"Der bewusstlose Geiger"- unipub

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„Der bewusstlose Geiger“-
Nützlichkeit von Gedankenexperimenten im Philosophieunterricht mit
        genauerem Augenmerk auf Inhalt und Fachdidaktik

                        Diplomarbeit

             zur Erlangung des akademischen Grades
                  einer Magistra der Philosophie

               an der Karl Franzens-Universität Graz

                           vorgelegt von
                         Denise SCHEIBL

              am Institut für Fachdidaktik Philosophie
               Begutachterin: Dr.phil. Barbara Reiter

                         Graz, April 2020
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen bedanken, die zum Zustandekommen
und Gelingen der Arbeit beigetragen haben.

Zuallererst möchte ich mich bei Frau Dr. phil. Barbara Reiter für die Möglichkeit
bedanken, die Diplomarbeit in diesem Fach zu verfassen und für die angenehme
Betreuung. Ihre Unterstützung erleichterte den Entstehungsprozess ungemein.

Besonders möchte ich mich auch bei Mag. Peter Rabl sowie seiner Kollegin Mag.
Birgit Remele von der AHS Bruck an der Mur bedanken, welche die praktische
Erprobung des Experiments in einer Unterrichtsstunde ermöglichten.

Des Weiteren möchte ich mich auch bei meiner Familie, meinen Freunden und
meiner Studienkollegin bedanken, die für seelische Unterstützung sowie für das
Korrekturlesen zur Verfügung standen.
Vorwort
Im Laufe meiner Schulzeit an der HLW Schrödinger in Graz hat mich der Psycho-
logie- und Philosophieunterricht bereits in seinen Bann gezogen, was mich dann
schließlich auch dazu bewegt hat, diese Fächerkombination innerhalb meines
Lehramtsstudiums aufzugreifen.

Während des Studiums und vor allem im Fachdidaktik-Kurs von Frau Prof. Dr.
phil. Barbara Reiter habe ich meinen Fokus verstärkt auf Gedankenexperimente
gelenkt. Ich stellte mir bereits dort die Frage, ob und wieweit Gedankenexperi-
mente innerhalb des Unterrichts aus pädagogischer, inhaltlicher und fachdidakti-
scher Sicht als sinnvoll erachtet werden können.

Um evaluieren zu können, ob diese gedanklichen Fantasiereisen den Unterricht
bereichern beziehungsweise einen Mehrwert aufseiten der Schüler und Schülerin-
nen sowie auch aufseiten der Lehrperson selbst darstellen, habe ich mich intensiv
mit dem Gedankenexperiment „Der bewusstlose Geiger“ von Judith Jarvis Thom-
son auseinandergesetzt. Es wurden ein inhaltlicher sowie ein fachdidaktischer
Schwerpunkt bei der Erarbeitung dieser Evaluierung gelegt. Zusätzlich war es mir
wichtig, dieses Experiment durch eine praktische Erprobung und durch zuvor
formulierte Hypothesen in einer Klasse durchzuführen, um den Erkenntnisgewinn
der Schüler und Schülerinnen zu untersuchen sowie die Erfahrungen der Lehrper-
son selbst in Augenschein zu nehmen.

Diese Arbeit untersucht die Frage nach der Nützlichkeit von Gedankenexperimen-
ten innerhalb des Philosophieunterrichts und soll auch mithilfe persönlicher Erfah-
rungen und einer praktischen Erprobung die Vor- und Nachteile beziehungsweise
die Nützlichkeit bei sinnvoller Vorbereitung und Durchführung aufzeigen.
Inhaltsverzeichnis

1    Einleitung ....................................................................................................................... 1

2    Das Gedankenexperiment ............................................................................................... 3
    2.1                    Versuch einer Definition ......................................................................... 4
    2.2                    Typologien philosophischer Gedankenexperimente ............................... 5
    2.3                    Gedankenexperimente seit der Antike .................................................... 6
    2.4                    Gedankenexperiment: Rolle in der Schule ............................................. 8
    2.5                    Lehrplanbezug....................................................................................... 10
    2.5.1                  Warum Ethikunterricht in der Philosophie? ......................................... 11

3    Judith Jarvis Thomson „Der bewusstlose Geiger“ ....................................................... 12
    3.1                    Sonderfälle ............................................................................................ 15
    3.2                    Einbettung des Experiments ................................................................. 16
    3.3                    Leben und Tod ...................................................................................... 17
    3.4                    Peter Singer über Abtreibung................................................................ 19
    3.5                    Feministische Sichtweise ...................................................................... 20
    3.6                    Grundlegende theologische und ethische Probleme ............................. 21

4    Lehrplananalyse ............................................................................................................ 23

5    Argumentation .............................................................................................................. 26
    5.1                    Wichtige Prozeduren innerhalb philosophischer Diskussionen:........... 30
    5.1.1                  Positionierung und Positionierungsprozeduren .................................... 31
    5.1.2                  Konzedieren .......................................................................................... 32
    5.1.3                  Begründen und Schließen ..................................................................... 33
    5.2                    Philosophische Diskussion.................................................................... 33
    5.2.1                  Was genau ist nun eine philosophische Diskussion? ............................ 34
    5.2.2                  Verständnisfragen vs. Diskussionsfragen ............................................. 34
    5.2.3                  Diskussionsleitung ................................................................................ 35
    5.2.4                  Ergebnissicherung ................................................................................. 36
    5.2.5                  Einteilung nach Sozialform................................................................... 37
    5.2.6                  Gruppenarbeit und ihre Vor- und Nachteile ......................................... 38
    5.2.7                  Einteilung nach Art des Gegenstandes ................................................. 42

6    Hypothesen ................................................................................................................... 44
    6.1                    Erwartungshaltung/Annahmen über SuS-Verhalten ............................. 44
    6.2                    Spezielle Annahmen ............................................................................. 44

7    Unterrichtsverlauf ......................................................................................................... 45
    7.1                    Prototypischer Verlauf einer Dilemma-Diskussion .............................. 46
8     Relevante Fachdidaktiken beim Einsatz von Gedankenexperimenten ......................... 48
     8.1                    Volker Pfeifer: Ethik als Selbstreflexion .............................................. 48
     8.2                    Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion ...................................... 49
     8.2.1                  Ziele der Dilemma-Diskussion ............................................................. 49
     8.2.2                  Didaktische Prinzipien .......................................................................... 51
     8.3                    Tatsächlicher Verlauf der Dilemma-Diskussion ................................... 55
     8.4                    Unterrichtseinheit .................................................................................. 55
     8.4.1                  Ablauf ................................................................................................... 56
     8.4.2                  Methode ................................................................................................ 58
     8.4.3                  Analyse der Unterrichtseinheit ............................................................. 60
     8.5                    Vorteile ................................................................................................. 70
     8.6                    Nachteile ............................................................................................... 71

9     Auswertung inhaltliche Ebene ...................................................................................... 72

10    Auswertung fachdidaktische Ebene ............................................................................. 73

11    Philosophische Sichtweise............................................................................................ 77

12    Merkmale des Philosophierens ..................................................................................... 80

13    Fazit .............................................................................................................................. 82

14    Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 86
     14.1                   Bücher ................................................................................................... 86
     14.2                   Internetquellen ...................................................................................... 88
     14.3                   Abbildungsverzeichnis .......................................................................... 89
     14.4                   Tabellenverzeichnis .............................................................................. 89
1         Einleitung

