Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform

 
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Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Das
    Wunder
       von
      Fließ
  Wie ein lebendiges
Ortszentrum entsteht
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
03       Vorwort                                                                                                 Vorwort
04       Statements der Beteiligten

06       Die Ortsmitte wachküssen!                                                                               Fließ setzt neue Maßstäbe in der                      Zur Umsetzung wurde ein besonderer Entwick-
                                                                                                                 Ortskern­entwicklung und zeigt, wie sich              lungsweg gewählt: ein klassisches Architektur-
10       Ein neuer Weg der Projektfindung                                                                        die Dorfmitte wieder beleben lässt.                   Wettbewerbsverfahren verbunden mit einem
                                                                                                                                                                       Dia­log zwischen Gemeinde, Bevölkerung und Ar-
16       Die neue Mitte des Dorfes                                                                               Im Dorfzentrum von Fließ, einer Tiroler Berg-         chitekten. Zum ersten Mal konnten damit Bürger-
                                                                                                                 gemeinde mit rund 3000 Einwohnerinnen und             beteiligung und Architekturwettbewerb auf eine
24       Lernen von Fließ                                                                                        Einwohnern zwischen Landeck und Fiss-Ladis,           ganz neue Weise kombiniert werden. Entstanden
                                                                                                                 haben sich über die Jahre mehrere Leerstände          ist ein qualitativ hochwertiges und von vielen Be-
27       Impressum                                                                                               entwickelt, wodurch das Zentrum an Attraktivität      teiligten akzeptiertes Projekt, das von den Inns-
                                                                                                                 verloren hat. Die Gemeindeverantwortlichen ha-        brucker ArchitektInnen Daniela Kröss und Rainer
                                                                                                                 ben darauf mit viel Weitsicht reagiert und zahlrei-   Köberl umgesetzt wurde und viel Anerkennung
                                                                                                                 che Gebäude erworben, mit dem Ziel, das Ortszen-      erntete – sowohl von der Bevölkerung als auch
                                                                                                                 trum attraktiver zu machen und wieder in den          von der Fachwelt.
                                                                                                                 Mittelpunkt des Alltagslebens zu rücken. Auf dem
                                                                                                                 leer stehenden Areal sollte ein nutzungsdurch-        Das „Modell Fließ“ steht für innovative Dorfzent-
                                                                                                                 mischtes Dorfhaus mit den Funktionen Wohnen,          rumsentwicklung. Das gewählte Wettbewerbs-
                                                                                                                 Arbeiten und Einkaufen entstehen.                     verfahren kombiniert mit der Bürgerbeteiligung in
                                                                                                                                                                       Form einer nonconform ideenwerkstatt förderte
                                                                                                                                                                       die Akzeptanz, legte die Basis für die Realisierung
                                                                                                                                                                       dieses Vorzeigeprojekts und gab den Anstoß für
                                                                                                                                                                       weitere spannende Projekte zur zukunftsfähigen
                                                                                                                                                                       Ortsentwicklung.
                                                                                                                 Viele Menschen setzen sich in Fließ für die
                                                                                                                 zukunftsfähige Entwicklung der Gemeinde ein. Im
                                                                                                                 Bild (v.l.n.r.): Gemeindearzt und Obmann des
                                                                                                                 Archäologievereins Walter Stefan, Vizebürgermeister
                                                                                                                 Wolfgang Huter, Amtsleiter Martin Zöhrer und
                                                                                                                 Bürgermeister Hans-Peter Bock

                                                                          Linz
                                                                                                    Wien
                    Fließ                                                              St. Pölten

                                                                                                    Eisenstadt
                                                      Salzburg

     Bregenz

                             Innsbruck

                                                                                           Graz

                                                                          Klagenfurt
Gemeinde Fließ
2921 EinwohnerInnen
Bezirk Landeck im Oberinntal
Bundesland Tirol
Seehöhe: 1073 m
9 Dörfer (Weiler)
Fließ ist Teil des Naturparks Kaunergrat und Sitz
des Nationalparkhauses. Fließ hat eine reiche
Geschichte, wovon zahlreiche Funde zeugen. In der
Römerzeit war der Ort eine Raststation an der Via
Claudia Augusta, die direkt am Wettbewerbsgebiet
der Stuemergründe vorbeiführt.

So weit im Text Personen und Funktionsbezeichnungen nicht ausdrücklich in der weib-
lichen und männlichen Form genannt werden, gelten die sprachlichen Bezeichnungen in der
männlichen Form sinngemäß auch in der weiblichen Form.

                                                                                                                                                                                                                        3
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
„Die Zusammenarbeit                                                                                              „Der Prozess in Fließ ist
zwischen allen Beteiligten                                                                                       ein wichtiges Signal in
war sehr befruchtend.                                                                                            Richtung Basisdemokratie
Die Menschen waren                                      „Gemeinden jenseits der                                  und gemeinschaftliches                                  „Die Bürgerinnen und
begeistert, dass nicht wie                              zentralen Ballungsräume                                  Übernehmen von                                          Bürger von Fließ haben
bisher der Gemeinderat                                  haben vor allem dann                                     Verantwortung.“                                         bei der Umsetzung dieses
bzw. der Bürgermeister                                  günstige Entwicklungs-                                     Nikolaus Juen, Land Tirol, Abteilung Bodenordnung –
                                                                                                                                    Geschäftsstelle für Dorferneuerung
                                                                                                                                                                         Pilotprojekts die Latte für
die Entscheidungen trifft,                              chancen, wenn sie                                                                                                andere sehr hoch gelegt.“
die eigentlich die ganze                                Interessen der Bevölke-                                                                                          Hanno Vogl-Fernheim, Präsident Kammer der ZT für Tirol
                                                                                                                                                                                                                 und Vorarlberg
Bevölkerung treffen                                     rung berücksichtigen und
sollte.“                                                deren vorrangige Alltags-
    Hans-Peter Bock, Bürgermeister der Gemeinde Fließ   bedürfnisse erfüllen.“
                                                        Johannes Trattner , Gemeinde- und Raumordnungsreferent
                                                                                              des Landes Tirol

                                                                                                                 „Das Ergebnis ist nicht
                                                                                                                 der kleinste gemeinsame
                                                                                                                 Nenner, sondern eine                                    „Mit dem Gemeinde-
                                                                                                                 Lösung, hinter der die                                  zentrum in Fließ
„Mit dem Projekt ist es                                                                                          Bevölkerung steht.                                      hat sich ein ideales
gelungen, alle Tätigkeits-                                                                                       Ein schöner Erfolg für                                  Pilotprojekt ergeben,
                                                        „Über das konkrete                                       alle!“                                                  das interdisziplinäre
bereiche der Dorf-                                      Projekt hinaus öffnete
erneuerung erfolgreich
                                                                                                                   Johannes Kislinger, Architekt und Juryvorsitzender    Ansprüche vereint.“
                                                        der Dialog eine innere
miteinander zu verbinden:
                                                                                                                                                                         Hannes Gschwentner, GF Neue Heimat Tirol und ehemaliger

                                                        Dynamik in Fließ, die sich                                                                                                                         Landesrat für Wohnbau

Architekturwettbewerb                                   auf politischer wie zivil-
mit Bürgerbeteiligung –                                 gesellschaftlicher Ebene
nicht nur eine Wunsch-                                  weiterentwickelte.“
vorstellung, sondern                                           Arno Ritter, Leiter aut. architektur und tirol

Realität.“
           Diana Ortner, Land Tirol, Abteilung Boden-
                                                                                                                 „In der neuen Ortsmitte
         ordnung – Geschäftsstelle für Dorferneuerung
                                                                                                                 wurde Platz zum Wohnen
                                                                                                                 für Jung und Alt ge-
                                                                                                                 schaffen und damit zur
                                                                                                                 nachhaltigen Belebung
                                                                                                                 von Fließ beigetragen.“
                                                                                                                    Otto Flatscher, Land Tirol, Abt. Wohnbauförderung

4                                                                                                                                                                                                                             5
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Die Ortsmitte wachküssen!

