Headline 6 - Leibniz Universität Hannover
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6. Headline Quat event el estem enemqui atquatur milla senihillento que non parchitatur modissitas aliquam, con pre nus dia solor minctur siminte niet voloreh eniendit voluptat et ut ut rem. Nemodis identur aspiditibus dendem eossent, odita conse pra eaque re enditam re optatat volupta quoditat. Mosaperis anis rae eum, eicia qui comnis asimporaeces estorem etur? Dick sein Olores expe quam nonsequid quiaerc iaturi dollorias as sam, incte provit remquiam facestiae volut mod quiatem aut omnihillati doluptam volorruptate nem et rem qui reptati busanti squidebit, ut explit eaquasperori aut andio te omnis dem fuga. Et etur am quos alis qui adit est latia prehenis explit quia ped excescias evendit ioratum re que officimint labo. Ut qui optatur, adi verum sequunt et facest, verci- um quibus moluptaerro in cuscill uptatque cus. Rum ulloresedit doloreh endicti buscit rem ea simus. Nobis sum sum ea dolorepudit, que od utempos et, occus alibus apid que parum con et harum aut et om- nim iunt modit eum endicias mos num delectur, aturernatem. Ibusae. Lupta enimo omnimag natus. Et qui num atendit, quas doluptat lab ipsantemodio tem nemqui culluptae. Et porepel ligendam, am quis explibu santest iaspellita Eva Barlösius Alexandra adipsa von cus ad que nietGrit Garmissen autem ipsam quis asiti siminctor seque voloria serum Voigtmann cum rerem liquatis doluptate volorem sed quo everum eum rem quia que suntiat iorundu ciatur solum as arum rerunt pe volor adi alit voluptatur restioribus, voloreptibus rerum vent. Ed ut inihic tes molorepe prem iuntibus mo moluptati sam inum ducillaciam dolore mo tem aut aut mo doluptatesed ut pratusdamet lis est aborporrovit aliatibustia consedi dit, sita vererciur, exceprae venihil maximinia coreiunte cumqui dus dit, etust qui ditae nobitature, si acesciis maionsendis si rerum quun- deb isimi, eum ilit quatur? Mi, omnimpo restis aspit et voluptas eos molorum sinim volut et, quateserae quas mod molorep erchici- am quo maxim eles exeribus ad molor rae volorum rem eos et eveles expel maio bea volupti aernat. Borepud icimporeius si ut optur sim et quias sinctet offictur minti doluptas nesed et, ipienimpossi volen- di atatur, volorunt la dis explabo reperaerum entiorr umendae conescipsam simolore velit vollend ani- millum venis sundis iliqui optaecus molestior autet et harit et officitius aut volupta ssitiost, nihit vidun- dit id quidi invenem ut estem fugia ilitaquo officab oremolor reium lamus debitat ectorionsed mossunti torerum ut ab imet officidis aut lignihi cidebitatur andigene numene sus modit, ut am dolupides molup- tatiam num eicitas is a comnitati dit utecum cum fuga. Itati aliam ad modita illoratque laboribeatur si bea numenem fugitis ut voluptiores aliquam untis repe arum facepe dolor sunt de nestes molorio. Apelit venecus, nihiciament molorrorro tecta venisto endanitat. Pedis int incto eicilis si ipsaecus accaborrorit officitas dolo ommo con nulpa cone se dipis eateceptat. Uptatemperit ullaccu llautatectis mintur, tem num remporunt et omnissedis coreic tenditas reius de vo- luptatur ant, alita nihicilis magnam eaturi quae latis estions ectustiam re laboremporum secaes re, sit quam, officientur, eos rectum ut qui am sumentis dollore verit, sim autatio repella auda doluptatur aut ersperfernam quo quia nimus sa sum fugiam es exceris volore, corit laceate estia sit andusci endandi
Leibniz Universität Hannover Institut für Soziologie Professur für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse Schneiderberg 50 30167 Hannover Tel.: 0511 / 762 54 32 Fax: 0511 / 762 55 54 www.ish.uni-hannover.de Gestaltung: Dreigang Kommunikationsdesign August 2012
Dick sein Über die gesellschaftliche Erfahrung dick zu sein Eva Barlösius Alexandra von Garmissen Grit Voigtmann
Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort: Was diese Schrift möchte 6 2. Einleitung: Dick sein – weit mehr als ein Gewichtsproblem 10 3. Dazugehören wollen … zum ganz „normalen“ Leben 14 3.1 Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.2 Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.3 Gleichberechtigung und Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.4 Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Erfahrung von Ungleichheiten 24 4.1 Mehrfach benachteiligt – aber nur der Körper zählt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 4.2 Die „kleineren“ Ungleichheiten: Geschlecht und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 5. Anders als erwartet 34 5.1 Gesunde Ernährung – alles bekannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5.2 Essen nach Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5.3 Sich bewegen und Sport treiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 5.4 Abnehmen wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Essalltag in der Familie 46 6.1 Gemeinsam zu Tisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 6.2 Was es zu essen gibt – und geben sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 6.3 Wer sorgt für das Essen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7. Gründe und Verantwortlichkeiten – die Sicht der Eltern 58 7.1 „Klick machen“ – es muss bei den Kindern beginnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 7.2 Frust, Langeweile, Wut – Gefühle als Ursachen des Übergewichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 7.3 Selbstbewusstsein stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 7.4 Professionell und extern – Wünsche türkischer Eltern zur Ernährungsumstellung ihrer Kinder . . 66 8. Anders als vorausgesetzt – eine Anhäufung von Knappheiten 68 8.1 Finanzielle Knappheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 8.2 Knappe Zeit und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 8.3 „Knappe“ Kontrollkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 9. Konklusion: Was diese Schrift verdeutlicht 78 Endnoten 82 5
1.