Vor allem bei Kindern kann man beobachten, wie sie die erste Stufe der Selbst-
ständigkeit erreichen und damit beginnen, ihre eigenen Glieder zu prüfen; wie sie
von ihren Spiegelbildern oder von ihren Schatten im hellen Sonnenschein befrem-
det, durch Bewegungen die Bedingungen desselben zu ermitteln suchen; wie sie
sich im Werfen nach einem Ziel üben. So müssen wir sagen, dass die instinktive
Neigung zum Experimentieren dem Menschen angeboren ist und dass er ebenso
die Grundmethode des Experiments, die Methode der Variation, ohne viel nach
derselben zu suchen, in sich vorfindet.1

Moralische Konflikte und damit verbundene moralische Dilemmata sind ein we-
sentlicher Bestandteil unseres Lebens. Es beginnt schon im Kleinkindalter und
zieht sich durch unsere gesamte Lebensspanne, dass wir alltägliche Entscheidun-
gen treffen müssen, die moralisch komplex sind und keine allgemein akzeptierte
Lösung besitzen. All diese Probleme haben nicht nur Konsequenzen auf der insti-
tutionellen und politischen Ebene, sondern betreffen auch unsere persönlichen, in-
dividuellen Belange. Es stellt sich die Frage, warum es für viele Situationen und
ethische Fragestellungen keine allgemein akzeptierte Lösung gibt.2 Auch das in
der folgenden Arbeit behandelte Gedankenexperiment von Judith Jarvis Thomson
fokussiert eine Thematik, welche ebenso heute noch heiß diskutiert und von ver-
schiedensten Positionen kritisiert wird.

Um einen kurzen Überblick zu schaffen, wird nun erläutert, in welche Bereiche
die Arbeit gegliedert wird. Es zeichnen sich zwei große Teilbereiche heraus. Der
erste ist eine theoretische Aufarbeitung, wobei sich nachfolgend der zweite Teil-
bereich als praktische, fachdidaktische Auseinandersetzung mit dem behandelten
Thema äußert. Das erste Kapitel ist eine allgemeine Einführung. Hierbei wird zu-
nächst der Terminus Gedankenexperiment generell aufgegriffen und es soll ge-
zeigt werden, dass dieser Begriff schon sehr früh eingeführt wurde. Wichtig ist ei-

1
    Vgl. Mach 1917: 183f
2
    Vgl. Ebda: 183f
                                           1
ne klare Erläuterung des Begriffs sowie der Versuch eine passende Definition zu
finden. Gedankenexperimente können auf verschiedenste Art und Weise eingeteilt
werden, was zum nächsten Schritt führt, welcher darauf abzielt, die verschiedenen
Typologien zu betrachten. Schon bei Aristoteles spielten solche moralischen Di-
lemmata eine entscheidende Rolle als Erkenntnisfortschritt. In einem weiteren
Kapitel der Arbeit wird dann die geschichtliche beziehungsweise antike Entwick-
lung beleuchtet. Als Abschluss wird die Rolle von Gedankenexperimenten in der
Schule angeführt und der Bezug zum Lehrplan in Augenschein genommen. Dies
ist ein entscheidender Punkt dieser Arbeit, da im fachdidaktischen Teil die einge-
hende Betrachtung des praktischen Einsatzes von Gedankenexperimenten mit da-
rauffolgender Analyse stattfindet. Zusätzlich werden im zweiten großen Teilbe-
reich der Arbeit, in Zusammenhang mit dem erprobten Unterricht, das Thema Ar-
gumentation und Argumentieren, sowie die Anwendung von Text- und Sprach-
prozeduren und philosophische Diskussionen genauer betrachtet. Es soll eine ein-
gehende Analyse und Bewertung des Einsatzes von Gedankenexperimenten im
Unterricht erfolgen und als Abschluss eine inhaltliche, fachdidaktische und philo-
sophische Auswertung den Schlusspunkt bilden.
Man kann festhalten, dass man sich oft nicht im Klaren ist wie wichtig Gedanken-
experimente beziehungsweise moralische Dilemmata nicht nur für den Philoso-
phieunterricht sondern auch für andere Schulfächer sein können. Dies soll inner-
halb dieser Arbeit gerechtfertigt und erläutert werden. Neben den positiven As-
pekten soll jedoch auch auf eine - trotz subjektiv erlebten Erfahrungen - sachliche
Art und Weise ebenso auf vorhandene Probleme beim Einsatz dieser Unterrichts-
form eingegangen werden. Zusätzlich soll vermittelt werden, dass Schüler und
Schülerinnen häufig mit moralischen Dilemmata konfrontiert werden und dabei
gefordert sind, selbstständig und kritisch darüber nachzudenken beziehungsweise
passend zu argumentieren und zu kritisieren. Sie werden dazu aufgefordert, ent-
sprechende Argumente zu finden und eine mündliche Argumentation in eine
schriftliche weiterzuentwickeln. Hierbei sind sie oft mit einem Wertedissens kon-
frontiert, welcher sie dazu bringt, sich kritisch mit einer Thematik auseinanderzu-
setzen und somit sehr stark kompetenzfördernd, pädagogisch sinnvoll sowie di-
daktisch wertvoll ist.

                                        2
2         Das Gedankenexperiment

Zu Beginn erfolgt eine Einführung des Terminus Gedankenexperiment. Der Be-
griff des Gedankenexperiments wurde in das Vokabular der Naturwissenschaften
und Wissenschaftsphilosophie um das Jahr 1900 zunächst von Ernst Mach einge-
führt. Allerdings ist anzumerken, dass die erste theoretische Arbeit im Jahre 1811
über die Methode des Gedankenexperiments auf den dänischen Naturwissen-
schaftler und Naturphilosophen Hans Christian Orsted zurückzuführen ist. Daran
anknüpfend, schreibt Mach einen Aufsatz über den damaligen Forschungsstand
der Chemie. In diesem, welcher zugleich die Fundstelle dieses Wortes ist und
1812 in Berlin erschienen ist, kommt das erste so bezeichnete Gedankenexperi-
ment vor.3

Orsted führt in seinem Werk spezifische Charakteristika für Gedankenexperimen-
te an:

 Die Methode des Gedankenexperiments behandelt Gegenstände des ‚inneren
Sinns‘, also Vorstellungen.
 Sie involviert (manchmal) die Konstruktion geometrischer Objekte aus anderen
geometrischen Objekten in der Vorstellung.
 Sie ist die Hauptmethode von Differenzial- und Integralrechnung.
 Sie führt im Vergleich mit existierenden Alternativmethoden zu einem „tieferen“
Verständnis.
 Dieses tiefere Verständnis wird erreicht, weil wir jede „Wahrheit in ihrer Geburt
zu sehen bekommen.“4

3
    Vgl. Kühne 2005: 21f
4
    Vgl. Cohnitz 2008: 412
                                        3
2.1    Versuch einer Definition

„Eines sind Gedankenexperimente sicher nicht – Experimente.“5

Die Frage, die man sich im Zusammenhang mit Gedankenexperimenten jederzeit
stellen kann, ist, wie man am besten über ein Problem nachdenkt. Wie sollten wir
uns den großen Fragen über Natur, Ethik und Metaphysik nähern? Wie kann man
einfallsreiche Antworten erhalten und überlieferte Ideen hinterfragen und Vorur-
teile überwinden? Eine Möglichkeit ist laut Joel Levy, das Problem selbst in ei-
nem Rahmen zu betrachten, der kreative und aufschlussreiche Lösungen ermög-
licht. Dieser Weg soll Klarheit anstelle von Verwirrung bringen und das Undurch-
sichtige begreifbar werden lassen. Aus diesem Grund gibt es Experimente.6