Die verwinkelte Altstadt, der belebte                 Aber stimmt dieses Bild heutzutage noch? In den
Marktplatz oder das schnuckelige Dorf-                meisten Orten und Städten ist das Phänomen
zentrum. Diese Bilder haben wir im Kopf               der aussterbenden Zentren nicht zu übersehen.
und empfinden sie als schön. Aber wa-                 Noch nie stand die Herausforderung, wie mit die-
rum? Ist es die Architektur? Sind es die              sen Leerständen umzugehen ist, an so zentraler
Materialien und Oberflächen? Das We-                  Stelle der gesellschaftlichen Diskussion wie heu-
sentliche ist nicht die gebaute Welt, son-            te. Denn „durch die rapide Überalterung im länd-
dern es sind die Menschen, die in dieser              lichen Raum und die jahrzehntelange monofunk-
Welt leben und Atmosphäre mitgestalten:               tionale Siedlungserweiterung an den Ortsrändern
Ihre Stimmen, verschiedene Szenen, Fla-               kommt es schnell zum „Donut-Effekt“1, erklärt
neure und Geräusche, eine angenehme                   Hilde Schröteler-von Brandt, Professorin an der
Form von Hektik. Ein Platz ohne Men-                  Universität Siegen, bei der Leerstandskonferenz
schen ist nicht nur leer, sondern auch                2011. „Das bedeutet, dass sich zuerst die identi-
leise. Wenn Menschen den öffentlichen                 tätsprägenden Ortszentren entleeren. Wo die Ein-
Raum beleben, machen sie ihn für sich                 wohner fehlen, rutschen auch die Handelsflächen
selbst lebenswert.                                    mit ins Donut-Loch.“
                                                                                                                                                                                                             Schwarzplan

Was führt die Bevölkerung in das Zentrum ihrer                                                                                                                                                           0    125   250
Gemeinde? Sie gehen nicht primär dorthin, um zu       1 Unter dem Donut-Effekt bezeichnet man eine

flanieren, sondern um ihre Grundbedürfnisse zu        Wanderungsbewegung aus der Innenstadt in die
                                                                                                                Der Ortskern: Eine Herausforderung
                                                      Randbezirke und das Donut-Loch sind die meist
befriedigen. Im pulsierenden Herz eines Ortes wa-     damit verbundenen Leerstände, die in der Orts-
ren seit jeher wichtige Funktionen des täglichen      mitte entstehen.                                          Dass Dorfzentren verstummen, hat viele Gründe          Trotz hohem Leerstand in gut erschlossenen
Lebens versammelt: vom Wohnen über das Arbei-                                                                   – ein wesentlicher ist die gestiegene Automobi-        Ortskernen werden die meisten neuen Einfami-
ten bis zum Einkaufen, der Freizeit und der Kultur.                                                             lisierung der letzten Jahrzehnte, durch die sich       lienhaus- oder Gewerbegebiete in flächenver-
Viele dieser unterschiedlichen Nutzungen kann                                                                   viele vitale Funktionen an die Ortsränder verlager-    brauchenden, neuen Baugebieten am Ortsrand
ein funktionierendes Zentrum ermöglichen. Die                                                                   ten und die Nutzungstrennung forcierten. Zuerst        umgesetzt. Es wäre jedoch wesentlich klüger und
Ortsmitte hält ein Dorf zusammen und versorgt sie                                                               entstanden ausgedehnte Einfamilienhausgebiete,         vor allem ressourcenschonender, die verödeten
wie das Herz seinen Organismus.                                                                                 bald folgten die Handels- und Einkaufszentren          Ortszentren mit kreativen und zeitgemäßen For-
                                                                                                                und mittlerweile finden sich da und dort auch Ver-     men von Wohnen, Arbeiten, Handel, Kultur und
                                                                                                                waltungs- oder Gesundheitseinrichtungen in peri-       Freizeit zu beleben, vorhandene Gebäude und
                                                                                  Luftbild der Gemeinde Fließ
                                                                                                                pheren Lagen.                                          Flächen zu nutzen, umzubauen, weiterzubauen
                                                                                                                Aber dieser Donut-Effekt – die Verlagerung an den      oder, wo noch Platz ist, neu zu errichten. Diese
                                                                                                                Rand und die damit einhergehende Verödung der          kompaktere Bauweise und höhere Dichte sowie
                                                                                                                Zentren – ruiniert die Gemeinden. Er entzieht den      die dabei entstehenden Nutzungsdurchmischun-
                                                                                                                Orten ihren Boden und ihre Identität und macht         gen dämmen den Flächenverbrauch ein und sind
                                                                                                                sie für kommende Generationen unattraktiv.             essenziell für den Sozialraum der Menschen und
                                                                                                                                                                       auch für ein intaktes Ortsbild.
                                                                                                                Wir brauchen ein umfassendes Bewusstsein für
                                                                                                                den sparsamen und intelligenten Umgang mit
                                                                                                                Grund und Boden. Das wird zwar in vielen Papie-
                                                                                                                ren formuliert und gefordert, jedoch werden nach
                                                                                                                wie vor täglich durchschnittlich rund 80 Hektar in
                                                                                                                Deutschland (u. a. Deutscher Baukulturbericht)
                                                                                                                bzw. 20 Hektar in Österreich (u. a. Österreichischer
                                                                                                                Baukulturreport) verbaut, was mit 100 Fußball-
                                                                                                                feldern in Deutschland bzw. 30 Fußballfeldern in
                                                                                                                Österreich gleichzusetzen ist.

                                                                                                                                                        Ortskern mit
                                                                                                                                                            Baulücke