VORWORT: WAS DIESE SCHRIFT MÖCHTE 1. Vorwort: Was diese Schrift möchte Übergewicht und Adipositas sind omnipräsent: Sie werden wissenschaftlich beforscht, im Alltag penibel beobachtet, von vielen Institutionen – Kindergärten, Schulen, Ämtern – sorgsam kontrolliert, gesund- heitspolitisch debattiert, mittels Präventions- und Interventionsprogrammen bekämpft, medial skanda- lisiert, in eigenen TV-Formaten zur Unterhaltung präsentiert und vieles mehr. Diese Thematisierungen und Umgangsformen teilen miteinander viele Gewissheiten: Unstrittig ist, dass Übergewicht nicht nur ein Gesundheits-, sondern ebenso ein Kostenrisiko ist, es auf lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gefährdet und die gesellschaftliche Solidarität strapaziert. Sie münden in die Überzeugung: Übergewicht und Adipositas sind bereits jetzt ein enormes Problem und wachsen sich zukünftig zu ei- nem noch größeren aus, gegen welches unbedingt etwas zu unternehmen ist. Was das sein kann, auch darüber besteht weitgehend Einigkeit: Übergewichtige müssen abnehmen. Dazu haben sie ihr Ernäh- rungs- und Bewegungsverhalten dauerhaft zu verändern. Gegen diese Erörterungen und Behandlungen sowie deren praktische Folgen formieren sich in den letzten Jahren zunehmend andere wissenschaftliche Analysen und Initiativgruppen, die im Englischen unter dem Schlagwort Fat Studies 1 zusammengefasst werden. Sie kritisieren die sozialen Ausgrenzun- gen, Stigmatisierungen und Benachteiligungen, die aus den oben aufgezählten Thematisierungen und Umgangsformen für Übergewichtige und Adipöse entstehen. Die Fat Studies berufen sich vorwiegend auf sozialwissenschaftliche Deutungen und Erklärungen. 2 Obwohl sie beanspruchen, stellvertretend für Übergewichtige und Adipöse zu streiten, fällt auf, dass sogar in diesen Studien die Betroffenen mit ihren Erfahrungen, Reaktionen und Stellungnahmen selbst kaum zu Wort kommen. Stattdessen werden sie mit sozialwissenschaftlichen Konzepten erfasst und analysiert, denen immanent ist, für Übergewichtige und Adipöse die Kategorie der Außenseiter zu verwenden, sie als stigmatisiert zu kennzeichnen und ihre soziale Lage als benachteiligt zu bestimmen. Diese Analysen treffen weitgehend zu, und wir wollen ihnen nicht widersprechen. Aber sie sind so abstrakt und verallgemeinernd formuliert, dass sie das Phänomen – die gesellschaftliche Erfahrung, zu dick zu sein –, über das sie Bericht erstatten wollen, in seiner Eigenart und Allgegenwärtigkeit kaum zu fassen bekommen. 7
VORWORT: WAS DIESE SCHRIFT MÖCHTE Die tagtägliche Erfahrung, als zu dick wahrgenommen und behandelt zu werden, die sozialen Inter- aktionen, denen Dicke ausgesetzt sind, wie sie ihr gesellschaftliches Verhältnis durch ihren Körper bestimmt sehen, dieses und vieles weitere, was ihr Leben ausmacht, bleibt vielfach unbetrachtet. Die formelhafte Analyse – ausgegrenzt, stigmatisiert und benachteiligt – tendiert dazu, davon mehr zu ver- decken als freizulegen. Diese soziale Position und gesellschaftlichen Erfahrungen teilen Dicke mit vielen anderen: Armen, Kranken, Migranten, Alleinerziehenden, Behinderten und religiösen Minderheiten. Was sie unterscheidet, insbesondere aber was dies in der Alltagspraxis heißt, erschließt sich daraus nur wenig. Zudem entfalten diese Analysen eine eigene soziale Wirksamkeit. Sie weisen eine soziale Position und gesellschaftliche Erfahrungswelt zu, verstricken sich damit selbst in das Phänomen. So formulieren sie geradezu vor, wie Dicke sich zu fühlen haben, wie sie soziale Interaktionen zu erleben und welche soziale Lage sie einzunehmen haben. Diese kleine Schrift möchte etwas anderes. Sie rückt die Menschen mit ihren Erfahrungen, Reaktionen und Stellungnahmen ins Zentrum. Die Grundlage unserer Studie ist ein Forschungsprojekt über dickere Jugendliche. 3 Im Rahmen des Projekts haben wir vielfältige empirische Untersuchungen durchgeführt: mit den Jugendlichen selbst, mit ihren Eltern, ExpertInnen der Prävention und Intervention. 4 Wir haben dieses Material wissenschaftlich – hauptsächlich soziologisch – analysiert und die Ergebnisse publi- ziert. 5 Unsere Ergebnisse sollen jedoch nicht allein im fachwissenschaftlichen Dialog verbleiben. Mit dieser kleinen Schrift erhoffen wir uns, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Dazu haben wir weitgehend auf fachwissenschaftliche Ausführungen verzichtet, aber darauf Wert gelegt, die Betrach- tungsweise und die Ergebnisse möglichst umfassend und komplex wiederzugeben. Entstanden ist ein Text in einem Zwischenbereich, der einerseits ausgiebig aus den Erhebungen mit den Jugendlichen und den Eltern zitiert, um ihnen das Wort zu geben, 6 und der andererseits auf soziologische Konzepte rekur- riert, ohne diese jedoch explizit einzuführen. Leser, denen diese Nachweise fehlen, verweisen wir auf unsere wissenschaftlichen Analysen. 7 Ein wichtiges Anliegen ist uns, die gebräuchlichen Bezeichnungen und Titulierungen wie Übergewicht oder Adipositas nicht zu übernehmen, weil darin die gesellschaftlich akzeptierten Thematisierungen und Behandlungsweisen – nämlich Therapiebedürftigkeit – angelegt sind. Sie repräsentieren das Phä- nomen so, wie darauf gesellschaftlich reagiert wird, und schaffen sich damit ihre eigene Legitimation. Ebenso haben wir uns darum bemüht, alle wertenden Benennungen und Etikettierungen zu vermeiden, weil diese ebenfalls Teil des Geschehens sind, dass wir durchleuchten wollen. Dies gilt insbesondere für die Bezeichnungen und Benennungen der Jugendlichen. 8
VORWORT: WAS DIESE SCHRIFT MÖCHTE Wir orientieren uns an der Sprechweise der betroffenen Jugendlichen. Um ihre Körper zu beschreiben, verwenden die Jugendlichen die Worte: die „Dickeren“, „dicker werden“, „etwas dicker“ (JD 14-16). Die dazu antonymen Begriffe gebrauchen sie, um die Körper von Personen zu kennzeichnen, die nicht dick sind. Sie nennen sie die „Dünneren“ (JT 14-16), die „irgendwie dünner“ oder „etwas schmächtiger“ (JD 14-16) sind. Im Text übernehmen wir die Selbstkennzeichnungen: „die Dickeren“ und „dick(er) sein“, weil wir davon ausgehen, dass diese von den „dickeren Jugendlichen“ als am wenigsten abwertend emp- funden werden. Dagegen greifen wir nicht ihre Bezeichnungen für Personen auf, die sie als „dünner“ oder „schmächtiger“ charakterisieren. Diese Bezeichnungen sind komparativ in Bezug auf ihre eigene Körperlichkeit konstruiert und zeigen, dass sie sich mit dem Gegenüber vergleichen. Sie entsprechen jedoch nicht der gesellschaftlichen Wahrnehmung, die von „normal“ spricht. Die dickeren Jugendlichen sind mit dieser gesellschaftlichen Bestimmung vertraut. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sie ein umfangreiches Repertoire an abschätzigen Etikettierungen aufzählen, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind, wie „die Fetten“ (JD 11-13) und „Fettsäcke“ (MT 14-16). Für die dünneren Jugendlichen jedoch verfügen sie nicht über einen verächtlichen Wortschatz, stattdessen verwenden sie Bezeich nungen, die aus dem Wortfeld „normal“ und „Normalität“ stammen. 9
2.
