DER "MORIA-KOMPLEX" VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT, UNZUSTÄN-DIGKEIT UND ENTRECHTUNG FÜNF JAHRE NACH DEM EU-TÜRKEI-ABKOMMEN UND DER EINFÜHRUNG DES ...

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DER „MORIA-
KOMPLEX“
VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT, UNZUSTÄN-
DIGKEIT UND ENTRECHTUNG FÜNF JAHRE
NACH DEM EU-TÜRKEI-ABKOMMEN UND DER
EINFÜHRUNG DES HOTSPOT-SYSTEMS

Eine Studie von Maximilian Pichl im Auftrag von
medico international
2         Impressum

IMPRESSUM

Herausgeber:
medico international e. V.
Lindleystraße 15
D-60314 Frankfurt am Main
Telefon +49 69 94438-0
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www.medico.de

Autor:
Maximilian Pichl, Rechts- und Politik-
wissenschaftler, arbeitet als Wissen-
schaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-
Universität Frankfurt am Main.

Redaktion:
Sabine Eckart, Ramona Lenz, Vicky Lessing,
Mario Neumann, Hendrik Slusarenka
V.i.S.d.P. Anne Jung

Titelfoto: medico

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MÄRZ 2021
Inhalt                                                                             3

     Der Moria-Komplex
     Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung fünf Jahre nach dem
     EU-Türkei-Abkommen und der Einführung des Hotspot-Systems

5    Die Politik der Auslagerung von Migrationskontrollen

5    Wie kam es zur Politik der Auslagerung?

6    Eine neue Politik der Auslagerung auf europäischem Territorium

8    Das Scheitern der EU und ihrer Mitgliedstaaten in Moria

8    Die Verantwortung der griechischen Regierung

10   Die Verantwortung der Europäischen Union

11   Die Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland

12   Die „Favelas“ auf den griechischen Inseln

12   Das Scheitern der Vereinten Nationen

13   UNHCR und das Katastrophennarrativ

13   UNHCR im Interessenskonflikt

14   UNHCR und die Krise der Menschenrechte

15   Das Scheitern des Rechts: Warum es kaum gelingt, den Moria-Komplex rechtlich anzugreifen

15   Rechtskämpfe vor griechischen Gerichten

16   Rechtskämpfe vor europäischen Gerichten

17   Juristische Verantwortung der EU-Organe

18   Das Scheitern der Hilfe: Wie Hilfsorganisationen das Hotspot-System stabilisieren

19   Der Rückzug der professionellen Hilfe aus den Lagern

19   Das System der Hilfe im Moria-Komplex

21   Die Goldmine Moria

22   „Hilfe vor Ort“: Die Strategie von niederländischer Regierung und NGOs

23   Das neue Lager, schwindende Solidarität, NGO-Gesetze und der New Pact on Migration and Asylum

24   Repolitisierung, Verantwortung, Rechtskämpfe und kritische Nothilfe: Auswege aus dem Moria-Komplex

27   Quellen und Materialien
4          Der Moria-Komplex

Der Moria-Komplex
Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung fünf Jahre nach dem
EU-Türkei-Abkommen und der Einführung des Hotspot-Systems

Kurz vor dem Weihnachtsabend 2020 schrieben Geflüch-                        hat die deutsche Bundesregierung keine Verantwortung
tete von den griechischen Inseln einen Brief an EU-Kom-                     übernommen und die Umverteilung aller Geflüchteten
missionspräsidentin Ursula von der Leyen und die euro-                      durchgesetzt. Stattdessen versucht die deutsche Re-
päischen Bürger:innen.1 Eindrucksvoll schildern sie darin                   gierung, als eine der wesentlichsten Akteurinnen hinter
ihre untragbaren Lebensbedingungen im alten wie im                          dem EU-Türkei-Deal, das Abkommen zur Auslagerung der
neuen Lager Moria, einem der Hotspots für Asylsuchen-                       Migrationskontrollen aufrechtzuerhalten, auf Kosten der
de, der auf Betreiben der Europäischen Union nach dem                       Rechte, die den Menschen auf den Inseln nach dem eu-
Sommer der Migration 2015 eingerichtet wurde. Nachdem                       ropäischen und internationalen Recht zustehen. Um sich
das Lager Moria in der Nacht auf den 9. September 2020                      der Verantwortung zu entziehen, wenden Politiker:innen
abbrannte, errichtete das griechische Militär mit Unter-                    in Regierungsverantwortung ein, bei Moria handele es
stützung des UN-Flüchtlingshilfswerks und zahlreichen                       sich um eine „humanitäre Katastrophe“, „Hilfe vor Ort“
privaten Hilfsorganisationen ein neues Lager. „Noch im-                     sei nötig und man brauche eine „europäische Lösung“.
mer warten wir auf genügend warme Duschen“, schrei-                         Fast drei Milliarden Euro sind von der EU an die griechi-
ben die Geflüchteten in ihrem Brief. „Wenn es regnet, wird                  sche Regierung für die Aufnahme und Versorgung von
das Lager überflutet und Zelte werden nass. Wir haben                       Geflüchteten geflossen, mehrere Millionen haben private
keine Heizungen, die uns und unsere Kinder warm halten,                     Hilfsorganisationen für Kleidung, Verpflegung, Medizin
keine Schulen oder Kindergärten. Wenn wir krank werden,                     oder Kinderspielzeug erhalten.4 An den menschenunwür-
warten wir stundenlang auf medizinische Behandlung                          digen Zuständen hat sich jedoch nichts geändert.
und das Essen, das wir bekommen, war ausreichend,
aber nicht gesund.“                                                         Die Geflüchteten bitten in ihrem Brief an die EU nicht
                                                                            um humanitäre Hilfe, sondern fordern ihre Rechte ein:
Seit fünf Jahren sind in den europäischen Abendnach-                        „Haben wir keine Rechte als Menschen und Flüchtlinge
richten Bilder von den griechischen Inseln zu sehen; Bil-                   in Europa, die eine Grundversorgung für jeden beinhal-
der von schiefstehenden Zelten des UN-Flüchtlingshilfs-                     ten? Oft lesen und hören wir, dass wir in diesen Lagern
werks, die langsam im Schlamm versinken, Bilder von                         wie Tiere leben müssen, aber wir denken, dass das nicht
Menschen, deren Leiden und Verletzungen sich sichtbar                       stimmt. Wir haben die Gesetze zum Schutz der Tiere in
auf ihren Körpern abzeichnen.                                               Europa studiert und wir haben herausgefunden, dass sie
                                                                            sogar mehr Rechte haben als wir. […] Wir bitten nicht um
„Wir wissen seit langem, dass Menschen dort unter un-                       weitere Spenden oder Geld für die Instandsetzung der In-
würdigen Bedingungen leben“, sagte die deutsche Bun-                        frastruktur. Wir haben in den Zeitungen gelesen, wie viele
deskanzlerin Angela Merkel kurz nach dem Brand des                          Millionen bereits ausgegeben wurden und viele von uns
Lagers. Doch die rund fast 35.000 Geflüchteten, die noch                    sind Ingenieure, Elektriker, Ärzte und wir wissen, dass
Mitte 2020 auf den Inseln waren2, werden bis heute kaum                     es nicht sehr viel Geld braucht, um ein solches Lager in
umverteilt3. Auch während der EU-Ratspräsidentschaft                        Stand zu setzen. […] Wir sehen viele Spendenaufrufe und
                                                                            Versprechungen und wir sehen unsere Realität und das
                                                                            macht uns frustriert und wütend.“
1 Siehe für den vollständigen Brief: Medico International vom 23.12.2020,
https://www.medico.de/moria-brief.
                                                                            Der Brief der Geflüchteten und Lagerbewohner:innen ist
2 Zahlen zitiert nach Schuler, 2020.                                        der Ausgangspunkt für diese Untersuchung, fünf Jah-
3 Problematisch am Konzept der Umverteilung ist, dass eine Mitsprache       re nach dem „EU-Türkei-Deal“ und der Einrichtung des
der Betroffenen nicht vorgesehen ist. Zur Kritik an der Entmündigung und    Hotspot-Systems auf den griechischen Inseln. Die Un-
Entrechtung durch Umverteilungs-/Relocationmaßnahmen siehe die aktuelle     tersuchung fragt danach, wie es sein kann, dass die un-
Kampagne von borderline-europe u.a.:
https://www.borderline-europe.de/projekte/monitoring-eu-ad-hoc-relocati-
on-sea-cities                                                               4 Thomsen/Hausdorf 2020.
Der Moria-Komplex       5