6                                                                                                                                                                                                                     7
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Das gelbe
                                                                                                  Ideenband mit    Der Handel in seiner klassischen Form ist flächen-    Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung ei-
                                                                                                  seinem Wieder-   deckend wohl nicht mehr zurückzuholen, die Kir-       nes umfangreichen Raumrezeptes, mit dem sich
                                                                                                  erkennungswert
                                                                                                                   che als Dorfzentrum hat ebenfalls an Bedeutung        am Ende die ganze Gemeinde wohlfühlt. Die
                                                                                                  macht auf
                                                                                                  Veränderung      verloren. Dennoch darf in der Mitte, im Zentrum,      Bürgerinnen und Bürger sind vom ersten Akt der
                                                                                                  aufmerksam.      kein Loch, keine Leere, sein. Hier braucht es die     Ideenfindung bis zur konkreten Umsetzung als
                                                                                                  Das zu           Fülle des Lebens. Damit das süße Leben wieder in      Expertinnen und Experten für den eigenen Ort
                                                                                                  bearbeitende
                                                                                                  Areal auf den
                                                                                                                   die Ortszentren zurückkehren kann, sind ein um-       in die Veränderungsarbeit einzubeziehen. Gleich-
                                                                                                  Stuemergründen   fassendes Bündel an Maßnahmen und vor allem           zeitig muss das Bewusstsein in der Bürgerschaft
                                                                                                  mitten im        das Rückgrat und die Ausdauer der handelnden          für den sparsamen und intelligenten Umgang mit
                                                                                                  Ortszentrum
                                                                                                  von Fließ
                                                                                                                   Personen vor Ort notwendig:                           Grund und Boden umfassend geschärft werden.
                                                                                                  wurde als
                                                                                                  Gesamtes mit
                                                                                                  dem Ideenband
                                                                                                  eingepackt.
                                                                                                                   1                                                     3
                                                                                                                   An oberster Stelle steht das Bekenntnis der Politik   Der dritte Schritt zum Krapfen-Effekt ist die Instal-
                                                                                                                   und Verwaltung zu Innenentwicklung vor Außen-         lierung eines Zentrumskümmerers. Es hat sich ge-
                                                                                                                   entwicklung. Das bedeutet: volle Konzentration        zeigt, dass für eine erfolgreiche Ortskernbelebung
                                                                                                                   auf die Stärkung der Ortszentren und die Poten-       sogenannte Kümmererpersonen erforderlich sind,
                                                                                                                   ziale der Nachverdichtung im Bestand. Damit ver-      die dafür Sorge tragen, dass die im Masterplan
                                                                                                                   bunden ist eine klare Absage an die Zersiedelung      vorgesehenen Projekte bedarfsorientiert und
                                                                                                                   im Speckgürtel, die „den Donut“ fördert.              zeitgemäß umgesetzt werden. Diese Person bzw.
                                                                                                                   In Fließ haben die Gemeindeverantwortlichen rund      Personengruppe stellt nicht nur das Gesicht des
                                                                                                                   um Bürgermeister Hans-Peter Bock über Jahre           Veränderungsprozesses dar, sondern hat auch die
Die Situation in Fließ                                   Wir brauchen einen Krapfen-Effekt!                        hinweg und mit viel Weitsicht leere Gebäude im        Aufgabe, die richtigen Menschen in den richtigen
                                                                                                                   Zentrum erworben und mit einem Pilotprojekt ei-       Situationen zusammenzubringen, offen zu sein für
„Wie viele ländliche Gemeinden haben wir vor ei-         An dieser Situation wollte die Gemeinde Fließ et-         nen entscheidenden, nachhaltigen Impuls zur At-       neue Ideen und Vorschläge, nützliche Netzwerke
nigen Jahren stark mit Abwanderung gekämpft              was ändern und startete einen ganzheitlichen Ge-          traktivierung der Ortsmitte gesetzt.                  aufzubauen sowie Wissen sichtbar zu machen, im
und wollten etwas dagegensetzen“ so Hans-Peter           meindeentwicklungsprozess.                                                                                      Hintergrund die Fäden zu ziehen und Umsetzun-
Bock, seit 1989 Bürgermeister von Fließ.                                                                                                                                 gen zu managen. Das alles ist notwendig, um eine
                                                         Denn es ist dringend an der Zeit, dass aus Donuts         2                                                     neue Kultur von Nutzungen in die Ortskerne zu
Die Tiroler Berggemeinde Fließ mit rund 3000             Krapfen3 werden!                                                                                                bringen, von denen man bis dato vielleicht noch
Einwohnerinnen und Einwohnern ist ein Haufen-                                                                      Ein weiterer Schritt ist es, die Bürgerschaft mit     nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Ein richtiger
dorf im Tiroler Oberland auf einem Plateau etwa                                                                    mutiger Öffentlichkeitsbeteiligung zum gemein-        Zentrumskümmerer sieht in der Ortsmittenstär-
200 Meter über dem Inn. Die Topografie der Ge-           3    In einigen Regionen in Deutschland sagt man dazu     samen Weiterdenken zu motivieren und mit ihr          kung nicht nur einen Job, sondern eine Berufung.
meinde schafft einige Herausforderungen: Neben           Berliner oder Pfannkuchen.                                eine Vielzahl an Ideen gemeinsam zu entwickeln.       In Fließ ist eine Kümmerergruppe aktiv. Diese Per-
dem Hauptort gibt es rund 75 Weiler, ca. 80 Kilo-                                                                                                                        sonen aus Politik, Verwaltung und Vereinen agie-
meter Gemeindestraßen, 80 Kilometer Waldwege,                                                                                                           Die Dorfstraße
                                                                                                                                                                         ren zwischen heute und übermorgen und treiben
sieben Schulen, fünf Kindergärten und ca. 80 Ver-                                                                                                       vor dem          die Umsetzung der Maßnahmen sowohl mit Weit-
eine. Im Laufe der Jahre sperrten das Postamt, die                                                                                                      Prozess          sicht als auch mit Pragmatismus voran. Auf dem
beiden Nahversorger, der Drogeriemarkt und die                                                                                                          und den
                                                                                                                                                                         leerstehenden Areal entstand ein nutzungsdurch-
                                                                                                                                                        Umbaumaßnahmen
Großtischlerei zu. Dadurch ging die Kommunal-                                                                                                                            mischtes Dorfensemble mit den Funktionen Woh-
steuer zurück, im Ortskern standen Gebäude leer                                                                                                                          nen, Arbeiten und Einkaufen. „Endlich treffen wir
und die Einnahmen aus dem Tourismus sanken –                                                                                                                             uns wieder am Dorfplatz und nicht mehr nur am
ein großes Donut-Loch ist entstanden. Außerdem                                                                                                                           Friedhof“, so eine Bürgerin bei der Eröffnung der
waren alleinstehende ältere und in ihrer Mobilität                                                                                                                       neuen Ortsmitte.
eingeschränkte Bewohnerinnen und Bewohner                                                                                                                                Und rund um dieses erste Projekt ist eine Vielzahl
der Weiler vom Geschehen im Ortszentrum ab-                                                                                                                              an weiteren Maßnahmen zur Stärkung des Fließer
geschnitten. Wenn sie niemanden hatten, der sie                                                                                                                          Zentrums entstanden, die lokale, regionale und
unterstützte und zum Einkaufen, zum Arzt, zum Fri-                                                                                                                       überregionale Anerkennung und Zuspruch finden.
seur und in die Kirche brachte, mussten sie in eine
betreute Einrichtung in einer anderen Gemeinde                                                                                                                           Die Gemeinde Fließ zeigt den gelebten Krapfen-
übersiedeln. Die Jungen wiederum fanden keine                                                                                                                            Effekt im Sinne innovativer Gemeindezentrums-
leistbaren Startwohnungen.2                                                                                                                                              entwicklung mit Bürgerbeteiligung und hat die
                                                                                                                                                                         Basis für eine positive Veränderung des Ortes für
                                                                                                                                                                         die nächsten Jahrzehnte gelegt. Fließ ist zu einem
                                                                                                                                                                         mutigen Vorzeigeprojekt für andere geworden.
2    Baukultur gewinnt“, Publikation zum LandLuft
Baukulturgemeinde-Preis 2016, hg. vom Verein LandLuft;
Wien 2016

8                                                                                                                                                                                                                           9
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Ein neuer Weg der                                                                                             Wettbewerbsstufe zwei zur
                                                                                                              Präzisierung des Raumprogramms:                                                            2015
                                                                                                                                                                                                                                         Weitere
                                                                                                                                                                                                                                      Projekte zur

Projektfindung                                                                                                eine Ideenwerkstatt mit                                                                                                  Dorfkern-
                                                                                                                                                                                                      Eröffnung
                                                                                                                                                                                                                                        stärkung
                                                                                                              Bürgerschaft, Architekturbüros,                                                      Dorfhausensemble
                                                              Raumprogramm mit       Wettbewerbsstufe eins:                                                       2013 – 2014                           Fließ                2016
                                                                                                              Gemeinderat und Jury
                                                               Kostenschätzung      Bewerbungsverfahren und                                                     Planungsphase                                            Europäischer
                                                                                           Vorauswahl                                Jurysitzung                                                                     Dorferneuerungspreis
Breite Bürgerbeteiligung und offener                                                                                                                                                                                     und Landluft
                                                     Arbeitsgruppe      Gemeinderatsbeschluss                        Ausarbeitungsphase    Präsentation Gewinnerteam             2014 – 2015                        Baukulturgemeinde-Preis
Architekturwettbewerb in einem – DER                                                                                      Entwurf                Köberl & Kröss                  Baustelle
Schlüssel für zukunftsfähige Projekte in
Gemeinden.

Wie viele ländliche Gemeinden hatte auch Fließ
in der Vergangenheit stark mit Abwanderung und
den damit verbundenen Problemen (Schließung
von Geschäften und Betrieben, Rückgang der
Steuereinnahmen, Reduktion des sozialen Mitein-
anders, Verödung des Dorfkerns) zu kämpfen. Be-
reits seit den 1990er-Jahren verfolgt die Gemein-
de eine aktive Politik zur Belebung und Attrakti-                                                                                                                                                         Der Wunsch nach
                                                                                                                                                                                                          gemeinschaftlichem
vierung. Als sich 2012 die Möglichkeit bot, leer     ein qualitativ hochwertiges und von vielen Beteilig-                                                                                                 Wohnen wird durch eine
stehende alte Wohngebäude und einen Stadel im        ten akzeptiertes Projekt entstand.                                                                                                                   Gemeinschaftsfläche von
Ortszentrum zu erwerben, entschloss sich Fließ       Umgesetzt wurde das gesamte Wettbewerbsver-                                                                                                          50 m2 für die Bewohner
                                                                                                                                                                                                          und Bewohnerinnen der
zu einem Pilotprojekt zur nachhaltigen Aufwer-       fahren als Verknüpfung eines Bürgerbeteiligungs-                Durch eine
                                                                                                                                                                                                          Starterwohnungen und
                                                                                                                                      -    Lager                                               +
tung des Dorfzentrums mittels eines partizipativen   verfahrens mit einem klassischen Architektur-                   gemeinsame
                                                                                                                                                                                                          des Betreuten Wohnens
                                                                                                                 Flächennutzung                      Jugendzentrum
Wettbewerbs. Damit entstand ein nutzungsdurch-       wettbewerb. Nach dem Gemeindesratsbeschluss                     können die                           neu
                                                                                                                                                                                                          ermöglicht.

