DER EUROPÄISCHE RAT UND DER RAT DER EU IM WANDEL DER ZEIT - Entscheidungsfindung und Rechtsetzung im Rahmen der europäischen Integration - Europe ...
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DER EUROPÄISCHE RAT UND DER RAT DER EU IM WANDEL DER ZEIT Entscheidungsfindung und Rechtsetzung im Rahmen der europäischen Integration
Hinweis Diese Publikation wird vom Generalsekretariat des Rates herausgegeben und ist nur für Informationszwecke bestimmt. Eine Gewähr wird weder von den EU-Organen noch von den Mitgliedstaaten übernommen. Weitere Informationen über den Europäischen Rat und den Rat sind auf der Website www.consilium.europa.eu zu finden oder können bei der Dienststelle „Informationen für die Öffentlichkeit“ des Generalsekretariats des Rates angefordert werden: Rue de la Loi/Wetstraat 175 1048 Bruxelles/Brussel BELGIQUE/BELGIЁ Telefon: +32 (0)2 281 56 50 Fax: +32 (0)2 281 49 77 public.info@consilium.europa.eu www.consilium.europa.eu/infopublic Besuchen Sie unsere Website: www.consilium.europa.eu Mehr über die Europäische Union: www.europa.eu. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2016 © Europäische Union, 2016 Print ISBN 978-92-824-5288-2 doi:10.2860/85027 QC-04-15-219-DE-C PDF ISBN 978-92-824-5297-4 doi:10.2860/902938 QC-04-15-219-DE-N Weiterverwendung mit Quellenangabe gestattet. © Archives nationales (France); © Photothèque de la Ville de Luxembourg. Photo: Batty Fischer; © Photothèque de la Ville de Luxembourg. Photo: Théo Mey Für jegliche Weiterverwendung dieses Materials ist eine Genehmigung direkt beim Urheberrechtsinhaber einzuholen. Umschlagfoto: Kloster Mosteiro dos Jerónimos in Lissabon (Portugal) am 13. Dezember 2007 – an diesem Tag wurde hier der Vertrag von Lissabon unterzeichnet Printed in Luxembourg
© Europäische Union DER EUROPÄISCHE RAT UND DER RAT DER EU IM WANDEL DER ZEIT Entscheidungsfindung und Rechtsetzung im Rahmen der europäischen Integration
„So hat der Ministerrat eine Verbindungs- und Vermittlerrolle. Er steht im Schnittpunkt zweier Souveränitäten, einer supranationa- len und einer nationalen. Er muss den Interessen der Gemeinschaft in gleicher Weise gerecht werden wie den Interessen der einzelnen Staaten und einen Ausgleich finden, der beiden das Ihre zuteil wer- den lässt.“ Rede von Bundeskanzler Konrad Adenauer auf der ersten Tagung des Beson deren Rates der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Luxemburg, 8. September 1952) © Photothèque de la Ville de Luxembourg. Photo: Théo Mey
< Auf den beiden vorherigen Seiten: Bundeskanzler Adenauer (erste Reihe Mitte) und Minister auf der Treppe des Hôtel de Ville in Luxemburg, auf dem Weg zur ersten Tagung des Besonderen Rates (8. September 1952)
INHALT Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Der Europäische Rat 1.1 Der Europäische Rat in den Verträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1.1 Erste Schritte auf dem Weg zu EU-Gipfeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1.2 Die Einheitliche Europäische Akte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.3 Der Vertrag von Maastricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.4 Die Verträge von Amsterdam und Nizza. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.1.5 Der Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.2 Der Präsident des Europäischen Rates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2.1 Tagungen des Europäischen Rates nach dem Vertrag von Lissabon. . . . . . . . . . . . 21 1.2.2 Euro-Gipfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.2.3 Bilaterale und multilaterale Treffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2 Der Rat der Europäischen Union 2.1 Der Rat der Europäischen Union in den Verträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.1 Die ersten Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.2 Die Politik des leeren Stuhls und der Luxemburger Kompromiss. . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.3 Der Fusionsvertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1.4 Der Vertrag von Maastricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1.5 Der Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Vorbereitung der Arbeit des Rates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.1 Der AStV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.2 Ausschüsse und Arbeitsgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2.3 Das Generalsekretariat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3 Anlagen I Die EU-Verträge – die wichtigsten Reformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II Der Erweiterungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 III Chronologie der Gipfelkonferenzen, der Tagungen des Europäischen Rates und der Euro-Gipfel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV Entwicklung des Abstimmungsverfahrens im Rat der EU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 V Die Generalsekretäre des Rates der EU und die Entwicklung des Generalsekretariats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 5
„Jedes Land sollte aus Verhandlungen als Sieger hervorgehen. [...] Als Präsident des Europäischen Rates werde ich jedem gut zuhören und da- für sorgen, dass unsere Beratungen Ergebnisse für alle bringen. Es ist viel über das Profil des künftigen Präsidenten debattiert worden, es gibt aber nur ein mögliches Profil, und zwar eines des Dialogs, der Einheit und des Handelns.“ Dankesrede von Herman Van Rompuy (links) nach seiner Ernennung zum ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates (19. November 2009) © Europäische Union
< Auf den beiden vorherigen Seiten: Die EU wird am 10. Dezember 2012 in Oslo (Norwegen) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, da sie „über sechs Jahrzehnte lang zu Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen“ hat. Von links nach rechts: die Präsidenten des Europäischen Rates, der Kommission und des Parlaments, Herman Van Rompuy, José Manuel Barroso und Martin Schulz, nehmen den Nobelpreis im Namen aller EU-Bürger entgegen.
