DER "MORIA-KOMPLEX" VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT, UNZUSTÄN-DIGKEIT UND ENTRECHTUNG FÜNF JAHRE NACH DEM EU-TÜRKEI-ABKOMMEN UND DER EINFÜHRUNG DES ...
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DER „MORIA- KOMPLEX“ VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT, UNZUSTÄN- DIGKEIT UND ENTRECHTUNG FÜNF JAHRE NACH DEM EU-TÜRKEI-ABKOMMEN UND DER EINFÜHRUNG DES HOTSPOT-SYSTEMS Eine Studie von Maximilian Pichl im Auftrag von medico international
2 Impressum IMPRESSUM Herausgeber: medico international e. V. Lindleystraße 15 D-60314 Frankfurt am Main Telefon +49 69 94438-0 info@medico.de www.medico.de Autor: Maximilian Pichl, Rechts- und Politik- wissenschaftler, arbeitet als Wissen- schaftlicher Mitarbeiter an der Goethe- Universität Frankfurt am Main. Redaktion: Sabine Eckart, Ramona Lenz, Vicky Lessing, Mario Neumann, Hendrik Slusarenka V.i.S.d.P. Anne Jung Titelfoto: medico Spenden: medico international Frankfurter Sparkasse IBAN: DE21 5005 0201 0000 0018 00 BIC: HELADEF1822 MÄRZ 2021
Inhalt 3 Der Moria-Komplex Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen und der Einführung des Hotspot-Systems 5 Die Politik der Auslagerung von Migrationskontrollen 5 Wie kam es zur Politik der Auslagerung? 6 Eine neue Politik der Auslagerung auf europäischem Territorium 8 Das Scheitern der EU und ihrer Mitgliedstaaten in Moria 8 Die Verantwortung der griechischen Regierung 10 Die Verantwortung der Europäischen Union 11 Die Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland 12 Die „Favelas“ auf den griechischen Inseln 12 Das Scheitern der Vereinten Nationen 13 UNHCR und das Katastrophennarrativ 13 UNHCR im Interessenskonflikt 14 UNHCR und die Krise der Menschenrechte 15 Das Scheitern des Rechts: Warum es kaum gelingt, den Moria-Komplex rechtlich anzugreifen 15 Rechtskämpfe vor griechischen Gerichten 16 Rechtskämpfe vor europäischen Gerichten 17 Juristische Verantwortung der EU-Organe 18 Das Scheitern der Hilfe: Wie Hilfsorganisationen das Hotspot-System stabilisieren 19 Der Rückzug der professionellen Hilfe aus den Lagern 19 Das System der Hilfe im Moria-Komplex 21 Die Goldmine Moria 22 „Hilfe vor Ort“: Die Strategie von niederländischer Regierung und NGOs 23 Das neue Lager, schwindende Solidarität, NGO-Gesetze und der New Pact on Migration and Asylum 24 Repolitisierung, Verantwortung, Rechtskämpfe und kritische Nothilfe: Auswege aus dem Moria-Komplex 27 Quellen und Materialien
4 Der Moria-Komplex Der Moria-Komplex Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen und der Einführung des Hotspot-Systems Kurz vor dem Weihnachtsabend 2020 schrieben Geflüch- hat die deutsche Bundesregierung keine Verantwortung tete von den griechischen Inseln einen Brief an EU-Kom- übernommen und die Umverteilung aller Geflüchteten missionspräsidentin Ursula von der Leyen und die euro- durchgesetzt. Stattdessen versucht die deutsche Re- päischen Bürger:innen.1 Eindrucksvoll schildern sie darin gierung, als eine der wesentlichsten Akteurinnen hinter ihre untragbaren Lebensbedingungen im alten wie im dem EU-Türkei-Deal, das Abkommen zur Auslagerung der neuen Lager Moria, einem der Hotspots für Asylsuchen- Migrationskontrollen aufrechtzuerhalten, auf Kosten der de, der auf Betreiben der Europäischen Union nach dem Rechte, die den Menschen auf den Inseln nach dem eu- Sommer der Migration 2015 eingerichtet wurde. Nachdem ropäischen und internationalen Recht zustehen. Um sich das Lager Moria in der Nacht auf den 9. September 2020 der Verantwortung zu entziehen, wenden Politiker:innen abbrannte, errichtete das griechische Militär mit Unter- in Regierungsverantwortung ein, bei Moria handele es stützung des UN-Flüchtlingshilfswerks und zahlreichen sich um eine „humanitäre Katastrophe“, „Hilfe vor Ort“ privaten Hilfsorganisationen ein neues Lager. „Noch im- sei nötig und man brauche eine „europäische Lösung“. mer warten wir auf genügend warme Duschen“, schrei- Fast drei Milliarden Euro sind von der EU an die griechi- ben die Geflüchteten in ihrem Brief. „Wenn es regnet, wird sche Regierung für die Aufnahme und Versorgung von das Lager überflutet und Zelte werden nass. Wir haben Geflüchteten geflossen, mehrere Millionen haben private keine Heizungen, die uns und unsere Kinder warm halten, Hilfsorganisationen für Kleidung, Verpflegung, Medizin keine Schulen oder Kindergärten. Wenn wir krank werden, oder Kinderspielzeug erhalten.4 An den menschenunwür- warten wir stundenlang auf medizinische Behandlung digen Zuständen hat sich jedoch nichts geändert. und das Essen, das wir bekommen, war ausreichend, aber nicht gesund.“ Die Geflüchteten bitten in ihrem Brief an die EU nicht um humanitäre Hilfe, sondern fordern ihre Rechte ein: Seit fünf Jahren sind in den europäischen Abendnach- „Haben wir keine Rechte als Menschen und Flüchtlinge richten Bilder von den griechischen Inseln zu sehen; Bil- in Europa, die eine Grundversorgung für jeden beinhal- der von schiefstehenden Zelten des UN-Flüchtlingshilfs- ten? Oft lesen und hören wir, dass wir in diesen Lagern werks, die langsam im Schlamm versinken, Bilder von wie Tiere leben müssen, aber wir denken, dass das nicht Menschen, deren Leiden und Verletzungen sich sichtbar stimmt. Wir haben die Gesetze zum Schutz der Tiere in auf ihren Körpern abzeichnen. Europa studiert und wir haben herausgefunden, dass sie sogar mehr Rechte haben als wir. […] Wir bitten nicht um „Wir wissen seit langem, dass Menschen dort unter un- weitere Spenden oder Geld für die Instandsetzung der In- würdigen Bedingungen leben“, sagte die deutsche Bun- frastruktur. Wir haben in den Zeitungen gelesen, wie viele deskanzlerin Angela Merkel kurz nach dem Brand des Millionen bereits ausgegeben wurden und viele von uns Lagers. Doch die rund fast 35.000 Geflüchteten, die noch sind Ingenieure, Elektriker, Ärzte und wir wissen, dass Mitte 2020 auf den Inseln waren2, werden bis heute kaum es nicht sehr viel Geld braucht, um ein solches Lager in umverteilt3. Auch während der EU-Ratspräsidentschaft Stand zu setzen. […] Wir sehen viele Spendenaufrufe und Versprechungen und wir sehen unsere Realität und das macht uns frustriert und wütend.“ 1 Siehe für den vollständigen Brief: Medico International vom 23.12.2020, https://www.medico.de/moria-brief. Der Brief der Geflüchteten und Lagerbewohner:innen ist 2 Zahlen zitiert nach Schuler, 2020. der Ausgangspunkt für diese Untersuchung, fünf Jah- 3 Problematisch am Konzept der Umverteilung ist, dass eine Mitsprache re nach dem „EU-Türkei-Deal“ und der Einrichtung des der Betroffenen nicht vorgesehen ist. Zur Kritik an der Entmündigung und Hotspot-Systems auf den griechischen Inseln. Die Un- Entrechtung durch Umverteilungs-/Relocationmaßnahmen siehe die aktuelle tersuchung fragt danach, wie es sein kann, dass die un- Kampagne von borderline-europe u.a.: https://www.borderline-europe.de/projekte/monitoring-eu-ad-hoc-relocati- on-sea-cities 4 Thomsen/Hausdorf 2020.