EINLEITUNG: DICK SEIN – WEIT MEHR ALS EIN GEWICHTSPROBLEM 2. Einleitung: Dick sein – weit mehr als ein Gewichtsproblem „Ein dünner Chefkoch – meine Idealwelt“ (JT 11-13) – so lautet der Lebenswunsch eines 13-jährigen Jugendlichen. Als „ganz normal“ angesehen werden und „etwas aus unserem Leben machen“ (MD 11-13) antworten dickere Jugendliche auf die Frage, wie ihre Idealwelt beschaffen sein sollte. Sie zeigen kein pubertäres Aufbegehren oder eine provozierende Selbstinszenierung. Diese Jugendlichen träumen von nicht mehr als teilzuhaben an der ganz normalen Alltagswelt, die im Allgemeinen eine routine mäßige Abfolge unproblematischer Erlebnisse und Erfahrungen bereithält. 8 Aber nicht für sie. Ihnen signalisiert die Alltagswelt, dass sie dick sind, was weit mehr meint, als ein Gewichtsproblem zu haben. Ihr Körper wird als soziales Zeichen gelesen: als physische Objektivierung ihres Abweichens von den erstrebens- und wünschenswerten Verhaltens- und Handlungsmustern der Alltagswirklichkeit. Der Körper ist in jeder Vis-à-vis-Situation präsent – bei jeder Begegnung, jedem Kontakt, während jeglicher Anwesenheit. C: „ Weißt du, das einzige, warum du es hasst, fett zu sein, ist, dass du dich vor den anderen …“ E: „ Schämst?“ C: „Ja.“ (JT 11-13) Dicksein wird in der Wahrnehmung anderer geschaffen, lautet die soziologische Analyse. In allen direkten sozialen Interaktionen wird der Körper dickerer Jugendlicher als Zeugnis der Abweichung wahr genommen und werden darauf abgestimmte soziale Haltungen und Umgangsweisen wachgerufen. Die Folge ist: Die Jugendlichen werden als „problematisch“ behandelt und übernehmen dies in ihre Sicht auf sich selbst. Ihre gesamte Alltagswelt ist von diesen Erlebnissen und Erfahrungen durchfärbt, weshalb sie sich nichts mehr wünschen, als „normal“ zu leben und einen gewöhnlichen Lebensverlauf vor sich zu haben. Dick zu sein ist für die Jugendlichen vor allem eine soziale Erfahrung und damit viel lebensnäher und erlebnisreicher als die Gewichtsanzeige auf der Körperwaage. Genau diese soziale Erfahrung bestimmt ihr Verhältnis in der und zur Gesellschaft. 11
EINLEITUNG: DICK SEIN – WEIT MEHR ALS EIN GEWICHTSPROBLEM Ein „dünner Chefkoch“ sein zu wollen meint somit, nicht mehr als dick angesehen zu werden, beruf lichen Erfolg als Chef zu haben und soziale Anerkennung zu erhalten, wie dies die Fernsehköche vor machen. Genereller formuliert: Die Jugendlichen wünschen sich eine gesellschaftlich anerkannte Identität, die sich auch für sie selbst als richtig und stabil anfühlt. Mit anderen Worten: eine intakte Einstellung zu sich selbst, die ihnen eine erfolgreiche soziale Integration ermöglicht. Ein „wünschenswerter BMI“ 9 betrachtet abermals ausschließlich den Körper der Jugendlichen, wieder- holt und vertieft ihre gesellschaftliche Erfahrung, auf ihren Körper reduziert zu werden. Erneut wird ihr Körper als physische Objektivierung von Abweichung – von ungesunder Ernährung und zu wenig Bewegung – bewertet. Um aber zu verstehen, was es heißt, als dick betrachtet zu werden, ist der Blick- winkel zu weiten. Es sind die daran geknüpfte „‚Ortsbestimmung‘ des Individuums in der Gesellschaft und seine entsprechende ‚Behandlung‘“ 10 in den Blick zu nehmen. In ähnlicher Weise ist die Beschränkung auf gesunde Ernährung aufzuheben. Dass Ernährung mehr als den physischen Prozess umfasst und die spezifischen kulturellen und sozialen Formen des Essens wie die Küche und die Mahlzeit einzubeziehen sind, ist mittlerweile ein Allgemeingut. Aber dies reicht nicht aus. Essen bildet ein „soziales Totalphänomen“ 11, welches die gesamte Alltagswelt umspannt und reprä- sentiert. So gilt es als die Geburtstätte der Moral, als rituelles Zentrum der Religion, als entscheidend für die Vorstellungen von Gerechtigkeit, als Mittel des politischen Protests und vieles mehr. Essen ist zudem Ursprung vermeintlich kleiner sozialer Angelegenheiten wie Familienbeziehungen, Geschlechterverhält- nisse, Auffassungen von Eltern- und Kindschaft, Herausbildung familiärer und persönlicher Identitäten. Und damit schafft das Essen Gelegenheiten und Anlässe, sich über Gemeinsamkeiten und Individualitä- ten zu verständigen wie zu streiten. Insbesondere Kindern bietet das gemeinsame Essen die Chance, ihre Individualität zu entdecken und zu erproben: „Ich mag das nicht!“ Mit dem Essgeschmack lässt sich sinnlich wahrnehmbar Identität ausdrücken, das Ich erfahr- und mit- teilbar machen. Während der Pubertät wird von dieser Möglichkeit vermehrt Gebrauch gemacht. 12 Darum finden viele Kämpfe und Streitereien ums Erwachsenwerden – wer man ist und sein möchte – am Esstisch statt. Dies trifft für alle Jugendlichen zu, selbstverständlich ebenso für jene, die hier im Zen- trum stehen. Auch ihnen geht es dabei nicht um die physische Nahrungswelt, sondern darum, Eigner ihrer selbst zu werden, eine eigene Identität zu entwickeln. Eine dritte Weitung ist erforderlich. Bei der für unsere modernen Gegenwartsgesellschaften typischen Form der Vergesellschaftung durch Individualisierung, die eine gesteigerte Eigenverantwortung und die Selbstkonzeption des eigenen Lebens fordert, bildet das Essen einen zentralen Bezugspunkt. Man soll sich bewusst und auf dauerhafte Gesunderhaltung in der Zukunft ausgerichtet ernähren. Die Verinnerlichung dieser Anforderung verifiziert sich für jeden und jederzeit sichtbar im Körper. Verlangt wird weiterhin, die Präsenz des Gegenwärtigen zugunsten möglicher negativer Folgen und Nebenfolgen in der Zukunft zurückzustellen und die Gegenwart von der Zukunft her zu denken. Konkret heißt das, heute auf etwas zu verzichten, wonach einem gelüstet, weil dies möglicherweise irgendwann in der Zukunft unerwünschte Konsequenzen zeitigen könnte. Nichts anderes bedeutet Prävention: „zu sehen, was noch nicht gegenwärtig ist, was noch keine akute Notwendigkeit besitzt“, 13 um sich auf alles einzustellen, was nur eine theoretische Möglichkeit besitzt oder potentielle Drohung darstellt. 12