EINLEITUNG In dieser Broschüre werden die Entstehung und die Geschichte des Europäischen Rates und des Rates der EU im Rahmen der EU-Verträge von den ersten Anfängen in Paris bis zum Vertrag von Lissabon skizziert. Dies geschieht sowohl aus rechtlicher als auch aus politischer Perspektive. Die Broschüre richtet sich an alle, die an der Geschichte der europäischen Integration interessiert sind, insbesondere an Wissenschaftler, Forscher und Angehörige der Medienberufe. Der Europäische Rat und der Rat der EU, auch (Minister)rat oder – informell – EU-Rat genannt, sind zwei Hauptakteure im Entscheidungsprozess der EU. Sie sind nicht mit dem Europarat, der Organisation für Menschenrechte und Kultur mit Sitz in Straßburg, zu verwechseln. Die Arbeit und die Beschlüsse des Europäischen Rates und des Rates der EU betreffen das Leben aller europäischen Bürger und wirken weit über die Grenzen Europas hinaus. Der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt und in dem ein Vollzeitpräsident den Vorsitz führt, legt die politischen Leitlinien und Prioritäten für die Arbeit der EU fest. Er hat seinen Ursprung in den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs; das erste Treffen dieser Art findet im Februar 1961 in Paris statt. Der Europäische Rat wird im Dezember 1974 geschaffen und durch den Vertrag von Lissabon formell zu einem Organ der EU. Während dieses langen Zeitraums hat der Europäische Rat stets eine entscheidende Rolle für die eu- ropäische Integration gespielt. Seine Geschichte spiegelt die der gesamten EU wider: ihre Politik und ihre Ziele, ihre Krisen und ihre Fortschritte. Der Rat der EU, der sich aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzt und in dem in den meisten Fällen ein Vertreter desjenigen Mitgliedstaats den Vorsitz führt, der den turnusmäßig alle sechs Monate wechselnden Vorsitz innehat, prüft, verhan- delt und verabschiedet die Rechtsvorschriften der EU und koordiniert ihre Politik. In den meisten Fällen entscheidet er gemeinsam mit dem Europäischen Parlament. Die Beschlussfassung ist in einer Union mit 28 Mitgliedstaaten zwar zuweilen kompliziert, doch erfolgt sie inzwischen zunehmend transparent und öffentlich. Auf politischer und administrativer Ebene besteht zwischen dem Rat und dem Europäischen Rat ein enges organisches Verhältnis. Der Europäische Rat ist jedoch nicht einfach der verlängerte Arm des Rates, noch ist er der Rat auf einer höheren Ebene. Beide spielen in der institutionellen Architektur der EU ihre eigene spezifische Rolle. Falls Sie nach der Lektüre dieser Broschüre die Geschichte des Europäischen Rates und des Rates der EU noch vertiefen oder einschlägige Dokumente konsultieren möchten, so können Sie dies auf unserer Website und über unser Archiv tun (1). (1) www.consilium.europa.eu/de/documents-publications – Die Leser können insbesondere eine Reihe von drei historischen Broschüren sowie Plakate konsultieren, die von der Website des Rates heruntergeladen werden können: „Der Europäische Rat – 50 Jahre Gipfelkonferenzen“ (Dezember 2011), „Der Rat der Europäischen Union 1952-2012: sechzig Jahre Rechtsetzung und Beschlussfassung“ (Juli 2013) und „Eine Union des Rechts: von Paris bis Lissabon – die Geschichte der Verträge der Europäischen Union“ (März 2012). Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 9
1 DER EUROPÄISCHE RAT 1.1 DER EUROPÄISCHE RAT IN DEN VERTRÄGEN 1.1.1 Erste Schritte auf dem Weg zu EU-Gipfeln Obgleich das Gremium, in dem die Staats- und Regierungschefs zusammentreffen, erst 2009 formell ein Organ der EU wird, sind die Staats- und Regierungschefs für das Entstehen und die nachfolgende Entwicklung der europäischen Integration von ent- scheidender Bedeutung. Die Staats- und Regierungschefs der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) treffen am 19. und 20. Februar 1957 auf Einladung des französischen Premierministers Guy Mollet in Paris zusammen, um die letzten noch offenen Fragen bei der Ausarbeitung der Römischen Verträge zu klären. Nach Inkrafttreten der Römischen Verträge (1958) wird die Idee, auf höchster Ebene zusammenzukommen, von Präsident Charles de Gaulle wiederbelebt. So ist er im Februar 1961 in Paris Gastgeber der ersten Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften. © Archives nationales (France) Gipfelkonferenz vom 10./11. Februar 1961 in Paris (Frankreich) Das Ziel dieser ersten Gipfelkonferenz ist es, „geeignete Mittel und Wege zu finden, um eine engere politische Zusammenarbeit zu organisieren“ (2). Auf einem Gipfeltreffen ist es möglich, über den gemeinschaftlichen Rahmen hinaus wichtige Themen, die im (2) Kommuniqué der Gipfelkonferenz. Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 11
Vertrag von Paris und in den Römischen Verträgen nicht behandelt werden, zu erör- tern – wie etwa bestimmte Aspekte der Beziehungen zu Drittländern. Auf der Gipfelkonferenz in Bonn im Juli 1961 sondieren die sechs Mitgliedstaaten die Idee einer vertieften politischen Zusammenarbeit und erklären Folgendes: „Die Staats- und Regierungschefs […] haben beschlossen […], in regelmäßigen Zeitabständen Zusammenkünfte zu dem Zweck abzuhalten, ihre Ansichten zu vergleichen, ihre Politik miteinander abzustimmen und zu gemeinsamen Auffassungen zu gelangen, um die politische Einigung Europas zu fördern“ (3). Trotz dieses ehrgeizigen Ziels müssen auf dem Weg zur politischen Union mehrere Rückschläge hingenommen werden, vor allem das Scheitern der „Fouchet-Pläne“ (4) von 1961 und 1962, die Differenzen von 1963 und 1967 über die erste Erweiterung und die „Politik des leeren Stuhls“ von 1965 und 1966, als Frankreich den Tagungen des Rates und seiner Gremien fernbleibt. In diesem schwierigen politischen Klima finden keine weiteren Treffen der Staats- und Regierungschefs mehr statt, bis im Mai 1967 die Gipfelkonferenz in Rom den Anlass bietet, den zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des EWG- und des Euratom- Vertrags förmlich zu begehen. Es entsteht eine neue Dynamik, und mit dem Gipfeltreffen von Den Haag im Dezember 1969, an dem erstmals auch die Kommission teilnimmt, geht es mit der Gemeinschaft wieder bergauf. Die auf diesem Gipfeltreffen gefassten Beschlüsse ebnen insbesondere den Weg für die Annahme eines Beschlusses, durch den die Gemeinschaft mit finanziellen Eigenmitteln ausgestattet wird, für den Beginn der Zusammenarbeit im Bereich der Außenpolitik (der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, die