In der Neuzeit unterscheidet man generell zwischen den Begriffen Experiment
und Gedankenexperiment. Das Experiment ist eine praktische Tätigkeit in der rea-
len Welt, die oft zur Wissenschaft in Bezug steht. Dieser Begriff kann jedoch auch
eine viel breitere Definition umfassen, die eine rein intellektuelle, auf der Vorstel-
lung basierende Denkweise mit einschließt. Levy schreibt, dass Einstein dies Ge-
dankenexperiment nannte.7

Auch wenn sie zumeist wie merkwürdige Denksportaufgaben oder bloße Spiele-
reien in unserem Kopf erscheinen, sind Gedankenexperimente in ihrer Bedeutung
nicht zu unterschätzen. Laut dem amerikanischen Philosophen W. V. O. Quine
stellten sie im Laufe der Geschichte mehr als einmal den Anlass für große Um-
wälzungen an den Fundamenten des Denkens dar. Es kann festgehalten werden,
dass wenn man sich mit solchen Gedankenexperimenten beschäftigt, man sich
nicht mit bloßen Gedankenspielen, sondern mit wichtigen Schlüsselfragen ausei-
nandersetzt.8

5
  Genz 1999: 1
6
  Vgl. Levy 2017: 13
7
  Vgl. Ebda: 13
8
  Vgl. Ebda: 14
                                          4
Gedankenexperimente trugen außerdem zur Ausgestaltung aller philosophischen
Fachgebiete bei wie Naturphilosophie, Ethik und Metaphysik. Sie wirkten unter
anderem bei der Entstehung verschiedenster Konzepte mit: von der Unendlichkeit
bis zur Relativität, von der Schwerkraft bis zur Zeitreise, vom freien Willen bis
zur Vorbestimmtheit und von der Ungewissheit bis zur Realität. Sie können de-
struktiv sein und definitiv dabei helfen, Theorien und nicht fundierte Annahmen
zu widerlegen, sowie Dogmen und Weltsysteme zu dekonstruieren. Zusätzlich
nützlich ist die Tatsache, dass sie Dinge veranschaulichen und aufzeigen können.
Sie können konstruktiv sein, indem sie als Prämissen abgeleitete Schlussfolgerun-
gen aufstellen, Denkmodelle möglicher Welten errichten und die Auswirkungen
von Theorien und Erkenntnissen ausarbeiten.9

Charakteristisch zeichnen sich Gedankenexperimente in der Regel durch eine
konkrete und häufig lebhafte Bildsprache aus. Sie stellen Szenarien dar und rei-
chen vom Alltäglichen bis zum Bizarren. Für Einstein lag darin der Schlüssel zu
seinen Gedankenexperimenten. Seiner Aussage zufolge entsprechen sie psycholo-
gischen Entitäten, mehr oder weniger klaren Bildern, die reproduziert und kombi-
niert werden können.10

2.2       Typologien philosophischer Gedankenexperimente

Nach Betram und Kuhn gibt es unterschiedliche Typologien von Gedankenexpe-
rimenten. Es ist feststellbar, dass drei verschiedenartige Typen charakterisiert
werden können.

Zunächst gibt es die erklärenden Gedankenexperimente, welche bestimmte be-
griffliche Zusammenhänge illustrieren und sie dadurch auf eine anschauliche
Weise erfassbar machen. Nächster Typ sind die Gedankenexperimente, die zur
Änderung bestimmter Überzeugungen beitragen. Sie lassen sich als besondere
Form von Argumentationen für eine Zielthese begreifen, wobei die Besonderheit
darin besteht, dass ein kontrafaktisches Szenario – ein solches Szenario besteht
9
    Vgl. Levy 2017: 14
10
    Vgl. Ebda: 14
                                       5
dann, wenn erzählerisch eine Situation entwickelt wird, die aber faktisch nicht be-
steht – in die Argumentation eingeht. Schließlich kommen noch Gedankenexpe-
rimente vor, welche zur Schärfung von Innovation und Begriffen beitragen. Sie
formulieren Szenarien, auf deren Basis sich Begriffe und begriffliche Zusammen-
hänge prinzipiell unbegrenzt erkunden lassen.11

Nach Kuhn haben Gedankenexperimente die Funktion, Verwirrungen aufzuklä-
ren, indem sie den Wissenschaftler zur Erkenntnis von Widersprüchen in seinem
bisherigen Denken zwingen. Es kann also festgehalten werden, dass die Beseiti-
gung einer bestehenden Verwirrung nicht zwingend zusätzliche empirische Daten
benötigt und auch in der Natur muss die vorgestellte Situation nicht vorkommen.
Es gilt vielmehr für das Gedankenexperiment, welches lediglich Verwirrung auf-
lösen soll, einzig die Bedingung der Wirklichkeitsnähe.12

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gedankenexperimente aufdecken
können, dass die Natur einem bisherigen System von Erwartungen nicht ent-
spricht, und sie können aufzeigen, dass die Erwartungen und die Theorie abgeän-
dert werden müssen.13

2.3     Gedankenexperimente seit der Antike

„Menschen sind Wesen, die sich vorstellen können, was wäre, wenn… Wollen sie
ein Haus bauen, können sie sich vorher vorstellen, wie sie einen Schritt nach dem
andern ausführen werden. Sie müssen nicht unbedingt vorher die Erfahrung ge-
macht haben. Sie haben nämlich die Fähigkeit, Situationen durchzuspielen, die es
als solche noch nicht, nicht mehr oder überhaupt nicht gibt.“14

Eine besondere Bedeutung kommt Gedankenexperimenten in der Philosophie zu.
Die Geschichte der Philosophie des Abendlandes ist reich mit ihnen gesegnet. Sei

11
   Vgl. Bertram 2012: 41
12
   Vgl. Kuhn 1977: 328
13
   Vgl. Ebda: 348
14
   Betram 2016: 15f
                                         6
es das Höhlengleichnis von Platon oder der Täuschergott von Descartes, welche
seitdem zum Grundbestand abendländischen Denkens gehören. Laut Genz zieren
Gedankenexperimente auch die Entwicklung der Physik, zumindest nachdem der
griechische Philosoph Zenon von Ela seine allerdings falsche Einsicht über un-
endliche Summen auf einen Wettlauf – den dadurch berühmten von Achilles und
der Schildkröte – angewendet hat. Kurze Zeit danach, nämlich um 400 vor Chris-
tus, hat Archytas von Tarent die Unendlichkeit der Welt durch einen Speerwerfer
an deren Rand, über den er hinauswerfen könnte, wenn es den Rand denn gäbe, in
einem Gedankenexperiment zu beweisen versucht. Die Gedankenexperimente des
Philosophen Aristoteles zum Beispiel haben einen fast zweitausend Jahre währen-
den Einfluss auf das abendländische Denken. Genauer gesagt hat das System des
Aristoteles bis hin zu Galileo Galilei das abendländische Denken beherrscht.15