menschlichen Zustände für Geflüchtete auf den griechi-       zu einem vollwertigen Asylverfahren erhalten. Dieses Ziel
schen Inseln nach fünf Jahren immer noch bestehen. Wer       kennzeichnete schon den deutschen Asylkompromiss
trägt die politische und rechtliche Verantwortung? Wie       von 1993, durch den der Bundestag das Konzept sog. „si-
funktioniert das System der Entrechtung in den Hotspots      cherer Drittstaaten“ ins Asylverfahrenssystem aufnahm
– und warum kann man dagegen kaum juristisch vorge-          und einem Großteil der Geflüchteten die Inanspruchnah-
hen? Warum hat die humanitäre Hilfe nicht zu einer Ver-      me des Asylrechts verwehrte. Auch in der europäischen
besserung der Situation beigetragen?                         Migrationspolitik hat sich diese Strategie niedergeschla-
                                                             gen. Die EU-Hotspots auf den griechischen Inseln, der
Das Elend von Moria ist keine „humanitäre Katastro-          „EU-Türkei-Deal“ und die gewaltsamen Push-Backs ge-
phe“, sondern Ergebnis einer europäischen Politik, die       gen Geflüchtete in der griechischen Ägäis, also die Ge-
auf der Auslagerung der Verantwortung für Flüchtlinge        samtheit des Moria-Komplex, sind das Ergebnis dieser
und Migrant:innen basiert. Durch den „EU-Türkei-Deal“        Politik der Auslagerung von Migrationskontrollen.
und den Aufbau von Lagern an den EU-Außengrenzen ist
etwas entstanden, was hier „Moria-Komplex“ genannt
werden soll. Durch den Brand ist zwar das konkrete La-       Wie kam es zur Politik der Auslagerung?
ger zerstört worden, aber nicht der Moria-Komplex. Alle
in den Moria-Komplex verwickelten Akteur:innen tragen        Die Politik der Auslagerung reicht zurück zu den Ursprün-
unmittelbar oder mittelbar zum Fortbestehen des Lager-       gen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Ende
systems und der Entrechtung von Geflüchteten bei. Im         der 1990er und Anfang der 2000er Jahre verhandelten
Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen dabei:         die EU-Mitgliedstaaten über europäische Asylregeln.
                                                             Konflikte entstanden vor allem rund um die sog. Dub-
-> Die Verantwortung der EU, der griechischen Regierung      lin-Verordnung. In ihr ist bis heute geregelt, wo Asylsu-
   und der Regierungen anderer europäischer Mitglied-        chende in der EU ihr Asylverfahren durchlaufen müssen.
   staaten,                                                  Ein EU-Mitgliedstaat wird unter anderem verantwortlich
                                                             für das Asylverfahren, wenn er nicht verhindert, dass
-> die Verantwortung der internationalen Organisatio         ein:e Asylsuchende:r illegal europäisches Territorium be-
   nen, vor allem des UN-Flüchtlingshilfswerks,              treten hat. Weil Asylsuchende ohne gültige Pässe keine
                                                             Flugzeuge zur Flucht benutzen können und daher über
-> die Verantwortung der Justiz für die rechtsstaatliche     die lebensgefährlichen Land- und Seewege fliehen müs-
   Kontrolle der EU-Hotspots,                                sen, führt das Dublin-System dazu, dass hauptsächlich
                                                             die Staaten an den EU-Außengrenzen für Asylverfahren
-> und die Verantwortung privater Hilfsorganisationen,       zuständig sind. Schon bei der ursprünglichen Beschluss-
  die in den Lagern aktiv sind.                              fassung über die Dublin-Verordnung kritisierten die Re-
                                                             gierungen von Italien und Griechenland vehement dieses
Für diese Untersuchung wurden im Zeitraum zwischen           unsolidarische Aufnahmesystem, mussten aber letzten
Dezember 2020 bis März 2021 Gerichtsurteile, wissen-         Endes unter dem Druck der zentraleuropäischen und in
schaftliche Studien und Presseberichte ausgewertet.          der EU dominanten Staaten den Regeln zustimmen. Da-
Hinzukommen insgesamt zehn selbst durchgeführte              durch hatten sich die Befürworter:innen einer rigorosen
Interviews bzw. Hintergrundgespräche mit Journalist:in-      Grenzabschottung aus den zentraleuropäischen Staaten
nen, Wissenschaftler:innen, Anwält:innen und NGO-Mit-        wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland durch-
arbeiter:innen, die als Expert:innen zum Moria-Komplex       gesetzt. Für politische Akteur:innen aus Deutschland,
Stellung nehmen.                                             die auf eine Politik der Auslagerung setzen, galt die Dub-
                                                             lin-Verordnung zeitweilig als Erfolg: Gab es in Deutsch-
                                                             land die gesamten 1990er Jahre hindurch stets eine
                                                             sechsstellige Anzahl von Asylanträgen, nahm diese Zahl
                                                             kurz nach der Europäisierung des Flüchtlingsrechts rapi-
Die Politik der Auslagerung von                              de ab und erreichte im Jahr 2008 mit nur 28.018 Asylan-
Migrationskontrollen                                         trägen einen historischen Tiefstand.

Seit 30 Jahren verfolgen die europäischen Innenminis-        Die Außengrenzenstaaten versuchen seitdem, die Ver-
terien in der Migrationskontrollpolitik ein Ziel: Auf dem    antwortung der Flüchtlingsaufnahme, die Zentraleuropa
Papier soll das individuelle Asylrecht, das unter anderem    ihnen alleine aufbürdet, an außereuropäische Drittstaa-
in Art. 18 der EU-Grundrechtecharta normiert ist, erhalten   ten weiterzuschieben. Spanien und Italien schlossen
bleiben. Aber faktisch sollen Geflüchtete keinen Zugang      beispielsweise Mitte der 2000er Jahre Abkommen mit
6         Der Moria-Komplex