auf den ersten „Davignon-Bericht“ zurückgeht) sowie für den Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs. Diese Schritte stellen zusammen eine „Vollendung, Vertiefung und Erweiterung“ der Gemeinschaft dar. Die drei neuen Mitglieder werden zur Teilnahme an dem Gipfeltreffen im Oktober 1972 in Paris eingeladen – noch vor ihrem offiziellen Beitritt im Januar 1973. Auf dem Gipfeltreffen von Kopenhagen im Dezember 1973 wird vereinbart, dass Gipfelkonferenzen jeweils bei Bedarf stattfinden sollen. Ein Jahr später wird auf dem vom französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing im Dezember 1974 in Paris ausgerichteten Gipfeltreffen der Europäische Rat geschaffen und seine Rolle festgelegt. Der Europäische Rat erhält den Auftrag, sich mit der „Notwendigkeit, die internen Probleme, die der Aufbau Europas mit sich bringt, und die Probleme, die sich Europa von außen stellen, als Ganzes zu sehen“ (5), zu befassen. Diese explizit politische Rolle stellt eine Abkehr von der seit 1957 weitgehend technischen und wirtschaftlichem Natur des europäischen Aufbaus dar und ergänzt diese. Gemeinsam mit den (3) Kommuniqué der Gipfelkonferenz. (4) Christian Fouchet ist der Präsident der vom Pariser Gipfel im Februar 1961 eingesetzten Kommission, die die Probleme im Zusammenhang mit der europäischen Zusammenarbeit untersuchen soll und von den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen im Juli 1961 in Bonn beauftragt wird, „ihnen Vorschläge über die Mittel und Wege vorzulegen, die es ermöglichen würden, der Einigung ihrer Völker binnen kürzester Frist einen statutarischen Charakter zu geben“ (offizielles Kommuniqué, Bonn, 18. Juli 1961). (5) Kommuniqué der Pariser Gipfelkonferenz. 12 Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit | DE | Januar 2016
Außenministern treten die Staats- und Regierungschefs daher „dreimal jährlich und je- des Mal, wenn dies notwendig erscheint“ (6), zusammen. Der Europäische Rat tagt erstmals im März 1975 in Dublin. Von diesem Moment an spielt er eine zentrale politische Rolle bei der Entwicklung des europäischen Projekts, obgleich es dafür über ein Jahrzehnt lang keine Rechtsgrundlage in den Verträgen geben wird. © Europäische Union Tagung des Europäischen Rates vom 10./11. März 1975 in Dublin (Irland) Der Europäische Rat wird schon bald zu einem Forum für die Beilegung scheinbar unüberwindbarer Krisen, ein Schmelztiegel für mühsam erkämpfte Lösungen und die wesentliche politische Triebfeder für weitere Fortschritte auf dem Weg zur Integration. In den 1980er Jahren ist es der Europäische Rat, der es Europa ermöglicht, Blockaden in den Bereichen Haushalt und Landwirtschaft zu überwinden. Die Tagung des Europäischen Rates im Juni 1984 in Fontainebleau ist ein Meilenstein. Es werden nicht nur die genannten Streitpunkte durch die Verabschiedung eines Maßnahmenpakets beigelegt, sondern es wird auch der Weg für eine weitere Integration geebnet und ein Ad-hoc-Ausschuss (7) beauftragt, „Vorschläge zum besseren Funktionieren der europä- ischen Zusammenarbeit im Gemeinschaftsbereich wie auch im Bereich der Politischen Zusammenarbeit […] zu unterbreiten“ (8). Ein Jahr später, nämlich im Juni 1985, berät der Europäische Rat auf seiner Tagung in Mailand über den Bericht des Ausschusses. Auf dieser Tagung wird mehrheitlich beschlossen, eine Regierungskonferenz zur Überarbeitung der Verträge einzuberufen, (6) Kommuniqué der Pariser Gipfelkonferenz. (7) Der „Dooge-Ausschuss“, in Anspielung auf den von der Konferenz von Messina 1955 eingesetzten Ausschuss zuweilen auch als „Spaak-II-Ausschuss“ bezeichnet. (8) Europäischer Rat, Fontainebleau, Juni 1984, Schlussfolgerungen des Vorsitzes. Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 13
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< Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht am 7. Februar 1992 in Maastricht (Niederlande) wobei die Schaffung eines Binnenmarktes, die Arbeitsweise der Gemeinschaftsorgane, die Freizügigkeit und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im Mittelpunkt stehen sollen. Die Regierungskonferenz ist zwar nicht der Europäische Rat, ihre Zusammensetzung und ihr Charakter sind jedoch so ähnlich, dass ihre Arbeit als Ausdruck des weiterhin bestehenden Wunsches der Staats- und Regierungschefs angesehen werden kann, das wesentliche Gremium für Entscheidungen über die Art und den Kurs der europä- ischen Integration zu sein. 1.1.2 Die Einheitliche Europäische Akte Die Beratungsergebnisse der Regierungskonferenz stehen im Mittelpunkt der Erörterungen des Europäischen Rates, der im Dezember 1985 in Luxemburg tagt. Die politische Einigung in Luxemburg macht den Weg frei für die Annahme der Einheitlichen Europäischen Akte. Diese Akte tritt am 1. Juli 1987 in Kraft und vereint in einem einzigen Dokument einige Änderungen an den Gemeinschaftsverträgen und einen Text über die Zusammenarbeit im Bereich der Außenpolitik. Die Einheitliche Europäische Akte trägt der politischen Realität Rechnung; mit ihr erhält der Europäische Rat erstmals eine Rechtsgrundlage im Vertrag, in dem seine Existenz verankert und seine Zusammensetzung festgelegt wird: „Im Europäischen Rat kommen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie der Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zusammen. Sie werden von den Ministern für Auswärtige Angelegenheiten und einem Mitglied der Kommission un- terstützt. Der Europäische Rat tritt mindestens zweimal jährlich zusammen.“ In der Einheitlichen Europäischen Akte werden weder die Befugnisse des Europäischen Rates festgelegt noch wird sein institutioneller Status förmlich bestätigt. Dies schmä- lert jedoch keineswegs seinen späteren Beitrag zu den wichtigsten Entwicklungen beim Aufbau Europas. So werden die entscheidenden Fortschritte im Hinblick auf die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) auf mehreren Tagungen des Europäischen Rates – wie etwa im Juni 1988 in Hannover – erzielt. 1.1.3 Der Vertrag von Maastricht Der Europäische Rat legt auf seiner Tagung im Dezember 1989 in Straßburg fest, dass im Dezember 1990 eine Regierungskonferenz zur WWU ihre Arbeit aufnimmt. Auf der Sondertagung im April 1990 in Dublin leitet der Europäische Rat die Vorarbeiten für eine Regierungskonferenz zur politischen Union ein. Beide Regierungskonferenzen nehmen am Rande der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 1990 in Rom ihre Arbeit auf. Auf seiner Tagung im Dezember 1991 in Maastricht gelangt der Europäische Rat zu einer Einigung über den neuen Vertrag, den sogenannten Vertrag über die Europäische Union (EUV) oder Vertrag von Maastricht, in dem beide Bereiche in ein und demselben Text vereint werden. Der Vertrag von Maastricht tritt am 1. November 1993 in Kraft. Mit ihm wird auf der Grundlage einer erweiterten Gemeinschaftssäule die Europäische Union gegrün- det; insbesondere sind die Schaffung der WWU sowie die Errichtung zweier neuer Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 15