mischtes Dorfhaus mit den Funktionen Wohnen,         zur Errichtung eines neuen Gemeindezentrums                    Lagerflächen                                                Betreutes Wohnen
Arbeiten und Einkaufen.                              mitten im Dorf, entwickelte eine Arbeitsgruppe,              um die Hälfte
                                                                                                              reduziert werden.
                                                     bestehend aus Gemeinderäten sowie Bürgerin-
Sowohl das Gebäude mit seinem Freiraum als ins-      nen und Bürgern, ein erstes grobes Raumpro-                                          Friseur                                                                     Durch das
                                                                                                                                                                                                                      Zusammenlegen der
besondere auch der Projektentwicklungsprozess        gramm, eine Art „Wunschkatalog“, was dort alles                                                                                                                  Parkflächen kommt es
stellen zudem einen wesentlichen Beitrag für die     untergebracht werden könnte/sollte. Auf Basis                                                                                                                    zu einer Reduktion
                                                                                                                                                            Dorfplatz als                          Tiefgarage
Zukunft der Tiroler Wohnbaudiskussion dar – als      dieser räumlichen Anforderungen wurden eine                                                                Treffpunkt
                                                                                                                                                                                                                      der Parkplätze um
                                                                                                                                                                                                                      20 Prozent.
Teil einer ganzheitlichen Ortsentwicklung.           grobe Kostenschätzung erstellt, die Gebäude und                                                                                                            -

Bei dem Pilotprojekt standen der Dialog der Ge-      notwendigen Grundstücke erworben und ein „GO“                                                                                                          +
                                                                                                                                   Sprengelarzt
meinde und ihrer Bürgerinnen und Bürger mit den      für den Projektstart durch einen Gemeinderatsbe-
Architekturschaffenden im Vordergrund, woraus        schluss gegeben.
                                                                                                                                                                             Nahversorger
                                                                                                                                                      Gemeindeamt                                         Die erforderlichen
                                                                                                                                                                                                          Parkplätze für den
                                                                                  Die Schüler und                                                                                 +                       Nahversorger werden
                                                                                                                                                     -                                 -
                                                                                  Schülerinnen erarbeiteten                                                                                               in die Tiefgarage
                                                                                  mit ihren Lehrerinnen                                                                                                   verlegt.
                                                                                  und Lehrern einzelne
                                                                                  Ideenvorschläge und
                                                                                  inszenierten diese als
                                                                                  kleine Theaterstücke.                                                    Verkaufsfläche
                                                                                  Dadurch gelang es                                                        wird als Selbst-
                                                                                  ihnen, wichtige Themen                                                   bedienungs-
                                                                                  in den Köpfen der                                                        nische anstatt
                                                                                  Gemeindeverantwortlichen                                                 im Gemeindeamt
                                                                                  und der Architektur-                                                     im Nahversorger
                                                                                  schaffenden zu besetzen,                                                 integriert.
                                                                                  die auch Eingang ins
                                                                                  Raumprogramm fanden.        Ein Mehrwert der gemeinsamen
                                                                                                              Entwicklung des Raumprogramms ist
                                                                                                              die Reduktion der gebauten
                                                                                                              Flächen: Durch die Kombination
                                                                                                              von Architekturwettbewerb und
                                                                                                              Bürgerbeteiligung kann der Bedarf
                                                                                                              maßgeschneidert an die Bedürfnisse
                                                                                                              der Beteiligten angepasst werden
                                                                                                              und es ergeben sich Synergien in
                                                                                                              der Flächennutzung.

10                                                                                                                                                                                                                                            11
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Im Turnsaal der Gemeinde
                                                                                                           wurden die Stunden der
                                                                                                           Entscheidung verbracht.
                                                                                                           Für die Jurysitzung
                                                                                                           wurde ausreichend Zeit
                                                                                                           reserviert – insgesamt
                                                                                                           eineinhalb Tage für fünf
                                                                                                           Projektvorschläge. Ein
                                                                                                           Teil war nur der Jury
                                                                                                           vorbehalten, ein Teil
                                                                                                           der Jurysitzung war
                                                                                                           öffentlich zugänglich.

                                                                                     Während der
                                                                                     Ideenwerkstatt
                                                                                     war das offene
                                                                                     Büro durchgehend
                                                                                     besetzt und bot der
                                                                                     Bevölkerung die
                                                                                     Möglichkeit, ihre
                                                                                     Ideen einzubringen.
                                                                                                           Ausarbeitungsphase                                    Jurysitzung

Wettbewerb und nonconform ideenwerkstatt              Am Ende der zwei Tage stand die endgültige Fi-       Die Konzeptentwicklung und der Projektentwurf         Die Jurysitzung dauerte eineinhalb Tage. Der erste
                                                      xierung des Raumprogramms, welches sich durch        erfolgten in den darauffolgenden fünf Tagen. Ei-      Teil – entsprechend dem Bundesvergabegesetz –
In der Folge wurde ein zweistufiger, offener Archi-   den intensiven Dialog gegenüber dem Stand zu         nige der Teams arbeiteten noch eine gewisse Zeit      war anonym. Das bedeutet, dass alle Teams ihre
tekturwettbewerb nach den Kriterien des Bundes-       Beginn verändert hatte. Dieses Raumprogramm          vor Ort, andere fuhren nach dem Hearing umge-         Projekte ohne Namen abgeben mussten. In einem
vergabegesetzes ausgeschrieben. Die erste Stufe       wurde von allen gemeinsam – Bevölkerung, Ar-         hend ins eigene Büro, da sie die gewohnte Umge-       ersten Jurydurchgang wurde versucht, die einzel-
war offen für alle interessierten Architektinnen,     chitekturteams und Gemeinderäte – einstimmig         bung und ihre Infrastruktur für das Arbeiten vorzo-   nen Projekte zu verstehen, Unklarheiten wurden
Architekten und Architektenteams. Wesentliche         beschlossen und bildete die Basis für die Entwick-   gen. Im Zentrum dieser Ausarbeitungen stand die       notiert und in Fragen formuliert. Am Abend des
Kriterien bei der Juryentscheidung zur Auswahl        lung von konkreten Projektentwürfen.                 Ideenfindung, wobei die Art der Präsentation frei     ersten Jurytages erfolgte die Aufhebung der Ano-
der eingeladenen Teams für die zweite Stufe                                                                wählbar war.                                          nymität und die Architekturteams wurden eingela-
waren die Themen Bürgerbeteiligung, leistbares                                                                                                                   den, unabhängig voneinander vor der versammel-
Wohnen sowie ein entsprechendes Referenzpro-                                                                                                                     ten Bevölkerung, ihre Projekte zu präsentieren.
jekt – nach diesen Parametern wurden fünf Büros                                                                                                                  Dabei hatten sie auch Gelegenheit, die von der
für die weitere Arbeit ausgewählt.                                                                                                                               Jury und den Bürgerinnen und Bürgern formu-
Den Auftakt dieser zweiten Wettbewerbsphase                                                                                                                      lierten Fragen zu beantworten. Auch am darauf-
bildete ein Hearing – bei dem das Besondere war,                                                                                                                 folgenden Vormittag war die Jurysitzung für alle
dass es zwei Tage dauerte und direkt vor Ort als                                                                                                                 Interessierten offen, die Projekte wurden noch-
nonconform ideenwerkstatt gemeinsam mit der                                                                                                                      mals diskutiert und gemeinsam Stimmungsbilder
Bevölkerung stattfand.                                                                                                                                           eingeholt, die in die Entscheidungsbildung ein-
Dabei wurden zahlreiche Aktivitäten, wie z. B. Ge-                                                                                                               flossen. Ab Mittag wurden die Türen geschlossen
spräche, Stammtische, Vorträge etc., angeboten,                                                                                                                  und die Jury hatte den gesamten Nachmittag Zeit,
bei denen die geladenen Architektenteams mit der                                                                                                                 um in ausführlichen Diskussionsrunden das beste
Bevölkerung gemeinsam Ideen finden und disku-                                                                                                                    Projekt auszuwählen, wobei die Entscheidung ein-
tieren konnten. So hatten alle Gemeindebürgerin-                                                                                                                 stimmig fiel.
nen und -bürger Gelegenheit, ihre Raumwünsche
nochmals durchzudenken und zu präzisieren.

