz neue räumliche Antwort reifen.“ Rainer Köberl und Daniela Kröss, ArchitektInnen des Siegerprojekts Möglichkeiten schaffen Ein Dach für ein Dorf Es musste etwas geschehen. Die Gemeinde sorg- Rainer Köberl und Daniela Kröss siegten ein- Archäologische Ausgrabungen in der Tiefgaragenebene te vor und traf zwei wegweisende Entscheidun- deutig. Ihr Projekt besteht im Prinzip aus einem gen: Sie kaufte die Stuemergründe mit der verlas- großen, etwa 15 Meter breiten, 25 Meter langen, senen Volksschule und zwei weiteren leeren Häu- unregelmäßig trapezförmigen Dach mit runden Die drei Baukörper treten wechselweise miteinan- sern auf. Diese liegen direkt an der einstigen „Via Oberlichten auf zarten Stahlstützen und drei Häu- der in Beziehung und sind unter Plätzen, Stiegen Claudia“, gegenüber vom leeren Gasthaus mitten sern. und Wegen über die Ebene der Tiefgarage ver- im Dorf. Hier sollten ein neuer Platz mit neuem bunden: Dort fanden sich archäologische Ausgra- Gemeindeamt, einer Poststelle, Tourismusinfor- Das Dach lässt im Norden mit seiner schrägen bungen eines „rätischen Hauses“ aus dem 5. bis mation, Gemeindearzt, Friseur, Lebensmittelmarkt, Flucht die „Via Claudia“ optisch gleichermaßen ins 1. Jhdt. v. Chr., die nun – durch ein Oberlicht und öffentlichem WC, Tiefgarage und Kleinwohnun- Dorf schwappen und dockt direkt am neuen Haus von der Seite natürlich erhellt -, in Cortenstahl ein- gen für besonders junge und betagte Bürger und mit MPREIS und Arztpraxis an, das in seiner koni- gefasst, gut sichtbar präsentiert in die somit auch Bürgerinnen entstehen, um das Zentrum wieder schen Grundrissform auf das Dach reagiert. natürlich belichtete und belüftete, zur Außenstelle zu beleben. Der Höhenunterschied zwischen der Es ist eines von drei neuen Häusern, die um eine des Museums geadelte Tiefgarage integriert wur- Dorfstraße im Norden und den archäologischen Sequenz von markanten öffentlichen Räumen auf den. Von hier führt ein Lift auf alle Ebenen bis hin- Funden des „rätischen Hauses“ beträgt gute fünf unterschiedlichen Ebenen miteinander in Bezug auf zu dem Steg, der die Arztpraxis an den „Brun- Meter: eine komplexe Ausgangslage. treten und so ein vielschichtiges Gefüge bilden, nenplatz“ bei der „Via Claudia“ anbindet. So trifft auf dem sich ganz beiläufig zu unterschiedlichsten die Lebenswelt der Vergangenheit auf Gegenwart Um diese für den ganzen Ort so bedeutsame Pla- Anlässen das Dorfleben entfalten kann. „Zuerst und Zukunft von Fließ. nung nicht über die Köpfe seiner Bewohnerinnen war das Dach da“, sagt Rainer Köberl. und Bewohner hinweg ablaufen zu lassen, wurde das Wettbewerbsverfahren dafür in eine vor ort ideenwerkstatt eingebettet. Zwei Tage tauschten sich die fünf beteiligten Architekten vor Ort mit der Bevölkerung aus, dann bearbeiteten sie ihre Projekte weiter und präsentierten sie öffentlich vor der Jury. Der Höhenunterschied im Zentrum wird durch vielfältige Schnitt 0 5 10 Zugänge neu erlebbar. 18 19
Ein Brunnen für einen Platz „Es ist uns wichtig, dass Am Übergang zur „Via Claudia“ steht – halb un- Pflanzen das neue Ambi- ter dem Dach, halb im Freien – ein Brunnen: Sein Trog ist aus Lärchenholz, das im Wasser feurig ente bereichern. Bäume rot bleibt. Das umlaufende Sitzbrett aber ist aus Haselfichte. Es wird mit der Zeit silbergrau und in besonderen Positionen stammt aus Wäldern der Gegend. An der Wand sollen, ebenso wie die mit der Anzeigentafel für die Busabfahrten steht eine Bank unter Dach, eine zweite lugt vorwitzig Verwendung von Holz und auf die Straße. Auf diesem „Brunnenplatz“ können die Menschen aus Fließ und jene, die mit dem Rad Putz, eine dörfliche, nicht durchfahren, rasten, trinken und das Geräusch zu ,cleane‘ Atmosphäre des Wassers auf sich einwirken lassen, das die Luft befeuchtet. erzeugen.