Säulen vorgesehen: die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (JI). Darüber hinaus wird durch diesen Vertrag die Rolle des Europäischen Rates festgelegt. Damit wird die Praxis festgeschrieben, der zufolge der Staats- bzw. Regierungschef des Landes, das den Vorsitz im Rat innehat, auch im Europäischen Rat den Vorsitz führt. Zudem sieht der Vertrag im Zuge der sich wandelnden Rolle des Europäischen Parlaments vor, dass der Europäische Rat im Anschluss an jede seiner Tagungen dem Parlament einen Bericht unterbreitet und ihm alljährlich einen schriftlichen Bericht über die Fortschritte der EU vorlegt. Überdies enthält der Vertrag von Maastricht erste Präzisierungen bezüglich der Befugnisse des Europäischen Rates: „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest.“ Diese Klarstellung ist sowohl umfassend als auch prägnant; sie umreißt die Rolle, die der Europäische Rat seit 1975 spielt: Er ebnet den Weg für die Entwicklung der Union selbst und steckt den strategischen politischen Rahmen ab, in dem die Organe der Union arbeiten sollten. Mit der späte- ren Festlegung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik durch den Europäischen Rat wird diese Rolle noch konkreter ausgestaltet. 1.1.4 Die Verträge von Amsterdam und Nizza Auf der Tagung des Europäischen Rates im März 1996 in Turin erhält die Regie rungskonferenz den Auftrag zur Überarbeitung des Vertrags von Maastricht. Die Sonder tagung des Europäischen Rates vom Oktober desselben Jahres in Dublin verleiht den Verhandlungen eine neue Dynamik. Letzte offene Fragen werden schließlich vom Europäischen Rat auf seiner Tagung im Juni 1997 in Amsterdam geklärt, so dass der Vertrag von Amsterdam am 2. Oktober 1997 unterzeichnet werden und am 1. Mai 1999 in Kraft treten kann. Im Vertrag von Amsterdam werden die Zuständigkeiten des Europäischen Rates im Bereich der GASP geregelt:„Der Europäische Rat bestimmt die Grundsätze und die allge- meinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, und zwar auch bei Fragen mit verteidigungspolitischen Bezügen. [Er] beschließt gemeinsame Strategien, die in Bereichen, in denen wichtige gemeinsame Interessen der Mitgliedstaaten be- stehen, von der Union durchzuführen sind.“ Die wichtige Rolle des Europäischen Rates in diesem Politikbereich gewinnt durch die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien noch weiter an Bedeutung und findet in den Tagungen von Pörtschach (informel- le Tagung der Staats- und Regierungschefs im Oktober 1998), Köln (Juni 1999) und Helsinki (Dezember 1999) ihren Niederschlag. Mit dem Vertrag von Amsterdam wird das Amt des Hohen Vertreters für die GASP, der die EU auf der Weltbühne vertreten soll, eingeführt; ferner wird beschlossen, dass der Generalsekretär des Rates der EU gleichzeitig das Amt des Hohen Vertreters bekleidet. Der damalige Generalsekretär des Rates, Jürgen Trumpf, wird so der erste Hohe Vertreter für die GASP, doch er hat die- ses Amt nur wenige Monate inne. Auf der Tagung des Europäischen Rates im Juni 1999 in Köln wird Javier Solana zum Generalsekretär des Rates und Hohen Vertreter ernannt. Er übernimmt beide Ämter im Oktober des gleichen Jahres nach seinem Rücktritt als NATO-Generalsekretär. Nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam widmet sich der Europäische Rat auf seiner Tagung im Oktober 1999 in Tampere der Schaffung eines „Raums der Freiheit, 16 Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit | DE | Januar 2016
der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union“. Er beschließt die Einführung einer „gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik der EU“ und ebnet den Weg für be- deutende Fortschritte bei der Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen und justizi- ellen Zusammenarbeit, wobei es nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten umso dringlicher geworden ist, dieses Ziel zu erreichen. Im März 2000 bringt der Europäische Rat auf seiner Sondertagung in Lissabon eine Strategie auf den Weg, mit der die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft verbessert werden soll. Zu diesem Zweck beschließt er unter anderem die Einführung einer neuen offenen Methode der Koordinierung auf allen Ebenen, die, „gekoppelt an eine stärkere Leitungs- und Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates […], eine kohärentere strategische Leitung und eine effektive Überwachung der Fortschritte gewährleisten soll“. In jedem Frühjahr wird nun eine Tagung des Europäischen Rates anberaumt, damit die weitere Verfolgung dieser Thematik gewährleistet ist. Ab 1999 setzt der Europäische Rat insbesondere mit Blick auf die Erweiterung der EU einen Reformprozess in Gang. Nach Beratungen über die damit verbundenen Fragen auf den Tagungen des Europäischen Rates in Helsinki (Dezember 1999), Göteborg (Juni 2001) und Barcelona (März 2002) stimmt der Europäische Rat schließlich im Juni 2002 in Sevilla „einer Reihe konkreter, ohne Änderung der Verträge durchführba- rer Maßnahmen im Zusammenhang mit der Organisation und der Arbeitsweise des Europäischen Rates […] und des Rates […] zu“ (9). Diese Maßnahmen betreffen die Vorbereitung, den Ablauf und die Nachbereitung der Tagungen des Europäischen Rates sowie seine Schlussfolgerungen. In der Erklärung (Nr. 22), die der Schlussakte des Vertrags von Nizza vom 26. Februar 2001 beigefügt ist, heißt es: „Ab dem Jahr 2002 findet eine Tagung des Europäischen Rates unter jedem Vorsitz in Brüssel statt. Sobald die Union achtzehn Mitglieder zählt, finden alle Tagungen des Europäischen Rates in Brüssel statt.