Begleitet wurde dieser partizipative Prozess von
einer eigens eingerichteten Website inklusive ei-
nem Gewinnspiel, um insbesondere auch die jun-
gen Menschen in das Projekt einzubinden. Einige
Schulklassen hatten ihre Überlegungen für das
zukünftige Gemeindezentrum in Form eines Thea-
terstückes erarbeitet, welches sie den Architektin-                                                                                                              Bei der
nen und Architekten präsentierten.                                                                                                                               Jurysitzung
                                                                                                                                                                 haben
                                                                                                                                                                 Bevölkerung
                                                                                                                                                                 und Fachleute
                                                                                                                                                                 intensiv
                                                                                                                                                                 diskutiert.

12                                                                                                                                                                                                              13
Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Die beiden
                                                                                     Hauptinitiatoren –
                                                                                                                „„Es ist nicht der erste Ar-
                                                                                     Bürgermeister Hans-
                                                                                     Peter Bock und der
                                                                                                                chitekturwettbewerb, bei
                                                                                     damalige Landesrat
                                                                                     Hannes Gschwentner         dem ich dabei war. Nor-
                                                                                                                malerweise ist es danach
                                                                                     – gratulieren dem
                                                                                     siegreichen Architekten

                                                                                                                aber immer recht schwie-
                                                                                     Rainer Köberl.

                                                                                                                rig, den Leuten zu erklä-
                                                                                                                ren, warum ausgerechnet
                                                                                                                dieses oder jenes Projekt
                                                                                                                gewonnen hat. Bei diesem                        Der Juryvorsitzende Johannes Kislinger und Otto
                                                                                                                                                             Flatscher mit dem Modell des siegreichen Projekts.

                                                                                                                Verfahren ist das komplett
                                                                                                                                                        Jurymitglieder*
                                                                                                                anders. Durch die intensi-
                                                                                                                                                        Hans-Peter Bock, Bürgermeister Gemeinde Fließ
                                                                                                                ve Beschäftigung mit den                Otto Flatscher, Land Tirol, Abt. Wohnbauförderung
                                                                                                                                                        Hannes Gschwentner, Landeshauptmannstellvertreter und
Präsentation und Beauftragung                            Reflexionsrunde                                        Projekten ist es nun ein                Wohnbaureferent – zum Zeitpunkt des Verfahrens
                                                                                                                                                        Wolfgang Huter, Vizebürgermeister Gemeinde Fließ

Den Abschluss der Jurysitzung bildete eine öf-           Einen Monat nach der Juryentscheidung fand             Leichtes, die Vorteile des              Nikolaus Juen, Geschäftsstelle für Dorferneuerung Tirol
                                                                                                                                                        Johannes Kislinger, freischaffender Architekt –
fentliche Präsentation mit kulinarischer und musi-       eine ausführliche Feedbackrunde statt. Dabei dis-
kalischer Umrahmung. Dabei wurden alle Projekte          kutierten die Gemeindeverantwortlichen, die teil-      siegreichen Projekts in ei-             Juryvorsitzender
                                                                                                                                                        Günter Knabl, Gemeinderat
vorgestellt und die Jury begründete ihre Entschei-       nehmen Architekturbüros, die Initiatoren, die Mit-     nem Satz den Menschen
                                                                                                                                                        Anita Posch, Gemeinderätin
                                                                                                                                                        Arno Ritter, aut. architektur und tirol
dung für den siegreichen Entwurf. Das Gewin-             glieder der Jury sowie die Prozessbegleitung das                                               Peter Schlatter, Gemeinderat
nerteam wurde vom Bürgermeister, als Vertreter           neuartige Wettbewerbsformat. Der grundsätzliche        zu erklären.“                           Walter Stefan, Gemeindearzt, Obmann Archäologieverein
des Auftraggebers, mit der Durchführung der Ar-          Tenor dabei war sehr positiv und zeigte eine hohe                                              Hanno Vogl-Fernheim, freischaffender Architekt, Kammer
                                                                                                                Wolfgang Huter, Vizebürgermeister       der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Tirol und
chitekturleistungen beauftragt. Auch die Medien          Zufriedenheit mit dieser Art der partizipativen Ein-                                           Vorarlberg
wurden vom Verfahren und seinem Ausgang in-              bindung. Einige Anregungen zur Verbesserung                                                    Johannes Wiesflecker, freischaffender Architekt
formiert.                                                sollten bei zukünftigen Projekten berücksichtigt                                               Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde Fließ waren im
                                                                                                                                                        öffentlichen Teil der Jurysitzung beratend einbezogen.
                                                         werden:
                                                                                                                                                        * alphabetisch, ohne Titel
                                                         Mehr Bearbeitungszeit für die Architekturteams:        Die Jury nach erfolgter Entscheidung.
                                                         Es sollten jedenfalls zwei Wochen sein und kann
                                                         bis zu den üblichen acht Wochen reichen.

                                                         Keine Aufhebung der Anonymität während der
                                                         Jurysitzung: da dies ein hohes Gefahrenpotenzial
                                                         im Rahmen des Vergaberechts darstellt.

                                                         Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger:
                                                         (eventuell gegen Anmeldung im Vorfeld) den ge-
                                                         samten Juryprozess mitzuerleben – da dies die
                                                         beste Form der Baukulturvermittlung darstellt.

                                                         Resümee

                                                         Bei diesem Verfahren war die intensive Ausein-
                                                         andersetzung der Architektinnen und Architekten
Architekt Rainer Köberl bei der Präsentation des
                                                         mit den wirklichen Bedürfnissen der Bevölkerung
Siegerprojekts an die Bevölkerung unmittelbar nach der   der Schlüssel zum Erfolg. Diese Interaktion hat
Juryentscheidung.                                        viele Barrieren auf beiden Seiten abgebaut und
                                                         eine neue Qualität des Dialogs mit sich gebracht.
                                                         Das gegenseitige Zuhören wurde wertgeschätzt.
                                                         Zwei Zitate stehen stellvertretend für diese neue
                                                         Gesprächskultur.

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Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Die neue Mitte des Dorfes                                                                                                        Bei der Eröffnung
                                                                                                                           treffen Jung und Alt in
                                                                                                                              entspannter Stimmung
                                                                                                                                  auf Alt und Neu.

Der Tiroler Ortschaft Fließ glückte es, ih-
ren Dorfkern wieder zu beleben. Ein Dach,
ein Brunnen, drei neue Häuser mit unter-
schiedlichen Nutzungen und eine Tief-
garage mit freigelegten archäologischen
Funden bringen nachhaltig Leben in die

                                                                                                A
Ortsmitte.

Isabella Marboe

                                                                                                                                                     „Dörfer brauchen keinen Bilbao-
                                                                                                                                                     Effekt mit Architektur, die als eitler
                                                                                                                                                     Solitär vom Himmel fällt. Denn bei

                                                                                         A
                                                                                                                                                     der Operation am offenen Herzen
                                                                                                                                                     des Ortskerns geht es vor allem
                                                                                                                                                     darum, alle Generationen in
                                                                                                                                 0   10   20         die Mitte zu holen. Dann kann ein
                                                                                                                     Grundriss Brunnenplatz
                                                                                                                                                     Haus einen Platz beleben und
                                                                                                                                                     beides ein Dorf.“
Durch die Integration eines Supermarkts am Brunnenplatz                                                                                              Maik Novotny: Ein Haus, ein Platz, ein Dorf, in: Der Standard, 4. April 2015
                 kann direkt im Dorf eingekauft werden.

