Auf dem Weg zu Global Zero? - Die neue amerikanische Nuklearpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit - HSFK

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HSFK-Report Nr. 4/2010

Auf dem Weg
zu Global Zero?
Die neue amerikanische Nuklearpolitik zwischen
Anspruch und Wirklichkeit

Marco Fey/Giorgio Franceschini
Harald Müller/Hans-Joachim Schmidt
 Hessische Stiftung Friedens– und Konfliktforschung (HSFK)

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ISBN: 978-3-942532-00-6

Euro 6,–
Zusammenfassung

Barack Obama hat in einer aufsehenerregenden Prager Rede vom 5. April 2009 die USA
auf das Ziel einer kernwaffenfreien Welt (Global Zero) eingeschworen und dabei seinem
Land eine Vorreiterrolle für diese Vision zugeschrieben. Damit vollzog er einen Paradig-
menwechsel gegenüber seinem Vorgänger George W. Bush, welcher die Einsatzszenarien
nuklearer Waffen ausweiten wollte und ihre Konventionalisierung vorantrieb. Nach
Obamas Ankündigung wuchs die Spannung, in welchem Umfang er in der Lage sein
würde, erste Schritte seiner Vision in die Tat umzusetzen. Die Verzögerungen bei den
neuen START(NSTART)-Verhandlungen und bei der Verabschiedung der neuen
Nuclear Posture Review (NPR) – beide sollten eigentlich schon im Dezember 2009 vorlie-
gen – weisen auf das Ausmaß der außen- und innenpolitischen Herausforderungen hin,
denen sich der amerikanische Präsident bei der Umsetzung seines ehrgeizigen Zieles stel-
len muss.
   Einen Monat vor der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsver-
trags (NVV) setzte die neue US-Regierung zunächst mit der Veröffentlichung der Nuclear
Posture Review am 6. April und nur zwei Tage später mit der Unterzeichnung des
NSTART in Prag ein deutliches Zeichen für die nukleare Abrüstung. Diesen beiden Er-
eignissen folgte nur wenige Tage später die Ankündigung, die USA und Russland hätten
nun auch alle ausstehenden Fragen für die bereits im Jahre 2000 beschlossene Beseitigung
von 68 Tonnen Waffenplutonium endlich gelöst. Anfang Mai, kurz vor Beginn der Über-
prüfungskonferenz, legten die USA zudem als erste Atommacht der Welt Daten über die
zahlenmäßige Entwicklung ihrer Nuklearsprengköpfe von 1962 bis zum Jahre 2009 und
Zahlen über ihre Demontage ab 1994 vor und schufen damit eine bisher nicht bekannte
Transparenz für ihr Atomarsenal.
   Der vorliegende Report prüft die Frage, ob die neue Nukleardoktrin der USA,
NSTART, das Plutoniumabkommen und die einseitige Transparenzmaßnahme nun tat-
sächlich einen Paradigmenwechsel in der amerikanischen Politik eingeleitet haben, oder
ob den oben angeführten Abkommen und Maßnahmen mehr eine Placebofunktion zu-
kommt.
   Die neue Nuclear Posture Review mindert die Rolle nuklearer Waffen gleich mehr-
fach: Einmal wird die Garantie bekräftigt, dass die Nichtkernwaffenstaaten, die dem NVV
angehören und seine Verpflichtungen achten, weder die Drohung noch den Einsatz nuk-
learer Waffen fürchten müssen. Zweitens sollen die Drohung mit und der Einsatz von
biologischen und chemischen Waffen künftig nur noch mit konventionellen Mitteln ab-
geschreckt werden. Drittens werden neue militärische Missionen für nukleare Waffen
und die Entwicklung neuer Sprengköpfe ausdrücklich abgelehnt. Jedoch halten die USA
auch weiterhin am nuklearen Ersteinsatz und der Vornestationierung von substrategi-
schen Atomwaffen in Europa fest, binden letzteres aber zugleich an die Entscheidung der
westlichen Allianzpartner. Immerhin wollen die USA in künftigen Gesprächen mit Russ-
land die substrategischen Atomwaffen vermindern und bieten als Verhandlungsmasse ihr