“ (10) Der Vertrag wird auf der Tagung des Europäischen Rates im Dezember 2000 in Nizza nach viertägigen Verhandlungen geschlossen (11). Die „schwere Geburt“ des Vertrags von Nizza ist Anlass für eine Überprüfung der Arbeitsmethoden und die Suche nach einem Prozess, der über ein diplomatisches Konklave von Staats- und Regierungschefs hinausgeht. Die Erklärung von Laeken, die der Europäische Rat im Dezember 2001 annimmt, sieht die Einberufung eines Konvents über die Zukunft Europas vor. Der Entwurf ei- nes Verfassungsvertrags, den der Konvent dem Europäischen Rat im Juli 2003 vorlegt, bildet sodann die Grundlage für die Beratungen der im Oktober 2003 einberufenen Regierungskonferenz; am 29. Oktober 2004 wird der Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa unterzeichnet. Nach dem negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und in den Niederlanden scheitert jedoch die Ratifizierung des Vertrags im Jahr 2005. Auf diesen Rückschlag hin verabschieden die Staats- und Regierungschefs auf der Tagung des Europäischen Rates (9) Europäischer Rat, Juni 2002, Sevilla, Schlussfolgerungen des Vorsitzes. (10) Die Tagung des Europäischen Rates vom Juni 2003 in Thessaloniki ist die letzte, die nicht in Brüssel abgehalten wird. Alle nachfolgenden Tagungen sind durch das Datum und den Vorsitz und nicht durch den Tagungsort gekennzeichnet – bis zum Vertrag von Lissabon, mit dem das Amt eines ständigen Präsidenten eingeführt wird. (11) Bis heute ist die Tagung des Europäischen Rates von Nizza die längste der Geschichte. Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 17
im Juni 2005 unter luxemburgischem Vorsitz eine Erklärung, mit der sie eine einjährige Phase der Reflexion einleiten. Als Reaktion auf die Tagung des Europäischen Rates vom Juni 2006 unter österreichischem Vorsitz nehmen die Staats- und Regierungschefs anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Berliner Erklärung an, in der sie das Ziel formulieren, „[...] die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen“. Auf seiner Tagung im Juni 2007 unter deutschem Vorsitz ver- ständigt sich der Europäische Rat auf das Mandat für eine Regierungskonferenz, die zur Änderung der bestehenden Verträge einberufen werden soll. Der Vertrag, der aus dieser Regierungskonferenz hervorgeht, wird am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet. 1.1.5 Der Vertrag von Lissabon Dieser neue Reformvertrag ersetzt den Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Er tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft und bewirkt Änderungen sowohl am Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Vertrag von Rom) als auch am Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht). Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wird bei dieser Gelegenheit in Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) umbenannt. Mit dem Vertrag von Lissabon sollen die Effizienz der EU-Organe gesteigert und die- se demokratischer gestaltet werden. Die markantesten Änderungen bestehen darin, dass die EU nunmehr über eine konsolidierte Rechtspersönlichkeit verfügt und eine © Europäische Union
ständige Präsidentschaft des Europäischen Rates mit einem Präsidenten eingeführt wird, der von den Mitgliedern des Europäischen Rates für zweieinhalb Jahre gewählt wird und einmal wiedergewählt werden kann. Zudem werden mit dem Vertrag das Amt eines Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (der für eine fünfjährige Amtszeit ernannt wird und auch den Vorsitz der Tagungen des Rates (Auswärtige Angelegenheiten) führt und Vizepräsident der Europäischen Kommission ist) sowie der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) geschaffen. Die Befugnisse des Europäischen Parlaments werden weiter ausgeweitet. Für den Rat wird eine neue Regel der doppelten Mehrheit eingeführt, die ab dem 1. November 2014 gilt (sie- he Anlage IV) und in mehr Bereichen Anwendung findet als die vorherige Regel. Die Charta der Grundrechte der EU wird rechtsverbindlich, und die Mitgliedstaaten erhalten erstmals einen Rechtsrahmen für den Austritt aus der EU (Artikel 50 EUV). Außerdem wird der Europäische Rat ermächtigt, auf den Beschluss zur Einberufung einer Regierungskonferenz zur Änderung der Verträge hin – mit einfacher Mehrheit – tätig zu werden. Der Vertrag von Lissabon war nie als eigenständiger Text gedacht, deshalb werden 2010 und 2012 konsolidierte Fassungen der Verträge, wie sie durch den Vertrag von Lissabon geändert wurden, im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Mit dem Vertrag von Lissabon erhält der Europäische Rat offiziell den Status eines Organs der EU. Damit wird seine reale Abgrenzung vom Rat der EU bestätigt, und er unterliegt zudem sämtlichen für die EU-Organe geltenden Bestimmungen. Wenn er beispielsweise in seltenen Fällen verbindliche Rechtsakte erlässt, muss er sich an die im Vertrag vorgesehene Rechtsgrundlage halten; ferner können seine Rechtsakte vor dem Gerichtshof angefochten werden. Zum Abschluss des Prozesses, der zur Aufgabe des informellen Charakters der Gipfeltreffen führt, gibt sich der Europäische Rat als neues Organ ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon eine Geschäftsordnung (12). In der institutionellen Architektur der EU nimmt der Europäische Rat als strategi- sches und politisches Organ eine Sonderstellung ein. Er gibt den künftigen Kurs der Union sowie ihre Prioritäten und ihre politischen und wirtschaftlichen Strategien vor. Der Europäische Rat wird jedoch „nicht gesetzgeberisch tätig“ (13), sondern überlässt dem Europäischen Parlament, dem Rat der EU und der Europäischen Kommission die Ausübung ihrer jeweiligen Aufgaben im Gesetzgebungsprozess. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ist der Europäische Rat an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt, die die EU zur Bewältigung der internen und der internatio- nalen Herausforderungen in den Bereichen Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik, Asyl und Zuwanderung, Erweiterung, Entwicklungszusammenarbeit oder internatio- nale Beziehungen trifft. Von Anfang an haben seine politischen Entscheidungen und seine Führungsrolle dazu beigetragen, die europäische Integration voranzutreiben, was sich in Krisenzeiten als entscheidender Faktor erwiesen hat. (12) Siehe ABl. L 315 vom 2.12.2009, S. 51. (13) Konsolidierte Fassung des EUV, Artikel 15 Absatz 1 (ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 23). Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 19