Fließ ist ein Bergdorf in Tirol. Die Gemeinde liegt       Die Hauptstraße durch das Dorf geht auf die Via
auf etwa 1073 Metern Seehöhe im Bezirk Lan-               Claudia Augusta zurück, die bereits zur Römer-
deck auf einem Plateau über dem Inntal am Fuß             zeit durch den Ort führte. Damals war Fließ eine
des Krahbergs. Fast 3000 Menschen leben hier,             wichtige Raststation, auch die katholische Kirche
echte Bausünden sind im Ortskern kaum zu fin-             Mariä Himmelfahrt ist eine der ältesten der Regi-
den. Dafür umso mehr alte Bauernhäuser mit                on. Noch immer ist die Straße bestimmend für das
mächtigen, steinernen Sockelgeschoßen und                 Dorf. Trotzdem hatte der Ort massiv mit Leerstän-
ausgefachten Holzfachwerken unter ausladenden             den im Zentrum zu kämpfen: Die alte Volksschule
Dächern. Der Schwarzplan zeigt eine weitgehend            stand leer, weil eine neue am Ortsrand errichtet
intakte, kleinteilige Dorfstruktur mit vielen Frei-       worden war, der letzte Greisler hatte schon lang
räumen. Dicht schmiegen sich die alten Häuser,            das Handtuch geworfen, der Ort keinen Nah-
Ställe und Stadel an die Hauptstraße, dazwischen          versorger mehr. Das ehemalige Gasthaus „Zum
wuchern üppige Bauerngärten, auch Neubauten               weissen Kreuz“ bei der Busstation war ebenso
fügen sich weitgehend dezent ein. Die Besied-             verwaist wie umliegende Wohnhäuser. Selbst die
lungsgeschichte von Fließ reicht sehr weit zurück.        Gemeinde nutzte eine ehemalige Arztwohnung im               Der neue
                                                                                                                    Marktplatz
Viele bedeutende archäologische Funde wurden              zweiten Stock, die nicht barrierefrei war, als Büro.          bietet
hier geborgen und von einem sehr engagierten                                                                       vielseitige
Verein im Museum Fließ ausgestellt. Dies wird auf                                                                    Nutzungs-
Cortenstahltafeln schon an der Bundesstraße an-                                                                  möglichkeiten
                                                                                                                       für die
gekündigt.                                                                                                       BewohnerInnen
                                                                                                                    von Fließ.

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Das Wunder von Fließ Wie ein lebendiges Ortszentrum entsteht - nonconform
Ein neues Dach für
                                        den Dorfbrunnen                                                                                                               „Primär wollten wir den Straßenraum nicht auf-
                                                                                                                                                                      reißen, aber trotzdem regen- und schneesichere
                                                                                                                                                                      Zu- und Abgänge schaffen.“ Die Untersicht des
                                                                                                                                                                      Daches ist mit Holz verkleidet und mit Beleuch-
                                                                                                                                                                      tungskörpern aus schwarz pulverbeschichtetem
                                                                                                                                                                      Blech ausgestattet: Dadurch wirkt es wohnlich
                                                                                                                                                                      und kann auch nachts den Platz erleuchten. Er ist
„Durch das Hearing in                                                                                                                                                 ein strategisch wichtiger Verteiler und wirkt schon
                                                                                                                                                                      auf der Straße als Signal für die neue Sequenz an
Form der Ideenwerkstatt,                                                                                                                                              öffentlichen Räumen, die von den drei Neubauten
wo wir zwei Tage Zeit                                                                                                                                                 gerahmt und definiert werden. Jeder ist anders
                                                                                                                                                                      konfiguriert und fügt sich so in die Struktur und
hatten, einfach nur zu-                                                                                                                                               die Topografie des Ortes.

zuhören, konnte im Kopf
eine ganz neue räumliche
Antwort reifen.“
Rainer Köberl und Daniela Kröss,
ArchitektInnen des Siegerprojekts

                                                          Möglichkeiten schaffen                                 Ein Dach für ein Dorf

                                                          Es musste etwas geschehen. Die Gemeinde sorg-          Rainer Köberl und Daniela Kröss siegten ein-         Archäologische Ausgrabungen in der Tiefgaragenebene
                                                          te vor und traf zwei wegweisende Entscheidun-          deutig. Ihr Projekt besteht im Prinzip aus einem
                                                          gen: Sie kaufte die Stuemergründe mit der verlas-      großen, etwa 15 Meter breiten, 25 Meter langen,
                                                          senen Volksschule und zwei weiteren leeren Häu-        unregelmäßig trapezförmigen Dach mit runden          Die drei Baukörper treten wechselweise miteinan-
                                                          sern auf. Diese liegen direkt an der einstigen „Via    Oberlichten auf zarten Stahlstützen und drei Häu-    der in Beziehung und sind unter Plätzen, Stiegen
                                                          Claudia“, gegenüber vom leeren Gasthaus mitten         sern.                                                und Wegen über die Ebene der Tiefgarage ver-
                                                          im Dorf. Hier sollten ein neuer Platz mit neuem                                                             bunden: Dort fanden sich archäologische Ausgra-
                                                          Gemeindeamt, einer Poststelle, Tourismusinfor-         Das Dach lässt im Norden mit seiner schrägen         bungen eines „rätischen Hauses“ aus dem 5. bis
                                                          mation, Gemeindearzt, Friseur, Lebensmittelmarkt,      Flucht die „Via Claudia“ optisch gleichermaßen ins   1. Jhdt. v. Chr., die nun – durch ein Oberlicht und
                                                          öffentlichem WC, Tiefgarage und Kleinwohnun-           Dorf schwappen und dockt direkt am neuen Haus        von der Seite natürlich erhellt -, in Cortenstahl ein-
                                                          gen für besonders junge und betagte Bürger und         mit MPREIS und Arztpraxis an, das in seiner koni-    gefasst, gut sichtbar präsentiert in die somit auch
                                                          Bürgerinnen entstehen, um das Zentrum wieder           schen Grundrissform auf das Dach reagiert.           natürlich belichtete und belüftete, zur Außenstelle
                                                          zu beleben. Der Höhenunterschied zwischen der          Es ist eines von drei neuen Häusern, die um eine     des Museums geadelte Tiefgarage integriert wur-
                                                          Dorfstraße im Norden und den archäologischen           Sequenz von markanten öffentlichen Räumen auf        den. Von hier führt ein Lift auf alle Ebenen bis hin-
                                                          Funden des „rätischen Hauses“ beträgt gute fünf        unterschiedlichen Ebenen miteinander in Bezug        auf zu dem Steg, der die Arztpraxis an den „Brun-
                                                          Meter: eine komplexe Ausgangslage.                     treten und so ein vielschichtiges Gefüge bilden,     nenplatz“ bei der „Via Claudia“ anbindet. So trifft
                                                                                                                 auf dem sich ganz beiläufig zu unterschiedlichsten   die Lebenswelt der Vergangenheit auf Gegenwart
                                                          Um diese für den ganzen Ort so bedeutsame Pla-         Anlässen das Dorfleben entfalten kann. „Zuerst       und Zukunft von Fließ.
                                                          nung nicht über die Köpfe seiner Bewohnerinnen         war das Dach da“, sagt Rainer Köberl.
                                                          und Bewohner hinweg ablaufen zu lassen, wurde
                                                          das Wettbewerbsverfahren dafür in eine vor ort
                                                          ideenwerkstatt eingebettet. Zwei Tage tauschten
                                                          sich die fünf beteiligten Architekten vor Ort mit
                                                          der Bevölkerung aus, dann bearbeiteten sie ihre
                                                          Projekte weiter und präsentierten sie öffentlich vor
                                                          der Jury.

Der Höhenunterschied im Zentrum wird durch vielfältige                                                             Schnitt   0   5    10
Zugänge neu erlebbar.