EINLEITUNG: DICK SEIN – WEIT MEHR ALS EIN GEWICHTSPROBLEM Dies verlangt, auf alle denkbaren Risiken im Voraus zu reagieren. Erfüllen kann diese Anforderung jedoch nur, wer „das Ganze seines Lebens, das Nacheinander seines Weges durch verschiedene Abschnitte seines Lebens sinnhaft deuten“ 14 und seinen Lebensverlauf als von ihm gestaltbar begreifen kann. Die dickeren Jugendlichen teilen uns mit, dass sie genau dieses für sich wünschen, indem sie unterstrei- chen, etwas aus ihrem Leben machen zu wollen. Und sie bedauern, dass es ihnen erschwert wird. Woraus diese Erschwernisse resultieren, darüber berichten die nachfolgenden Seiten. Wir möchten den Jugendlichen und ihren Eltern mit dieser Broschüre eine Stimme geben. Sie werden deshalb selbst zu Wort kommen, weil ihre Sicht und Erfahrungen in und mit der Alltagswelt hier im Zentrum stehen. 15 Es wird Ihnen – liebe Leserinnen und Leser – schnell klar werden, dass die Jugendlichen abnehmen wollen, nicht wegen des BMI oder einem wie auch immer berechneten Normalgewicht, sondern weil sie dazugehören und mitmachen wollen. 13
3. DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN 3.1 Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden 3.2 Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen 3.3 Gleichberechtigung und Gleichbehandlung 3.4 Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache 3. Dazugehören wollen … zum ganz „normalen“ Leben Was die Jugendlichen vor allem bewegt, ist der Wunsch, dazuzugehören. Diesen Wunsch drücken sie insbesondere darüber aus, dass sie sich als überaus konform mit den geltenden gesellschaftlichen Normen, Werten und Anforderungen präsentieren. So ist es ihnen wichtig, ihre Leistungsbereitschaft und ihr Leistungsvermögen zu unterstreichen. Ihre Zustimmung zeigt sich auch darin, dass sie die therapeutische Expertensprache für ihre Selbstbeschreibung übernehmen. Selbst dort, wo sie für sich die Stimme erheben, um gegen die üblichen gesellschaftlichen Haltungen und Umgangsformen ihnen gegenüber zu opponieren, referieren sie auf einen moralischen Grundkonsens: das Gleichstellungsgebot. All ihre Bemühungen folgen dem Wunsch, sich nicht selbst als „draußen“ zu erleben, als „normal“ be handelt zu werden und dazuzugehören. 15
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache 3.1 Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahr genommen zu werden G: „ Ich habe mehrere Geschwister, … die sind nicht perfekt, also sind auch dicker als ich … und mein Bruder ist eben da extremer … wenn er irgendwo vorbeigeht, gucken ihn alle dann so an, als wäre er, was weiß ich, als hätte er … ein Huhn auf dem Kopf oder so was.“ (MD 11-13) Zuallererst und alles überlagernd als dick wahrgenommen zu werden ist die Linse, durch welche die Jugendlichen permanent betrachtet werden, und diese Erfahrung wiederum prägt ihre Sichtweise auf die Welt. Alles – seien es Dinge, Praktiken, Verhaltens- und Handlungsweisen – werden ihrer Erfahrung nach zunächst danach geordnet, ob sie als dünner und normal oder als dicker und abweichend klassifi- ziert werden. Diese Aufteilung besitzt für sie die gleiche Präsenz wie beispielsweise die gesellschaftliche Unterscheidung der Geschlechter. Und genau wie diese erscheint sie als das allernatürlichste der Welt und kennt kein „Dazwischen“. Sie wird immer und zuallererst intuitiv erkannt, meist ohne ins Bewusst- sein vorzudringen. So sind alle Bewegungen, Kleidungsstücke, Speisen, Sportarten, Tätigkeiten und Be- rufe einer dieser beiden Welten zugeordnet. In Anlehnung an die Vergeschlechtlichung der Welt 16 kann man von einer Verkörperlichung der Welt in „dick“ oder „dünn“ sprechen. Deshalb gibt es für die Ju- gendlichen nichts in ihrem Leben, was nicht dadurch vorbestimmt ist, dass sie als dick wahrgenommen werden. Ihr Erfolg im Sportverein, ob sie sich in der U-Bahn setzen oder stehenbleiben, in der Öffentlich- keit essen, eine enge Jeans oder ein weites Sweatshirt anziehen, all dies wird – so erleben sie die Welt – auf ihren Körper bezogen wahrgenommen oder als absichtsvolles In-Szene-setzen des eigenen Körpers interpretiert, um als weniger dick zu erscheinen. Dieser Allgegenwärtigkeit können sie – außer sie zie- hen sich zurück – nicht entgehen. Und sogar dieser Rückzug wird als Folge ihres Dickseins interpretiert. Die Geschlechterunterscheidung ist Ergebnis von Machtdifferenzen. Das Gleiche gilt für die Oppositions- bestimmung „dick“ oder „dünn“; auch sie ist machtgesättigt. Daraus erklärt sich, dass hieran Auf- und Abwertungen geknüpft sind. Diese beziehen sich nicht nur auf den Körper, sondern weiten sich in alle Bereiche und Dimensionen des Lebens aus und bedingen die Allgegenwärtigkeit dieser wertenden Unter- scheidung. Auf diese Weise findet eine gesellschaftliche Objektivierung von Abweichung statt. Sie wird zur allumfassenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die von ihnen erfahrene alltägliche Allgegenwärtigkeit wiederholt sich für die Jugendlichen in den Me- dien, wo ihnen Idole und Vorbilder, aber auch Loser vorgeführt werden. Damit wird die von den Jugend 16