Gedankenexperimente können in der Regel nicht auf Beweise oder gar Ableitun-
gen zurückgeführt werden. Beweise und Ableitungen können sie zwar verwenden,
aber sie müssen dies nicht tun. Sie vermischen Sprache mit Metasprache, verwen-
den Einsichten „über“ ein System so, als könnten sie durch die für das System
geltenden Gesetze abgeleitet werden. Auch in der Vergangenheit tauchen schon
sogenannte Utopien und Dystopien auf. Laut Duden kann eine Dystopie als eine
„fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung oder Ähnliches mit negativem
Ausgang, beschrieben werden“.16 Die Begriffe, leiten sich von dem griechischen
Wort topos für „Ort“ und ou für „nicht“, beziehungsweise dys für „schlecht“ ab.
Das hier behandelte Gedankenexperiment des bewusstlosen Geigers zeigt in mo-
derner Art und Weise Parallelen zu den Dystopien, welche schon, wie zuvor er-
wähnt, in der Geschichte verwendet wurden, um gewisse Szenarien mit schlech-
tem Ausgang durchzuspielen, Menschen zum Nachdenken zu bringen und als
eventuelle Abschreckung zu fungieren. Dystopien beginnen in vielen Fällen mit
der Vorstellung einer vermeintlich fehlerlosen Gesellschaft, einer Utopie. Im Ver-
lauf der Geschichte erkennen die Figuren und die Leser und Leserinnen bezie-
hungsweise Zuschauer und Zuschauerinnen, dass diese fiktive Welt nicht perfekt
ist. Dystopien konzentrieren sich in den meisten Fällen auf aktuelle gesellschaftli-

15
     Vgl. Genz 1999: 4f
16
     Vgl. Duden 2019: URL: https://www.duden.de/woerterbuch
                                       7
che, technologische oder politische Tendenzen.17 Sie zeigen mögliche Konse-
quenzen dieser Entwicklungen auf, wenn man sie zu Ende denkt.

Passend dazu, wie schon in der Einleitung aufgezeigt, beschäftigt sich der be-
wusstlose Geiger, mit der seit der Vergangenheit sowie auch heute noch umstrit-
tenen Thematik der Abtreibung.

2.4      Gedankenexperiment: Rolle in der Schule

Eine wichtige Funktion von Gedankenexperimenten ist die Verifikation. Das be-
deutet im konkreten Fall, dass Gedankenexperimente Fragen nach Berechtigung
oder nach dem Geltungsbereich einer bestimmten Theorie, Kategorisierung oder
Argumentation stellen. Zusätzlich haben Gedankenexperimente im Unterricht
auch eine erklärende und verdeutlichende Funktion. Die wichtigste Funktion ist
jedoch die heuristische Orientierung. Das heißt, die Anwendung derselben ermög-
licht es den Schüler und Schülerinnen, Gedanken durchzuspielen und fiktive, al-
ternative Lösungen zu Szenarien und Fragestellungen zu finden. Man kann somit
für solche Szenarien argumentieren, da die Jugendlichen neue Sichtweisen und
Fragestellungen entdecken können, um damit neue Modelle zu entwickeln und
diese gleichzeitig zu erproben. Engels hebt noch eine vierte, wichtige Funktion
von Gedankenexperimenten hervor. Hierbei handelt es sich um den mäeutischen
Aspekt.18

Helmut Engels betont: „Sie schärfen die Fähigkeit, Unterschiede und Zusammen-
hänge zwischen Begriffen, Ideen oder Sichtweisen herauszufinden, wie dies Sok-
rates in den platonischen Dialogen praktizierte.“19

Gedankenexperimente lassen sich im Unterricht auf zweierlei Weisen verwenden.
Auf der einen Seite kann man mit guten Experimenten die Denkwege von For-

17
   Vgl. Schultrainer 2019: URL: https://www.schultrainer.de/lernen-und-
wissen/fremdsprachen/utopie-und-dystopie-was-ist-das/
18
   Vgl. Brüning 2003: 79f.
19
   Ebda: 80
                                         8
scher und Forscherinnen, die sie selbst bei der Entwicklung einer Theorie hatten,
nachvollziehen. Zum Anderen eignen sie sich auch dafür, zu zeigen und zu erklä-
ren, warum die Verhältnisse in unserer Welt so sind, wie sie sind, oder wie sie in
einer möglichen anderen Welt aussehen könnten. Ein entscheidender Vorteil bei
der Verwendung von Gedankenexperimenten im Unterricht ist, dass sie nur eine
Theorie verwenden und dabei alles Überflüssige außer Acht lassen. Durch ihre
Anschaulichkeit wird der Blick der Schüler und Schülerinnen direkt auf das We-
sentliche gerichtet. Das Skurrile und Überraschende dieser Bildhaftigkeit zieht die
Jugendlichen auch besonders an und macht die Theorie für sie greifbar.20

Gedankenexperimente haben zusätzlich eine bedeutsame pädagogische und didak-
tische Funktion. Ihre Anschaulichkeit, Konkretheit und ihr nicht selten bizarrer
Charakter sowie ihr emotionaler Gehalt machen das in ihnen verschlüsselte philo-
sophische Problem noch „süßer“ und locken philosophische Neulinge zu Ausflü-
gen in mögliche gedankliche Welten, die ihre ganze Denk- und Vorstellungswelt
herausfordern. Das Besondere an ihnen ist, dass die Schüler und Schülerinnen,
auch wenn sie sich sozusagen verlaufen sollten, durch diese Irrwege und Abstürze
oftmals viel mehr lernen, als auf schnurgeraden Wegen des gesicherten oder dog-
matischen Wissens.21

Laut Kant und Wittgenstein kann man die Philosophie nicht lernen, sehr wohl
aber das Philosophieren erlernen. Die Gedankenexperimente sollten daher wie
„wirkliche“ Experimente sorgfältig geplant, umsichtig durchgeführt und kritisch
reflektiert werden. Mit einem einmaligen Durchspielen sind die wenigsten Ge-
dankenexperimente abgetan, einige lassen den Gedankenspieler beziehungsweise
die Gedankenspielerin längere Zeit nicht los und andere erschließen sich erst nach
mehreren Anläufen. Vorteile, die sich daraus ziehen lassen können, sind die Er-
weiterung der eigenen Denk- und Fantasietätigkeit, die Erfahrung der inneren
Freiheit, eine größere geistige Beweglichkeit und allmähliche Immunisierung ge-
gen erstarrte Denk- und Meinungsroutinen, gegen Konformismus und Indoktrina-
tion. Sie sind nicht nur eine unverzichtbare Erkenntnis- und Lehrmethode im Phi-

20
     Vgl. Buschlinger 1993: 85f
21
     Vgl. Ebda: 85f
                                        9
losophieunterricht, sondern mit ihnen kann gewinnbringend auch in anderen Un-
terrichtsfächern gearbeitet werden.22

Es kann also festgehalten werden, dass Gedankenexperimente für den Philoso-
phieunterricht einen gewinnbringenden Aspekt nach sich ziehen. Gibt man den
Schülern und Schülerinnen die Chance, ihren Gedanken - mit Möglichkeiten des
Experimentierens - freien Lauf zu lassen, so hat man sie meist auf seiner Seite.
Diese fantasievolle Methode begeistert, beflügelt und setzt Bereitschaft zum pro-
duktiven und kritischen Denken frei.

2.5      Lehrplanbezug

Bei genauerer Betrachtung des Lehrplans findet man dort die Behandlung von
ethischen Fragestellungen in der 8. Klasse (12. Schulstufe) unter der Überschrift
„Ethische Grundpositionen kennenlernen und ethische Fragestellungen analysie-
ren“, was in folgende Unterpunkte aufgesplittet werden kann:23

 Grundfragen der Ethik
 Probleme des Wertebegriffs und der Begründung von Normen
 Freiheit und Verantwortung
 Aktuelle Anwendungsbereiche der Ethik24

Im Speziellen könnte man Gedankenexperimente, beziehungsweise moralische
und ethische Dilemmata unter dem Punkt „Probleme des Wertebegriffs und der
Begründung von Normen“, aber auch unter dem Punkt „Aktuelle Anwendungsbe-
reiche der Ethik“ verorten. Je nach Aufbereitung der Unterrichtseinheit kann das
jeweilige Lernziel auf einen dieser Bereiche gelenkt werden. Genauere Analyse
hinsichtlich des Lehrplanbezugs und der praktischen Aufarbeitung einer Unter-

22
   Vgl. Buschlinger 1993: 85f
23
   Vgl. BMBF: Lehrplan Psychologie und Philosophie 2020: URL:
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzes
nummer=10008568
24
   Vgl. Ebda
                                       10
richtsstunde zu diesem Thema wird im zweiten, dem fachdidaktischen Teil der
Arbeit, zu finden sein.