nord- und westafrikanischen Staaten ab, um dorthin die                      chenden nach Griechenland im Rahmen der Dublin-Ver-
Migrationskontrolle auszulagern. Die Politik der Auslage-                   ordnung als menschenrechtswidrig beurteilten, weil das
rung ist dabei tief verstrickt in neokoloniale Machtver-                    griechische Asylsystem systemische Mängel aufweise.7
hältnisse, indem die ehemaligen europäischen Kolonien                       Infolge der Entscheidungen stellten die EU-Mitgliedstaa-
durch Entwicklungshilfegelder und andere finanzielle Zu-                    ten tatsächlich bis 2016 Überstellungen ein.
wendungen in die Migrationskontrolle Europas integriert
werden.5 Seit 2015 werden auch subsaharische Staaten                        Die Niederschlagung der Aufstände, die im Westen
immer stärker unterstützt, Grenzkontrollen weit im Vor-                     „Arabischer Frühling“ genannt werden, die weltweite
feld der Abfahrten von Geflüchteten in Richtung der EU                      Eskalation in Kriegs- und Krisenregionen und die Re-
zu verhindern.                                                              duzierung der Mittel für die materielle Versorgung von
                                                                            Flüchtlingscamps in benachbarten Regionen durch die
Auch in Griechenland hatte die Politik der Auslagerung                      internationale Gemeinschaft, sorgten ab 2014/15 für eine
massive Auswirkungen. Weil die Grenzabkommen im Mit-                        beispiellose Zunahme der Flüchtlingsbewegungen nach
telmeer zeitweilig effektiv funktionierten, verlagerten                     Europa. Über die Türkei flohen wöchentlich zehntausen-
sich die Fluchtrouten von Geflüchteten zum Ende der                         de Menschen auf die griechischen Inseln in der Ägäis.
2000er Jahre hin immer stärker nach Griechenland, ei-                       Die griechische Regierung unter der linken Partei Syriza
nem traditionellen Auswanderungsland, das weder über                        stellte für kurze Zeit die Push-Back-Operationen der Vor-
ein Asylgesetz noch ein funktionsfähiges Aufnahmesys-                       gängerregierungen ein. Auf diese Weise gelang es noch
tem verfügte. Geflüchtete wurden bei ihrer Ankunft zum                      mehr Menschen, die Inseln zu erreichen und von dort
Teil willkürlich inhaftiert und menschenunwürdigen Auf-                     nach Zentraleuropa weiter zu fliehen. Auf Lesbos gab
nahmebedingungen ausgesetzt, wie der international                          es zu dieser Zeit zahlreiche pro-migrantische Unterstüt-
vielbeachtete Bericht „The truth may be bitter but it must                  zungsstrukturen, die sich in der humanitären Aufnahme
be told“ der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL aus                        der Geflüchteten engagierten.
dem Jahr 2007 belegt. Schon damals stand die Insel
Lesbos in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Im dortigen
Lager Pagani gab es besonders schwere Vorfälle von un-                      Eine neue Politik der Auslagerung auf europä-
menschlicher Behandlung, auch gegenüber minderjäh-                          ischem Territorium
rigen Geflüchteten. Die griechische Regierung schloss
das Lager Ende 2009 nach dem gestiegenen öffentlichen                       Dass auf den griechischen Inseln seit 2016 Lager zur
Druck.                                                                      Festsetzung und Inhaftierung von Schutzsuchenden
                                                                            entstanden, reiht sich ein in eine jahrzehntelange Politik
Auch in den folgenden Jahren war Griechenland ein                           der Auslagerung von Migrationskontrollen, bei der Grie-
Hauptankunftsland für Geflüchtete, die nach Europa flo-                     chenland stets als Stellvertreter für die Interessen der
hen. Die griechische Regierung reagierte auf die Ankünf-                    zentraleuropäischen Mitgliedstaaten herhalten musste.
te mit Repressionen in Form von brutalen Push-Backs in                      Bilaterale Abkommen, Hotspots und Abschiebehaftan-
der Evros-Region. Zeitweilig stand sogar im Raum, einen                     stalten, wie sie auf Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos
Zaun entlang der Landgrenze zur Türkei zu errichten.6 Im                    auf Drängen der EU installiert wurden, waren daher keine
Jahr 2010 fand zudem der allererste Einsatz von Schnell-                    prinzipiell neuen Instrumente der Migrationskontrollpoli-
eingreiftruppen der Grenzschutzagentur Frontex im Ev-                       tik.8 Und doch hat das Lager- und Entrechtungssystem
ros-Gebiet statt. Neben der Repression gegen Geflüchte-                     des Moria-Komplexes eine neue Qualität: Nicht nur die
te führte auch die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise                     einzelnen Mitgliedstaaten, sondern die EU selbst war in
dazu, dass Geflüchtete in Griechenland besonders mise-                      das Zustandekommen des „EU-Türkei-Deals“ involviert9
rablen Aufnahmebedingungen ausgesetzt waren, u.a.                           (1) und zweitens entstand auf den Inseln ein menschen-
Obdachlosigkeit. All dies zusammen führte dazu, dass                        rechtswidriges Lagersystem, das auch die Verantwortli-
zunächst der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte im Januar 2011 und später auch der Europäische                       7 Europäischer Gerichtshof, C-411/10 N.S., C-493/10, M.E. u.a., Urteil vom
Gerichtshof im Dezember 2011 Rückführungen von Asylsu-                      21.12.2011; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, M.S.S. gegen
                                                                            Griechenland und Belgien, Urteil vom 21.01.2011, Individualbeschwerden-
                                                                            ummer 30696/09.

5 Die Journalist:innen Christian Jakob und Simone Schlindwein haben in      8 Kuster/Tsianos 2016, S. 5f.; Tazzioli/Garelli, 2020.
ihrem Buch Diktatoren als Türsteher Europas dieses System detailreich
beschrieben, Jakob/Schlindwein, 2017.                                       9 Das ist im Übrigen ein Trend, der sich seit dem Jahr 2015 insgesamt ver-
                                                                            stärkt hat: Die EU ist auf Grundlage ihrer „European Agenda on Migration“,
6 Daran knüpft auch die rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsident   die im Mai 2015 vorgestellt wurde, immer stärker in die Verhandlungen mit
Mitsotakis an, die bis April 2021 einen 27 Kilometer langen Zaun an der     Drittstaaten involviert, zum Beispiel auch im Rahmen des Khartoum-Pro-
Grenze zur Türkei fertiggestellt haben will.                                zesses.
Der Moria-Komplex             7

chen der EU in dieser Form nicht auf europäischem Boden                     Akteurin wie die türkische Regierung gestärkt, die nun
haben wollten, weil die Migrationskontrolle eigentlich an                   keine nachdrückliche außenpolitische Kritik seitens der
Drittstaaten ausgelagert werden sollte (2).                                 EU an Repressionen gegen Kurd:innen, Geflüchtete und
                                                                            politische Oppositionelle mehr fürchten muss, da sie die
(1) Die EU und die Mitgliedstaaten reagierten auf die                       Flüchtlinge im Land jederzeit als Druckmittel einsetzen
Flüchtlingsbewegungen von 2015 mit dem Versuch, die                         kann, indem sie sie in Richtung Europa weiterziehen
offensichtlich gescheiterte Politik der Auslagerung zu                      lässt.13
wiederholen.10 Donald Tusk, der damalige EU-Ratsprä-
sident sagte, die „Tage der irregulären Einwanderung“                       Auch die Syriza-Regierung stimmte letztlich dem Deal zu,
seien vorbei. Mit der Türkei als wichtigstem Transitland                    obwohl sie in ihrem Programm eine progressive Migrati-
wurde eine Vereinbarung gefunden. Schlossen zuvor                           onspolitik versprochen hatte. Die Wirtschaftskrise hatte
stets einzelne EU-Mitgliedstaaten solche Abkommen zur                       die Handlungsspielräume der griechischen Regierung,
Auslagerung der Migrationskontrollen ab, agierte in die-                    auch aufgrund ihres konsequenzlosen Agierens nach
sem Falle die EU als Akteurin – auch wenn der das Gericht                   dem „Nein“ („OXI“) gegen das Spardiktat, verringert. Die
der Europäischen Union dies später anders bewerten                          EU drohte Griechenland gleichzeitig mit dem Ausschluss
sollte.11 Der Europäische Rat veröffentlichte am 18. März                   aus der Eurozone und dem Schengenraum.14 Zudem gab
2016 eine Pressemitteilung, in der eine Absichtserklärung                   es innerhalb der griechischen Regierung politische Kräf-
präsentiert wurde, die seither unter dem Namen „EU-Tür-                     te, die eine Abschottung gegenüber Migrierenden befür-
kei-Deal“ bekannt ist. Zentrale Elemente des Deals be-                      worteten. Die Koalitionspartnerin von Syriza, die rechts-
standen darin, alle neu eingereisten Flüchtlinge von                        nationale ANEL, unterstützte das rigorose Vorgehen
den griechischen Inseln in die Türkei zurückzubringen,                      gegen Geflüchtete.
für jeden abgeschobenen syrischen Geflüchteten einen
anderen syrischen Geflüchteten aus der Türkei in der EU                     (2) Durch den „EU-Türkei-Deal“ und den europäischen
aufzunehmen (sog. „1:1-Regelung“); und im Gegenzug zur                      Hotspot-Ansatz wandelten sich die griechischen Regis-
Zahlung von drei Milliarden Euro und der Aussicht auf eine                  trierungszentren auf den Inseln in „Sonderrechtszonen“
Erleichterung der VISA-Regeln, versicherte die Türkei, ir-                  und „Freiluft-Gefängnisse“,15 wie die Migrationsforscherin
reguläre Abfahrten in Richtung der EU zu verhindern. Ei-                    Valeria Hänsel für die NGO bordermonitoring.eu in einem
ner der Vordenker des Deals, Gerald Knaus von der Euro-                     umfassenden Bericht dokumentiert hat. Die EU präsen-
pean Stability Initiative, behauptete, der Deal sollte dazu                 tierte das Hotspot-Konzept im Rahmen ihrer Europäi-
dienen, die liberale Ordnung in Europa und das Flücht-                      schen Migrationsagenda im Mai 2015, konkretisiert wurde
lingsrechtsrechtssystem gegen die Angriffe von autoritä-                    es durch eine sog. „Explanatory Note“ der EU-Kommis-
ren Akteuren, z.B. von Seiten der ungarischen Regierung                     sion.16 Das Konzept sah vor, Staaten an den Außengren-
unter Viktor Orbán, zu erhalten.12 Die Auslagerung der                      zen zu bestimmen, die besonders von der Aufnahme von
Flüchtlingsaufnahme an die Türkei sollte zu einer Entlas-                   Geflüchteten betroffen sind und sie durch logistische,
tung führen. Doch gerade der 1:1-Mechanismus und der                        personelle und finanzielle Ressourcen über die EU-Agen-
Umstand, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonventi-                    turen zu unterstützen. Der Ansatz kann also ursprünglich
on nicht vorbehaltlos unterzeichnet hat, untergraben das                    sogar als „Solidaritätsmechanismus“17 verstanden wer-
internationale Flüchtlingsrecht und das Anrecht auf in-                     den, der aber zugleich von Anfang darauf basierte, die
dividuelle Verfahren. Anwält:innen und Menschenrechts-                      unsolidarische Zuständigkeitsverteilung in der EU durch
organisationen gelang es vor den Gerichten in Einzelver-                    das Dublin-System nicht in Frage zu stellen. Durch den
fahren, die Vermutung, es handele sich bei der Türkei um                    „EU-Türkei-Deal“ erhielt das Hotspot-System zudem die
einen sicheren Drittstaat, zu widerlegen. Die Mechanis-                     vorrangige Aufgabe, die Grundlage für schnelle Rückfüh-
men des europäischen Rechtsschutzsystems, die aus                           rungen in die Türkei zu legen.
guten Gründen schnelle Rückführungen ohne Verfahren
verhindern, waren in den „EU-Türkei-Deal“ schlicht nicht                    Lager, wie sie daraufhin auf den griechischen Inseln ent-
eingepreist, sodass von Anfang an klar war, dass die Er-
wartung, eine schnelle „Lösung“ herbeizuführen, nicht                       13 Siehe dazu Lenz 2020b.
erfüllt werden konnte. Außerdem wurde dadurch eine                          14 Bartholomew/Wainwright, 2020, S. 57.