Der Moria-Komplex 5 menschlichen Zustände für Geflüchtete auf den griechi- zu einem vollwertigen Asylverfahren erhalten. Dieses Ziel schen Inseln nach fünf Jahren immer noch bestehen. Wer kennzeichnete schon den deutschen Asylkompromiss trägt die politische und rechtliche Verantwortung? Wie von 1993, durch den der Bundestag das Konzept sog. „si- funktioniert das System der Entrechtung in den Hotspots cherer Drittstaaten“ ins Asylverfahrenssystem aufnahm – und warum kann man dagegen kaum juristisch vorge- und einem Großteil der Geflüchteten die Inanspruchnah- hen? Warum hat die humanitäre Hilfe nicht zu einer Ver- me des Asylrechts verwehrte. Auch in der europäischen besserung der Situation beigetragen? Migrationspolitik hat sich diese Strategie niedergeschla- gen. Die EU-Hotspots auf den griechischen Inseln, der Das Elend von Moria ist keine „humanitäre Katastro- „EU-Türkei-Deal“ und die gewaltsamen Push-Backs ge- phe“, sondern Ergebnis einer europäischen Politik, die gen Geflüchtete in der griechischen Ägäis, also die Ge- auf der Auslagerung der Verantwortung für Flüchtlinge samtheit des Moria-Komplex, sind das Ergebnis dieser und Migrant:innen basiert. Durch den „EU-Türkei-Deal“ Politik der Auslagerung von Migrationskontrollen. und den Aufbau von Lagern an den EU-Außengrenzen ist etwas entstanden, was hier „Moria-Komplex“ genannt werden soll. Durch den Brand ist zwar das konkrete La- Wie kam es zur Politik der Auslagerung? ger zerstört worden, aber nicht der Moria-Komplex. Alle in den Moria-Komplex verwickelten Akteur:innen tragen Die Politik der Auslagerung reicht zurück zu den Ursprün- unmittelbar oder mittelbar zum Fortbestehen des Lager- gen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Ende systems und der Entrechtung von Geflüchteten bei. Im der 1990er und Anfang der 2000er Jahre verhandelten Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen dabei: die EU-Mitgliedstaaten über europäische Asylregeln. Konflikte entstanden vor allem rund um die sog. Dub- -> Die Verantwortung der EU, der griechischen Regierung lin-Verordnung. In ihr ist bis heute geregelt, wo Asylsu- und der Regierungen anderer europäischer Mitglied- chende in der EU ihr Asylverfahren durchlaufen müssen. staaten, Ein EU-Mitgliedstaat wird unter anderem verantwortlich für das Asylverfahren, wenn er nicht verhindert, dass -> die Verantwortung der internationalen Organisatio ein:e Asylsuchende:r illegal europäisches Territorium be- nen, vor allem des UN-Flüchtlingshilfswerks, treten hat. Weil Asylsuchende ohne gültige Pässe keine Flugzeuge zur Flucht benutzen können und daher über -> die Verantwortung der Justiz für die rechtsstaatliche die lebensgefährlichen Land- und Seewege fliehen müs- Kontrolle der EU-Hotspots, sen, führt das Dublin-System dazu, dass hauptsächlich die Staaten an den EU-Außengrenzen für Asylverfahren -> und die Verantwortung privater Hilfsorganisationen, zuständig sind. Schon bei der ursprünglichen Beschluss- die in den Lagern aktiv sind. fassung über die Dublin-Verordnung kritisierten die Re- gierungen von Italien und Griechenland vehement dieses Für diese Untersuchung wurden im Zeitraum zwischen unsolidarische Aufnahmesystem, mussten aber letzten Dezember 2020 bis März 2021 Gerichtsurteile, wissen- Endes unter dem Druck der zentraleuropäischen und in schaftliche Studien und Presseberichte ausgewertet. der EU dominanten Staaten den Regeln zustimmen. Da- Hinzukommen insgesamt zehn selbst durchgeführte durch hatten sich die Befürworter:innen einer rigorosen Interviews bzw. Hintergrundgespräche mit Journalist:in- Grenzabschottung aus den zentraleuropäischen Staaten nen, Wissenschaftler:innen, Anwält:innen und NGO-Mit- wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland durch- arbeiter:innen, die als Expert:innen zum Moria-Komplex gesetzt. Für politische Akteur:innen aus Deutschland, Stellung nehmen. die auf eine Politik der Auslagerung setzen, galt die Dub- lin-Verordnung zeitweilig als Erfolg: Gab es in Deutsch- land die gesamten 1990er Jahre hindurch stets eine sechsstellige Anzahl von Asylanträgen, nahm diese Zahl kurz nach der Europäisierung des Flüchtlingsrechts rapi- Die Politik der Auslagerung von de ab und erreichte im Jahr 2008 mit nur 28.018 Asylan- Migrationskontrollen trägen einen historischen Tiefstand. Seit 30 Jahren verfolgen die europäischen Innenminis- Die Außengrenzenstaaten versuchen seitdem, die Ver- terien in der Migrationskontrollpolitik ein Ziel: Auf dem antwortung der Flüchtlingsaufnahme, die Zentraleuropa Papier soll das individuelle Asylrecht, das unter anderem ihnen alleine aufbürdet, an außereuropäische Drittstaa- in Art. 18 der EU-Grundrechtecharta normiert ist, erhalten ten weiterzuschieben. Spanien und Italien schlossen bleiben. Aber faktisch sollen Geflüchtete keinen Zugang beispielsweise Mitte der 2000er Jahre Abkommen mit
6 Der Moria-Komplex nord- und westafrikanischen Staaten ab, um dorthin die chenden nach Griechenland im Rahmen der Dublin-Ver- Migrationskontrolle auszulagern. Die Politik der Auslage- ordnung als menschenrechtswidrig beurteilten, weil das rung ist dabei tief verstrickt in neokoloniale Machtver- griechische Asylsystem systemische Mängel aufweise.7 hältnisse, indem die ehemaligen europäischen Kolonien Infolge der Entscheidungen stellten die EU-Mitgliedstaa- durch Entwicklungshilfegelder und andere finanzielle Zu- ten tatsächlich bis 2016 Überstellungen ein. wendungen in die Migrationskontrolle Europas integriert werden.5 Seit 2015 werden auch subsaharische Staaten Die Niederschlagung der Aufstände, die im Westen immer stärker unterstützt, Grenzkontrollen weit im Vor- „Arabischer Frühling“ genannt werden, die weltweite feld der Abfahrten von Geflüchteten in Richtung der EU Eskalation in Kriegs- und Krisenregionen und die Re- zu verhindern. duzierung der Mittel für die materielle Versorgung von Flüchtlingscamps in benachbarten Regionen durch die Auch in Griechenland hatte die Politik der Auslagerung internationale Gemeinschaft, sorgten ab 2014/15 für eine massive Auswirkungen. Weil die Grenzabkommen im Mit- beispiellose Zunahme der Flüchtlingsbewegungen nach telmeer zeitweilig effektiv funktionierten, verlagerten Europa. Über die Türkei flohen wöchentlich zehntausen- sich die Fluchtrouten von Geflüchteten zum Ende der de Menschen auf die griechischen Inseln in der Ägäis. 