2.5.1      Warum Ethikunterricht in der Philosophie?

Um die Relevanz des Ethikunterrichts im Philosophieunterricht aufzeigen zu kön-
nen, wird im nachfolgenden Kapitel die Nutzbarkeit dieses Bereiches genauer in
Augenschein genommen.

„Alle Menschen haben eine Philosophie, ob sie es wissen oder nicht.“25 Laut Karl
R. Popper, sollte es auch Aufgabe des Philosophieunterrichts sein, die Alltagsphi-
losophien der Schüler und Schülerinnen kritisch zu untersuchen. Hierbei eignen
sich ethische Fragestellungen im Besonderen, weil die Alltagssituationen hier
leicht zu ermitteln sind. Junge Erwachsene verfügen in der Regel über klare mora-
lische Institutionen. Selbst dann, wenn ihnen ein ethischer Problemfall unbekannt
ist, sind sie in der Lage, schnell eine intuitive Präferenz für eine Handlungsoption
zu entwickeln. Diese Spontanurteile sind häufig kontrovers und so entsteht rasch
und organisch die Notwendigkeit, die Alltagsphilosophien, die diesen Urteilen
zugrunde liegen, kritisch zu untersuchen. Philosophisches Argumentieren und Ur-
teilen lässt sich also in der Ethik sehr leicht üben und motivieren.26

Weitere Gründe laut Karl R. Popper, die für Ethik als zentrales Problemfeld im
Philosophieunterricht sprechen, sind etwa die gesellschaftliche Relevanz vieler
ethischer Fragen. Bei Fragen der Medizin, der Gentechnik oder der Umwelttech-
nik muss die Gesellschaft Rahmenbedingungen für das Handeln der Ärzte oder
Manager abstecken. Im Philosophieunterricht üben die Schüler und Schülerinnen
sich darin, an Diskursen, die innerhalb gewisser Debatten entstehen, teilzuhaben
und zu überlegten Urteilen zu kommen. In weiteren Fällen kann es auch um indi-
viduelle, nicht politisch-öffentliche Debatten gehen. Ob es sich nun um die gesell-
schaftliche oder individuelle Perspektive handelt, in beiden genannten Fällen ist es

25
     Pfister 2016: 82
26
     Vgl. Ebda: 82f
                                         11
Ziel des Philosophieunterrichts, sie dazu zu befähigen, sich ein wohlüberlegtes,
gut begründetes Urteil zu bilden. 27

3 Judith Jarvis Thomson „Der bewusstlose Geiger“

Judith Jarvis Thomson hat mit ihrem Gedankenexperiment (1971): „Der bewusst-
lose Geiger“ eine sehr stark diskutierte sowie kritisierte Thematik beleuchtet, wel-
che auch heute noch von unterschiedlichsten Seiten behandelt wird: die Abtrei-
bungsdebatte.

Ist es nun ethisch verwerflich wenn man unter gewissen Umständen den Fötus im
Mutterleib umbringt oder hat der Embryo bereits ab der Befruchtung ein Recht
auf Leben? All diese Fragen stehen im Zusammenhang mit der noch immer im
Mittelpunkt stehenden Debatte. Zweckdienlich hierzu wird in diesem Kapitel zu-
nächst das Gedankenexperiment an sich in den Vordergrund gestellt und Erweite-
rungen und Sonderfälle werden genauer betrachtet. Im nächsten Schritt erfolgt ei-
ne Einbettung des Experiments in den ihm angemessenen Bereich der Philosophie
und, um ebenso auf die rechtliche Seite dieses Themas einzugehen, wird in die-
sem Abschnitt auch Peter Singer und sein Präferenzutilitarismus herangezogen. Es
wird das Thema Leben und Tod beziehungsweise das Recht auf Leben in weiteren
Schritten aufgegriffen und beleuchtet.

„Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf und stellen fest, dass Sie operativ mit einem
bewusstlosen Geigenspieler verbunden wurden: Ihre Nieren sind das Einzige, was
ihn am Leben hält. Ist es moralisch zulässig, sich vom bewusstlosen Geiger
abzukoppeln?“28

In einem Artikel in der Zeitschrift Philosophy Public Affairs wurde von der ame-
rikanischen Moralphilosophin Judith Jarvis Thomson im Jahr 1971 eine einfluss-
reiche Verteidigung der Abtreibungsrechte veröffentlicht. Es herrschten bereits
damals viele Diskussionen zwischen Abtreibungsgegnern und Befürwortern. Es

27
     Vgl. Pfister 2016: 83f
28
     Vgl. Levy 2017: 152
                                         12
drehte sich - sowie auch heute noch - um die gleich währende Frage des Mensch-
sein des Fötus: Zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft wird aus dem Fötus
eine Person mit allen dazugehörigen Personenrechten? Tritt dieser Augenblick
überhaupt je ein? Thomson wollte diese Debatte gänzlich umgehen und ging von
Anfang an davon aus, dass es sich beim Fötus ab dem Moment der Zeugung um
eine Person handelt. Zusätzlich stellte sie aber das Recht-auf-Leben-Argument der
Abtreibungsgegner infrage, das auf folgendem Gedankengang beruht: Zwar hat
eine Mutter das Recht zu entscheiden, was in und mit ihrem Körper geschieht,
doch wiegt das Recht des Fötus auf Leben schwerer.29

Als Reaktion darauf entwickelte Thomson dann für ihre Leserschaft ein weiteres
Szenario:

„Sie wachen eines Morgens auf und finden sich Rücken an Rücken im Bett mit ei-
nem bewusstlosen Geiger. Beim Geiger handelt es sich um einen berühmten
Künstler, dessen Nieren versagten, als er durch die Stadt reiste, woraufhin die
örtliche Gesellschaft der Musikliebhaber tätig wurde, um ihn zu retten. Als sie
feststellten, dass Ihre Blutgruppe mit der des Geigers übereinstimmt, entführten
und betäubten die Sie. Bei einer Operation wurde sein Blutkreislauf an Ihre Nie-
ren angeschlossen. Ihre Gesundheit steht nicht auf dem Spiel, doch wenn Sie Ihre
Nieren von seinem Blutkreislauf abkoppeln, wird der Geiger sterben. Die Ärzte
zeigen Verständnis: „Tut uns leid, dass diese Musikliebhaber Ihnen das angetan
haben. Hätten wir davon gewusst, hätten wir das nie erlaubt. Aber jetzt, wo sie`s
getan haben, hängt das Überleben des Geigers von Ihnen ab: Ihn abzukoppeln
hieße, ihn zu töten. Und das können wir nicht tun. Aber seien Sie unbesorgt, das
ist nur für neun Monate.“30

Judith Jarvis Thomson benutzte diese Erweiterung des Gedankenexperiments, um
die oberste Priorität des Rechts auf Leben infrage zu stellen. Haben Sie das Recht,
sich abzukoppeln? Was ist mit dem Recht auf Leben, das der Geiger hat?