                                                                            15 Hänsel, 2019, S. 7 und S. 47.
10 Buckel 2018.
                                                                            16 Europäische Kommission (COM), Explanatory note on the „Hotspot“
11 Siehe dazu vertiefend das Kapitel „Das Scheitern des Rechts“ in dieser   approach, 2015, siehe: http://www.statewatch.org/news/2015/jul/eu-com-
Untersuchung.                                                               hotsposts.pdf

12 Zitiert nach: Pallister-Wilkins, 2020, S. 999f.                          17 Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 4.
8          Der Moria-Komplex

standen sind, existierten und existieren bereits in ähnli-                   kein großer Plan, der vorsätzlich auf die Schaffung sol-
cher Form in außereuropäischen Drittstaaten wie Maure-                       cher Zustände zielt, sondern vielmehr die jahrzehnte-
tanien oder Tunesien.18 Bisher war es der EU gelungen,                       lange Planlosigkeit der EU, wie sie eine solidarische und
diese Form der Lager vom europäischen Territorium fern-                      menschenrechtsbasierte Flüchtlings- und Migrationspo-
zuhalten. In neokolonialer Ignoranz interessierte sich die                   litik gestalten soll.
europäische Öffentlichkeit kaum für die geographisch
weit entfernten Lager. Die Sozialwissenschaftlerin Polly
Pallister-Wilkins schreibt, der Globale Norden zielte in der                 Das Scheitern der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Migrationspolitik stets darauf ab, „entfernten ‚Fremden‘                     in Moria
zu helfen und zugleich ‚Fremde‘ auf Distanz zu halten.“19
Flüchtlingslager seien ein wirkungsvolles Instrument, um                     Der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller
diese Strategie umzusetzen, also humanitäre Hilfe zu ver-                    (CSU) sagte nach einem Besuch im Lager Moria: „Wer
sprechen, aber keine Verantwortung für die Aufnahme von                      in diesem Lager einmal war, der wird nicht von Flücht-
Geflüchteten zu übernehmen. Doch durch den „Sommer                           lingslager sprechen, sondern das ist ein Gefängnis.“ Er
der Migration“ haben sich die Voraussetzungen für eine                       schob zudem hinterher: „Und ich sage es noch mal: Ich
solche Politik der Auslagerung verändert: „Die ‚Flücht-                      war im Südsudan, Nordirak, im Dadaab, dem größten
lingskrise‘ in Europa hat diese eurozentrische Vorstellung                   afrikanischen Flüchtlings-Camp. Nirgendwo herrschen
vom Humanitarismus herausgefordert. Die ‚Fremden‘ sind                       solche unterirdischen Zustände. Das heißt, jetzt muss
nicht mehr auf Distanz zu den Europäern, sie sind in den                     sofort geholfen werden. Die Menschen müssen verteilt
europäischen Städten.“20 Der Hotspot-Ansatz war ein Ver-                     werden.“21 Minister Müller brachte auf den Punkt, was
such, vor allem der zentraleuropäischen Staaten, mit dem                     viele Politiker:innen verschleiern wollen: Die EU hat auf
Problem umzugehen, dass sich die Politik der Auslage-                        den griechischen Inseln Zustände hervorgebracht und
rung offensichtlich als nicht effektiv und stabil erwiesen                   geduldet, die konträr zu den Standards des europäischen
hatte. Anstatt Flüchtlinge in den Drittstaaten in Lagern zu                  Werte- und Rechtssystems stehen, folglich kann nur die
kasernieren, sollten sie nun an den europäischen Außen-                      Umverteilung der Geflüchteten unter Berücksichtigung
grenzen aufgehalten werden. Damit hat sich die Strategie,                    ihrer Bedürfnisse, nicht ihr weiteres Festsetzen in den
„entfernten ‚Fremden‘ zu helfen und zugleich ‚Fremde‘ auf                    Lagern ein verantwortungsvoller politischer Schritt sein.
Distanz zu halten“ direkt auf das europäische Territorium                    Doch diese Verantwortung will in der EU niemand über-
selbst verlagert. Es macht allerdings einen Unterschied,                     nehmen. Der Moria-Komplex demonstriert das Scheitern
ob ein solches Lager im Globalen Süden existiert oder in                     der griechischen Regierung, der Europäischen Union und
Europa, das ein europäisches Flüchtlingsrecht mit ent-                       der EU-Mitgliedstaaten in der Flüchtlingspolitik.
sprechenden Aufnahmestandards und Verfahrensrechten
etabliert hat. Deshalb werden die Hotspots auf den grie-
chischen Inseln von der Politik gerade nicht wie Lager auf                   Die Verantwortung der griechischen Regierung
einem europäischen Territorium behandelt, sondern wie
die Lager außerhalb der EU – würde die EU sich bei ihrem                     Der Begriff „Hotspot“ stammt eigentlich aus dem mili-
politischen Handeln wirklich an den selbstgesetzten Men-                     tärischen und sicherheitspolizeilichen Wortschatz und
schenrechten orientieren, dürfte sie ein solches Lagersys-                   bezeichnete bestimmte räumliche Zonen, in denen der
tem nicht aufrechterhalten oder dulden.                                      Einsatz des Militärs oder verstärkte Polizeikontrollen als
                                                                             notwendig erachtet werden.22 Vor diesem Hintergrund ist
Die EU-Hotspots auf den griechischen Inseln sind also die                    es nur konsequent, dass zunächst das griechische Ver-
logische Konsequenz einer Politik der Auslagerung bzw.                       teidigungsministerium unter dem Rechtsnationalisten
der organisierten Verantwortungslosigkeit seitens der EU                     Panos Kammenos von der ANEL-Partei mit dem Aufbau
und ihrer Mitgliedstaaten. Hinter den menschenunwürdi-                       der EU-Hotspots betraut wurde – später übertrug man die
gen Lebensbedingungen der Geflüchteten in den Lagern                         Verwaltung der Lager auf das neu geschaffene Migrations-
und ihrer fehlenden Umverteilung innerhalb der EU steht                      ministerium in Athen. Doch bis heute übernimmt das grie-
                                                                             chische Militär eine zentrale Rolle bei der Verwaltung der
18 Einige EU-Mitgliedstaaten versuchen schon seit langem, dem „Vor-          Camps, der Flüchtlingsaufnahme oder der Verteilung von
bild“ der harten Grenzabschottung Australiens folgend, eine „australische
                                                                             Nahrungsmitteln. Dabei hat das Militär keine Qualifikation
Lösung“ durchzusetzen, die einen systematischen Aufbau von Lagern in den
Drittstaaten vorsieht. Diese Vorschläge scheiterten auch am Widerstand der   für die Flüchtlingsaufnahme.
afrikanischen Regierungen, siehe Buckel/Pichl 2018.