1.2 DER PRÄSIDENT DES EUROPÄISCHEN RATES Die strategische Rolle, die dem Europäischen Rat mit dem Vertrag von Maastricht zugewiesen und im Vertrag von Lissabon bestätigt wird, erfordert einen stabileren und beständigeren Vorsitz, der die Arbeiten des Europäischen Rates besser als der turnusmäßig wechselnde Vorsitz des Rates vorbereiten und leiten kann. So wird mit dem Vertrag © Europäische Union von Lissabon als eine der wichtigsten Neuerungen das Amt eines Vollzeitpräsidenten des Europäischen Rates mit fester Herman Van Rompuy Amtszeit geschaffen. Der Präsident des Europäischen Rates hat folgende Aufgaben (14): Er führt den Vorsitz bei den Arbeiten und gibt ihnen Impulse, er sorgt für die Vorbereitung und die Kontinuität der Arbeiten und fördert den Zusammenhalt und den Konsens. Der Präsident muss dem Europäischen Parlament nach jeder Tagung des Europäischen Rates ei- nen Bericht vorlegen. Er vertritt ferner – je nach Anlass – gemeinsam mit dem Hohen Vertreter und/oder dem © Europäische Union Präsidenten der Europäischen Kommission die EU nach außen (15). Der Europäische Rat und sein Präsident werden Tagungssaal des Europäischen Rates vom Generalsekretariat des Rates unterstützt, der Präsident hat jedoch auch seinen eigenen Mitarbeiterstab. Auf einem informellen Treffen ernennen die 27 Staats- und Regierungschefs am 19. November 2009 den damaligen belgischen Premierminister Herman Van Rompuy zum ers- ten Präsidenten des Europäischen Rates (16). Auf der Tagung des Europäischen Rates vom 10. und 11. De zember 2009 führt mit dem schwedischen Premier minister Fredrik Reinfeldt zum letzten Mal ein Präsident © Europäische Union oder Premierminister des Mitgliedstaats, der turnusgemäß Donald Tusk den Vorsitz des Rates der EU innehat, nach Übergangsmo- dalitäten den Vorsitz (17). Die erste Tagung unter dem Vorsitz von Herman Van Rompuy ist ein informelles Treffen der Staats- und Regierungschefs am 11. Februar 2010 in der Solvay-Bibliothek in Brüssel, auf (14) Artikel 15 Absatz 6 EUV. (15) Siehe auch Kapitel 1.2.3 über bilaterale und multilaterale Treffen. (16) Auf dem gleichen Treffen wird Catherine Ashton (UK) zur Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission ernannt (sie ist Hohe © Europäische Union Vertreterin, bevor sie Vizepräsidentin wird). Feierliche Übertragung der Amtsgeschäfte (17) Von den Staaten, die der Union 2004 und 2007 beigetreten sind, haben nur die Staats- bzw. Regierungschefs Sloweniens und des Präsidenten des Europäischen Rates der Tschechischen Republik die Gelegenheit, als Vertreter ihres von Herman Van Rompuy an Donald Tusk jeweiligen Mitgliedstaats den Vorsitz im Europäischen Rat zu führen. (1. Dezember 2014) 20 Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit | DE | Januar 2016
dem über den künftigen Kurs der Wirtschaftspolitik der EU beraten wird; die erste förmliche Tagung des Europäischen Rates, die Herman Van Rompuy leitet, findet einen Monat später am 25. und 26. März statt. Er wird auf der Tagung des Europäischen Rates vom 1. und 2. März 2012 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Am 1. Dezember 2014 übernimmt Donald Tusk, der bisherige Premierminister Polens, das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates von Herman Van Rompuy (18). 1.2.1 Tagungen des Europäischen Rates nach dem Vertrag von Lissabon Nach der Geschäftsordnung des Europäischen Rates vom 1. Dezember 2009 tritt er zweimal pro Halbjahr zusammen, in der Regel in Brüssel. Soweit in den Verträgen nichts anderes festgelegt ist, beschließt er einvernehmlich. Einige operative Beschlüsse wie die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates, die Ernennung der Europäischen Kommission und die Ernennung des Hohen Vertreters können seit dem Vertrag von Lissabon mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden. (18) Gleichzeitig wird die ehemalige italienische Außenministerin Federica Mogherini zur Hohen Vertreterin und Vizepräsidentin der Europäischen Kommission ernannt. © Europäische Union Erste förmliche Tagung des Europäischen Rates unter dem Vorsitz von Herman Van Rompuy (25./26. März 2010) Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 21
Der Europäische Rat legt die politische Agenda der EU fest, indem er auf jeder seiner Tagungen Schlussfolgerungen (19) verabschiedet. Darin werden konkrete Fragen be- handelt, die für die EU von Belang sind, und es wird dargelegt, welche besonderen Maßnahmen eingeleitet oder welche Ziele erreicht werden sollen. Der Europäische Rat kann in seinen Schlussfolgerungen auch Fristen für eine Einigung über bestimm- te politische Fragen oder für die Vorlage von Gesetzgebungsvorschlägen setzen. Auf diese Weise kann er die politische Agenda der EU beeinflussen und lenken. Auf seiner Tagung vom 27. Juni 2014 in Brüssel beschließt der Europäische Rat eine „strategische Agenda“ mit den prioritären Bereichen für das Handeln und die Schwerpunkte der EU auf längere Sicht. Diese strategische Agenda gibt Leitlinien für die Arbeit der EU in den nächsten fünf Jahren vor und dient als Grundlage für die Planung der Beratungen des Europäischen Rates und für die Arbeitsprogramme der übrigen EU-Organe. Der Europäische Rat bestimmt durch die strategische Agenda und seine Schluss folgerungen nicht nur die politischen Prioritäten der EU, er spielt auch eine förmliche Rolle im jährlichen EU-Verfahren des Europäischen Semesters, dem jährlichen Zyklus der EU zur Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Nach Artikel 68 AEUV legt der Europäische Rat zudem die strategischen Leitlinien für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fest. Dies wird mit der Verabschiedung von Leitlinien im Juni 2014 erstmals in die Tat umgesetzt. Die Leitlinien werden im Einklang mit den Prioritäten der strategischen Agenda entwickelt und um- fassen Themen wie Grenzkontrolle, Migration und Asylpolitik sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. 1.2.2 Euro-Gipfel Die Staats- und Regierungschefs der dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Länder kommen erstmals am 12. Oktober 2008 in Paris im Format des Euro-Gipfels zusammen und vereinbaren dort ein koordiniertes Vorgehen als Reaktion auf die Wirtschaftskrise. Weitere Gipfel in diesem Format werden im März und Mai 2010 sowie im März, Juli, Oktober und Dezember 2011 in Brüssel abgehalten. 2012 wer- den das Euro-Währungsgebiet betreffende Fragen vornehmlich auf der Ebene des Europäischen Rates behandelt. Am Rande der Tagung des Europäischen Rates vom 1. und 2. März 2012 unterzeichnen 25 europäische Staats- und Regierungschefs den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKS-Vertrag). Mit dem SKS- Vertrag, der am 1. Januar 2013 in Kraft tritt, werden unter anderem der Euro-Gipfel und das Amt seines Präsidenten förmlich bestätigt. In seinem Artikel 12 (20) sind die Organisation des Euro-Gipfels und die Rolle des Präsidenten festgelegt. Auf dem ersten Euro-Gipfel nach Inkrafttreten des SKS-Vertrags, der am 14. März 2013 stattfindet, wer- den außerdem spezifische Regeln für die Organisation der Arbeiten dieser Tagungen verabschiedet. (19) Schlussfolgerungen des Europäischen Rates: www.consilium.europa.eu/de/european-council/ conclusions/. (20) Der SKS-Vertrag ist unter folgender Adresse abrufbar: www.consilium.europa.eu/de/european-council/ euro-summit. 22 Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit | DE | Januar 2016