größeres Potenzial an Reservesprengköpfen an. Die zukünftige Reduzierung dieser Reser-
ve kann bei gleichzeitiger Modernisierung des Atomwaffenkomplexes leichter erfolgen,
denn eine modernere Infrastruktur braucht kein großes Reservearsenal. Aus Sicht der
USA eröffnen sich weitere nukleare Abrüstungspotenziale durch die verstärkte Aufrüs-
tung im Bereich der Raketenabwehr sowie im Aufbau regionaler und globaler konventio-
neller strategischer Angriffspotenziale, d.h. den Um- und Aufbau konventioneller Fähig-
keiten. Darüber soll aber – nach Maßgaben der NPR – mit Russland und China ein neuer
strategischer Dialog geführt werden.
   Der neue START-Vertrag zwischen den USA und Russland bringt zwar mit seinen
Obergrenzen von 1.550 Sprengköpfen gegenüber dem Vorgängervertrag SORT (1.700-
2.200 Sprengköpfe) nur geringe Reduzierungen der strategischen Atomwaffenpotenziale.
Aber er bietet nach dem Auslaufen von START I Ende 2009 ein belastbares Instrument
der strategischen Rüstungskontrolle, das die Transparenz und Verifikation erhält und die
weitere Vertrauensbildung zwischen USA und Russland fördert. Die Fortsetzung der
nuklearen Abrüstung ist ohne diese beiden zentralen Elemente nicht möglich. Ein weite-
rer Fortschritt ist die in der Präambel des Vertrags festgeschriebene Anerkennung des
Zusammenhangs zwischen offensiven und defensiven (Raketenabwehr) strategischen
Systemen und die kritische Rolle konventioneller Waffensysteme strategischer Reichweite
für die nukleare Abrüstung. Im europäischen Kontext haben die USA und die NATO im
Bereich der regionalen Raketenabwehr Russland schon die Kooperation angeboten, um
russische Sicherheitsbedenken aufzugreifen. Die künftige potenzielle Beschränkung dieser
konventionellen Potenziale wird ein zentrales Element in der inneramerikanischen De-
batte um die Ratifikation von NSTART sein, weil die konservativen Kräfte dort jede Be-
grenzung der Raketenabwehr und der neuen weitreichenden zielgenauen konventionellen
Angriffsfähigkeiten ablehnen.
    Das Plutonium-Abkommen zur Beseitigung von Waffenplutonium ist ebenfalls für die
Fortsetzung nuklearer Abrüstung von herausragender Bedeutung. Denn damit werden
erstmals Methoden erprobt, wie Tonnen von waffengrädigem Plutonium dauerhaft besei-
tigt werden können. Das Abkommen bereitet damit die praktische Umsetzung für die
noch anstehende konkrete Abrüstung von Atomsprengköpfen und ihrem Nuklearmateri-
al vor. Die neue amerikanische Transparenz bei Atomwaffen ist ein weiterer wichtiger
Schritt, denn diese Offenheit ist ebenfalls eine notwendige Bedingung, um in die Abrüs-
tung von Nuklearsprengköpfen einzusteigen.
   Die konservativen Kritiker von Obama sind gespalten. Einerseits will eine gewichtige
Minderheit die nukleare Abschreckung aus Überzeugungsgründen nicht aufgeben und
lehnt die Bemühungen Obamas für Global Zero vehement ab. Gleichzeitig wächst aber bei
gemäßigten Konservativen die Besorgnis, dass Terroristen eines Tages in den Besitz sol-
cher Waffen gelangen könnten und steigert mithin die Bereitschaft, auf atomare Waffen
künftig zu verzichten. Dieser Verzicht darf die Sicherheit der USA aber keinesfalls ver-
schlechtern und soll daher durch neue konventionelle Fähigkeiten ausgeglichen werden.
Entscheidend für die Fortsetzung der neuen amerikanischen Rüstungskontroll- und Ab-
rüstungspolitik wird sein, ob Obama diese zweite Gruppe für seinen neuen außenpoliti-
schen Ansatz dauerhaft gewinnt.
   Liberale Kritiker sind hingegen von den ersten Schritten Obamas zu Global Zero ent-
täuscht. Sie erwarteten nach seiner Prager Rede entschiedenere Signale für die atomare