19 Pallister-Wilkins, 2020, S. 997, eigene Übersetzung.                      21 Deutschlandfunk vom 13.09.2020.

20 Pallister-Wilkins, 2020, S. 999, eigene Übersetzung.                      22 Neocleous/Kastrinou, 2016.
Der Moria-Komplex              9

Griechenland hat von der EU seit 2015 über den Asylum              bauen nicht wir, sondern die Nichtregierungsorganisati-
Migration Integration Fund (AMIF) und den Internal                 onen. Für die Sanitäranlagen ist UNICEF zuständig.“ Er
Security Fund (ISF) circa 2,8 Milliarden Euro für die              gebe für die Zustände niemandem die Schuld, auch nicht
Flüchtlingsaufnahme und -versorgung erhalten: „Das                 den Nichtregierungsorganisationen. „Ich sage nur, dass
ist im Verhältnis zur Zahl der Aufgenommenen mehr,                 wir uns gemeinsam mit der Europäischen Kommission
als jedes andere Land der Welt pro Kopf bekommen                   entschieden haben, das Geld und die Aufträge für diese
hat“.23 Unklar ist, wie viel von dem Geld tatsächlich              grundlegenden Dienstleistungen direkt an diese Orga-
in die Flüchtlingsaufnahme geflossen ist und wie vie-              nisationen zu vergeben.“ Schonungslos zeigt der grie-
le Gelder nicht abgerufen wurden.24 Dennoch drängt                 chische Migrationsminister, wie im Moria-Komplex die
sich anhand dieser Summen die Frage auf, warum es                  Verantwortung zwischen der EU, den Nationalstaaten,
mit solchen Mitteln nicht gelingt, eine europarechts-              den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen so lan-
konforme und menschenwürdige Aufnahme zu ge-                       ge hin- und hergeschoben wird, bis niemand mehr für die
währleisten. Auch in der EU stellt man sich offenbar               menschenrechtswidrigen Zustände in den EU-Hotspots
diese Frage. Seit 2018 ermittelt die Brüsseler Antikor-            politisch und juristisch verantwortlich gemacht werden
ruptionsbehörde OLAF, ob europäische Gelder, die für               kann.27
die Flüchtlingsaufnahme gedacht waren, zweckent-
fremdet wurden. Eine abschließende Bewertung des                   Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
Sachverhalts steht bislang noch aus. Dass es im grie-              in seiner ständigen Rechtsprechung festgestellt, dass
chischen Staatsapparat Korruption gibt, ist hingegen               EU-Mitgliedstaaten keine Asylsuchenden in Staaten
hinlänglich bekannt. Im Falle der Gelder für die Flücht-           überstellen dürfen, in denen menschenwürdige Lebens-
lingsaufnahme hatte die Zeitung Fileleftheros in einem             verhältnisse nicht gewährleistet sind.28 Erst im Januar
Artikel vom September 2018 behauptet, Gelder der EU                2021 hatte zudem das Oberverwaltungsgericht Nord-
seien an Wirtschaftspartner des Verteidigungsminis-                rhein-Westfalen entschieden, dass Schutzsuchende in
ters Kammenos geflossen, die sich u.a. um die Lebens-              Griechenland ihre „elementarsten Bedürfnisse (‚Bett,
mittelversorgung kümmern sollten. Laut der Zeitung                 Brot, Seife‘) für einen längeren Zeitraum nicht befriedi-
verzichtete man dabei auf ordentliche Ausschreibun-                gen können“.29 In solchen Urteilen wird auch mittelbar
gen der Verträge. In Reaktion auf den Artikel erfolgten            das Versagen der griechischen Regierung deutlich, sich
strafrechtliche Ermittlungen gegen drei Journalist:in-             an das Europarecht bei der Flüchtlingsaufnahme zu hal-
nen der Zeitung, die dann auch kurze Zeit in Untersu-              ten. Das Urteil bezog sich nicht ausschließlich auf die
chungshaft saßen. Panaiotis Lampsias, Chefredakteur                EU-Hotspots auf den Inseln, sondern zeigt die insgesamt
von Fileleftheros sagte, „das Geld war vorhanden, um               menschenunwürdige Situation für Asylsuchende im grie-
das Lager in ein Zentrum zu verwandeln, das dem Hil-               chischen Asylsystem. Solche Urteile, so wichtig sie sind,
ton-Hotel hätte ähneln können. Stattdessen ist Moria               liefern aber lediglich rechtsstaatlichen Schutz für Asyl-
eine nationale Schande geworden.“25                                suchende, die bereits aus Griechenland fortgekommen
                                                                   sind, indem ihre Rückführung aufgehalten wird – für die
Die griechische Regierung hat die Aufnahme und Ver-                Bewohner:innen der Lager, denen ganz konkret „Brett,
sorgung von Geflüchteten in den Lagern in Teilen auch              Brot und Seife“ vorenthalten werden, haben solche Ent-
an internationale Organisationen und private Hilfsor-              scheidungen keine unmittelbare Wirkungskraft.
ganisationen outgesourct – behält dabei aber die ad-
ministrative und polizeiliche Kontrolle über das Camp.             Der Moria-Komplex zeichnet sich durch eine Unzustän-
Wie das System des gegenseitigen Hin- und Herschie-                digkeitsstruktur aus, durch eine selektive An- und Ab-
bens von Verantwortung funktioniert, demonstrierte                 wesenheit staatlicher Souveränität: Denn auf der einen
der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi in
einem Interview, das er Anfang Februar 2021 der ZEIT               27 Dies zeigt sich auch auf der lokalen Ebene, indem die Verwaltung von
                                                                   Mytilene ebenfalls keine Verantwortung für die Zustände auf Lesbos über-
gegeben hat.26 Auf die Frage, warum die Geflüchteten               nehmen will und gegen die Proteste von Geflüchteten und Bewohner:innen
den Winter trotz des vielen Geldes der EU in Zelten ver-           mit der Polizei vorgeht, siehe Lenz 2020a.
bringen müssen, sagte er, das UN-Flüchtlingshilfswerk
                                                                   28 Zur Frage der Gewährleistung ausreichender materieller Lebensverhält-
koordiniere diese Aufgabe. „Die Duschen und Toiletten              nisse, siehe EGMR, M.S.S. gegen Griechenland und Belgien, Urteil vom
                                                                   21.01.2011, Individualbeschwerdenummer 30696/09; EGMR, Tarakhel gegen
23 Thomsen/Hausdorf 2020.                                          Schweiz, Urteil vom 04.11.2014, Individualbeschwerdenummer 29217/12;
                                                                   zur Frage der Gewährleistung von Wohnraum, siehe: EGMR, Chapman
24 Howden/Fotiadis 2017.                                           gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.01.2001, Individualbeschwerde-
                                                                   nummer 27238/95.
25 Zitiert nach The Guardian vom 26.09.2018, eigene Übersetzung.
                                                                   29 Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Aktenzeichen 11 A
26 Jacobsen/Zacharakis 2021.                                       1564/20.A und 11 A 298/20.A., Urteil vom 21.01.2021.
10         Der Moria-Komplex