“ Rainer Köberl und Daniela Kröss, ArchitektInnen des „Ein Brunnen ist wie ein Heiligtum“, meint Rainer Siegerprojekts Köberl. „Sein Klang hat etwas Meditatives.“ Von diesem Brunnen sieht man auf die Straße, aber auch auf das neue Gemeindehaus mit Post und Tourismusinformation, das den Platz im Westen rahmt. Es ist ein dreigeschoßiger Quader von etwa 14 mal 17 Metern, in den horizontale Fensterbän- der und Loggien eingeschnitten sind. Die Eröffnung wurde mit einem großen Fest zelebriert. Er folgt der Logik alpiner Bauernhäuser: ein mas- siver Sockel aus Sichtbeton, darüber Holz. Die Eine Gemeinde für ihre Bürgerinnen und vertikalen Lärchenlatten werden mit der Zeit grau Bürger und passen wunderbar zu den Schuppen und Sta- deln. Die mittlere Ebene setzt am „Brunnenplatz“ Köberl und Kröss planten auch das Innere. Die Das Stiegenhaus ist lichtdurchflutet, die Bürger auf: Hier sind Post und Tourismusinformation. Der Brunnenplatz bei Fassade im Süden hat über die ganze Länge ein mit ihren Anliegen werden von Tischen mit Ses- der Eröffnungsfeier Fensterband und einen prächtigen Blick über den seln und Stehpulten im obersten Stock freundlich Marktplatz: Dahinter liegt der birkensperrholzver- empfangen, dahinter sitzen die Beamten in einem kleidete, technologisch voll ausgestattete Ge- hellen, offenen Großraumbüro. Am Boden liegt Ei- meinderatssaal mit Bar. Die Holzelemente seiner chenparkett, Wände und Decke sind mit Birken- Stirnwand lassen sich zu Wahlzellen ausklappen, sperrholz verkleidet, die Akustik ist perfekt, durch eine ist behindertengerecht. Wenn der Gemein- ein Fensterband im Osten fällt hell die Morgenson- derat tagt, werden die Rollos heruntergezogen. ne herein, das Büro des Bürgermeisters ist auch Sonst wird der Raum auch vermietet. Im Keller ist nach Süden orientiert und als zeitgenössische Zir- das Archiv, im transparenten Sockel am „Markt- benholzstube mit Zirbe und Eckbank ausgestattet. platz“ bekamen die Jugendlichen einen Raum, da- Von seinem Balkon, der Rauchern und Raucherin- neben zog ein Friseur ein. nen gastfreundlich offen steht, sieht man über den Platz und zum Wohnturm gegenüber. Das Bürgermeisterbüro bei der Eröffnung 20 21
Ein Turm zum Wohnen Ein Markt für alle „Die Einwohnerzahl Der vierstöckige Bau ist massiv und mit weißem Der Raum für die Jugendlichen liegt prominent in Das Bistro liegt hinter raumhohen Glasscheiben von Fließ ist wieder Kalkputz verkleidet. Klar und übersichtlich ist das der Sockelzone der Gemeinde direkt gegenüber direkt am „Marktplatz“, wo sich auch der gedeckte durchgesteckte, von zwei Seiten belichtete Stie- vom MPREIS. Die Tiroler Supermarktkette besie- Aufgang aus der Tiefgarage befindet. Schwarze gestiegen und es gibt genhaus in der Mitte, durch das man direkt auf die Gemeinde oder auf den abgesenkten Garten auf delte das Geschoß unter der Arztpraxis und schuf mit ihrem Bistro einen Treffpunkt für alle. Das mar- Wände und Decken, der sonnengelbe Boden und Tische und Rücklehnen aus Holz erzeugen eine eine Nachfrage nach der Rückseite des Wohnturms sieht. „Wenn man kante rote Logo ist schon oben am „Brunnenplatz“ freundliche Atmosphäre. Vom Bistro aus hat man Grundstücken und zum Lift geht, schaut man ins Dorf“, sagt Daniela zu sehen, eine Ebene tiefer liegt der helle Laden die Jugendlichen, die neue Gemeinde, den Tiefga- Kröss. Die lapidare Erschließung verweist auf Bau- mit dem sonnengelben Kunstharzboden, auf dem ragenaufgang und den ganzen Platz im Blick. Bei Wohnungen – sogar ernhäuser. Am breiten, hellen Mittelgang liegen je zwei Wohnungen im Westen und zwei im Osten. frei die Regalreihen stehen. gutem Wetter breitet sich das Bistro mit Tischen und Sesseln in den öffentlichen Raum aus. Das von Menschen, die Jede ist über Eck zu einer weiteren Himmelsrich- Dorf hat seine Mitte wieder. nach Fließ zuziehen tung orientiert und hat eine eingeschnittene Log- gia oder einen auskragenden Balkon. Die Woh- wollen.