II
Abrüstung: Die USA haben auf den nuklearen Ersteinsatz nicht verzichtet, ihre mit
NSTART geplanten Reduzierungsmaßnahmen fallen eher bescheiden aus, der Alarmzu-
stand der Nuklearraketen bleibt vorerst unangetastet. Doch diese verständliche Kritik
verkennt die Rahmenbedingungen, unter denen Obama seinen Paradigmenwechsel in der
Nuklearpolitik gegen eine starke konservative Minderheit im eigenen Land durchsetzen
muss. Der neuen US-Regierung geht es zunächst um eine Konsolidierung der nuklearen
Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik, in der sie soweit wie möglich auch die republi-
kanischen Konservativen einbinden möchte, um von dieser solideren Grundlage aus wei-
tere Abrüstungsschritte zu planen. Sie zielt dazu auf eine Spaltung der Konservativen ab
und greift zu diesem Zweck auch einen Teil deren Forderungen auf: die Modernisierung
des Nuklearwaffenkomplexes, die Fortsetzung der Raketenabwehr unter Obamas neuen
Effizienzkriterien und die Ersetzung von Nuklearwaffen durch neue konventionelle Fä-
higkeiten.
   Obama hat vorsichtige und mit Bedacht erste ernsthafte Schritte zur Verwirklichung
seiner Vision von Global Zero unternommen. Diese Schritte sind nicht ohne Risiken.
Aufgrund der hohen Schulden der USA nach der Wirtschafts- und Finanzkrise sind die
Spielräume für eine neue konventionelle Aufrüstungsrunde gering und damit kann der
Präsident Teile seiner konservativen Unterstützer verlieren. Aus diesem Grund hat er es
bisher vermieden, sich öffentlich für konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung
einzusetzen. Gleichzeitig verringert aber der ungeregelte Aufbau neuer konventioneller
Fähigkeiten die Erfolgschancen von Global Zero, denn nukleare Abrüstung und konven-
tionelle Dominanz passen nicht zusammen.
   Der Erfolg von Obamas Abrüstungsvisionen hängt zuvorderst vom Kräfteverhältnis
zwischen Demokraten und Republikanern im Senat ab. Der Ratifikationsprozess von
NSTART, der spätestens bis Anfang 2011 abgeschlossen werden soll, ist dabei der Vor-
und Testlauf für weitere Abkommen: Für 2011 ist die Inkraftsetzung des Umfassenden
Teststoppvertrags (CTBT) als weiterer Meilenstein für Global Zero geplant.
    Obamas Abrüstungsagenda braucht Fortschritte bei der konventionellen Rüstungs-
kontrolle in Europa (Ratifikation des überarbeiteten adaptierten KSE-Vertrags) und die
militärische Kooperation bei der Raketenabwehr mit Russland. Erst auf dieser Grundlage
lässt sich dann die nuklearstrategische Rüstungskontrolle auch unter Einbeziehung der
substrategischen Atomwaffen fortsetzen.
    Sämtliche Fortschritte auf dem langen Weg zur nuklearen Null werden aber voraus-
sichtlich unter ähnlich schwierigen Bedingungen erarbeitet werden müssen, wie dies bei
NSTART und bei der neuen NPR der Fall war. Es wird der Obama-Regierung weiterhin
großes Geschick abverlangen, innenpolitischen Kritikern entgegenzukommen und gleich-
zeitig außenpolitisch jene Zweifel zu zerstreuen, die Kampagne zur nuklearen Abrüstung
wolle lediglich die amerikanische Dominanz untermauern.