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache lichen erlebte gesellschaftliche Wirklichkeit mit zusätzlicher Legitimation versehen. Sie wird objektiv, das heißt allgemein zugänglich, und sie wird subjektiv einsichtig gemacht, indem allen – per TV – vor- geführt wird, wie sich Dicke fühlen. A: „ Im Fernsehen (sieht man meistens) die dünneren Menschen statt die Dicken.“ (JT 14-16) Durch solche medialen Präsentationen wird vorgegeben, wie sie sich zu fühlen und ihr Leben zu bewerten haben, welche Wünsche sie äußern dürfen und welche Ambitionen sie für sich behalten sollten. Eine indi- viduelle Sicht- und Erlebnisweise jenseits dieser gesellschaftlichen Zuschreibungen wird ihnen kaum zuge- billigt. Es dominiert eine generalisierte Betrachtungs- und Sprechweise: Die Dicken sind, haben, sollten ... Dies trifft insbesondere für Sendungen zu, die speziell Jugendliche ansprechen. Gerade diese zeichnen sich durch vielfältige Thematisierungen von Körperidealen und daran geknüpfte gesellschaftliche Haltungen und Umgangsweisen aus. Die medial verbreitete Botschaft heißt: Erfolg und Prominenz ist schlank: „Es gibt gar keine dicken Stars; die sind alle so dünn.“ (MT 11-13) Die Allgegenwärtigkeit dieser Erfahrung ist für die Jugendlichen eine immerfort und allerorten durch zustehende Konfrontation mit der Bewertung „zu dick“. Hänseleien, Beleidigungen und Fingerzeige gehören zu ihren Alltagserfahrungen. Auch unsere Jugendlichen berichten davon. C: „ Die lachen dann auch immer.“ B: „Ja, und beleidigen auch sofort, ne.“ C: „Also, nicht vor uns lachen sie, man merkt, dass sie hinter …“ D: „Hinter, hinter dem Rücken?“ B: „Ja.“ A: „ Zum Beispiel: ‚Haha, du Fettsack, du schaffst das nicht‘“. (JD 14-16) Diese Erlebnisse sind für die Jugendlichen dramatisch. Aber immerhin können sie sich darüber austau- schen und sie gegenüber anderen als verwerflich zurückweisen. Und sie können sich der Zustimmung zu deren Verurteilung gewiss sein. Die wissenschaftliche Literatur thematisiert dieses Fehlverhalten unter den Fachbegriffen Mobbing, Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung. Die Jugendlichen zitieren diese Begriffe, um die von ihnen erlittenen Erfahrungen zu tadeln oder zu skandalisieren. Darin lassen sich Spuren von Aufbegehren und Sich-Wehren ausmachen. Die Allgegenwärtigkeit, zu dick zu sein, ist dagegen subtiler. Sie in Worte zu fassen ist schwer. Nicht ohne Grund wird Hilfe bei einem Bild gesucht – „ein Huhn auf dem Kopf“ (MD 11-13) –, um diese Erfah- rung der Unterlegenheit auszudrücken. 17
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache 3.2 Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen B: „ O.k., ich bin fett, man denkt, ich mache keinen Sport, aber ganz ehrlich, wenn ich nicht irgendwas arbeiten könnte, also wenn ich die ganze Zeit nur vor dem PC sitzen oder … voll lange schlafe, dann habe ich ja gar nichts mehr vom Tag.“ (JT 11-13) Die Erfahrung, dick zu sein, durchfärbt alle Bereiche und Dimensionen des Lebens, besonders jene, die mit Tatkraft und Anstrengung assoziiert sind und in denen es gilt, sich zu beweisen. In unserer Leistungsgesellschaft, die auf der ideologischen Überhöhung basiert, dass alles, was erstrebenswert ist: eine geachtete Position, soziale Anerkennung und Teilhabe wie auch persönliches Glück, durch individu- ellen Einsatz erreichbar ist, wird ein dicker Körper als Dokument der Leistungsverweigerung ausgelegt. Der Körper ist – in den letzten Jahrzehnten zunehmend – zum Ausweis, ja Nachweis geworden, Selbst- kontrolle, Tatendrang, Ehrgeiz und Disziplin zu besitzen oder eben dies alles nicht zu wollen oder zu können und entsprechend als unkontrolliert, tatenlos, teilnahmslos und nachgiebig zu gelten. Nicht nur die Körper werden klassifiziert, sondern gleichzeitig persönliche Eigenschaften wie Neigungen, Fähig- keiten, Fleiß und Antrieb. Der Körper wird somit gesellschaftlich immer weniger als physisches Schicksal oder soziale und kultu- relle Fügung gesehen, sondern als Summe selbst zu verantwortender Verhaltensweisen begutachtet. Ihn in die gesellschaftlich gewünschte Form – schlank, gesund und leistungsfähig – zu bringen, ist zu einer verbindlichen Norm und zu einer moralischen Aufforderung geworden. Wer sie erfüllt, erntet Achtungserweise, wer nicht, erhält Missbilligungen. 17 Mit diesem gesellschaftlichen Blick auf Körper, den daran geknüpften und als legitim angesehenen Umgangsformen sind die Jugendlichen unserer Studie in besonderer Weise konfrontiert. Sie befinden sich in der Phase ihres Lebens, in der sie einen eigenen Weg zu finden haben. Ihnen wird bewusst, dass sie bald selbst für ihre soziale Position, Anerkennung und Teilhabe wie auch für ihr persönliches Glück verantwortlich gemacht werden. Erfolg im Beruf und in der Liebe sind dafür Garanten, das spüren sie, und die Älteren von ihnen teilen dies mehr oder weniger ausführlich mit. Dicksein – dies erzählen uns die Jugendlichen – wird mit „faul sein“, „antriebsarm“ und „kontaktarm“ gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung repräsentiert den unlegitimen – den gesellschaftlich verachteten – Gegenpol zu „fleißig“, „selbstverantwortlich“ und „integriert“ sein. Sie erfahren durch Blicke, Reak- tionen und Handlungsweisen, dass ihnen aufgrund ihres Körpers abgesprochen wird, Leistungsbereit- 18
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache schaft und -vermögen aufbringen zu wollen und zu können. „Dass man seine Stärken nicht zeigen kann, wenn man nicht fleißig ist“ (JT 14-16), das missfällt ihnen. Dies erleben sie im Sport, in der Schule, in der Freizeit – überall. Selten wird beachtet, was sie leisten wollen und können, wie rege sie sind und wie sie sich bemühen. Sie leiden darunter, dass ihre Anstrengungen kaum honoriert werden, dass ihr Wunsch, sich zu fordern und aktiv zu sein, oftmals weder erkannt noch ernst genommen wird. Die jüngeren Jugendlichen drücken ihr Anliegen, nicht auf Grund ihres Körpers verkannt zu werden, hauptsächlich darüber aus, dass sie immer wieder hervorheben, sehr aktiv zu sein, vieles zu machen und nur selten oder kurz „stillzusitzen“ (MD 14-16). Sie betonen immer wieder, dass sie ihre Stärken zei- gen, ihren Fleiß beweisen und ihren Willen, etwas leisten zu wollen, demonstrieren möchten. B: „ Ja, also ich bin auch so eine, die eher so aktiv ist, ich gehe gerne ins Fitnessstudio, mache gerne Sport, ich tanze gerne, ich habe eigentlich gerne Bewegung, also den ganzen Tag faul rumschlafen könnte ich jetzt nicht.