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Ein Brunnen für einen Platz                         „Es ist uns wichtig, dass
Am Übergang zur „Via Claudia“ steht – halb un-      Pflanzen das neue Ambi-
ter dem Dach, halb im Freien – ein Brunnen: Sein
Trog ist aus Lärchenholz, das im Wasser feurig      ente bereichern. Bäume
rot bleibt. Das umlaufende Sitzbrett aber ist aus
Haselfichte. Es wird mit der Zeit silbergrau und
                                                    in besonderen Positionen
stammt aus Wäldern der Gegend. An der Wand          sollen, ebenso wie die
mit der Anzeigentafel für die Busabfahrten steht
eine Bank unter Dach, eine zweite lugt vorwitzig    Verwendung von Holz und
auf die Straße. Auf diesem „Brunnenplatz“ können
die Menschen aus Fließ und jene, die mit dem Rad
                                                    Putz, eine dörfliche, nicht
durchfahren, rasten, trinken und das Geräusch       zu ,cleane‘ Atmosphäre
des Wassers auf sich einwirken lassen, das die
Luft befeuchtet.                                    erzeugen.“
                                                    Rainer Köberl und Daniela Kröss, ArchitektInnen des
„Ein Brunnen ist wie ein Heiligtum“, meint Rainer   Siegerprojekts
Köberl. „Sein Klang hat etwas Meditatives.“ Von
diesem Brunnen sieht man auf die Straße, aber
auch auf das neue Gemeindehaus mit Post und
Tourismusinformation, das den Platz im Westen
rahmt. Es ist ein dreigeschoßiger Quader von etwa
14 mal 17 Metern, in den horizontale Fensterbän-
der und Loggien eingeschnitten sind.                                                                                                                                 Die Eröffnung wurde mit einem großen Fest zelebriert.
Er folgt der Logik alpiner Bauernhäuser: ein mas-
siver Sockel aus Sichtbeton, darüber Holz. Die                                                                Eine Gemeinde für ihre Bürgerinnen und
vertikalen Lärchenlatten werden mit der Zeit grau                                                             Bürger
und passen wunderbar zu den Schuppen und Sta-
deln. Die mittlere Ebene setzt am „Brunnenplatz“                                                              Köberl und Kröss planten auch das Innere. Die        Das Stiegenhaus ist lichtdurchflutet, die Bürger
auf: Hier sind Post und Tourismusinformation.                                          Der Brunnenplatz bei   Fassade im Süden hat über die ganze Länge ein        mit ihren Anliegen werden von Tischen mit Ses-
                                                                                        der Eröffnungsfeier   Fensterband und einen prächtigen Blick über den      seln und Stehpulten im obersten Stock freundlich
                                                                                                              Marktplatz: Dahinter liegt der birkensperrholzver-   empfangen, dahinter sitzen die Beamten in einem
                                                                                                              kleidete, technologisch voll ausgestattete Ge-       hellen, offenen Großraumbüro. Am Boden liegt Ei-
                                                                                                              meinderatssaal mit Bar. Die Holzelemente seiner      chenparkett, Wände und Decke sind mit Birken-
                                                                                                              Stirnwand lassen sich zu Wahlzellen ausklappen,      sperrholz verkleidet, die Akustik ist perfekt, durch
                                                                                                              eine ist behindertengerecht. Wenn der Gemein-        ein Fensterband im Osten fällt hell die Morgenson-
                                                                                                              derat tagt, werden die Rollos heruntergezogen.       ne herein, das Büro des Bürgermeisters ist auch
                                                                                                              Sonst wird der Raum auch vermietet. Im Keller ist    nach Süden orientiert und als zeitgenössische Zir-
                                                                                                              das Archiv, im transparenten Sockel am „Markt-       benholzstube mit Zirbe und Eckbank ausgestattet.
                                                                                                              platz“ bekamen die Jugendlichen einen Raum, da-      Von seinem Balkon, der Rauchern und Raucherin-
                                                                                                              neben zog ein Friseur ein.                           nen gastfreundlich offen steht, sieht man über den
                                                                                                                                                                   Platz und zum Wohnturm gegenüber.

                                                                                                                                                                                      Das Bürgermeisterbüro
                                                                                                                                                                                      bei der Eröffnung

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Ein Turm zum Wohnen                                     Ein Markt für alle                                                                                         „Die Einwohnerzahl
Der vierstöckige Bau ist massiv und mit weißem          Der Raum für die Jugendlichen liegt prominent in       Das Bistro liegt hinter raumhohen Glasscheiben      von Fließ ist wieder
Kalkputz verkleidet. Klar und übersichtlich ist das     der Sockelzone der Gemeinde direkt gegenüber           direkt am „Marktplatz“, wo sich auch der gedeckte
durchgesteckte, von zwei Seiten belichtete Stie-        vom MPREIS. Die Tiroler Supermarktkette besie-         Aufgang aus der Tiefgarage befindet. Schwarze       gestiegen und es gibt
genhaus in der Mitte, durch das man direkt auf die
Gemeinde oder auf den abgesenkten Garten auf
                                                        delte das Geschoß unter der Arztpraxis und schuf
                                                        mit ihrem Bistro einen Treffpunkt für alle. Das mar-
                                                                                                               Wände und Decken, der sonnengelbe Boden und
                                                                                                               Tische und Rücklehnen aus Holz erzeugen eine
                                                                                                                                                                   eine Nachfrage nach
der Rückseite des Wohnturms sieht. „Wenn man            kante rote Logo ist schon oben am „Brunnenplatz“       freundliche Atmosphäre. Vom Bistro aus hat man      Grundstücken und
zum Lift geht, schaut man ins Dorf“, sagt Daniela       zu sehen, eine Ebene tiefer liegt der helle Laden      die Jugendlichen, die neue Gemeinde, den Tiefga-
Kröss. Die lapidare Erschließung verweist auf Bau-      mit dem sonnengelben Kunstharzboden, auf dem           ragenaufgang und den ganzen Platz im Blick. Bei     Wohnungen – sogar
ernhäuser. Am breiten, hellen Mittelgang liegen je
zwei Wohnungen im Westen und zwei im Osten.
                                                        frei die Regalreihen stehen.                           gutem Wetter breitet sich das Bistro mit Tischen
                                                                                                               und Sesseln in den öffentlichen Raum aus. Das
                                                                                                                                                                   von Menschen, die
Jede ist über Eck zu einer weiteren Himmelsrich-                                                               Dorf hat seine Mitte wieder.                        nach Fließ zuziehen
tung orientiert und hat eine eingeschnittene Log-
gia oder einen auskragenden Balkon. Die Woh-                                                                                                                       wollen.“
nungen sind zwischen 45 und 50 m² groß, ihre
                                                                                                                                                                   Sonja Bettel, in: Landluft Baukulturgemeinde-Preis 2016
Grundrisse sind offen und kompakt. Für familiäre
Feste und Feiern aller Art gibt es einen großflächig
verglasten Gemeinschaftsraum, der auch von den          Die neue Mitte
Senioren gern zum Kartenspielen genutzt wird.           im Dorf

                                                                                                                                                                                            Die Mitte des Dorfs
                                                                                                                                                                                            erstrahlt in neuem
                                                                                                                                                                                            Glanz

                                                        Ein Turm zum
Er bietet freie Sicht auf die Gemeinde, den neu-        Wohnen

en Marktplatz und die Straße, die ihn im Westen
säumt. In drei Wochen waren alle Wohnungen
vergeben. „Die vor ort ideenwerkstatt war wich-
tig“, sagt Rainer Köberl. „Erst im Gespräch mit den
Menschen zeigte sich, dass sie den Dorfplatz gar
nicht brauchen. Die abfallende Straße eignet sich
auch gar nicht dafür. Allerdings diente sie von al-
ters her als Raum für Feste: da ist sie voller Tische
und Bänke und spielt nun die Musik unter dem
neuen Dach.“ Auch die Zahl der geforderten Woh-
nungen wurde korrigiert: Sie sank von 18 auf 14,
in Anbetracht der Maßstäblichkeit des Ortes eine
nicht unwesentliche Verringerung des Volumens.
Dafür zeigte sich, dass ein Raum für Jugendliche
fehlte. Nun gibt es ihn.