2000er Jahre hin immer stärker nach Griechenland, ei- Die griechische Regierung unter der linken Partei Syriza nem traditionellen Auswanderungsland, das weder über stellte für kurze Zeit die Push-Back-Operationen der Vor- ein Asylgesetz noch ein funktionsfähiges Aufnahmesys- gängerregierungen ein. Auf diese Weise gelang es noch tem verfügte. Geflüchtete wurden bei ihrer Ankunft zum mehr Menschen, die Inseln zu erreichen und von dort Teil willkürlich inhaftiert und menschenunwürdigen Auf- nach Zentraleuropa weiter zu fliehen. Auf Lesbos gab nahmebedingungen ausgesetzt, wie der international es zu dieser Zeit zahlreiche pro-migrantische Unterstüt- vielbeachtete Bericht „The truth may be bitter but it must zungsstrukturen, die sich in der humanitären Aufnahme be told“ der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL aus der Geflüchteten engagierten. dem Jahr 2007 belegt. Schon damals stand die Insel Lesbos in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Im dortigen Lager Pagani gab es besonders schwere Vorfälle von un- Eine neue Politik der Auslagerung auf europä- menschlicher Behandlung, auch gegenüber minderjäh- ischem Territorium rigen Geflüchteten. Die griechische Regierung schloss das Lager Ende 2009 nach dem gestiegenen öffentlichen Dass auf den griechischen Inseln seit 2016 Lager zur Druck. Festsetzung und Inhaftierung von Schutzsuchenden entstanden, reiht sich ein in eine jahrzehntelange Politik Auch in den folgenden Jahren war Griechenland ein der Auslagerung von Migrationskontrollen, bei der Grie- Hauptankunftsland für Geflüchtete, die nach Europa flo- chenland stets als Stellvertreter für die Interessen der hen. Die griechische Regierung reagierte auf die Ankünf- zentraleuropäischen Mitgliedstaaten herhalten musste. te mit Repressionen in Form von brutalen Push-Backs in Bilaterale Abkommen, Hotspots und Abschiebehaftan- der Evros-Region. Zeitweilig stand sogar im Raum, einen stalten, wie sie auf Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos Zaun entlang der Landgrenze zur Türkei zu errichten.6 Im auf Drängen der EU installiert wurden, waren daher keine Jahr 2010 fand zudem der allererste Einsatz von Schnell- prinzipiell neuen Instrumente der Migrationskontrollpoli- eingreiftruppen der Grenzschutzagentur Frontex im Ev- tik.8 Und doch hat das Lager- und Entrechtungssystem ros-Gebiet statt. Neben der Repression gegen Geflüchte- des Moria-Komplexes eine neue Qualität: Nicht nur die te führte auch die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise einzelnen Mitgliedstaaten, sondern die EU selbst war in dazu, dass Geflüchtete in Griechenland besonders mise- das Zustandekommen des „EU-Türkei-Deals“ involviert9 rablen Aufnahmebedingungen ausgesetzt waren, u.a. (1) und zweitens entstand auf den Inseln ein menschen- Obdachlosigkeit. All dies zusammen führte dazu, dass rechtswidriges Lagersystem, das auch die Verantwortli- zunächst der Europäische Gerichtshof für Menschen- rechte im Januar 2011 und später auch der Europäische 7 Europäischer Gerichtshof, C-411/10 N.S., C-493/10, M.E. u.a., Urteil vom Gerichtshof im Dezember 2011 Rückführungen von Asylsu- 21.12.2011; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, M.S.S. gegen Griechenland und Belgien, Urteil vom 21.01.2011, Individualbeschwerden- ummer 30696/09. 5 Die Journalist:innen Christian Jakob und Simone Schlindwein haben in 8 Kuster/Tsianos 2016, S. 5f.; Tazzioli/Garelli, 2020. ihrem Buch Diktatoren als Türsteher Europas dieses System detailreich beschrieben, Jakob/Schlindwein, 2017. 9 Das ist im Übrigen ein Trend, der sich seit dem Jahr 2015 insgesamt ver- stärkt hat: Die EU ist auf Grundlage ihrer „European Agenda on Migration“, 6 Daran knüpft auch die rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsident die im Mai 2015 vorgestellt wurde, immer stärker in die Verhandlungen mit Mitsotakis an, die bis April 2021 einen 27 Kilometer langen Zaun an der Drittstaaten involviert, zum Beispiel auch im Rahmen des Khartoum-Pro- Grenze zur Türkei fertiggestellt haben will. zesses.
Der Moria-Komplex 7 chen der EU in dieser Form nicht auf europäischem Boden Akteurin wie die türkische Regierung gestärkt, die nun haben wollten, weil die Migrationskontrolle eigentlich an keine nachdrückliche außenpolitische Kritik seitens der Drittstaaten ausgelagert werden sollte (2). EU an Repressionen gegen Kurd:innen, Geflüchtete und politische Oppositionelle mehr fürchten muss, da sie die (1) Die EU und die Mitgliedstaaten reagierten auf die Flüchtlinge im Land jederzeit als Druckmittel einsetzen Flüchtlingsbewegungen von 2015 mit dem Versuch, die kann, indem sie sie in Richtung Europa weiterziehen offensichtlich gescheiterte Politik der Auslagerung zu lässt.13 wiederholen.10 Donald Tusk, der damalige EU-Ratsprä- sident sagte, die „Tage der irregulären Einwanderung“ Auch die Syriza-Regierung stimmte letztlich dem Deal zu, seien vorbei. Mit der Türkei als wichtigstem Transitland obwohl sie in ihrem Programm eine progressive Migrati- wurde eine Vereinbarung gefunden. Schlossen zuvor onspolitik versprochen hatte. Die Wirtschaftskrise hatte stets einzelne EU-Mitgliedstaaten solche Abkommen zur die Handlungsspielräume der griechischen Regierung, Auslagerung der Migrationskontrollen ab, agierte in die- auch aufgrund ihres konsequenzlosen Agierens nach sem Falle die EU als Akteurin – auch wenn der das Gericht dem „Nein“ („OXI“) gegen das Spardiktat, verringert. Die der Europäischen Union dies später anders bewerten EU drohte Griechenland gleichzeitig mit dem Ausschluss sollte.11 Der Europäische Rat veröffentlichte am 18. März aus der Eurozone und dem Schengenraum.14 Zudem gab 2016 eine Pressemitteilung, in der eine Absichtserklärung es innerhalb der griechischen Regierung politische Kräf- präsentiert wurde, die seither unter dem Namen „EU-Tür- te, die eine Abschottung gegenüber Migrierenden befür- kei-Deal“ bekannt ist. Zentrale Elemente des Deals be- worteten. Die Koalitionspartnerin von Syriza, die rechts- standen darin, alle neu eingereisten Flüchtlinge von nationale ANEL, unterstützte das rigorose Vorgehen den griechischen Inseln in die Türkei zurückzubringen, gegen Geflüchtete. für jeden abgeschobenen syrischen Geflüchteten einen anderen syrischen Geflüchteten aus der Türkei in der EU (2) Durch den „EU-Türkei-Deal“ und den europäischen aufzunehmen (sog. „1:1-Regelung“); und im Gegenzug zur Hotspot-Ansatz wandelten sich die griechischen Regis- Zahlung von drei Milliarden Euro und der Aussicht auf eine trierungszentren auf den Inseln in „Sonderrechtszonen“ Erleichterung der VISA-Regeln, versicherte die Türkei, ir- und „Freiluft-Gefängnisse“,15 wie die Migrationsforscherin reguläre Abfahrten in Richtung der EU zu verhindern. Ei- Valeria Hänsel für die NGO bordermonitoring.eu in einem ner der Vordenker des Deals, Gerald Knaus von der Euro- umfassenden Bericht dokumentiert hat. Die EU präsen- pean Stability Initiative, behauptete, der Deal sollte dazu tierte das Hotspot-Konzept im Rahmen ihrer Europäi- dienen, die liberale Ordnung in Europa und das Flücht- schen Migrationsagenda im Mai 2015, konkretisiert wurde lingsrechtsrechtssystem gegen die Angriffe von autoritä- es durch eine sog. „Explanatory Note“ der EU-Kommis- ren Akteuren, z.B. von Seiten der ungarischen Regierung sion.16 Das Konzept sah vor, Staaten an den Außengren- unter Viktor Orbán, zu erhalten.12 Die Auslagerung der zen zu bestimmen, die besonders von der Aufnahme von Flüchtlingsaufnahme an die Türkei sollte zu einer Entlas- Geflüchteten betroffen sind und sie durch logistische, tung führen. Doch gerade der 1:1-Mechanismus und der personelle und finanzielle Ressourcen über die