Seite werden die Geflüchteten durch staatliche Zwangs-                       dig, Anhörungen in den sogenannten Unzulässigkeits-
maßnahmen wie der Residenzpflicht in den Lagern fest-                        verfahren durchzuführen, in denen entschieden wird, ob
gehalten, auf der anderen Seite will niemand für die                         die Türkei für die antragsstellende Person ein angeblich
miserablen Lebensbedingungen der Geflüchteten ver-                           „sicherer Drittstaat“ ist. Trifft dies nach Ansicht von EASO
antwortlich sein. Wenn es Probleme in der materiellen                        zu, folgen die griechischen Behörden dieser „legal opini-
Versorgung der Geflüchteten gibt, keinen Zugang zu ge-                       on“ auch in der Regel.33 „EASO formt also die griechische
sunden Lebensmitteln oder einer funktionierenden Ge-                         Asylverwaltungspraxis in den Hotspot-Einrichtungen in
sundheitsversorgung, behauptet die Regierung schlicht,                       Griechenland ganz maßgeblich.“34 Elli Kriona Saranti ar-
andere Akteur:innen im Lager hätten diesen Teil der                          beitet als Rechtsanwältin auf den Inseln und hat viele
Verwaltung übernommen. Nur kann man gegen interna-                           Mandant:innen in den Unzulässigkeitsverfahren beglei-
tionale Organisationen und private Hilfsorganisationen                       tet. Sie macht im Gespräch für diese Untersuchung da-
kaum juristisch vorgehen. Eigentlich ist das europäische                     rauf aufmerksam, dass sich viele Wissenschaftler:innen,
Recht in dieser Hinsicht eindeutig: Die Staaten können                       Journalist:innen und NGO-Mitarbeiter:innen auf die un-
sich nach der EU-Aufnahmerichtlinie und EU-Asylverfah-                       würdigen Lebensbedingungen in den Hotspots konzent-
rensrichtlinie nicht ihrer Pflichten entledigen, denn die                    rieren, aber ein zentraler Hebel der Entrechtungsstruktur
Flüchtlingsaufnahme und das Asylverfahren sind genu-                         kaum betrachtet wird: Das rechtsstaatlich nicht haltbare
ine hoheitliche Aufgaben. Doch solche juristischen Ver-                      und unfaire System der Asylanhörungen durch EASO und
antwortlichkeiten vor Gericht zu erstreiten ist schwierig.30                 die griechischen Behörden. Das European Center for Con-
Was in Moria fehlt, ist staatliche Souveränität. Und zwar                    stitutional and Human Rights (ECCHR) aus Berlin hat in ei-
staatliche Souveränität in ihrer Form, Rechte zu gewäh-                      ner Analyse herausgearbeitet, dass EASO in den Hotspots
ren und Staaten haftbar zu machen, wenn Rechte ver-                          die europarechtlichen Vorgaben und Qualitätsstandards
letzt werden.                                                                für Asylanhörungen missachtet.35 Zwar würden auch faire
                                                                             und europarechtskonforme Asylverfahren nicht das Hot-
                                                                             spot-System selbst grundlegend in Frage stellen, aber
Die Verantwortung der Europäischen Union                                     es ist von zentraler Bedeutung, Schutzsuchenden einen
                                                                             Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren zu erstreiten, in
Die Europäische Union ist durch ihren Hotspot-Ansatz und                     denen ihre Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention
den „EU-Türkei-Deal“ verantwortlich dafür, die Ursachen                      und der europäischen Anerkennungsrichtlinie geachtet
für die Unzuständigkeitsstruktur und die systematische                       werden. Möchte man die Entrechtungsstruktur des Mo-
Entrechtung von Geflüchteten in den Lagern geschaffen                        ria-Komplexes angehen, muss also die Verantwortung
zu haben. Selbst Gerald Knaus, einer der Architekten des                     der EU für die rechtsstaatlich unhaltbaren Asylverfahren
„EU-Türkei-Deals“, räumt mittlerweile ein: „Es ist eine                      klar benannt werden.
strategische Entscheidung, genau durch diese Bilder von
Menschen, die leiden, andere davon abzuhalten, zu kom-                       Mit Frontex ist eine weitere zentrale Agentur der EU auf
men. Das ist derzeit die Politik der Europäischen Union.“31                  den griechischen Inseln im Einsatz. Schon lange haben
                                                                             Akteur:innen wie Alarmphone/Watch the Med oder Mare
Das Hotspot-System sollte ursprünglich dazu dienen,                          Liberum Rechtsbrüche der Agentur in der Ägäis bzw. ille-
Orte an der Außengrenze zu identifizieren und zu bestim-                     gale Pushbacks durch die griechische Küstenwache un-
men, an denen die EU die Mitgliedstaaten bei der Rechts-                     ter Anwesenheit von Frontex dokumentiert.36 Diese Vor-
anwendung operativ unterstützt. Die EU hat das Hot-                          würfe wurden zuletzt durch investigative Recherchen des
spot-Konzept aber nie in das Europarecht überführt, es                       SPIEGEL und Bellingcat sowie der sog. „Frontexfiles“37
ist eine weitgehend informelle Rechtspraxis geblieben,                       auch in größeren Medien belegt, wodurch Frontex deut-
die den Exekutivorganen vor Ort einen weiten und kaum
rechtlich kontrollierbaren Gestaltungsspielraum ein-
räumt.32 Durch das Hotspot-Konzept sind die EU-Agen-                         33 Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 28.

turen, vor allem Frontex (Europäische Agentur für die                        34 Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 49.
Grenz- und Küstenwache) und EASO (Europäisches Asy-
                                                                             35 Siehe dazu: https://www.ecchr.eu/fileadmin/Fallbeschreibungen/ECCHR_
lunterstützungsbüro), in den Lagern und rund um diese                        Case_Report_EASO_Greek_Hotspots_042019.pdf
ständig präsent. EASO ist unter anderem dafür zustän-
                                                                             36 Siehe zum Beispiel einen Bericht von Alarmphone über Push-Backs
                                                                             von Frontex kurz nach der Vereinbarung über den „EU-Türkei-Deal“ vom
30 Siehe dazu den Abschnitt „Scheitern des Rechts“ in dieser Untersuchung.   16.06.2016, siehe: https://alarmphone.org/de/2016/06/16/statement-watcht-
                                                                             hemed-alarm-phone-prangert-illegale-push-back-operation-in-anwesen-
31 Zitiert nach Ghassim/Schayani 2021.                                       heit-von-frontex-an/.

32 Vergleiche dazu vertiefend Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 2ff.              37 Siehe: https://www.frontexfiles.eu.
Der Moria-Komplex            11