29
     Vgl. Levy 2017: 153
30
     Vgl. Ebda: 154
                                        13
Das Recht auf Leben beinhaltet nicht das Recht, das Mindestmaß von dem zu be-
kommen, was man zum Weiterleben benötigt, nicht einmal das Recht, von nie-
mandem umgebracht zu werden. Bei der von Thomson vertretenen Vorstellung
besteht das Recht auf Leben nicht im Recht, nicht getötet zu werden, sondern
vielmehr darin, nicht ungerechterweise getötet zu werden. Obwohl der Geiger
durch Ihre Handlung umgebracht werden könnte, wäre Ihre Handlung nicht unge-
recht, weshalb er nicht ungerechterweise getötet würde. Sein Recht auf Leben
verpflichtet sie folglich moralisch nicht dazu, an ihn angeschlossen zu bleiben.
Analog dazu ist eine werdende Mutter nicht moralisch dazu verpflichtet, an den
Fötus angeschlossen zu bleiben und das Recht auf Leben, das der Fötus hat, ist
nicht erweiterbar auf das Nichtsterben.31

Wie bei den meisten Dingen des Lebens gibt es auch hier scharfe Kritiker, die der
Meinung sind, dass ein gravierender Unterschied zwischen einem erwachsenen
Fremden und dem eigenen Fötus besteht. Kritiker argumentieren zusätzlich, dass
diese Analogie nicht nur wegen des Unterschieds zwischen einem Geiger und ei-
nem Fötus fehlerhaft sei, sondern dass die Faktoren, die laut Thomson moralisch
keine Relevanz hätten, (wie der Unterschied zwischen einem Geiger und einem
Fötus; der Umstand, dass der Geiger ein Fremder ist, wohingegen der Fötus wahr-
scheinlich das eigene Kind ist etc.), sehr wohl moralisch relevant seien.32

Die Reaktion von Thomson darauf ist folgende:

Sie räumt ein, dass man zwar das Recht habe, sich abzukoppeln, aber nicht das
Recht, die angeschlossene Person zu töten. Sie argumentiert damit nicht für das
Recht, den Tod des ungeborenen Kindes herbeizuführen. Sie können sich von ihm
ablösen, auch wenn das sein Leben kostet. Sie haben nicht das Recht auf eine Ga-
rantie seines Todes durch andere Mittel, falls das Abkoppeln ihn nicht umbringt.
Abtreibungsgegner argumentieren hier, dass eine Abtreibung nicht einfach nur
ein, wie Thomson es nennt, abkoppeln ist, sondern das Vergiften oder Zerschnei-
den des Fötus impliziere, so als würde man den Geiger erstechen, anstatt sich nur
abzukoppeln. Außerdem behaupten Gegner auch, dass ein wichtiger Unterschied

31
     Vgl. Levy 2017: 154
32
     Vgl. Ebda: 154f
                                         14
zwischen einer Schwangerschaft und dem bewusstlosen Geiger-Szenario besteht,
nämlich in Bezug auf die Frage, wer den Geiger an Sie angeschlossen hat, ohne
dass Sie darauf eingewirkt hätten. Bei einer einvernehmlichen Schwangerschaft
kommt der Mutter eine direkte Rolle beim Anschließen des Fötus zu. Folglich wä-
re hier die korrekte Analogie daher, dass Sie selbst den (vollkommen gesunden)
Geiger betäubt und ihn dann operativ mit Ihren Nieren verbunden hätten, sodass
er sterben würde, wenn man ihn abkoppeln würde. Wie würde Ihre moralische
Verpflichtung in diesem Fall aussehen?

3.1       Sonderfälle

Nach diesen Argumenten kam es dann zu einer teilweisen Zustimmung von
Thomson, als sie schrieb: „[Wenn] der Fötus von der Mutter abhängig ist, trägt sie
eine bestimmte Art von Verantwortung für ihn, eine Verantwortung, die ihm ihr
gegenüber Rechte verleiht, welche unabhängige Personen – wie ein kränklicher,
fremder Geiger – nicht haben.“33

Zusammengefasst zielt diese Kritik darauf ab, die Geiger-Verteidigung von Ab-
treibungen nur in solchen Fällen als gültig zu betrachten, in denen es ohne die
Einwilligung der Mutter zu einer Schwangerschaft gekommen ist, wie etwa bei
einem Vergewaltigungsfall. Thomson war bereit, dies zu akzeptieren als sie
schrieb: „Mir erscheint es, als ob das von uns beleuchtete Argument beweisen
könnte, dass es ein paar Fälle gibt, in denen die ungeborene Person das Recht auf
die Nutzung des mütterlichen Körpers hat, und es daher ein paar Fälle gibt, in de-
nen Abtreibung ungerechtes Töten ist.“ 34 Resümierend zieht sie den Schluss, dass
Abtreibung nicht unzulässig ist, aber auch nicht immer zulässig.

Wie sich hierbei gut erkennen lässt, fällt es selbst den großen Philosophen und
Philosophinnen nicht immer leicht, ihre Argumente hinsichtlich jeder Kritik zu
verteidigen und unter bestimmten Umständen zu verändern. Dies ist ein sehr inte-
ressanter Aspekt solcher Gedankenspiele und ein guter Ansatz, um auch den
33
     Vgl. Levy 2017: 154
34
     Ebda: 155
                                         15
Schülern und Schülerinnen zu vermitteln, dass sie nicht immer von Beginn an auf
dem „richtigen Weg“ sein müssen oder einen starren Weg gehen müssen, um an
das Ziel zu gelangen. Sie sind berechtigt, im Verlauf solch einer Fantasiereise ihre
Annahmen und Argumente zu erweitern, zu verändern oder gar zu revidieren.

3.2       Einbettung des Experiments

„Was sollen wir tun?“ „Wie sollen wir handeln?“. Dies sind die Grundfragen der
Ethik und die Fragen, die man sich in jeglichen Lebenslagen ständig beantworten
muss, ohne dass einem letztlich jemand die Entscheidung abnehmen kann. Sie
setzt voraus, dass wir uns zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns
entscheiden können, das heißt, dass wir frei sind. Wo die Frage „Was sollen wir
tun?“ den Bereich von Gut und Böse berührt, wird sie dann zu einer ethischen
Frage. Die ethische Frage ist zunächst einfach zu lösen, denn jeder besonnene
Mensch hat ein Gewissen, ein moralisches Gefühl in sich, das ihm sagt, was zu
tun ist. Es kann aber auch kompliziert werden, weil die Begründung für eine ethi-
sche Grundeinstellung und für einzelne Handlungen wegen der Vielfalt der Ge-
sichtspunkte die Fähigkeit zu vernünftiger Reflexion verlangt.35

Schon seit Aristoteles hat das Wort „Ethik“ zwei Bedeutungen. Es bezeichnet in
erster Linie das Sittliche selbst und andererseits die Wissenschaft vom Sittlichen.
Es ist ein Teilgebiet der Philosophie, welche als „praktische Philosophie“ be-
zeichnet wird, weil sie sich mit dem menschlichen Handeln befasst. In der philo-
sophischen Ethik werden die allgemeinen Grundlagen, Prinzipien und Beurtei-
lungskriterien des Vorgehens rekonstruiert und hinterfragt.36

Die Frage „Wie soll ich handeln?“ wird dabei aus zwei Blickwinkeln betrachtet.
Einerseits wird der Blick dabei auf die persönliche Lebensführung und die Eigen-
interessen des jeweiligen Handelnden geworfen und andererseits auf die Gemein-
schaft und das Gelingen des Zusammenlebens der Menschen. Die „Sozialethik“