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Lernen von Fließ                                                                                                                            Freiluftklassenzimmer

Ausblicke für Zukunftsorte am Land

Österreichs mehr als 2000 Gemeinden und Städ-          Bauen am Land bietet die Chance auf einen in-        In Fließ hat das Pilotprojekt zur Ortskernstärkung
te investieren jedes Jahr viele Milliarden Euro. Ein   tensiven Austausch mit den Akteuren vor Ort,         zahlreiche weitere spannende Projekte von höchs-
großer Teil davon fließt in die Errichtung von Ge-     mit den unmittelbaren Nutzerinnen und Nutzern.       ter inhaltlicher wie baukultureller Qualität ermög-
bäuden und Freiräumen. Damit sind die Kommu-           Dabei spielt das Ehrenamt eine große Rolle: Man-     licht. Eine Auswahl:
nen einer der größten Bauherren im Land und tra-       che kommunalen Bauprojekte wären ohne den
gen wesentlich zur Gestaltung des Lebensraums          Einsatz engagierter Bürgerinnen und Bürger nie       Die Aussichtsplattform am Gachener Blick: Nahe
und damit zur Lebensqualität der Menschen bei.         begonnen worden oder nicht umsetzbar gewesen.        dem Naturparkzentrum entstand als Ergebnis ei-
Bei diesem Bauvolumen soll es jedoch nicht nur         Die Identifikation mit dem eigenen Ort ist in der    nes Architekturwettbewerbs eine spektakuläre
um das simple Erfüllen von Raumprogrammen              Regel höher und bauliche Veränderungen werden        Plattform zum Genuss der Landschaft.
gehen. „Beim Bauen muss sich mehr bewegen              daher gerade in kleinen Gemeinden sehr viel stär-
als nur die Baumaschinen“, brachte es ein Bür-         ker wahrgenommen und sind oftmals höher emo-         Das Knabl-Marth-Haus: Mit dem Erwerb und der
germeister auf den Punkt. Was vordergründig als        tional besetzt als im urbanen Kontext.               mustergültigen Sanierung eines ortsbildprägen-
Bauaufgabe gesehen wird, kann sich sehr rasch                                                               den und dem Verfall preisgegebenen historischen
zu einem von den Bürgerinnen und Bürgern getra-        Kommunen profitieren vom Mobilisierungspoten-        Bauernhauses konnte die Gemeinde einen Ort zur
genen Prozess entwickeln, der durch seinen um-         zial, das Bauaufgaben mit sich bringen. Bürgernä-    Dokumentation der eigenen Geschichte schaffen.
fassenden Betrachtungs- und Problemlösungsan-          he ist ein angenehmer Nebeneffekt, prozesshaftes                                                              FREIRAUM! Das Freiluft-Klassenzimmer als Lern-
satz sämtliche essenziellen kommunalen Belange         Arbeiten mit Bürgerbeteiligung führt auch vielfach                                                            Ort in der Natur bietet allen Schülerinnen und
umfasst.                                               zu deutlich besseren Lösungsansätzen. Im Zeit-                                                                Schülern die Möglichkeit, in der wunderbaren Kul-
                                                       alter von Politikverdrossenheit ist dies zudem ein                                                            turlandschaft zu lernen. Geplant wurde es von he
                                                       überaus geeignetes Mittel für Bürgermeisterinnen                                                              und du (Elias Walch und Christian Hammerl) und
                                                       und Bürgermeister, Menschen an Entscheidungen                                                                 mit engagierter Mitarbeit der SchülerInnen umge-
                                                       und Entwicklungen in ihrem unmittelbaren Umfeld                                                               setzt.
                                                       mitwirken zu lassen.
Aussichtsplattform am Gachener Blick,
                                                                                                                                                                     Der Erwerb von innerörtlichen Grundstücken
Architektur: columbosnext
Tragwerksplanung: Alfred R. Brunnsteiner                                                                                                                             durch die Gemeinde, um verdichtetes und leist-
Landschaftsarchitektur: giencke mattelig                                                                                                                             bares Wohnen für die Bürgerinnen und Bürger
                                                                                                                                                                     zu ermöglichen, damit auch junge Familien im Ort
                                                                                                                                                                     bleiben können und nicht in die Ballungszentren
                                                                                                                                                                     ziehen.

                                                                                                                                                                     Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs, damit auch
                                                                                                                                                                     ein Bergdorf optimal an die Infrastrukturen der
                                                                                                                                                 Knabl-Marth-Haus
                                                                                                                                                                     Ballungsräume angeschlossen ist.

                                                                                                            Weitere Nachverdichtungen in der Ortsmitte – z. B.       Das aktuellste Projekt ist die sogenannte Berg-
                                                                                                            durch das Schaffen von neuem Wohnraum oder               arena, ein Sport- und Freizeitzentrum, das vom
                                                                                                            durch die Sanierung des historischen Museums.            Architekturbüro AllesWirdGut geplant wird.

                                                                                                                           Das Museum wurde sachkundig saniert und   Die geplante neue Bergarena von
                                                                                                                              an zeitgemäße Bedürfnisse adaptiert.   AllesWirdGut Architektur

24                                                                                                                                                                                                                 25
Diese umfassende Beschäftigung mit der Zukunft        4
eines Ortes und der Klugheit der qualitätsvollen      Gute Planer vor Ort einsetzen: Die Planerinnen
Umsetzung hat sowohl die Jury des LandLuft            und Planer sind wichtige Partner für Baukultur in
Baukulturgemeinde-Preises als auch jene des           ländlichen Gemeinden.
Europäischen Dorferneuerungspreises überzeugt.
Abgeleitet aus der vorbildlichen Arbeit der Ge-       5
meinde Fließ, können für andere Orte folgende         Neue Wettbewerbsverfahren forcieren: Angemes-
Strategien zur Verbesserung und nachhaltigen          sene Ideenfindungsverfahren braucht das Land.
Stärkung ihrer gebauten Umwelt gezogen wer-
den, die eine neue politische Kultur in den Dörfern   6
ermöglichen:                                          Regionale Universitäten und Fachhochschulen
                                                      einbeziehen: An der Beantwortung der Zukunfts-
                                                      fragen des ländlichen Raumes sollen auch Ausbil-
1                                                     dungsinstitutionen mitwirken.
Innovative Beteiligungskultur leben:
Die Bürgerbeteiligung als Schlüssel                   7
                                                      Zentrumsstärkung: Die Stärkung der Ortszentren
2                                                     fördert die Identität und erzeugt Orte der kurzen
Mutige Zukunftsstrategie umsetzen:                    Wege.
Die strategische Zukunftsentwicklung schärft das
Profil einer Gemeinde und erhöht die Wahrneh-
mung.

3
Kompetente Verwaltung und Politik fördern: Mehr
Kompetenz in der Bauverwaltung und Politik in
                                                                         Das Dorfzentrum mit Supermarkt und
der Beratung vor Ort.                                                   Wohnturm hat sich als Treffpunkt in
                                                                                           Fließ etabliert.

                                                                                                              Impressum
                                                                                                              Herausgeber                                               Alle Fotos stammen von nonconform
                                                                                                              nonconform, www.nonconform.at                             mit Ausnahme von:
                                                                                                                                                                        meinbezirk.at: 04 (o.r.)
                                                                                                              Mitherausgeber                                            Gemeinde Fließ: 07 (u.r.)
                                                                                                              Gemeinde Fließ, www.fliess.tirol.gv.at                    Georg Herder: 03, 04 (o.l.), 06 (u.l.), 18 (u.l.),
                                                                                                              Architekturbüro Köberl & Kröss, www.rainerkoeberl.at,     19 (o.r.), 22 (l.), 25, 27
                                                                                                              www.danielakroess.at                                      Lukas Schaller: 22 – 23 (u.l.)
                                                                                                                                                                        David Schreyer: 25 (o.r.)
                                                                                                              Redaktion und Texte
                                                                                                                                                                        AWG Architektur: 26 (u.r.)
                                                                                                              Barbara Feller, Roland Gruber
                                                                                                                                                                        Pläne
                                                                                                              Layout
                                                                                                                                                                        Rainer Köberl, Daniela Kröss: 16 – 17
                                                                                                              Stefanie Salzmann
                                                                                                                                                                        LandLuft: 07 (o.r.)
                                                                                                              Lektorat
                                                                                                                                                                        Druck
                                                                                                              Dorrit Korger
                                                                                                                                                                        Druckerei Robitschek & Co. Ges.m.b.H
                                                                                                                                                                        Februar 2019
                                                                                                                                                                        Auflage: 2000 Stück

                                                                                                              Mit Unterstützung von:
                                                                                                              Land Tirol: Abteilung Bodenordnung-Geschäftsstelle für
                                                                                                              Dorferneuerung, Abteilung Wohnbauförderung
                                                                                                              Kammer der ZiviltechnikerInnen für Tirol und Vorarlberg
                                                                                                              aut. architektur und tirol

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www.fliess.tirol.gv.at   www.nonconform.at   www.rainerkoeberl.at   www.danielakroess.at
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