“ (MT 14-16) Die älteren Jugendlichen konkretisieren ihre Leistungsbereitschaft vor allem in der Schule und im Beruf. Dies sind die beiden zentralen Bereiche, über die in unserer Gesellschaft – jedenfalls dem geltenden Grundverständnis nach – soziale Positionen, Anerkennung und Teilhabe erlangt werden. Sie bilden die beiden Hauptsäulen des meritokratischen Leistungsprinzips. Und genau für diese beiden Bereiche fürch- ten die Jugendlichen, dass sie von den negativen gesellschaftlichen Zuschreibungen, die an Dicksein gekoppelt sind, betroffen sein werden. Sie sehen ihre Chancen, in Schule und Beruf ihre Leistungsfähig keit unter Beweis stellen zu können, in Gefahr und sehen für sich voraus, dass ihnen deswegen eine geachtete Position, soziale Anerkennung und Teilhabe verwehrt sein wird. D: „ Ich denke mir mal, in den meisten Berufen muss man halt so bestimmt aussehen, die meisten stellen sich halt so schlanke Leute vor in ihren Betrieben. Das hat auch was mit der Hygiene zu tun oder so was.“ (MD 14-16) Geradezu in Umkehr zu ihren Befürchtungen präsentieren sich die Jugendlichen als strebsam und ziel gerichtet. B: „ Ja, also meine Wünsche sind … ein guter Beruf bzw. Abschluss, also dass man halt einen guten Beruf hat, dann habe ich finanzielle Sicherheit, dass man auch später, wenn man Familie hat, den Kindern was bieten kann.“ (JT 14-16) 19
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache Oberflächlich betrachtet, mögen die Schilderungen der von ihnen angestrebten Lebensverläufe als Selbstüberschätzung wirken. Diese Beurteilung wäre jedoch verkehrt. Die Jugendlichen orientieren ihre Zukunftspläne vor allem daran, einen Lebenslauf zu entwerfen, der den gesellschaftlichen Normen entspricht und der als sinnvoll geordnet erscheint. Man soll eben nicht denken, dass sie tatenlos, teil- nahmslos und nachgiebig sind oder die ganze Zeit vor dem PC sitzen möchten. Ihnen geht es darum, zu unterstreichen, dass sie einfach nur dazugehören wollen. Ähnlich unachtsam wäre es, die von den Jugendlichen aufgezählten Wünsche: Gesundheit, Erfolg in Schule und Beruf, glückliche Familie, finanzielle Sicherheit und Gleichberechtigung, als bloße Zitatio- nen sozial erwünschter Antworten zu diskreditieren, die sie benennen, um dahinter ihre wahren Wün- sche zu verbergen. Die von ihnen aufgezählten Wünsche entsprechen den gesellschaftlich kommunizier- ten, insbesondere medial bestätigten Auffassungen von einem glücklichen und gelungenen Leben. An der Aufzählung irritiert, dass sie keine jugendtypischen Wünsche enthält, selbst für Erwachsene klingt sie konventionell und förmlich, ohne jegliche individuelle Note. Für Jugendliche gilt dies umso mehr. Indem sich die Jugendlichen auf das gesellschaftlich gängige Bild eines vollkommenen, untadeligen, erfolgreichen Lebens berufen, präsentieren sie sich als angepasst und korrekt. Dies ist genau das Gegen- teil von Leistungsunvermögen und -verweigerung, was ihnen vorgeworfen wird. Darin zeigt sich, dass sie nach Achtungserweisen streben. Hier beweist sich abermals, dass die dickeren Jugendlichen darauf achten, nicht von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den geltenden Legitimationen abzuweichen, sondern deutlich machen möchten, dass sie diese teilen und ein Teil von ihr sein möchten. 20
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache 3.3 Gleichberechtigung und Gleichbehandlung F: „ Mehr Ansehen halt, dass man nicht wegen des Aussehens ausgeschlossen wird.“ (JT 14-16) Die dickeren Jugendlichen beurteilen die ihnen zuteil werdende gesellschaftliche Behandlung und Be- wertung als „abweichend“ als Machtausübung und als Stigmatisierung, kurz: als gesellschaftlich nicht legitim. Über strukturelle Differenzen hinweg stellen sie sich gegen die Abwertung und Missbilligung ihrer Körper und gegen die sozialen Ausgrenzungen und Benachteiligungen, die daraus folgen. Um ge- gen ihre gesellschaftliche Abwertung zu opponieren, referieren die Jugendlichen auf den moralischen Grundkonsens des Gleichstellungsgebots. Sie fordern, wie dies bei der Religion, Hautfarbe und Herkunft bereits verbindlich gilt und beachtet wird, dass auch alle Körper gleich behandelt und geschätzt werden sollen. Seine Version einer perfekten Welt beschreibt ein Junge so: „dass keiner unterschieden wird durch Hautfarbe, dass er dick oder dünn ist“ (JD 14-16). Mit der Hautfarbe wählen die Jugendlichen einen Referenzpunkt, der unveränderlich ist und somit nicht in der Selbstverantwortung des Einzelnen liegt. Sie argumentieren, dass Dicksein ein weiterer Aspekt des Aussehens ist, über den sich andere „nicht lustig“ machen dürfen. C: „ Alle haben halt den gleichen Körper, nur dass manche halt durch ein paar Kilos mehr halt etwas anders aussehen.“ (MD 11-13) Gleichbehandlung, Gleichstellung und Gleichberechtigung sind die Fachtermini, die die Jugendlichen zitieren, um zu begründen, warum dickere Menschen nicht moralisch geächtet werden dürfen. Damit stellen sie sich gegen die Moralisierung des Körpers: Alle sollten gleichberechtigt sein und sich gegen seitig respektieren. B: „Respekt, also zwischen dick und dünn.“ (JD 14-16) Diese Forderung nach Gleichberechtigung begründen sie mit dem Gleichheitsgrundsatz und dem Gleich- stellungsgebot. Mit der Nutzung der Fachtermini und der darin enthaltenen Objektivierung gelingt den Jugendlichen zweierlei: sich von ihren persönlich erfahrenen Abwertungs- und Ausgrenzungserfah- rungen zu distanzieren und sich gleichzeitig als anschlussfähig an den gesellschaftlichen Diskurs zu präsentieren. So unterstreichen sie erneut ihren Willen und Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe. 21