35
  Vgl: Grundbegriffe der Ethik: URL: http://www.gym-
hartberg.ac.at/schule/images/stories/Religion/themen_matura/18_Eth_Grundbegriffe.pdf
36
     Vgl. Ebda
                                         16
aber auch die „Sterbensethik“ fordern vom Einzelnen das moralische Sollen ein,
damit Gerechtigkeit in der Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Diese morali-
sche Perspektive verlangt vom Individuum, dass es die Bedürfnisse und Interessen
der Anderen gleichermaßen beachtet wie die eigenen. Moral stammt vom lateini-
schen „mos“ (Sitte, Brauch, Charakter) und hat dieselbe Bedeutung wie „ethos“
im Griechischen. Zur Moral gehören Normen, Standards und Verhaltensweisen,
die Kulturen und Gesellschaften dem Individuum verinnerlichen oder mit innerli-
chen Sanktionen durchsetzen. Von ihr zu unterscheiden ist das Recht. Während
das Recht mehr das Äußere regelt, betrifft die Moral die Gesinnung des Men-
schen. Sie sagt uns, was gut und böse ist, das Recht legt fest, was erlaubt und was
strafbar ist. Passend zum hier behandelten Gedankenexperiment, ist die Abtrei-
bung für viele Menschen moralisch verwerflich.37

3.3        Leben und Tod

Philosophen und Philosophinnen sind dafür bekannt, dass sie die Bedeutung des
Lebens sehr ernst nehmen. Sie fragen nicht nur, was es lebenswert macht, sondern
noch grundsätzlicher, was es heißt, ein Lebewesen zu sein. Wie sieht es nun aber
spezifisch beim Thema Abtreibung aus?

Abtreibung kann man als Beendigung einer unwillkommenen Situation ansehen
oder auch als Auslöschen eines unabhängigen Lebens voller reicher Möglichkei-
ten. Man kann also festhalten, dass die Abtreibungsdebatte sich um den morali-
schen Status des Ungeborenen dreht. Manche Denker und Denkerinnen beschrie-
ben den Embryo oder Fötus als nur potenziellen Menschen und sind der Meinung,
dass ein nur potenzielles Wesen keine tatsächlichen Rechte und Interessen haben
könne. Keineswegs ist es abwegig zu behaupten, dass schon das Potenzial, ein
komplexes Wesen wie ein Mensch zu werden, an sich Bedeutung hat. Passend
zum Gedankenexperiment des bewusstlosen Geigers von Judith Jarvis Thomson
muss man sich zunächst also die Frage stellen, wann das menschliche Leben
überhaupt beginnt. Die häufigsten Antworten in diesem Zusammenhang sind: Mit

37
     Vgl. Grundbegriffe der Ethik: URL: http://www.gym-
hartberg.ac.at/schule/images/stories/Religion/themen_matura/18_Eth_Grundbegriffe.pdf
                                         17
der Empfängnis; wenn der Fötus sich bewegt und die Mutter dies spürt; mit der
Lebensfähigkeit und wenn der Fötus außerhalb des Leibes überleben würde.38

Es gibt allerdings viele Philosophen und Philosophinnen, welche die moralische
Bedeutsamkeit jedoch erst mit einem viel späteren Stadium in Verbindung brin-
gen. Um eine „Person“ in diesem Sinne zu sein, müssen also bestimmte grundle-
gende Bedingungen erfüllt beziehungsweise ausgeprägt sein, wie Bewusstsein, ein
Gespür für das Selbst, Vernunft, Gedächtnis und die Fähigkeit, weiterleben zu
wollen. Wenn man diesem Aspekt zustimmt, akzeptiert man damit auch, dass nur
solche bereits entwickelten Menschen Rechte und Interessen haben. Dies kann zu
überraschenden Konsequenzen führen. So glaubt Peter Singer, einer der Begrün-
der des Personen-Arguments, dass manches tierisches Leben wertvoller sei als das
von menschlichen Föten, die noch keine Personen sind. Er argumentiert, dass es
widersprüchlich wäre, gegen die Abtreibung zu stimmen, es sei denn, man ist Ve-
getarier.39

Trotz der weiten Verbreitung in den philosophischen Abtreibungsdiskussionen ist
die Rolle der „Personalität“ in dieser Debatte von zweifelhafter Bedeutung. Denn
die genannten Dispositionen beziehungsweise Merkmale, die einen Menschen an-
geblich ausmachen, werden vom Fötus in keinem seiner Entwicklungsstadien,
nicht einmal vom Kleinkind erfüllt – das doch, wie wohl den meisten Menschen
klar ist, das gleiche Recht auf Leben wie ein Erwachsener hat. Wenn nun der Fö-
tus eine Person ist, könnten dann nicht dennoch die Interessen der schwangeren
Frau, die ja auch eine Person ist, die des Fötus überwiegen? Die Ansicht, die den
Wünschen der Frau Priorität einräumt, ist Teil einer verbreiteten feministischen
Position, die die Rechte der Frauen betont. Die Frauen beanspruchen also die
Kontrolle über ihren Körper, was auch das moralische Urteil einschließt, niemand
habe die Verpflichtung, ein anderes Leben auszutragen, wenn es mit großen eige-
nen Risiken verbunden ist. Schlicht auf dieses andere Leben – das des Fötus – zu
verweisen, beendet die Diskussion jedoch nicht. Das Argument, das politisch und

38
   Vgl. Philoclopedia 2017: URL: https://www.philoclopedia.de/2017/01/24/peter-
singer-%C3%BCber-abtrebung/
39
   Vgl. Ebda
                                       18
praktisch das meiste Gewicht erhalten hat, legt fest, dass Abtreibung unter man-
chen Umständen das geringere von zwei Übeln sein kann.40

3.4        Peter Singer über Abtreibung

Peter Singer hat eine sehr kontroverse Haltung bezüglich der Abtreibungsdebatte.
Diese erklärt sich anhand des von ihm vertretenen (Präferenz-) Utilitarismus. Als
Utilitarist glaubt Singer nicht an die Existenz von Menschen- beziehungsweise
Lebensrechte an sich, die immer zu beachten wären. Stattdessen hängt bei ihm die
moralische Beurteilung einer Tat von der jeweiligen Situation ab. Maßstab für die
ethische Richtigkeit einer Handlung ist dabei, wie viel Freude oder Leid sie aus-
löst, wie vielen Interessen der Betroffenen sie entspricht, wie vielen nicht. Hierbei
gilt: Je mehr Freude und je weniger Leid, je mehr Interessen, denen entsprochen
wird, je weniger Interessen, denen nicht entsprochen wird, desto besser.41

Laut Singer kann man hier zwischen drei Arten von Lebewesen unterscheiden:
Nicht bewusste Wesen, zum Beispiel Pflanzen. Diese Wesen können (vermutlich)
keinen Schmerz empfinden und müssen bei Interessensabwägungen nicht berück-
sichtigt werden. Das Nächste wären bewusste Wesen, zum Beispiel Fische, die
empfindungsfähig sind. Ihre Interessen müssen berücksichtigt werden und
schließlich selbstbewusste Wesen, (Personen) zum Beispiel ausgewachsene Men-
schen (sofern keine geistige Beeinträchtigung vorliegt) und Menschenaffen. Sie
zu töten wiegt schwerer als das Töten von nur bewussten (aber nicht selbstbe-
wussten) Wesen, da sie in der Regel den Wunsch für die Zukunft haben, weiterzu-
leben.42

In welche Kategorie ist aber unter diesen Umständen ein Embryo einzuordnen?
Nun, in den ersten 24 Wochen ist ein Embryo laut Peter Singer nicht empfin-
dungsfähig, gehört daher erst in die erste Kategorie. Dies ist der Grund warum