EU-Agen- Umstand, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonventi- turen zu unterstützen. Der Ansatz kann also ursprünglich on nicht vorbehaltlos unterzeichnet hat, untergraben das sogar als „Solidaritätsmechanismus“17 verstanden wer- internationale Flüchtlingsrecht und das Anrecht auf in- den, der aber zugleich von Anfang darauf basierte, die dividuelle Verfahren. Anwält:innen und Menschenrechts- unsolidarische Zuständigkeitsverteilung in der EU durch organisationen gelang es vor den Gerichten in Einzelver- das Dublin-System nicht in Frage zu stellen. Durch den fahren, die Vermutung, es handele sich bei der Türkei um „EU-Türkei-Deal“ erhielt das Hotspot-System zudem die einen sicheren Drittstaat, zu widerlegen. Die Mechanis- vorrangige Aufgabe, die Grundlage für schnelle Rückfüh- men des europäischen Rechtsschutzsystems, die aus rungen in die Türkei zu legen. guten Gründen schnelle Rückführungen ohne Verfahren verhindern, waren in den „EU-Türkei-Deal“ schlicht nicht Lager, wie sie daraufhin auf den griechischen Inseln ent- eingepreist, sodass von Anfang an klar war, dass die Er- wartung, eine schnelle „Lösung“ herbeizuführen, nicht 13 Siehe dazu Lenz 2020b. erfüllt werden konnte. Außerdem wurde dadurch eine 14 Bartholomew/Wainwright, 2020, S. 57. 15 Hänsel, 2019, S. 7 und S. 47. 10 Buckel 2018. 16 Europäische Kommission (COM), Explanatory note on the „Hotspot“ 11 Siehe dazu vertiefend das Kapitel „Das Scheitern des Rechts“ in dieser approach, 2015, siehe: http://www.statewatch.org/news/2015/jul/eu-com- Untersuchung. hotsposts.pdf 12 Zitiert nach: Pallister-Wilkins, 2020, S. 999f. 17 Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 4.
8 Der Moria-Komplex standen sind, existierten und existieren bereits in ähnli- kein großer Plan, der vorsätzlich auf die Schaffung sol- cher Form in außereuropäischen Drittstaaten wie Maure- cher Zustände zielt, sondern vielmehr die jahrzehnte- tanien oder Tunesien.18 Bisher war es der EU gelungen, lange Planlosigkeit der EU, wie sie eine solidarische und diese Form der Lager vom europäischen Territorium fern- menschenrechtsbasierte Flüchtlings- und Migrationspo- zuhalten. In neokolonialer Ignoranz interessierte sich die litik gestalten soll. europäische Öffentlichkeit kaum für die geographisch weit entfernten Lager. Die Sozialwissenschaftlerin Polly Pallister-Wilkins schreibt, der Globale Norden zielte in der Das Scheitern der EU und ihrer Mitgliedstaaten Migrationspolitik stets darauf ab, „entfernten ‚Fremden‘ in Moria zu helfen und zugleich ‚Fremde‘ auf Distanz zu halten.“19 Flüchtlingslager seien ein wirkungsvolles Instrument, um Der deutsche Entwicklungshilfeminister Gerd Müller diese Strategie umzusetzen, also humanitäre Hilfe zu ver- (CSU) sagte nach einem Besuch im Lager Moria: „Wer sprechen, aber keine Verantwortung für die Aufnahme von in diesem Lager einmal war, der wird nicht von Flücht- Geflüchteten zu übernehmen. Doch durch den „Sommer lingslager sprechen, sondern das ist ein Gefängnis.“ Er der Migration“ haben sich die Voraussetzungen für eine schob zudem hinterher: „Und ich sage es noch mal: Ich solche Politik der Auslagerung verändert: „Die ‚Flücht- war im Südsudan, Nordirak, im Dadaab, dem größten lingskrise‘ in Europa hat diese eurozentrische Vorstellung afrikanischen Flüchtlings-Camp. Nirgendwo herrschen vom Humanitarismus herausgefordert. Die ‚Fremden‘ sind solche unterirdischen Zustände. Das heißt, jetzt muss nicht mehr auf Distanz zu den Europäern, sie sind in den sofort geholfen werden. Die Menschen müssen verteilt europäischen Städten.“20 Der Hotspot-Ansatz war ein Ver- werden.“21 Minister Müller brachte auf den Punkt, was such, vor allem der zentraleuropäischen Staaten, mit dem viele Politiker:innen verschleiern wollen: Die EU hat auf Problem umzugehen, dass sich die Politik der Auslage- den griechischen Inseln Zustände hervorgebracht und rung offensichtlich als nicht effektiv und stabil erwiesen geduldet, die konträr zu den Standards des europäischen hatte. Anstatt Flüchtlinge in den Drittstaaten in Lagern zu Werte- und Rechtssystems stehen, folglich kann nur die kasernieren, sollten sie nun an den europäischen Außen- Umverteilung der Geflüchteten unter Berücksichtigung grenzen aufgehalten werden. Damit hat sich die Strategie, ihrer Bedürfnisse, nicht ihr weiteres Festsetzen in den „entfernten ‚Fremden‘ zu helfen und zugleich ‚Fremde‘ auf Lagern ein verantwortungsvoller politischer Schritt sein. Distanz zu halten“ direkt auf das europäische Territorium Doch diese Verantwortung will in der EU niemand über- selbst verlagert. Es macht allerdings einen Unterschied, nehmen. Der Moria-Komplex demonstriert das Scheitern ob ein solches Lager im Globalen Süden existiert oder in der griechischen Regierung, der Europäischen Union und Europa, das ein europäisches Flüchtlingsrecht mit ent- der EU-Mitgliedstaaten in der Flüchtlingspolitik. sprechenden Aufnahmestandards und Verfahrensrechten etabliert hat. Deshalb werden die Hotspots auf den grie- chischen Inseln von der Politik gerade nicht wie Lager auf Die Verantwortung der griechischen Regierung einem europäischen Territorium behandelt, sondern wie die Lager außerhalb der EU – würde die EU sich bei ihrem Der Begriff „Hotspot“ stammt eigentlich aus dem mili- politischen Handeln wirklich an den selbstgesetzten Men- tärischen und sicherheitspolizeilichen Wortschatz und schenrechten orientieren, dürfte sie ein solches Lagersys- bezeichnete bestimmte räumliche Zonen, in denen der tem nicht aufrechterhalten oder dulden. Einsatz des Militärs oder verstärkte Polizeikontrollen als notwendig erachtet werden.22 Vor diesem Hintergrund ist Die EU-Hotspots auf den griechischen Inseln sind also die es nur konsequent, dass zunächst das griechische Ver- logische Konsequenz einer Politik der Auslagerung bzw. teidigungsministerium unter dem Rechtsnationalisten der organisierten Verantwortungslosigkeit seitens der EU Panos Kammenos von der ANEL-Partei mit dem Aufbau und ihrer Mitgliedstaaten. Hinter den menschenunwürdi- der EU-Hotspots betraut wurde – später übertrug man die gen Lebensbedingungen der Geflüchteten in den Lagern Verwaltung der Lager auf das neu geschaffene Migrations- und ihrer fehlenden Umverteilung innerhalb der EU steht ministerium in Athen. Doch bis heute übernimmt das grie- chische Militär eine zentrale Rolle bei der Verwaltung der 18 Einige EU-Mitgliedstaaten versuchen schon seit langem, dem „Vor- Camps, der Flüchtlingsaufnahme oder der Verteilung von bild“ der harten Grenzabschottung Australiens folgend, eine „australische Nahrungsmitteln. Dabei hat das Militär keine Qualifikation Lösung“ durchzusetzen, die einen systematischen Aufbau von Lagern in den Drittstaaten vorsieht. Diese Vorschläge scheiterten auch am Widerstand der für die Flüchtlingsaufnahme. afrikanischen Regierungen, siehe Buckel/Pichl 2018. 19 Pallister-Wilkins, 2020, S. 997, eigene Übersetzung. 21 Deutschlandfunk vom 13.09.2020. 20 Pallister-Wilkins, 2020, S. 999, eigene Übersetzung. 22 Neocleous/Kastrinou, 2016.