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache 3.4 Ohne eigene Worte – die Übernahme der Experten sprache Professionelle Expertendiskurse aus verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen haben eine Sprech- weise über die Erfahrungen dickerer Jugendlicher entwickelt und setzen ihre jeweiligen Erklärungen über die Ursachen des Dickseins durch. Diese Sprechweisen, weil von Experten getragen, sind als gesell- schaftlich legitim akzeptiert. Den Dickeren ermöglichen sie, sich über ihre Erfahrungen auf eine selbst- distanzierende Art und Weise auszutauschen. Solcherart legitimierten Beschreibungen und Erklärungen wird eine unhinterfragte Geltung zuerkannt. Greifen die dickeren Jugendlichen auf diese Ausdrucksfor- men zurück, dann deshalb, um von ihren eigenen Erfahrungen und Erlebnissen zu abstrahieren: Dies bedeutet eine Entpersönlichung. Hierdurch umgehen sie die Notwendigkeit, über sich selbst zu sprechen. A: „ Also, dass die Dickeren so im Hintergrund sind, so als Außen seiter da sind …,“ B: „Ausgeschlossen.“ A: „Ja, ausgeschlossen.“ (JT 14-16) Den generalisierten Dicken als Außenseiter zu bezeichnen schützt vor einer Ich-Perspektive. Zudem kön- nen sie sich bei der Verwendung von Fachausdrücken gesellschaftlicher Zustimmung gewiss sein. Ein Ausweichen in die therapeutische Expertensprache 18 entmündigt jedoch das eigene Ausdrucksvermögen. Die Jugendlichen besitzen keine eigene Sprache für ihre Erfahrungen mit dem Dicksein. Sie eignen sich Fachtermini an. „Außenseiter“ (JT 14-16), „ausgeschlossen“ (JT 14-16), „Ignoranz“ (JT 11-13) und „Mobbing“ (JD 14-16) sind Beispiele dieser Sprachübernahme. Diese Begriffe generalisieren die alltäglichen Umgangsformen und Haltungen – kurz: die sozialen In- teraktionen – und bilden Typisierungen. Typisierungen gehören zum „gesellschaftlichen Wissensvorrat“ über die Gesellschaft. Sie ermöglichen, den Ort des Individuums in der Gesellschaft zu bestimmen, und geben eine entsprechende gesellschaftliche „Behandlung“ vor. 19 C: „ Vielleicht ist es so, wenn man dick ist, dass man von vielen aus gegrenzt wird, die gleich vorneweg so eine Einstellung haben: Dicke sind nicht cool, und also die wollen lieber unter sich bleiben.“ (MD 14-16) 22
DAZUGEHÖREN WOLLEN … ZUM GANZ „NORMALEN“ LEBEN – – – Die Allgegenwärtigkeit der Erfahrung, als dick wahrgenommen zu werden – – – Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen – – – Gleichberechtigung und Gleichbehandlung – – – Ohne eigene Worte – die Übernahme der Expertensprache In der Verwendung der Fachtermini zeigt sich nicht nur eine Distanzierung gegenüber den eigenen Alltagserfahrungen, sondern zusätzlich deren Einbettung in einen objektivierten Kontext. Gesellschaft- lich erprobte und legitimierte Begriffe wie Mobbing und Stress werden von den dickeren Jugendlichen genutzt, um die Ursachen ihres Übergewichts zu erklären. G: „ Stress müsste auf jeden Fall weg, weil wenn man Stress hat, dann kann man nicht abnehmen.“ C: „Da nimmt man eigentlich eher zu beim Stress.“ G: „Ja.“ (MD 11-13) Nicht nur das Ausdrucksvermögen, auch die Hierarchisierung der Themen nach ihrer Bedeutsamkeit liegt durch die Übernahme der Expertensprache nicht in ihrer Hand. In Expertendiskursen wird gebündelt, wie Themen und Inhalte gesellschaftlich zu sehen und zu behandeln sind. Durch diese Art der Bündelung fallen die spezifischen Themen der Jugendlichen aus der Hierarchie der betrachteten Themen heraus. Der die Themen bestimmende Expertendiskus generiert eine bestimmte Sichtweise auf die Jugendlichen, ohne zu fragen, was diese wirklich bewegt, oder ihnen vorher aufmerksam zugehört zu haben. Daraus ergibt sich, dass die ihnen verordneten Rezepte und Lösungsvorgaben an der Alltags- welt der Jugendlichen vorbei aufgestellt werden. Ohne eigene Wortmacht und ohne eigene Problembeschreibung übernehmen die Jugendlichen den pro- fessionellen Expertendiskurs, welchen sie perfekt beherrschen. Damit bleiben wesentliche Teile ihres Selbst und ihrer Wahrnehmung des Dickseins verborgen. Das Vokabular des Expertendiskurses und die von ihm betriebene Hierarchisierung der Inhalte, Themen und Probleme gibt die gesellschaftlich legitimierte Sichtweise auf Dickere vor. Die Jugendlichen über- nehmen dieses Vokabular in ihrem Sprachgebrauch und bestätigen die Hierarchisierung, wodurch diese von ihnen anerkannt und bekräftigt wird. Die Betroffenen in diesem Diskurs – die dickeren Jugendlichen selbst – bleiben sprachlos. Ebenso wie ihre persönliche Sichtweise auf die Welt in der objektivierten Wirklichkeit unserer Gesellschaft nicht vorkommt, so existiert auch nicht ihre persönliche Ausdrucks- weise für diese Welt. Die Expertensprache ist ein bestimmender Teil der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und schafft sie gleichzeitig zu großen Teilen. 23
4. ERFAHRUNG VON UNGLEICHHEITEN 4.1 Mehrfach benachteiligt – aber nur der Körper zählt 4.2 Die „kleineren“ Ungleichheiten: Geschlecht und Herkunft
ERFAHRUNG VON UNGLEICHHEITEN – – – Mehrfach benachteiligt – aber nur der Körper zählt – – – Die „kleineren“ Ungleichheiten: Geschlecht und Herkunft 4. Erfahrung von Ungleichheiten F: „ Ja, so kann man sich das ganze Leben verhauen, wenn man nichts macht, wenn man dicker ist und sich nichts traut, man zieht sich nur runter, wird depressiv, das bringt einen ja dann auch nicht weiter.“ (MD 11-13) Dies ist nur eine unter vielen Äußerungen der Jugendlichen aus unserer Studie, die belegt, dass sie sich Gedanken, teilweise Sorgen um ihre Zukunft machen und diese als durch ihren Körper bestimmt erleben. „Etwas machen“ und „sich etwas trauen“ stehen dabei für ihren Zukunftswunsch, eine sozial angesehene Position zu erlangen und sich ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Die Chancen, dass ihnen dies gelingen wird, schätzen die meisten von ihnen als geringer im Vergleich zu anderen Jugend- lichen ein. Ihre Einschätzung beruht einerseits auf ihren persönlichen Erfahrungen, wie mit ihrem Dicksein gesellschaftlich umgegangen wird, und andererseits auf ihren Beobachtungen der Alltagswirk- lichkeit, der Medien sowie der Institutionen und Organisationen, dass Leistung und Erfolg mit einem schlanken Körper assoziiert sind. Ihre Eindrücke täuschen sie keineswegs. 25