40
   Vgl. Papineau: 2006: 163
41
   Vgl. Philoclopedia 2017: URL: https://www.philoclopedia.de/2017/01/24/peter-
singer-%C3%BCber-abtrebung/
42
   Vgl. Ebda
                                       19
Abtreibung, so Singer, ethisch nicht verwerflich ist. Anders ist es mit Tieren. Die-
se sind für gewöhnlich in die Kategorie der bewussten Lebewesen einzuordnen. In
seiner Position zur Abtreibungen geht Singer aber noch einen umstrittenen Schritt
weiter: Er fragt, ob nicht Säuglinge mit schweren Krankheiten und ohne Aussicht
auf erfolgreiche Therapie unter Einwilligung der Eltern medizinisch aktiv getötet
werden dürfen, sollen?43

3.5      Feministische Sichtweise

Der feministische Aspekt bei der Abtreibungsdebatte äußert sich in der Tatsache,
dass die Frauen über ihren Körper und ihr Leben selbst bestimmen möchten. In
früheren Zeiten war die Abtreibung eine Schandtat, welche in der Gesellschaft
auch als solche angesehen und moralisch verurteilt wurde. Die Frau konnte eine
Abtreibung nur heimlich oder gar nicht durchführen. Der feministischen Bewe-
gung war es ein Anliegen, dies zu unterbinden und der Frau die Möglichkeit ein-
zuräumen, selbst über das Austragen eines Kindes zu entscheiden. Natürlich ist es
immer noch fraglich, ob dies jemals unbestritten moralisch vertretbar sein wird,
jedoch auch, wie es bereits Judith Jarvis Thomson richtig formuliert hat, gibt es
mit Sicherheit Fälle, in denen eine Abtreibung, vor allem laut feministischer
Sichtweise gerechtfertigt wäre. Sei es hinsichtlich einer Vergewaltigung oder etwa
in der Hinsicht, dass das Kind nach der Geburt an etwaigen schlimmen Erkran-
kungen leiden würde. Im Zentrum steht die Selbstbestimmung beziehungsweise
Autonomie der Frau in Bezug auf ihren Körper. Auch hinsichtlich schulischen
Kontexts kann die Bedeutung der Abtreibungsdebatte somit gerechtfertigt werden.
Es soll gerade bei den angehenden Erwachsenen eine persönliche, politisch be-
trachtete und moralische Debatte ausgelöst werden, welche auch für sie selbst von
Bedeutung ist.

43
   Vgl. Philoclopedia 2017: URL: https://www.philoclopedia.de/2017/01/24/peter-
singer-%C3%BCber-abtrebung/
                                       20
3.6        Grundlegende theologische und ethische Probleme

Beim Schwangerschaftsabbruch geht es grundsätzlich um die Geltung oder
„Nichtgeltung“ des Gebots: Du sollst Menschenleben nicht töten. Dieser Satz
wirft jedoch zwei Erschwernisse auf. Zum einen sind anthropologische Fragen zu
klären: Was heißt Menschenleben? Wann beginnt menschliches Leben. Worin
bestehen seine Würde und sein Wert. Zum anderen ist die Beschäftigung mit der
ethischen Frage was das Töten generell bedeute nötig.

Die Diskussion um diese Frage hat nur in einigen Punkten eine weitgehende
öffentliche Übereinstimmung gebracht. Es gehört dazu die Anerkennung, dass es
sich beim ungeborenen Kind nicht um einen Teil des mütterlichen Organismus,
sondern um von der Mutter gesondertes, sich eigenständig entwickelndes Leben
handelt, das als menschliches Leben zu betrachten ist. Es kann festgehalten
werden, dass es sehr umstritten ist, welcher moralischer und auch rechtlicher
Status diesem Leben zukommt und ob die unterschiedlichen Entwicklungsstufen
eine abweichende Wertigkeit begründen.44

Passende Frage dazu wäre, was den Menschen eigentlich zum Menschen macht
und was die besondere Würde und damit die besondere Schutzwürdigkeit des
menschlichen Lebens überhaupt und speziell des ungeborenen embryonalen
Lebens begründet. Die unterschiedliche Beantwortung dieser Frage bedingt die
verschiedenartige Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs.45

Laut Eibach lässt sich biologisch gesehen feststellen, dass die Entwicklung
menschlichen Lebens ein kontinuierlicher Prozess ohne abrupte qualitative
Unterschiede ist, der mit der Befruchtung beginnt, und dass dieser
Entwicklungsprozess in allen Stadien menschliches Gepräge trägt. Bei dem für
den Schwangerschaftsabbruch in Frage kommenden Zeitraum (12. Woche) ist die
Grundstruktur des Organismus voll ausgeprägt.

44
     Vgl. Eibach 1991: 19
45
     Vgl. Ebda 19f
                                       21
Dies bedarf nun jedoch einer Differenzierung. Es handelt sich hier um einen
eigenständigen Organismus, der allerdings nicht eigenmächtig lebensfähig ist.
Strittig ist freilich, welche ethische Relevanz derartige biologische Erkenntnisse
haben, denn es muss nicht sein, dass der Wert des menschlichen Lebens vom Grad
dieser biologischen Entwicklung aus begründet wird.46

Es wurde im Laufe der Zeit dann der Vorschlag gebracht, menschliches Leben
vom sozialen Leben her zu definieren und die Geburt lediglich als Eintritt ins
soziale Leben aufzufassen. Der Fötus würde demnach erst Mensch, indem wenn
er in die menschliche Gemeinschaft eintritt und von ihr akzeptiert wird, sodass
dem Säugling die Menschenwürde und das Recht, Mensch zu sein und als Mensch
behandelt zu werden, von Menschen zugesprochen wird. Daraus resultierend
käme dem ungeborenen Kind nur eine Schutzwürdigkeit aufgrund dessen zu, dass
die Mutter es austragen und es so in die menschliche Gemeinschaft hineinstellen
will. Die Menschenwürde ist dabei als „Mitgliedschaftswürde“ in der
menschlichen Gemeinschaft gedacht, die Menschen dem Neugeborenen verleihen,
indem sie es in der Gemeinschaft akzeptieren. Diese Auffassung steht hinter der
Behauptung, dass eben alleine durch den Akt menschlicher Wille entstehe und nur
dasjenige Leben menschlich sei, das gewollt, geliebt und von Menschen
aufgenommen wird. Das ist die extreme, sozialpersonal begründete Gegenposition
zu der Auffassung, dass menschliches Leben schon dann gegeben ist, wenn die
Entwicklung der biologischen Individualität als Naturprozess beginnt.47

Peter Singer wiederum ist der Meinung, dass für ihn die Gattungszugehörigkeit
eines Lebewesens, also auch die des Menschen, ethisch bedeutungslos ist.
Ausschlaggebend für den Schutz des Lebens soll alleine der Grad der Ausbildung
der Wahrnehmungsfähigkeit eines Organismus sein; die volle Würde und der
entsprechende volle Schutz sollen dem Menschenleben erst dann zukommen,
wenn es zu Selbstbewusstsein erwacht und sich in Freiheit selbst bestimmen kann,
was bekanntlich zumindest beim Säugling und Kleinkind noch nicht der Fall ist.
Wenn man also beim Lebensschutz entsprechend der Ausbildung der
Wahrnehmungsfähigkeit abgestuft wird, dann steht folgerichtig der Schutz von

46
     Vgl. Eibach 1991: 20f
47
     Vgl. Ebda: 19f
                                       22
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