Der Moria-Komplex 9 Griechenland hat von der EU seit 2015 über den Asylum bauen nicht wir, sondern die Nichtregierungsorganisati- Migration Integration Fund (AMIF) und den Internal onen. Für die Sanitäranlagen ist UNICEF zuständig.“ Er Security Fund (ISF) circa 2,8 Milliarden Euro für die gebe für die Zustände niemandem die Schuld, auch nicht Flüchtlingsaufnahme und -versorgung erhalten: „Das den Nichtregierungsorganisationen. „Ich sage nur, dass ist im Verhältnis zur Zahl der Aufgenommenen mehr, wir uns gemeinsam mit der Europäischen Kommission als jedes andere Land der Welt pro Kopf bekommen entschieden haben, das Geld und die Aufträge für diese hat“.23 Unklar ist, wie viel von dem Geld tatsächlich grundlegenden Dienstleistungen direkt an diese Orga- in die Flüchtlingsaufnahme geflossen ist und wie vie- nisationen zu vergeben.“ Schonungslos zeigt der grie- le Gelder nicht abgerufen wurden.24 Dennoch drängt chische Migrationsminister, wie im Moria-Komplex die sich anhand dieser Summen die Frage auf, warum es Verantwortung zwischen der EU, den Nationalstaaten, mit solchen Mitteln nicht gelingt, eine europarechts- den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen so lan- konforme und menschenwürdige Aufnahme zu ge- ge hin- und hergeschoben wird, bis niemand mehr für die währleisten. Auch in der EU stellt man sich offenbar menschenrechtswidrigen Zustände in den EU-Hotspots diese Frage. Seit 2018 ermittelt die Brüsseler Antikor- politisch und juristisch verantwortlich gemacht werden ruptionsbehörde OLAF, ob europäische Gelder, die für kann.27 die Flüchtlingsaufnahme gedacht waren, zweckent- fremdet wurden. Eine abschließende Bewertung des Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Sachverhalts steht bislang noch aus. Dass es im grie- in seiner ständigen Rechtsprechung festgestellt, dass chischen Staatsapparat Korruption gibt, ist hingegen EU-Mitgliedstaaten keine Asylsuchenden in Staaten hinlänglich bekannt. Im Falle der Gelder für die Flücht- überstellen dürfen, in denen menschenwürdige Lebens- lingsaufnahme hatte die Zeitung Fileleftheros in einem verhältnisse nicht gewährleistet sind.28 Erst im Januar Artikel vom September 2018 behauptet, Gelder der EU 2021 hatte zudem das Oberverwaltungsgericht Nord- seien an Wirtschaftspartner des Verteidigungsminis- rhein-Westfalen entschieden, dass Schutzsuchende in ters Kammenos geflossen, die sich u.a. um die Lebens- Griechenland ihre „elementarsten Bedürfnisse (‚Bett, mittelversorgung kümmern sollten. Laut der Zeitung Brot, Seife‘) für einen längeren Zeitraum nicht befriedi- verzichtete man dabei auf ordentliche Ausschreibun- gen können“.29 In solchen Urteilen wird auch mittelbar gen der Verträge. In Reaktion auf den Artikel erfolgten das Versagen der griechischen Regierung deutlich, sich strafrechtliche Ermittlungen gegen drei Journalist:in- an das Europarecht bei der Flüchtlingsaufnahme zu hal- nen der Zeitung, die dann auch kurze Zeit in Untersu- ten. Das Urteil bezog sich nicht ausschließlich auf die chungshaft saßen. Panaiotis Lampsias, Chefredakteur EU-Hotspots auf den Inseln, sondern zeigt die insgesamt von Fileleftheros sagte, „das Geld war vorhanden, um menschenunwürdige Situation für Asylsuchende im grie- das Lager in ein Zentrum zu verwandeln, das dem Hil- chischen Asylsystem. Solche Urteile, so wichtig sie sind, ton-Hotel hätte ähneln können. Stattdessen ist Moria liefern aber lediglich rechtsstaatlichen Schutz für Asyl- eine nationale Schande geworden.“25 suchende, die bereits aus Griechenland fortgekommen sind, indem ihre Rückführung aufgehalten wird – für die Die griechische Regierung hat die Aufnahme und Ver- Bewohner:innen der Lager, denen ganz konkret „Brett, sorgung von Geflüchteten in den Lagern in Teilen auch Brot und Seife“ vorenthalten werden, haben solche Ent- an internationale Organisationen und private Hilfsor- scheidungen keine unmittelbare Wirkungskraft. ganisationen outgesourct – behält dabei aber die ad- ministrative und polizeiliche Kontrolle über das Camp. Der Moria-Komplex zeichnet sich durch eine Unzustän- Wie das System des gegenseitigen Hin- und Herschie- digkeitsstruktur aus, durch eine selektive An- und Ab- bens von Verantwortung funktioniert, demonstrierte wesenheit staatlicher Souveränität: Denn auf der einen der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi in einem Interview, das er Anfang Februar 2021 der ZEIT 27 Dies zeigt sich auch auf der lokalen Ebene, indem die Verwaltung von Mytilene ebenfalls keine Verantwortung für die Zustände auf Lesbos über- gegeben hat.26 Auf die Frage, warum die Geflüchteten nehmen will und gegen die Proteste von Geflüchteten und Bewohner:innen den Winter trotz des vielen Geldes der EU in Zelten ver- mit der Polizei vorgeht, siehe Lenz 2020a. bringen müssen, sagte er, das UN-Flüchtlingshilfswerk 28 Zur Frage der Gewährleistung ausreichender materieller Lebensverhält- koordiniere diese Aufgabe. „Die Duschen und Toiletten nisse, siehe EGMR, M.S.S. gegen Griechenland und Belgien, Urteil vom 21.01.2011, Individualbeschwerdenummer 30696/09; EGMR, Tarakhel gegen 23 Thomsen/Hausdorf 2020. Schweiz, Urteil vom 04.11.2014, Individualbeschwerdenummer 29217/12; zur Frage der Gewährleistung von Wohnraum, siehe: EGMR, Chapman 24 Howden/Fotiadis 2017. gegen Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18.01.2001, Individualbeschwerde- nummer 27238/95. 25 Zitiert nach The Guardian vom 26.09.2018, eigene Übersetzung. 29 Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Aktenzeichen 11 A 26 Jacobsen/Zacharakis 2021. 1564/20.A und 11 A 298/20.A., Urteil vom 21.01.2021.