                                                                                     III
Inhalt

1.    Einleitung                                                                   1

2.     Die Nuclear Posture Review 2010                                             2
2.1    Die neue Rolle amerikanischer Kernwaffen in der NPR 2010                    4
2.2    Modernisierung von Kernwaffen?                                              8
2.3    Raketenabwehr: Probleme und Chancen                                        11
2.4    Zukunft der erweiterten Abschreckung: Folgen für substrategische Kernwaffen 13

3.     Der neue START (NSTART)                                                    15
3.1    Vergleich NSTART mit START I und SORT                                      16
3.2    Umwidmung nuklearstrategischer Systeme                                     18
3.3    Verifikation von NSTART                                                    19
3.4    Ratifikationschancen in den USA                                            21
3.5    Nächste Schritte?                                                          24

4.     Die Transparenzoffensive und der Plutoniumvertrag                          25
4.1    Die amerikanische Transparenzoffensive                                     26
4.2    Fortschritte bei der Plutoniumbeseitigung                                  27

5.     Fazit – Nukleare Abrüstung: Ist das Glas halb voll oder halb leer?         30

Literatur                                                                         34

Abkürzungsverzeichnis                                                             37
1.      Einleitung1
Das Frühjahr 2010 brachte der Weltöffentlichkeit eine in dieser Konzentration beispiello-
se Folge von Großereignissen im Feld der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung:
Zuerst veröffentlichte die amerikanische Regierung die lang erwartete „Nuclear Posture
Review“ (NPR), die die Grundsätze der Nukleardoktrin der Supermacht darlegte (US
DoD 2010c). Dann unterzeichneten die Präsidenten Obama und Medwedew das erste
amerikanisch-russische nukleare Abrüstungsabkommen seit 2002, das unter dem Begriff
„New START“ (NSTART) bekannt wurde (US DoS 2010a). Weiterhin fand in der ameri-
kanischen Hauptstadt ein „Nukleargipfel“ mit mehr als 40 Staats- und Regierungschefs
statt, der das gemeinsame Ziel der vollständigen nuklearen Abrüstung bekräftigte und
eine Reihe von Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen, besonders
aber gegen den nuklearen Terrorismus vereinbarte. Am Rande schlossen die USA und
Russland ein Abkommen, das endlich die letzten Implementierungsprobleme für den
schon im Jahre 2000 ausgehandelten Vertrag zur Beseitigung von je 34 t Waffenplutoni-
um regelte (US DoS 2010b). Schließlich veröffentlichten die USA Anfang Mai kurz vor
der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV) als erste
Atommacht überhaupt erstmals Daten über ihre Atomwaffenbestände von 1962 bis 2009
und über ihre Demontage ab 1994 (US DoD 2010d).
   Der Kontrast zur Regierung von George W. Bush könnte kaum größer sein. Zwar hat-
te Bush in seinem ersten Wahlkampf die Ansicht vertreten, dass Kernwaffen in der ame-
rikanischen Strategie weniger wichtig seien und folgerichtig reduziert werden sollten. Er
hat diese Einsicht aber auf zweifelhafte Weise umgesetzt. Bush ließ sich lediglich von
Wladimir Putin zum SORT-Vertrag2 überreden, der durch das Fehlen von Verifikation
und sonstigen vertrauensbildenden Maßnahmen von vielen Beobachtern eher als eine
Parodie der Rüstungskontrolle gesehen wurde und weniger als ein ernst zu nehmendes
Instrument bilateralen Spannungsabbaus.
    Die Bush-Regierung mochte zwar bereit sein, die Zusammensetzung und Größe des
amerikanischen Nukleararsenals den veränderten strategischen Bedürfnissen anzupassen,
mit nuklearer Abrüstung hatte sie jedoch wenig im Sinn. Diese Abneigung demonstrierte
sie auch unmissverständlich auf der Überprüfungskonferenz des NVV von 2005, auf der
sie sich sogar weigerte, die fünf Jahre zuvor beschlossenen konkreten Abrüstungsschritte,
einschließlich des Inkrafttretens des Teststoppvertrages, als politisch bindend anzuerken-
nen (Müller 2005).
   Präsident Obama hingegen hatte sich bereits im Wahlkampf deutlich zum Ziel einer
kernwaffenfreien Welt bekannt. In seiner Rede in Prag am 5. April 2009 erhob er diese
Vision zum Ziel amerikanischer Außenpolitik. Als er im September desselben Jahres dem
VN-Sicherheitsratsgipfel in New York vorsaß, gelang es ihm, die Staatsführer der fünf