Beim – mindestens zweimal jährlich stattfindenden – Euro-Gipfel kommen die Staats- und Regierungschefs der dem Euro-Währungsgebiet angehörenden Mit gliedstaaten, der Präsident des Euro-Gipfels und der Präsident der Europäischen Kommission zusammen. Präsident des Euro-Gipfels ist derzeit Donald Tusk, der auch den Vorsitz des Europäischen Rates führt. Die Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets findet zwar in erster Linie in der Euro-Gruppe (21) statt, doch können die 19 Staats- und Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets auf ihren Euro-Gipfeltagungen für Bereiche, die über den Zuständigkeitsbereich der Finanzminister hinausgehen, aufgrund ihres weit gefassten Mandats weitere politische Orientierungen vorgeben. Dies hilft bei der Koordinierung aller einschlägigen Politikbereiche, die für ein reibungsloses Funktionieren der WWU erforderlich sind. Auch die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, die nicht dem Euro-Währungsgebiet angehören, aber den SKS-Vertrag ratifiziert haben, neh- men gegebenenfalls – jedoch mindestens einmal jährlich – an den Euro-Gipfeln teil, die von der Euro-Gruppe vorbereitet werden. Da Fragen, die das Euro-Währungsgebiet betreffen, in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht für alle Mitgliedstaaten von Bedeutung sind, wird über sie auch regelmäßig auf den Tagungen des Europäischen Rates beraten. 1.2.3 Bilaterale und multilaterale Treffen Seit dem Vertrag von Lissabon vertritt der Präsident des Europäischen Rates die EU auch nach außen, wenn dies auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs erfor- derlich ist (22). Bei Fragen im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU nimmt er diese Vertretung gemeinsam mit dem Hohen Vertreter und auf internationalen Gipfeltreffen zumeist gemeinsam mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission wahr. Zu den internationalen Treffen, auf denen der Präsident die EU vertritt, gehören auch von der EU organisierte bilaterale und multilaterale Gipfeltreffen sowie internationale Gipfeltreffen. Bilaterale Gipfeltreffen finden zwischen der EU und ihren strategischen Partnern statt. Sie werden regelmäßig – in der Regel einmal pro Jahr – mit Ländern wie Brasilien, China, Japan, Russland, Südafrika und den Vereinigten Staaten abgehalten. Die Gipfeltreffen finden abwechselnd in Brüssel und dem betreffenden Land statt. Zu den multilateralen Gipfeltreffen auf EU-Ebene gehören Treffen im Rahmen der Östlichen Partnerschaft sowie Treffen EU-Afrika, EU-ASEM (Gipfel Asien-Europa) und EU-CELAC (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten). Wenn die EU als Gastgeber an der Reihe war, wurden diese Gipfeltreffen traditionell von dem Mitgliedstaat ausgerichtet, der den turnusmäßig wechselnden Vorsitz des Rates der EU innehatte. Seit 2014 werden sie jedoch in der Regel vom Präsidenten des Europäischen Rates in Brüssel ausgerichtet; er führt auch den Vorsitz. Teilnehmer an diesen Gipfeltreffen sind die Staats- und Regierungschefs aller EU-Mitgliedstaaten so- wie der Präsident des Europäischen Rates, der Präsident der Europäischen Kommission und die Staats- und Regierungschefs der beteiligten Länder. (21) Die Euro-Gruppe ist ein informelles Gremium, in dem die Finanzminister der Mitgliedstaaten des Euro- Währungsgebiets über den Euro betreffende Fragen beraten, die in ihre gemeinsame Verantwortung fallen. (22) Artikel 15 EUV. Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 23
© Europäische Union Rafael Correa, Präsident der Republik Ecuador und amtierender Präsident der CELAC, mit Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, auf der Abschlussveranstaltung des EU‑CELAC‑Gipfeltreffens (10./11. Juni 2015) An anderen internationalen Gipfeltreffen nimmt die EU entweder als Mitglied teil, oder sie wird als wichtiger internationaler Akteur eingeladen, wie im Falle der Treffen der G7-, der G8- und der G20-Staaten und der Generalversammlung der Vereinten Nationen. In der VN-Resolution A/65/276 vom Mai 2011 wird die EU eingeladen, an der Generaldebatte der Generalversammlung teilzunehmen, und ihren Vertretern das Recht erteilt, die Positionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten in den Vereinten Nationen vorzubringen. Der damalige Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy spricht am 22. September 2011 im Rahmen dieser Debatte vor den versam- melten Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt. Vor der Annahme dieser Resolution wurden die Positionen der EU in der Generalversammlung von Vertretern des turnusmäßig wechselnden Vorsitzes des Rates der EU vorgebracht. 24 Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit | DE | Januar 2016
© Europäische Union Herman Van Rompuy spricht vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen (25. September 2014) Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 25