10 Der Moria-Komplex Seite werden die Geflüchteten durch staatliche Zwangs- dig, Anhörungen in den sogenannten Unzulässigkeits- maßnahmen wie der Residenzpflicht in den Lagern fest- verfahren durchzuführen, in denen entschieden wird, ob gehalten, auf der anderen Seite will niemand für die die Türkei für die antragsstellende Person ein angeblich miserablen Lebensbedingungen der Geflüchteten ver- „sicherer Drittstaat“ ist. Trifft dies nach Ansicht von EASO antwortlich sein. Wenn es Probleme in der materiellen zu, folgen die griechischen Behörden dieser „legal opini- Versorgung der Geflüchteten gibt, keinen Zugang zu ge- on“ auch in der Regel.33 „EASO formt also die griechische sunden Lebensmitteln oder einer funktionierenden Ge- Asylverwaltungspraxis in den Hotspot-Einrichtungen in sundheitsversorgung, behauptet die Regierung schlicht, Griechenland ganz maßgeblich.“34 Elli Kriona Saranti ar- andere Akteur:innen im Lager hätten diesen Teil der beitet als Rechtsanwältin auf den Inseln und hat viele Verwaltung übernommen. Nur kann man gegen interna- Mandant:innen in den Unzulässigkeitsverfahren beglei- tionale Organisationen und private Hilfsorganisationen tet. Sie macht im Gespräch für diese Untersuchung da- kaum juristisch vorgehen. Eigentlich ist das europäische rauf aufmerksam, dass sich viele Wissenschaftler:innen, Recht in dieser Hinsicht eindeutig: Die Staaten können Journalist:innen und NGO-Mitarbeiter:innen auf die un- sich nach der EU-Aufnahmerichtlinie und EU-Asylverfah- würdigen Lebensbedingungen in den Hotspots konzent- rensrichtlinie nicht ihrer Pflichten entledigen, denn die rieren, aber ein zentraler Hebel der Entrechtungsstruktur Flüchtlingsaufnahme und das Asylverfahren sind genu- kaum betrachtet wird: Das rechtsstaatlich nicht haltbare ine hoheitliche Aufgaben. Doch solche juristischen Ver- und unfaire System der Asylanhörungen durch EASO und antwortlichkeiten vor Gericht zu erstreiten ist schwierig.30 die griechischen Behörden. Das European Center for Con- Was in Moria fehlt, ist staatliche Souveränität. Und zwar stitutional and Human Rights (ECCHR) aus Berlin hat in ei- staatliche Souveränität in ihrer Form, Rechte zu gewäh- ner Analyse herausgearbeitet, dass EASO in den Hotspots ren und Staaten haftbar zu machen, wenn Rechte ver- die europarechtlichen Vorgaben und Qualitätsstandards letzt werden. für Asylanhörungen missachtet.35 Zwar würden auch faire und europarechtskonforme Asylverfahren nicht das Hot- spot-System selbst grundlegend in Frage stellen, aber Die Verantwortung der Europäischen Union es ist von zentraler Bedeutung, Schutzsuchenden einen Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren zu erstreiten, in Die Europäische Union ist durch ihren Hotspot-Ansatz und denen ihre Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention den „EU-Türkei-Deal“ verantwortlich dafür, die Ursachen und der europäischen Anerkennungsrichtlinie geachtet für die Unzuständigkeitsstruktur und die systematische werden. Möchte man die Entrechtungsstruktur des Mo- Entrechtung von Geflüchteten in den Lagern geschaffen ria-Komplexes angehen, muss also die Verantwortung zu haben. Selbst Gerald Knaus, einer der Architekten des der EU für die rechtsstaatlich unhaltbaren Asylverfahren „EU-Türkei-Deals“, räumt mittlerweile ein: „Es ist eine klar benannt werden. strategische Entscheidung, genau durch diese Bilder von Menschen, die leiden, andere davon abzuhalten, zu kom- Mit Frontex ist eine weitere zentrale Agentur der EU auf men. Das ist derzeit die Politik der Europäischen Union.“31 den griechischen Inseln im Einsatz. Schon lange haben Akteur:innen wie Alarmphone/Watch the Med oder Mare Das Hotspot-System sollte ursprünglich dazu dienen, Liberum Rechtsbrüche der Agentur in der Ägäis bzw. ille- Orte an der Außengrenze zu identifizieren und zu bestim- gale Pushbacks durch die griechische Küstenwache un- men, an denen die EU die Mitgliedstaaten bei der Rechts- ter Anwesenheit von Frontex dokumentiert.36 Diese Vor- anwendung operativ unterstützt. Die EU hat das Hot- würfe wurden zuletzt durch investigative Recherchen des spot-Konzept aber nie in das Europarecht überführt, es SPIEGEL und Bellingcat sowie der sog. „Frontexfiles“37 ist eine weitgehend informelle Rechtspraxis geblieben, auch in größeren Medien belegt, wodurch Frontex deut- die den Exekutivorganen vor Ort einen weiten und kaum rechtlich kontrollierbaren Gestaltungsspielraum ein- räumt.32 Durch das Hotspot-Konzept sind die EU-Agen- 33 Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 28. turen, vor allem Frontex (Europäische Agentur für die 34 Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 49. Grenz- und Küstenwache) und EASO (Europäisches Asy- 35 Siehe dazu: https://www.ecchr.eu/fileadmin/Fallbeschreibungen/ECCHR_ lunterstützungsbüro), in den Lagern und rund um diese Case_Report_EASO_Greek_Hotspots_042019.pdf ständig präsent. EASO ist unter anderem dafür zustän- 36 Siehe zum Beispiel einen Bericht von Alarmphone über Push-Backs von Frontex kurz nach der Vereinbarung über den „EU-Türkei-Deal“ vom 30 Siehe dazu den Abschnitt „Scheitern des Rechts“ in dieser Untersuchung. 16.06.2016, siehe: https://alarmphone.org/de/2016/06/16/statement-watcht- hemed-alarm-phone-prangert-illegale-push-back-operation-in-anwesen- 31 Zitiert nach Ghassim/Schayani 2021. heit-von-frontex-an/. 32 Vergleiche dazu vertiefend Ziebritzki/Nestler, 2017, S. 2ff. 37 Siehe: https://www.frontexfiles.eu.