lich unter öffentlichen Druck geraten ist. Die Agentur be-                    Flüchtlinge aufzunehmen. Von den 1553 Geflüchteten,
herrscht das Spiel der gegenseitigen Zuschiebung von                          die umverteilt werden sollen, sind bis Februar 2021 aber
Verantwortung jedoch meisterhaft: Da die Befehlsgewalt                        nur 449 in Deutschland angekommen.
für Einsätze letztlich bei den Mitgliedstaaten liege („com-
mand and control“), sei Frontex für Menschenrechtsver-                        Die Aufnahme von Geflüchteten durch die Mitgliedstaaten
letzungen, die im Rahmen von Operationen passieren,                           wird in der Regel mit einer „schnellen Hilfe“ und einem „mo-
nicht verantwortlich. Dabei spricht nicht nur die Fron-                       ralischen Humanitarismus“ begründet. Eine solche Form
tex-Verordnung mittlerweile von einer „dualen Verant-                         des „humanitären Regierens“ führt dazu, dass die bloß
wortlichkeit“ zwischen der Agentur und den Mitgliedstaa-                      freiwillige humanitäre Hilfe die durchsetzbaren Ansprüche
ten38, sondern zahlreiche journalistische Berichte legen                      und Rechte von Marginalisierten in den Hintergrund treten
nahe, dass die Grenzagentur in gewaltsame Push-Backs                          lässt, schreibt der Ethnologe Didier Fassin.42 Im Falle der
verwickelt ist.39                                                             Umverteilung von Geflüchteten und der angeblich „groß-
                                                                              zügigen Aufnahmebereitschaft Deutschlands“ geht ver-
                                                                              loren, dass die deutsche Bundesregierung systematisch
Die Verantwortung von EU-Mitgliedstaaten wie                                  die Rechte von Asylsuchenden missachtet. Geflüchteten,
Deutschland                                                                   die bereits Familienangehörige in Deutschland haben,
                                                                              steht nach der Dublin-III-Verordnung das Recht zu, nach
Im Jahr 2015 verständigten sich die EU-Mitgliedstaaten                        Deutschland einzureisen und dort das Asylverfahren fort-
auf eine Umverteilung (sog. „Relocation“) von 160.000                         zusetzen (Art. 9 und 10 Dublin-III-Verordnung). Der Bericht
Geflüchteten aus Italien und Griechenland. Doch fünf                          Refugee Families Torn Apart von PRO ASYL und Refugee
Jahre danach sind nur knapp 34.000 Geflüchtete tat-                           Support Aegean zeigt, wie die Bundesregierung die Ver-
sächlich umverteilt worden. Auch die Verantwortung der                        fahren zur europarechtlichen Familienzusammenführung,
deutschen Bundesregierung ist an dieser Stelle eindeutig                      einem der wenigen letzten legalen Ausreisewege von den
zu benennen. 27.000 Geflüchtete wollte die Bundesrepu-                        Inseln, systematisch blockiert. Sowohl 2018 als auch 2019
blik Deutschland aufnehmen, aus Griechenland kamen                            lehnten die deutschen Behörden jeweils zwischen 60 bis
im Rahmen der Relocation jedoch nur etwas mehr als                            75 Prozent der Übernahmeersuchen aus Griechenland ab.
5.300.40                                                                      Und dabei fallen Schätzungen von Hilfsorganisationen zu-
                                                                              folge zwischen 30-40 Prozent der Minderjährigen in Grie-
„Die Inseln sind weiterhin völlig überfüllt bei untragbaren                   chenland unter die Familienzusammenführungsregelun-
Zuständen“, schreibt die deutsche Botschaft in Athen                          gen der Dublin-III-Verordnung.43
in einem internen Schreiben, wie die Plattform Frag-
denstaat über eine Anfrage mithilfe des Informations-                         Die „humanitäre Regierung“ wirkt sich unmittelbar auf
freiheitsgesetzes herausgefunden hat.41 Ein ernsthaftes                       das Flüchtlingsrecht aus. Wem geholfen wird und welche
Hinwirken auf eine Evakuierung der Inseln oder eine sub-                      Personen aus den Lagern verteilt werden, entscheidet
stantielle Verbesserung der dortigen Lebenssituation hat                      sich nicht mehr vorrangig über die Fluchtgründe, die in
die deutsche Bundesregierung aber unterlassen. Sie ist                        der Genfer Flüchtlingskonvention normiert sind, sondern
in die unmenschlichen Zustände auf den griechischen                           anhand der Vulnerabilität, also einer besonderen Verletz-
Inseln verstrickt. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel,                      lichkeit. Aber das internationale Flüchtlingsrecht garan-
die energisch auf das Zustandekommen des „EU-Tür-                             tiert nicht nur der Familie mit Kindern, sondern auch dem
kei-Deals“ hinarbeitete, der letztendlich die Lager auf                       alleinstehenden 20jährigen Mann Schutz, wenn seine
den Inseln in eine Unzuständigkeitsstruktur überführt                         Gründe zu fliehen den Kriterien der Genfer Flüchtlings-
und die Entrechtung von Geflüchteten bewirkt hat. Nach                        konvention entsprechen. Die als humanitär angeprie-
dem Brand von Moria erklärte sich die Bundesregierung                         senen Umverteilungsaktionen von den Inseln durch die
nach massiven öffentlichen Protesten letztendlich be-                         EU-Mitgliedstaaten, allen voran der deutschen Bundes-
reit, einen kleinen Teil der unbegleiteten minderjährigen                     regierung, höhlen den Flüchtlingsschutz aus, wenn die
                                                                              Verletzlichkeit, nicht der rechtliche Schutzstatus an ers-
38 Siehe dazu den 12. Erwägungsgrund der Verordnung über die Europäi-         ter Stelle steht. Wenn legale Zugangswege und die sub-
sche Grenz- und Küstenwache, Verordnung (EU) 2019/1896.                       jektiven Rechte von Geflüchteten auf diese Weise aus-
39 Siehe beispielhaft: https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluecht-        gehebelt werden, dann wird der Rechtsstaat durch eine
linge-frontex-in-griechenland-in-illegale-pushbacks-verwickelt                exekutive Politik der Gnade ersetzt.
-a-00000000-0002-0001-0000-000173654787.

40 Siehe für die Zahlen den Panorama Beitrag von Walter 2020.
                                                                              42 Fassin, 2011.
41 Siehe hierzu: Fragdenstaat, https://fragdenstaat.de/blog/2020/12/16/aus-
wartiges-amt-bestatigt-intern-untragbare-zustande-moria-fluchtlingslagern/.   43 Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 2019, S. 127.
12         Der Moria-Komplex

Schließlich lässt sich auch anhand der politischen Stra-                       schon lange zum selbstverständlichen Repertoire, um
tegie des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian                            „Kontrolle“ über Flüchtlinge zu haben. In dieser Hinsicht
Kurz, einem der Hardliner in der Grenzabschottung, ver-                        unterscheidet sich der Moria-Komplex erst einmal nicht
deutlichen, wie die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten                         von der Unterbringungssituation in anderen EU-Mit-
die Politik der Auslagerung im Moria-Komplex verfol-                           gliedstaaten – auch in Deutschland gibt es z.B. in den
gen. Kanzler Kurz wiederholte stets sein Mantra, dass                          von Bundesinnenminister Horst Seehofer eingeführten
„Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpft                               Anker-Zentren Entrechtungsstrukturen. Aber Moria ist
werden müssen“ – eine Strategie, die darauf abzielt, die                       noch in einer anderen Hinsicht kein „normales“ Flücht-
Verantwortung des Globalen Nordens für die zentralen                           lingslager. Die selektive Abwesenheit von Souveränität
Fluchtursachen wie den Klimawandel oder wirtschaft-                            durch die griechische Regierung und die fehlenden Zu-
liche und soziale Ungleichheit zu negieren. Doch diese                         ständigkeits- und Verantwortungsstrukturen haben zur
Rhetorik wendete Kurz nunmehr auch auf die Lager auf                           Ausbreitung informeller und klandestiner Machtstruk-
dem europäischen Territorium an. In einer Rede vor dem                         turen in den Lagern geführt: „Hier gilt nur das Gesetz
österreichischen Parlament rechtfertigte sich der Kanz-                        der Gewalt“, wie ein Bewohner des Lagers sagt.46 Am
ler der türkis-grünen Koalition dafür, keine Geflüchteten                      Ende war das Lager Moria weniger ein Flüchtlingslager,
aus Moria aufzunehmen: „Wir haben nicht nur 13 000                             sondern ein „Slum“, meint Valeria Hänsel, Migrations-
Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria […]. Ich habe                          forscherin von der Universität Göttingen. Oder eine „Fa-
im Irak, in Jordanien, im Libanon, in Afrika unzähliges                        vela“, wie Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL, das
Leid bei syrischen Flüchtlingen erlebt. Kommen Sie ein-                        Lager bezeichnet. Also ein Ort, wie man ihn eher aus den
mal mit mir ins Somaliland oder anderswohin: Tausende                          Megastädten im Globalen Süden kennt. In Moria gab es
Menschen in unfassbarer Armut, teilweise unterernährt,                         mafiöse Strukturen, Bordelle, Drogenhandel, Schatten-
furchtbare hygienische Bedingungen. Wenn man das                               wirtschaft. „Flüchtlingsrechte können nicht in Lagern
sieht, […], dann ist eines klar: Wir können definitiv nicht                    und Siedlungen geschützt werden“, konstatierten die
alle Menschen aufnehmen! Wir wollen aber helfen, und                           Wissenschaftler:innen Guglielmo Verdirame und Barbara
die richtige Antwort ist aus meiner Sicht die Hilfe vor Ort.“44                Harrell-Bond in ihrer Untersuchung von Flüchtlingslagern
Österreich reagierte auf den Brand von Moria mit einer                         in Subsahara-Afrika. „Wir haben herausgefunden, dass in
Verdoppelung der Mittel für die Auslandskatastrophenhil-                       Flüchtlingslagern das Recht des Aufnahmestaates prak-
fe.45 Diese Rede und diese politischen Maßnahmen sind                          tisch nicht mehr angewendet wird; Lager sind Orte jen-
bezeichnend: Die österreichische Regierung behandelt                           seits des Rechtsstaates“.47 Mit dem Moria-Komplex sind
die Situation in Moria so, als ob es sich bei Griechenland                     solche Zustände auch auf dem europäischen Territorium
nicht um einen EU-Mitgliedstaat handelt, sondern um ein                        entstanden.
Land im Globalen Süden, in dem Geflüchteten „vor Ort
geholfen werden muss.“ Auf diese Weise wird das Narrativ
einer „humanitären Katastrophe“ befördert und die poli-
tische wie rechtliche Verantwortung für den Moria-Kom-
plex negiert. Es geht dann nicht mehr darum, dem euro-                         Das Scheitern der Vereinten Nationen
päischen Recht folgend, die solidarische Umverteilung der
Geflüchteten aus den Lagern zu organisieren, sondern es                        Seit Anfang an sind in den Moria-Komplex auch Orga-
wird akzeptiert, dass die Menschen dauerhaft dort verhar-                      ne der Vereinten Nationen verwickelt, allen voran das
ren und einkaserniert sind – wie in einem Flüchtlingslager                     UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und Unicef. Das Mandat
in der Nähe von Kriegs- und Krisengebieten.                                    von UNHCR ist eigentlich eindeutig. In der Präambel der
                                                                               Genfer Flüchtlingskonvention steht, die vertragsschlie-
                                                                               ßenden Staaten haben beschlossen, „dass dem Hohen
Die „Favelas“ auf den griechischen Inseln                                      Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge die
                                                                               Aufgabe obliegt, die Durchführung der internationalen
In der EU-Migrationspolitik gehört die Verbringung und                         Abkommen zum Schutz der Flüchtlinge zu überwachen“
Kasernierung von Schutzsuchenden in großen Lagern                              – und zwar in Zusammenarbeit mit den Staaten. UNHCR
                                                                               soll also die Rechte von Geflüchteten verteidigen und die
                                                                               Staaten zur Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Pflichten
44 Plenarsitzung des österreichischen Nationalrates, Stenographisches Proto-   ermahnen. Das tut die Organisation auch immer wieder.
koll der 51. Sitzung vom 23.09.2020.