“ nungen sind zwischen 45 und 50 m² groß, ihre Sonja Bettel, in: Landluft Baukulturgemeinde-Preis 2016 Grundrisse sind offen und kompakt. Für familiäre Feste und Feiern aller Art gibt es einen großflächig verglasten Gemeinschaftsraum, der auch von den Die neue Mitte Senioren gern zum Kartenspielen genutzt wird. im Dorf Die Mitte des Dorfs erstrahlt in neuem Glanz Ein Turm zum Er bietet freie Sicht auf die Gemeinde, den neu- Wohnen en Marktplatz und die Straße, die ihn im Westen säumt. In drei Wochen waren alle Wohnungen vergeben. „Die vor ort ideenwerkstatt war wich- tig“, sagt Rainer Köberl. „Erst im Gespräch mit den Menschen zeigte sich, dass sie den Dorfplatz gar nicht brauchen. Die abfallende Straße eignet sich auch gar nicht dafür. Allerdings diente sie von al- ters her als Raum für Feste: da ist sie voller Tische und Bänke und spielt nun die Musik unter dem neuen Dach.“ Auch die Zahl der geforderten Woh- nungen wurde korrigiert: Sie sank von 18 auf 14, in Anbetracht der Maßstäblichkeit des Ortes eine nicht unwesentliche Verringerung des Volumens. Dafür zeigte sich, dass ein Raum für Jugendliche fehlte. Nun gibt es ihn. 22 23
Lernen von Fließ Freiluftklassenzimmer Ausblicke für Zukunftsorte am Land Österreichs mehr als 2000 Gemeinden und Städ- Bauen am Land bietet die Chance auf einen in- In Fließ hat das Pilotprojekt zur Ortskernstärkung te investieren jedes Jahr viele Milliarden Euro. Ein tensiven Austausch mit den Akteuren vor Ort, zahlreiche weitere spannende Projekte von höchs- großer Teil davon fließt in die Errichtung von Ge- mit den unmittelbaren Nutzerinnen und Nutzern. ter inhaltlicher wie baukultureller Qualität ermög- bäuden und Freiräumen. Damit sind die Kommu- Dabei spielt das Ehrenamt eine große Rolle: Man- licht. Eine Auswahl: nen einer der größten Bauherren im Land und tra- che kommunalen Bauprojekte wären ohne den gen wesentlich zur Gestaltung des Lebensraums Einsatz engagierter Bürgerinnen und Bürger nie Die Aussichtsplattform am Gachener Blick: Nahe und damit zur Lebensqualität der Menschen bei. begonnen worden oder nicht umsetzbar gewesen. dem Naturparkzentrum entstand als Ergebnis ei- Bei diesem Bauvolumen soll es jedoch nicht nur Die Identifikation mit dem eigenen Ort ist in der nes Architekturwettbewerbs eine spektakuläre um das simple Erfüllen von Raumprogrammen Regel höher und bauliche Veränderungen werden Plattform zum Genuss der Landschaft. gehen. „Beim Bauen muss sich mehr bewegen daher gerade in kleinen Gemeinden sehr viel stär- als nur die Baumaschinen“, brachte es ein Bür- ker wahrgenommen und sind oftmals höher emo- Das Knabl-Marth-Haus: Mit dem Erwerb und der germeister auf den Punkt. Was vordergründig als tional besetzt als im urbanen Kontext. mustergültigen Sanierung eines ortsbildprägen- Bauaufgabe gesehen wird, kann sich sehr rasch den und dem Verfall preisgegebenen historischen zu einem von den Bürgerinnen und Bürgern getra- Kommunen profitieren vom Mobilisierungspoten- Bauernhauses konnte die Gemeinde einen Ort zur genen Prozess entwickeln, der durch seinen um- zial, das Bauaufgaben mit sich bringen. Bürgernä- Dokumentation der eigenen Geschichte schaffen. fassenden Betrachtungs- und Problemlösungsan- he ist ein angenehmer Nebeneffekt, prozesshaftes FREIRAUM! Das Freiluft-Klassenzimmer als Lern- satz sämtliche essenziellen kommunalen Belange Arbeiten mit Bürgerbeteiligung führt auch vielfach Ort in der Natur bietet allen Schülerinnen und umfasst. zu deutlich besseren Lösungsansätzen. Im Zeit- Schülern die Möglichkeit, in der wunderbaren Kul- alter