Der Moria-Komplex 11 lich unter öffentlichen Druck geraten ist. Die Agentur be- Flüchtlinge aufzunehmen. Von den 1553 Geflüchteten, herrscht das Spiel der gegenseitigen Zuschiebung von die umverteilt werden sollen, sind bis Februar 2021 aber Verantwortung jedoch meisterhaft: Da die Befehlsgewalt nur 449 in Deutschland angekommen. für Einsätze letztlich bei den Mitgliedstaaten liege („com- mand and control“), sei Frontex für Menschenrechtsver- Die Aufnahme von Geflüchteten durch die Mitgliedstaaten letzungen, die im Rahmen von Operationen passieren, wird in der Regel mit einer „schnellen Hilfe“ und einem „mo- nicht verantwortlich. Dabei spricht nicht nur die Fron- ralischen Humanitarismus“ begründet. Eine solche Form tex-Verordnung mittlerweile von einer „dualen Verant- des „humanitären Regierens“ führt dazu, dass die bloß wortlichkeit“ zwischen der Agentur und den Mitgliedstaa- freiwillige humanitäre Hilfe die durchsetzbaren Ansprüche ten38, sondern zahlreiche journalistische Berichte legen und Rechte von Marginalisierten in den Hintergrund treten nahe, dass die Grenzagentur in gewaltsame Push-Backs lässt, schreibt der Ethnologe Didier Fassin.42 Im Falle der verwickelt ist.39 Umverteilung von Geflüchteten und der angeblich „groß- zügigen Aufnahmebereitschaft Deutschlands“ geht ver- loren, dass die deutsche Bundesregierung systematisch Die Verantwortung von EU-Mitgliedstaaten wie die Rechte von Asylsuchenden missachtet. Geflüchteten, Deutschland die bereits Familienangehörige in Deutschland haben, steht nach der Dublin-III-Verordnung das Recht zu, nach Im Jahr 2015 verständigten sich die EU-Mitgliedstaaten Deutschland einzureisen und dort das Asylverfahren fort- auf eine Umverteilung (sog. „Relocation“) von 160.000 zusetzen (Art. 9 und 10 Dublin-III-Verordnung). Der Bericht Geflüchteten aus Italien und Griechenland. Doch fünf Refugee Families Torn Apart von PRO ASYL und Refugee Jahre danach sind nur knapp 34.000 Geflüchtete tat- Support Aegean zeigt, wie die Bundesregierung die Ver- sächlich umverteilt worden. Auch die Verantwortung der fahren zur europarechtlichen Familienzusammenführung, deutschen Bundesregierung ist an dieser Stelle eindeutig einem der wenigen letzten legalen Ausreisewege von den zu benennen. 27.000 Geflüchtete wollte die Bundesrepu- Inseln, systematisch blockiert. Sowohl 2018 als auch 2019 blik Deutschland aufnehmen, aus Griechenland kamen lehnten die deutschen Behörden jeweils zwischen 60 bis im Rahmen der Relocation jedoch nur etwas mehr als 75 Prozent der Übernahmeersuchen aus Griechenland ab. 5.300.40 Und dabei fallen Schätzungen von Hilfsorganisationen zu- folge zwischen 30-40 Prozent der Minderjährigen in Grie- „Die Inseln sind weiterhin völlig überfüllt bei untragbaren chenland unter die Familienzusammenführungsregelun- Zuständen“, schreibt die deutsche Botschaft in Athen gen der Dublin-III-Verordnung.43 in einem internen Schreiben, wie die Plattform Frag- denstaat über eine Anfrage mithilfe des Informations- Die „humanitäre Regierung“ wirkt sich unmittelbar auf freiheitsgesetzes herausgefunden hat.41 Ein ernsthaftes das Flüchtlingsrecht aus. Wem geholfen wird und welche Hinwirken auf eine Evakuierung der Inseln oder eine sub- Personen aus den Lagern verteilt werden, entscheidet stantielle Verbesserung der dortigen Lebenssituation hat sich nicht mehr vorrangig über die Fluchtgründe, die in die deutsche Bundesregierung aber unterlassen. Sie ist der Genfer Flüchtlingskonvention normiert sind, sondern in die unmenschlichen Zustände auf den griechischen anhand der Vulnerabilität, also einer besonderen Verletz- Inseln verstrickt. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, lichkeit. Aber das internationale Flüchtlingsrecht garan- die energisch auf das Zustandekommen des „EU-Tür- tiert nicht nur der Familie mit Kindern, sondern auch dem kei-Deals“ hinarbeitete, der letztendlich die Lager auf alleinstehenden 20jährigen Mann Schutz, wenn seine den Inseln in eine Unzuständigkeitsstruktur überführt Gründe zu fliehen den Kriterien der Genfer Flüchtlings- und die Entrechtung von Geflüchteten bewirkt hat. Nach konvention entsprechen. Die als humanitär angeprie- dem Brand von Moria erklärte sich die Bundesregierung senen Umverteilungsaktionen von den Inseln durch die nach massiven öffentlichen Protesten letztendlich be- EU-Mitgliedstaaten, allen voran der deutschen Bundes- reit, einen kleinen Teil der unbegleiteten minderjährigen regierung, höhlen den Flüchtlingsschutz aus, wenn die Verletzlichkeit, nicht der rechtliche Schutzstatus an ers- 38 Siehe dazu den 12. Erwägungsgrund der Verordnung über die Europäi- ter Stelle steht. Wenn legale Zugangswege und die sub- sche Grenz- und Küstenwache, Verordnung (EU) 2019/1896. jektiven Rechte von Geflüchteten auf diese Weise aus- 39 Siehe beispielhaft: https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluecht- gehebelt werden, dann wird der Rechtsstaat durch eine linge-frontex-in-griechenland-in-illegale-pushbacks-verwickelt exekutive Politik der Gnade ersetzt. -a-00000000-0002-0001-0000-000173654787. 40 Siehe für die Zahlen den Panorama Beitrag von Walter 2020. 42 Fassin, 2011. 41 Siehe hierzu: Fragdenstaat, https://fragdenstaat.de/blog/2020/12/16/aus- wartiges-amt-bestatigt-intern-untragbare-zustande-moria-fluchtlingslagern/. 43 Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, 2019, S. 127.
12 Der Moria-Komplex Schließlich lässt sich auch anhand der politischen Stra- schon lange zum selbstverständlichen Repertoire, um tegie des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian „Kontrolle“ über Flüchtlinge zu haben. In dieser Hinsicht Kurz, einem der Hardliner in der Grenzabschottung, ver- unterscheidet sich der Moria-Komplex erst einmal nicht deutlichen, wie die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten von der Unterbringungssituation in anderen EU-Mit- die Politik der Auslagerung im Moria-Komplex verfol- gliedstaaten – auch in Deutschland gibt es z.B. in den gen. Kanzler Kurz wiederholte stets sein Mantra, dass von Bundesinnenminister Horst Seehofer eingeführten „Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpft Anker-Zentren Entrechtungsstrukturen. Aber Moria ist werden müssen“ – eine Strategie, die darauf abzielt, die noch in einer anderen Hinsicht kein „normales“ Flücht- Verantwortung des Globalen Nordens für die zentralen lingslager. Die selektive Abwesenheit von Souveränität Fluchtursachen wie den Klimawandel oder wirtschaft- durch die griechische Regierung und die fehlenden Zu- liche und soziale Ungleichheit zu negieren. Doch diese ständigkeits- und Verantwortungsstrukturen haben zur Rhetorik wendete Kurz nunmehr auch auf die Lager auf Ausbreitung informeller und klandestiner Machtstruk- dem europäischen Territorium an. In einer Rede vor dem turen in den Lagern geführt: „Hier gilt nur das Gesetz österreichischen Parlament rechtfertigte sich der Kanz- der Gewalt“, wie ein Bewohner des Lagers sagt.46 Am ler der türkis-grünen Koalition dafür, keine Geflüchteten Ende war das Lager Moria weniger ein Flüchtlingslager, aus Moria aufzunehmen: „Wir haben nicht nur 13 000 sondern ein „Slum“, meint Valeria Hänsel, Migrations- Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria […]. Ich habe forscherin von der Universität Göttingen. Oder eine „Fa- im Irak, in Jordanien, im Libanon, in Afrika unzähliges vela“, wie Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL, das Leid bei syrischen Flüchtlingen erlebt. Kommen Sie ein- Lager bezeichnet. Also ein Ort, wie man ihn eher aus den mal mit mir ins Somaliland oder anderswohin: Tausende Megastädten im Globalen Süden kennt. In Moria gab es Menschen in unfassbarer Armut, teilweise unterernährt, mafiöse Strukturen, Bordelle, Drogenhandel, Schatten- furchtbare hygienische Bedingungen. Wenn man das wirtschaft. „Flüchtlingsrechte können nicht in Lagern sieht, […], dann ist eines klar: Wir können definitiv nicht und Siedlungen geschützt werden“, konstatierten die alle Menschen aufnehmen! Wir wollen aber helfen, und Wissenschaftler:innen Guglielmo Verdirame und Barbara die richtige Antwort ist aus meiner Sicht die Hilfe vor Ort.“44 Harrell-Bond in ihrer Untersuchung von Flüchtlingslagern Österreich reagierte auf den Brand von Moria mit einer in Subsahara-Afrika. „Wir haben herausgefunden, dass in Verdoppelung der Mittel für die Auslandskatastrophenhil- Flüchtlingslagern das Recht des Aufnahmestaates prak- fe.45 Diese Rede und diese politischen Maßnahmen sind tisch nicht mehr angewendet wird; Lager sind Orte jen- bezeichnend: Die österreichische Regierung behandelt seits des Rechtsstaates“.47 Mit dem Moria-Komplex sind die Situation in Moria so, als ob es sich bei Griechenland solche Zustände auch auf dem europäischen Territorium nicht um einen EU-Mitgliedstaat handelt, sondern um ein entstanden. Land im Globalen Süden, in dem Geflüchteten „vor Ort geholfen werden muss.“ Auf diese Weise wird das Narrativ einer „humanitären Katastrophe“ befördert und die poli- tische wie rechtliche Verantwortung für den Moria-Kom- plex negiert. Es geht dann nicht mehr darum, dem euro- Das Scheitern der Vereinten Nationen päischen Recht folgend, die solidarische Umverteilung der Geflüchteten aus den Lagern zu organisieren, sondern es Seit Anfang an sind in den Moria-Komplex auch Orga- wird akzeptiert, dass die Menschen dauerhaft dort verhar- ne der Vereinten Nationen verwickelt, allen voran das ren und einkaserniert sind – wie in einem Flüchtlingslager UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und Unicef. Das Mandat in der Nähe von Kriegs- und Krisengebieten. von UNHCR ist eigentlich eindeutig. In der Präambel der Genfer Flüchtlingskonvention steht, die vertragsschlie- ßenden Staaten haben beschlossen, „dass dem Hohen Die „Favelas“ auf den griechischen Inseln Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge die Aufgabe obliegt, die Durchführung der internationalen In der EU-Migrationspolitik gehört die Verbringung und Abkommen zum Schutz der Flüchtlinge zu überwachen“ Kasernierung von Schutzsuchenden in großen Lagern – und zwar in Zusammenarbeit mit den Staaten. UNHCR soll also die Rechte von Geflüchteten verteidigen und die Staaten zur Einhaltung ihrer völkerrechtlichen Pflichten 44 Plenarsitzung des österreichischen Nationalrates, Stenographisches Proto- ermahnen. Das tut die Organisation auch immer wieder. koll der 51. Sitzung vom 23.09.2020. 45 Ebenso mobilisierte die niederländische Regierung, vertreten durch den Minister für Außenhandel und Entwicklung, Gelder aus ihrem Entwick- 46 Zitiert nach Höhler 2019. lungsfonds, der eigentlich für humanitäre Projekte im Globalen Süden gedacht ist. 47 Verdirame/Harrell-Bond, 2005, S. 15, eigene Übersetzung.