1    Für hilfreiche Kommentare und Anmerkungen bedanken wir uns bei Sascha Knöpfel, Annette Schaper,
     Annabel Schmitz und Iris Wurm.
2    Der Strategic Offensive Reduction Treaty (SORT) ist auch als Moskauer Vertrag bekannt.
2                                                       Fey/Franceschini/Müller/Schmidt

offiziellen Kernwaffenmächte sowie Indiens auf dieses Ziel zu verpflichten: Alle stimmten
sie der einschlägigen Entschließung des Rates zu. Aber Worte sind eine Sache, Taten eine
andere. Zwar darf man die Macht der Worte in der Politik nicht verkennen, jedoch geht
es gerade im Feld der Nuklearpolitik eben auch um eine höchst gefährliche Materie. Mit
bloßen Versprechungen lassen sich die zahlreichen, durch die Bush-Politik frustrierten
und erbosten, Nichtkernwaffenstaaten nicht mehr abspeisen. Sie verlangen konkrete Be-
weise, dass sich die Politik auch tatsächlich ändert.
    Über Nacht geht das nicht. Nukleare Abrüstung ist eine langwierige und diffizile An-
gelegenheit. Das gilt zum einen für die technische Seite des Abrüstungsprozesses (Schaper
2009) sowie zum anderen für die zahlreichen noch offenen rechtlichen und politischen
Fragen (Müller 2009), die eine Welt ohne Kernwaffen mit sich bringt. Hier müssen die
Vereinigten Staaten Führungsstärke zeigen und demonstrieren, dass es ihnen ernst ist,
dass man sich auf dieses Ziel ohne Sicherheitsverluste zubewegen kann und dass die USA
als mächtigster Staat der Welt auch zu den Konzessionen bereit sind, die andere dazu
veranlassen können, sich diesem Prozess anzuschließen.
   Die abrüstungs- und nichtverbreitungspolitischen Schritte im Frühjahr 2010 stellen
ein erstes Tableau von „Taten“ zur Besichtigung bereit. Dieser Report untersucht die Er-
eignisse unter der Fragestellung, ob die Nuclear Posture Review der USA, die mit Russ-
land abgeschlossenen Verträge zur Verminderung der strategischen Streitkräfte und zur
Entsorgung von Waffenplutonium sowie die einseitige Offenlegung der amerikanischen
Atomwaffenbestände und ihrer Demontage zum Ziel der kernwaffenfreien Welt passen,
ob also den großen Worten auch die richtigen Taten gefolgt sind.

2.    Die Nuclear Posture Review 2010
Die Nuclear Posture Review ist eine vom Kongress mandatierte umfassende Überprüfung
von Rolle und Zielen der amerikanischen Nuklearwaffen und hat meist eine Gültigkeit
von fünf bis zehn Jahren. Sie wird – unter Aufsicht des Weißen Hauses – vom US-Ver-
teidigungsministerium in Konsultation mit dem Außen- und dem Energieministerium
erarbeitet und nach Fertigstellung dem Kongress – wenn nötig mit klassifizierten Teilen –
vorgelegt.
   Die Nuclear Posture Review vom Frühjahr 2010 ergibt insgesamt ein ambivalentes
Bild. Auf der Habenseite stehen das klare Bekenntnis der US-Regierung zum Ziel einer
kernwaffenfreien Welt und das erklärte Interesse Washingtons, die Zahl seiner Kernwaf-
fen zu reduzieren. Die amerikanischen Ambitionen im Bereich der Raketenabwehr
(Ballistic Missile Defense, BMD) und der konventionellen Offensivoptionen, die im Do-
kument breiten Raum einnehmen, schlagen hingegen negativ zu Buche.
Auf dem Weg zu Global Zero?                                                                               3