von Politikverdrossenheit ist dies zudem ein turlandschaft zu lernen. Geplant wurde es von he überaus geeignetes Mittel für Bürgermeisterinnen und du (Elias Walch und Christian Hammerl) und und Bürgermeister, Menschen an Entscheidungen mit engagierter Mitarbeit der SchülerInnen umge- und Entwicklungen in ihrem unmittelbaren Umfeld setzt. mitwirken zu lassen. Aussichtsplattform am Gachener Blick, Der Erwerb von innerörtlichen Grundstücken Architektur: columbosnext Tragwerksplanung: Alfred R. Brunnsteiner durch die Gemeinde, um verdichtetes und leist- Landschaftsarchitektur: giencke mattelig bares Wohnen für die Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen, damit auch junge Familien im Ort bleiben können und nicht in die Ballungszentren ziehen. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, damit auch ein Bergdorf optimal an die Infrastrukturen der Knabl-Marth-Haus Ballungsräume angeschlossen ist. Weitere Nachverdichtungen in der Ortsmitte – z. B. Das aktuellste Projekt ist die sogenannte Berg- durch das Schaffen von neuem Wohnraum oder arena, ein Sport- und Freizeitzentrum, das vom durch die Sanierung des historischen Museums. Architekturbüro AllesWirdGut geplant wird. Das Museum wurde sachkundig saniert und Die geplante neue Bergarena von an zeitgemäße Bedürfnisse adaptiert. AllesWirdGut Architektur 24 25
Diese umfassende Beschäftigung mit der Zukunft 4 eines Ortes und der Klugheit der qualitätsvollen Gute Planer vor Ort einsetzen: Die Planerinnen Umsetzung hat sowohl die Jury des LandLuft und Planer sind wichtige Partner für Baukultur in Baukulturgemeinde-Preises als auch jene des ländlichen Gemeinden. Europäischen Dorferneuerungspreises überzeugt. Abgeleitet aus der vorbildlichen Arbeit der Ge- 5 meinde Fließ, können für andere Orte folgende Neue Wettbewerbsverfahren forcieren: Angemes- Strategien zur Verbesserung und nachhaltigen sene Ideenfindungsverfahren braucht das Land. Stärkung ihrer gebauten Umwelt gezogen wer- den, die eine neue politische Kultur in den Dörfern 6 ermöglichen: Regionale Universitäten und Fachhochschulen einbeziehen: An der Beantwortung der Zukunfts- fragen des ländlichen Raumes sollen auch Ausbil- 1 dungsinstitutionen mitwirken. Innovative Beteiligungskultur leben: Die Bürgerbeteiligung als Schlüssel 7 Zentrumsstärkung: Die Stärkung der Ortszentren 2 fördert die Identität und erzeugt Orte der kurzen Mutige Zukunftsstrategie umsetzen: Wege. Die strategische Zukunftsentwicklung schärft das Profil einer Gemeinde und erhöht die Wahrneh- mung. 3 Kompetente Verwaltung und Politik fördern: Mehr Kompetenz in der Bauverwaltung und Politik in Das Dorfzentrum mit Supermarkt und der Beratung vor Ort. Wohnturm hat sich als Treffpunkt in Fließ etabliert. Impressum Herausgeber Alle Fotos stammen von nonconform nonconform, www.nonconform.at mit Ausnahme von: meinbezirk.at: 04 (o.r.) Mitherausgeber Gemeinde Fließ: 07 (u.r.) Gemeinde Fließ, www.fliess.tirol.gv.at Georg Herder: 03, 04 (o.l.), 06 (u.l.), 18 (u.l.), Architekturbüro Köberl & Kröss, www.rainerkoeberl.at, 19 (o.r.), 22 (l.), 25, 27 www.danielakroess.at Lukas Schaller: 22 – 23 (u.l.) David Schreyer: 25 (o.r.) Redaktion und Texte AWG Architektur: 26 (u.r.) Barbara Feller, Roland Gruber Pläne Layout Rainer Köberl, Daniela Kröss: 16 – 17 Stefanie Salzmann LandLuft: 07 (o.r.) Lektorat Druck Dorrit Korger Druckerei Robitschek & Co. Ges.m.b.H Februar 2019 Auflage: 2000 Stück Mit Unterstützung von: Land Tirol: Abteilung Bodenordnung-Geschäftsstelle für Dorferneuerung, Abteilung Wohnbauförderung Kammer der ZiviltechnikerInnen für Tirol und Vorarlberg aut. architektur und tirol 26
www.fliess.tirol.gv.at www.nonconform.at www.rainerkoeberl.at www.danielakroess.at
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