ERFAHRUNG VON UNGLEICHHEITEN – – – Mehrfach benachteiligt – aber nur der Körper zählt – – – Die „kleineren“ Ungleichheiten: Geschlecht und Herkunft 4.1 Mehrfach benachteiligt – aber nur der Körper zählt Die Wahrscheinlichkeit, dick zu sein, ist zwischen den sozialen Schichten, ethnischen Herkünften 20, selbst unter den Geschlechtern ungleich verteilt. Im Allgemeinen gilt: Je niedriger die sozialstrukturelle Position, je größer das Ausmaß ethnischer Abwertungen, je gravierender die geschlechtsspezifischen Benachteiligungen, umso höher ist der Anteil der dickeren Menschen. Häufig treffen Benachteiligungen durch Schicht, Ethnie, Geschlecht und Körper in mehreren Dimensionen zusammen, überlappen sich und verstärken sich gegenseitig. Diese verschiedenen Dimensionen von Benachteiligungen bilden ein Geflecht, bei dem es nicht möglich ist und auch nicht der sozialen Wirklichkeit entsprechen würde, eine Benachteiligungsdimension herauszulösen und diese für sich allein zu betrachten. 21 Vielmehr sind die Überlappungen und gegenseitigen Verstärkungen zu berücksichtigen, weil nur so die Dynamik der Be- nachteiligungen nachvollzogen werden kann. Welche Benachteiligungen Menschen erfahren, die mit den begrenzten materiellen Ressourcen einer un- teren Schicht zurechtkommen müssen, die weiterhin mit kulturellen Abwertungen aufgrund ihrer ethni- schen Herkunft konfrontiert sind und die zudem als dick wahrgenommen werden, diese Frage lässt sich nicht als bloße Additionsaufgabe rechnen. Daraus erwachsen einerseits spezifische Benachteiligungsla- gen, die sich aus dem Zusammenwirken – Amalgamationen – der verschiedenen Ungleichheitsdimensio- nen entwickeln. Andererseits werden die verschiedenen Ungleichheitsdimensionen bei den spezifischen Benachteiligungslagen ganz unterschiedlich gesellschaftlich gewichtet. In dem beispielhaft vorgestellten Fall – soziale Schicht, Herkunft und Körper – ist zu beobachten, dass im gesellschaftlichen Umgang die ethnische Herkunft als vorrangig gilt, während die soziale Schicht beinahe übergangen wird. Dicksein wird so zu einem ethnischen Phänomen. Ähnliches lässt sich beobachten, wenn die Ungleichheitsdi- mensionen soziale Schicht, Geschlecht und Körper zusammentreffen. In diesem Fall erfolgen Prozesse der Vergeschlechtlichung von Dicksein sowie dessen Klassifizierung als Schichtphänomen. Aus den Amalgamationen der verschiedenen Ungleichheitsdimensionen erklärt sich, dass oftmals Ur- sache und Wirkung von Benachteiligungen nicht klar und eindeutig identifiziert werden können. So kann ein dicker Körper sowohl Grund als auch Resultat von Benachteiligungen sein. Für beides gibt es überzeugende soziologische Erklärungen: Wer aufgrund seiner sozialen Schichtzugehörigkeit über wenig Ressourcen verfügt, kann sich nicht gesund ernähren, teure Sportaktivitäten ausüben etc. Vor allem aber ist die „gesunde Lebensführung“ eine kulturelle Praxis mit sozialer Distanzierungswirkung. 22 Wer sie nicht praktiziert, riskiert, kulturellen Blamierungen ausgesetzt zu werden. An diesen wiederum knüpfen sich soziale Ungleichheiten an. Die gesunde Lebensführung ist somit Teil des Ungleichheits geschehens. 26
ERFAHRUNG VON UNGLEICHHEITEN – – – Mehrfach benachteiligt – aber nur der Körper zählt – – – Die „kleineren“ Ungleichheiten: Geschlecht und Herkunft Man kann auch andersherum argumentieren: Wer als zu dick wahrgenommen wird, hat verminderte soziale Chancen – beispielsweise im Erwerbsleben –, weshalb er besonders von schichtspezifischen Benachteiligungen betroffen ist. Dies gilt in ähnlicher Weise für die zwei weiteren Ungleichheitsdimen- sionen: Herkunft und Geschlecht. Auch hier lassen sich Ursache und Wirkung, wenn die körperliche Dimension – Dicksein – hinzukommt, nicht eindeutig identifizieren. Wenden wir uns nun – nach diesem eher grundsätzlichen Auftakt – den von uns befragten Jugendlichen zu. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihren Körper gesellschaftlich als zu dick erfahren und ihre Famili- en einer sozial benachteiligten Schicht angehören. Sie unterscheiden sich nach Herkunft, Geschlecht und Alter. Somit wäre zu erwarten, dass sie ihre Benachteiligungslage als Produkt der jeweils für sie spezifisch wirksamen Ungleichheitsdimensionen schildern und auch von unterschiedlichen gesell- schaftlichen Gewichtungen ihrer Benachteiligungen berichten. Es gibt solche Differenzen, aber sie sind marginal im Vergleich zu der von ihnen gemeinsam geteilten gesellschaftlichen Erfahrung: der Benach- teiligung aufgrund ihres Körpers. Obwohl alle Jugendlichen in sozial benachteiligten Verhältnissen leben und die Hälfte von ihnen einen Migrationshintergrund hat, erwähnen sie dies mit keiner Silbe. Ebenso wenig weisen sie auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten hin. Für sie ist einzig ihr Körper ursächlich für ihre verminderten sozialen Chancen, die sie sehr deutlich erleben und unter denen sie leiden. Aus- schließlich in ihrem Körper sehen sie die Gründe dafür, dass sie von weiteren Benachteiligungen betrof- fen sind. Diese zeigen sich für sie in Schulproblemen, der vergeblichen Suche nach einem Ausbildungs- platz und den Schwierigkeiten und Unsicherheiten, mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu kommen. E: „ Dass ich dünn werden will, wegen dem Geld, so finanziell, weil die Dünnen kriegen bessere Jobs.“ (JT 14-16) B: „ Für mich wäre Abnehmen an erster Stelle … danach mehr Freunde finden.“ (JD 11-13) 27
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