2 DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION 2.1 DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION IN DEN VERTRÄGEN 2.1.1 Die ersten Verträge Die erste Tagung des Rates findet am 8. September 1952 im Hôtel de Ville in Luxemburg statt. Der Rat nimmt damit als zweites Organ seine Arbeit im Rahmen des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) auf. Der 1951 in Paris unterzeichnete Vertrag schafft einen institutionellen Rahmen, der eine Hohe Behörde, einen Besonderen Rat, eine Versammlung und ein Gericht umfasst. Die wichtigste Rolle des Rates besteht darin, durch die Abgabe von Stellungnahmen Kontrolle über die Tätigkeit der Hohen Behörde auszuüben. Die Außen- und Wirtschaftsminister der sechs Gründungsmitgliedstaaten (Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) sind anwesend; den Vorsitz der Tagung führt Bundeskanzler Konrad Adenauer auf der Grundlage eines innovativen Systems, nach dem reihum jedem Mitgliedstaat jeweils für drei Monate der Ratsvorsitz zukommt. Deutschland hat als erstes Land den Vorsitz inne. Auf seiner ersten Tagung legt der Rat seine Geschäftsordnung fest und beschließt die Einrichtung eines Sekretariats; Christian Calmes, ein Diplomat aus Luxemburg, wird zum Generalsekretär des Rates ernannt. Die Minister einigen sich ferner auf das Statut der Mitglieder der Hohen Behörde und des Gerichts. Jean Monnet, Präsident der Hohen Behörde, gibt einen Überblick darüber, was die Hohe Behörde bis dahin erreicht hat, und erläutert ihr Arbeitsprogramm für die nächsten Monate. Der Rat erörtert ferner die künftigen Beziehungen der neu errichteten Gemeinschaft zu Nichtmitgliedstaaten, insbesondere dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten, sowie zu in- ternationalen Organisationen. Immer wieder wird im Laufe der ersten Tagung des Rates die Vorstellung deutlich – und von beiden Präsidenten in ihren Reden als Leitgedanke aufgegriffen –, dass die Gemeinschaft für Kohle und Stahl nur ein Schritt auf einem weiterführenden Weg zur europäischen Integration ist. So halten die Außenminister am 10. September 1952 eine Konferenz am Rande der Tagung des Rates ab und nehmen dabei eine Entschließung an, in der die Versammlung aufgerufen wird, den Entwurf eines Vertrags über die Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft auszuarbeiten, die einer grö- ßeren Zahl von Mitgliedern offenstehen und stärker supranational geprägt sein soll. Die geplante Europäische Politische Gemeinschaft wird nie zustande kommen. Kaum ist sie beschlossen, gibt der Vertragsentwurf der Versammlung Anlass zu leiden- schaftlichen öffentlichen Debatten und langwierigen diplomatischen Beratungen. Nachdem die Ratifizierung des Vertrags über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, deren Aufsicht die Europäische Politische Gemeinschaft übernehmen soll, am 30. August 1954 in der französischen Nationalversammlung scheitert, werden beide Pläne nach und nach aufgegeben. Stattdessen entscheiden sich die sechs Staaten dafür, den Weg der fortschreitenden wirtschaftlichen Integration weiterzuverfolgen. Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 27
© Europäische Union Feierliche Unterzeichnung des EWG- und des EAG‑Vertrags am 25. März 1957 in der Sala degli Orazi e Curiazi des Kapitols in Rom (Italien) So wird am 26. Juni 1956 in Brüssel durch eine Regierungskonferenz über den ge- meinsamen Markt und Euratom ein Ausschuss zur Einleitung von Verhandlungen da- rüber eingesetzt, was als „die Römischen Verträge“ in die Geschichte eingehen sollte – die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), die am 1. Januar 1958 in Kraft treten. An den Tagungen des Ausschusses unter dem Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak nehmen Delegationen der sechs EGKS-Mitglieder teil. Ähnlich dem institutionellen Aufbau der EGKS umfassen die neuen Gemeinschaften ebenfalls vier Organe: eine Kommission, einen Rat und – gemeinsam mit der EGKS – eine Versammlung und einen Gerichtshof. Allerdings verschiebt sich das Machtgleichgewicht zwischen den beiden Exekutivorganen (dem Rat und der Kommission) deutlich, denn der Rat erlangt eine Rolle, wie er sie noch heute innehat, nämlich die Rolle eines zentralen Entscheidungsgremiums. Die beiden neuen Räte treten am 25. Januar 1958 im Palais des Académies in Brüssel zu einer ersten gemeinsamen Tagung zusammen. Den Vorsitz auf dieser Tagung führt der belgische Außenminister Victor Larock. Die Präsidenten der drei Exekutivorgane Walter Hallstein (erster Präsident der Europäischen Kommission), Paul Finet (Präsident der Hohen Behörde der EGKS) und Enrico Medi (Vizepräsident der Euratom-Kommission) sind ebenfalls anwesend. Zahlreiche Verfahrensfragen sind zu behandeln, da die Räte über ihre jeweiligen Geschäftsordnungen, die ersten Ausgaben der Gemeinschaft und den Status der 28 Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit | DE | Januar 2016
Mitglieder der beiden Kommissionen zu beschließen haben. Die Minister vereinba- ren ferner, einen Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV), einen Wirtschafts- und Sozialausschuss und die Versammlung einzurichten. Anders als im Falle des dreiteili- gen institutionellen Aufbaus der Gemeinschaften billigen die Räte eine Empfehlung, wonach „die Sekretariatsgeschäfte der drei Räte von demselben Beamtenstab wahr- genommen“ (23) werden sollen. Dies bedeutet, dass das bestehende Sekretariat des Besonderen Ministerrates der EGKS auch die beiden neuen Organe unterstützen wird. Wie auf der ersten Tagung des Besonderen Ministerrates steht auch in den Ansprachen der Hauptredner die Idee im Vordergrund, dass diese beiden neuen Gemeinschaften nur einer von vielen Schritten hin zur Schaffung eines stärker integrierten politischen und sozialen Europas sind. So erklärt der Präsident des Rates Victor Larock: „Tatsächlich treten die sozialen Ziele im Rahmen des gesamten Vertragswerkes über die Wirtschaftsgemeinschaft nach außen hin nicht allzu sehr in Erscheinung […]. Wenn wir aber wollen, dass die Völker unserer Länder und die Völker ganz Europas für die Ideen gewonnen werden, die uns leiten, so müssen wir uns diese Ziele ständig vor Augen halten. Was würde es nützen, die Produktion, den Handel und den freien Kapitalverkehr in vollem Maße zu fördern, wenn die Fortschritte der Wirtschaft nicht dem Menschen zugute kämen?“ (Eröffnungsansprache des belgischen Außenministers und amtieren- den Präsidenten der Räte Victor Larock auf der ersten Tagung der Räte der EWG und der EAG am 25. Januar 1958 in Brüssel (Anlage I, CEE EUR/CM/20 f/58) (24)) © Photothèque de la Ville de Luxembourg. Photo: Batty Fischer Im Cercle Municipal in Luxemburg fanden von 1952 bis 1967 die Tagungen des Besonderen Rates der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl statt (23) Protokoll über die erste Tagung der Räte der EWG und der EAG am 25. Januar 1958 in Brüssel (CM2 20/1958). (24) Protokoll über die erste Tagung der Räte der EWG und der EAG am 25. Januar 1958 in Brüssel, Anlage I (CM2 20/1958), S. 4. Januar 2016 | DE | Der Europäische Rat und der Rat der EU im Wandel der Zeit 29
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