45 Ebenso mobilisierte die niederländische Regierung, vertreten durch den
Minister für Außenhandel und Entwicklung, Gelder aus ihrem Entwick-            46 Zitiert nach Höhler 2019.
lungsfonds, der eigentlich für humanitäre Projekte im Globalen Süden
gedacht ist.                                                                   47 Verdirame/Harrell-Bond, 2005, S. 15, eigene Übersetzung.
Der Moria-Komplex   13

Erst am 28. Januar 2021 appellierte UNHCR an die EU-Mit-                     Die griechische Regierung hat daher Aufgaben, die nach
gliedstaaten gewaltsame Zurückweisungen an den Au-                           der EU-Aufnahmerichtlinie den Mitgliedstaaten oblie-
ßengrenzen, sog. Push-Backs, zu unterlassen. Doch                            gen, an UNHCR als internationale Organisation ausgela-
fragt man Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und                        gert. Das macht es für die Bewohner:innen des Lagers
NGO-Mitarbeiter:innen auf den griechischen Inseln, dann                      schwierig, Verantwortlichkeiten zu benennen, wenn et-
sagen sie, UNHCR sei ein Teil des Problems und nicht der                     was nicht funktioniert. Shirin Tinnesand arbeitet für die
Lösung.48 Die WDR-Journalistin Isabel Schayani schrieb                       NGO Stand by me Lesvos, die u.a. die Selbstorganisation
beispielsweise auf Twitter, UNHCR greife bei Push-Backs                      von Geflüchteten unterstützt. Sie sagt, die meiste Zeit
in Griechenland an Land nicht ein, die Regierung erlaube                     sei unklar, wer welche Aufgaben und zu welchem Zweck
ihnen nicht, Flüchtlinge zu schützen, wenn sie an Land                       übernimmt. Normalerweise habe jeder Akteur im Lager
gegangen sind. „Wie wird UNHCR da seinem Mandat ge-                          bestimmte Verantwortungsbereiche. Wenn die Behörden
recht?“, fragt sie.49 Die Frage drängt sich insgesamt auf,                   oder internationalen Organisationen aber anfangen ihre
wenn man UNHCRs Rolle auf den griechischen Inseln kri-                       Aufgaben auszulagern, z.B. durch Subkontrakte, dann
tisch betrachtet. Die Organisation ist, wenn auch nicht                      bekommen Akteur:innen Handlungsmöglichkeiten zuer-
mit Vorsatz, zu einem Teil der Unzuständigkeitsstruktur                      kannt, die für diese Tätigkeiten nicht ausgebildet sind.
geworden.                                                                    Dies trug insgesamt zu chaotischen Zuständen auf den
                                                                             Inseln bei, indem es zwischen der EU-Kommission, der
                                                                             griechischen Regierung und dem UNHCR keinen Konsens
UNHCR und das Katastrophennarrativ                                           über ein gemeinsames Vorgehen gab.52

In Europa war UNHCR traditionell in die Beratung bei Ge-                     Begleitet vom Narrativ einer „humanitären Katastrophe“
setzgebungsprozessen und in die Qualitätskontrolle von                       und durch zusätzliche finanzielle Unterstützung, ver-
Asylverfahren involviert. Außerhalb der EU hatte die Orga-                   größerte UNHCR zudem seinen Personalbestand in Grie-
nisation schon länger Tätigkeiten im humanitären Katas-                      chenland auf über 600 Beschäftigte. Dabei bildete sich
trophenmanagement und in der Verwaltung von Flücht-                          ein Personalsystem heraus, wie Journalist:innen berich-
lingslagern ausgeübt, vor allem in Subsahara-Afrika.50                       ten, in welchem die internationalen Mitarbeiter:innen von
Ein vergleichbares Katastrophenmanagement in Europa                          UNHCR erheblich mehr verdienen als die griechischen
ist für UNHCR hingegen neu.                                                  Beschäftigten vor Ort.53 Gerade vor dem Hintergrund der
                                                                             Wirtschaftskrise verschärfte ein solches Entlohnungs-
Im Sommer 2015 rief UNHCR in Europa den Katastrophen-                        system Konflikte unter den Beschäftigten. Der vielfach
fall aus. An der ungarisch-serbischen Grenze, entlang                        erhobene Vorwurf, Griechenland sei durch die Wirt-
der Balkanroute und auch auf den griechischen Inseln                         schafts- und Flüchtlingskrise doppelt durch die EU und
beteiligte sich UNHCR am Aufbau von behelfsmäßigen                           internationale Organisationen kolonisiert worden54, ver-
Unterbringungsstrukturen. Im Sommer 2015 war der hu-                         dichtet sich auch in diesem Zusammenhang.55
manitäre Kriseneinsatz gerechtfertigt, aber fünf Jahre
danach ist klar, dass die Verhältnisse in den EU-Hotspots
politisch verursacht sind. UNHCR hat prinzipiell daran                       UNHCR im Interessenskonflikt
festgehalten, auf den griechischen Inseln so zu agieren,
als handele es sich weiterhin um eine humanitäre Krise.                      Wenn sich die Aktivitäten von UNHCR auf die unmittelba-
Dadurch wurde der rechtebasierte Ansatz von UNHCR in                         re Hilfe konzentrieren, bleibt nur wenig Handlungsspiel-
den Hintergrund gedrängt.                                                    raum übrig, um das Kernmandat zu erfüllen. Die Orga-
UNHCR ist auf den griechischen Inseln vielfältig in die La-                  nisation übt zwar immer wieder Kritik an der fehlenden
gerstrukturen eingebunden, vom Aufbau der Infrastruk-                        Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten zu handeln, auch
tur, über die Unterbringung bis hin zur Essensausgabe.51                     verstärkt nach dem Brand von Moria, aber es fehlen de-
                                                                             taillierte Berichte zum Kern des Flüchtlingsrechts – sys-
                                                                             tematische Dokumentationen über die Lagerstrukturen
48 Siehe dazu: Bogaers 2019, S. 75ff.; Mühletahler 2017, S. 87ff.; Howden/   und Asylverfahren.
Fotiadis 2017.

49 Tweet vom 07.02.2021.
                                                                             52 Pavlásek 2017.
50 Forschungen über die Rolle von UNHCR in diesen Lagern kommen
zu dem Schluss, dass die Organisation in den afrikanischen Lagern für die    53 Howden/Fotiadis 2017.
Verletzung von Flüchtlingsrechten mitverantwortlich war, siehe Verdirame/
Harrell-Bond, 2005, S. 17; Agier 2011.                                       54 Siehe dazu ausführlich: Samaddar 2016.

51 Bogaers 2019, S. 72.                                                      55 Pavlásek 2017.
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