Der Moria-Komplex 13 Erst am 28. Januar 2021 appellierte UNHCR an die EU-Mit- Die griechische Regierung hat daher Aufgaben, die nach gliedstaaten gewaltsame Zurückweisungen an den Au- der EU-Aufnahmerichtlinie den Mitgliedstaaten oblie- ßengrenzen, sog. Push-Backs, zu unterlassen. Doch gen, an UNHCR als internationale Organisation ausgela- fragt man Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und gert. Das macht es für die Bewohner:innen des Lagers NGO-Mitarbeiter:innen auf den griechischen Inseln, dann schwierig, Verantwortlichkeiten zu benennen, wenn et- sagen sie, UNHCR sei ein Teil des Problems und nicht der was nicht funktioniert. Shirin Tinnesand arbeitet für die Lösung.48 Die WDR-Journalistin Isabel Schayani schrieb NGO Stand by me Lesvos, die u.a. die Selbstorganisation beispielsweise auf Twitter, UNHCR greife bei Push-Backs von Geflüchteten unterstützt. Sie sagt, die meiste Zeit in Griechenland an Land nicht ein, die Regierung erlaube sei unklar, wer welche Aufgaben und zu welchem Zweck ihnen nicht, Flüchtlinge zu schützen, wenn sie an Land übernimmt. Normalerweise habe jeder Akteur im Lager gegangen sind. „Wie wird UNHCR da seinem Mandat ge- bestimmte Verantwortungsbereiche. Wenn die Behörden recht?“, fragt sie.49 Die Frage drängt sich insgesamt auf, oder internationalen Organisationen aber anfangen ihre wenn man UNHCRs Rolle auf den griechischen Inseln kri- Aufgaben auszulagern, z.B. durch Subkontrakte, dann tisch betrachtet. Die Organisation ist, wenn auch nicht bekommen Akteur:innen Handlungsmöglichkeiten zuer- mit Vorsatz, zu einem Teil der Unzuständigkeitsstruktur kannt, die für diese Tätigkeiten nicht ausgebildet sind. geworden. Dies trug insgesamt zu chaotischen Zuständen auf den Inseln bei, indem es zwischen der EU-Kommission, der griechischen Regierung und dem UNHCR keinen Konsens UNHCR und das Katastrophennarrativ über ein gemeinsames Vorgehen gab.52 In Europa war UNHCR traditionell in die Beratung bei Ge- Begleitet vom Narrativ einer „humanitären Katastrophe“ setzgebungsprozessen und in die Qualitätskontrolle von und durch zusätzliche finanzielle Unterstützung, ver- Asylverfahren involviert. Außerhalb der EU hatte die Orga- größerte UNHCR zudem seinen Personalbestand in Grie- nisation schon länger Tätigkeiten im humanitären Katas- chenland auf über 600 Beschäftigte. Dabei bildete sich trophenmanagement und in der Verwaltung von Flücht- ein Personalsystem heraus, wie Journalist:innen berich- lingslagern ausgeübt, vor allem in Subsahara-Afrika.50 ten, in welchem die internationalen Mitarbeiter:innen von Ein vergleichbares Katastrophenmanagement in Europa UNHCR erheblich mehr verdienen als die griechischen ist für UNHCR hingegen neu. Beschäftigten vor Ort.53 Gerade vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise verschärfte ein solches Entlohnungs- Im Sommer 2015 rief UNHCR in Europa den Katastrophen- system Konflikte unter den Beschäftigten. Der vielfach fall aus. An der ungarisch-serbischen Grenze, entlang erhobene Vorwurf, Griechenland sei durch die Wirt- der Balkanroute und auch auf den griechischen Inseln schafts- und Flüchtlingskrise doppelt durch die EU und beteiligte sich UNHCR am Aufbau von behelfsmäßigen internationale Organisationen kolonisiert worden54, ver- Unterbringungsstrukturen. Im Sommer 2015 war der hu- dichtet sich auch in diesem Zusammenhang.55 manitäre Kriseneinsatz gerechtfertigt, aber fünf Jahre danach ist klar, dass die Verhältnisse in den EU-Hotspots politisch verursacht sind. UNHCR hat prinzipiell daran UNHCR im Interessenskonflikt festgehalten, auf den griechischen Inseln so zu agieren, als handele es sich weiterhin um eine humanitäre Krise. Wenn sich die Aktivitäten von UNHCR auf die unmittelba- Dadurch wurde der rechtebasierte Ansatz von UNHCR in re Hilfe konzentrieren, bleibt nur wenig Handlungsspiel- den Hintergrund gedrängt. raum übrig, um das Kernmandat zu erfüllen. Die Orga- UNHCR ist auf den griechischen Inseln vielfältig in die La- nisation übt zwar immer wieder Kritik an der fehlenden gerstrukturen eingebunden, vom Aufbau der Infrastruk- Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten zu handeln, auch tur, über die Unterbringung bis hin zur Essensausgabe.51 verstärkt nach dem Brand von Moria, aber es fehlen de- taillierte Berichte zum Kern des Flüchtlingsrechts – sys- tematische Dokumentationen über die Lagerstrukturen 48 Siehe dazu: Bogaers 2019, S. 75ff.; Mühletahler 2017, S. 87ff.; Howden/ und Asylverfahren. Fotiadis 2017. 49 Tweet vom 07.02.2021. 52 Pavlásek 2017. 50 Forschungen über die Rolle von UNHCR in diesen Lagern kommen zu dem Schluss, dass die Organisation in den afrikanischen Lagern für die 53 Howden/Fotiadis 2017. Verletzung von Flüchtlingsrechten mitverantwortlich war, siehe Verdirame/ Harrell-Bond, 2005, S. 17; Agier 2011. 54 Siehe dazu ausführlich: Samaddar 2016. 51 Bogaers 2019, S. 72. 55 Pavlásek 2017.
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