   Die NPR präzisiert die negativen Sicherheitsgarantien3 für Nichtkernwaffenstaaten
und begrenzt die Einsatzszenarien amerikanischer Kernwaffen. Eine militärische Rolle für
die in Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen sieht die Doktrin nicht mehr vor,
damit werden diese Systeme grundsätzlich zur Disposition gestellt. Durch den Hinweis
auf ihre politische und symbolische Rolle innerhalb der NATO wird ihr Verbleib den
Entscheidungsgremien des Bündnisses überlassen, ein einseitiger Abzug ohne Einver-
ständnis der Europäer allerdings verworfen. Schließlich wird in der NPR angedeutet, in
Zukunft zu einer Doktrin des Nichtersteinsatzes (No First Use, NFU) überzugehen, wenn
sich die Abrüstung positiv entwickelt und die Rahmenbedingungen es zulassen.
   Zu diesen Rahmenbedingungen gehört dabei in erster Linie die Kooperation mit Russ-
land und China. Dass die Doktrin die Sicherheitsbedürfnisse dieser beiden möglichen
Rivalen in den Blick nimmt und deren Besorgnisse über die amerikanische Raketenab-
wehr und die weitreichenden konventionellen Offensivoptionen erkennt, sind wichtige
Voraussetzungen für einen zukünftigen strategischen Dialog zwischen Washington, Mos-
kau und Beijing.
    Die amerikanischen Ambitionen im Bereich der Raketenabwehr und der konventio-
nellen Offensivfähigkeiten müssen dennoch auf der Sollseite der Nuklearstrategie ver-
bucht werden, denn die Einsicht in die Bedenken Russlands und Chinas hat keine Folgen
für die in der NPR propagierte Verteidigungs- und Rüstungskontrollpolitik. So hält Was-
hington unbeirrt an beiden Waffenoptionen fest und zieht etwaige Beschränkungen nicht
einmal in Betracht. Überdies erklärt die Nuclear Posture Review die konventionelle Über-
legenheit der USA zur Voraussetzung nuklearer Abrüstung, ohne zu bedenken, wie das
auf all jene Staaten wirkt, welche die USA als Risiko oder gar Bedrohung sehen. Schließ-
lich berücksichtigt auch die „Hedging“-Politik das Sicherheitsdilemma anderer nicht: Das
Festhalten an schnellen Aufwuchskapazitäten für die strategischen Nuklearwaffen kon-
frontiert die Planer in Moskau und Beijing, besonders im Zusammenspiel mit der Rake-
tenabwehr, mit schwerwiegenden Unberechenbarkeiten. Dadurch könnten die Grenzen
der nuklearen Abrüstung schnell erreicht werden.
    Damit ist die grundlegende Schwäche der amerikanischen Position angesprochen; die
in der NPR anvisierte Sicherheitspolitik ist für die anderen Großmächte nicht hinrei-
chend berechenbar. Der amerikanische Wissenschaftler John Steinbruner hat indes in
einer der klügsten Abhandlungen über das Sicherheitsdilemma die Notwendigkeit trans-
parenter und berechenbarer Sicherheitspolitik in den Mittelpunkt der Beziehungen zwi-
schen den Großmächten gestellt: Die eigene Verteidigungspolitik solle möglichst eindeu-
tig dokumentieren, dass man nicht auf Überlegenheits- und Angriffsoptionen aus sei
(Steinbruner 2000). Dieser Gedanke findet sich in der Doktrin nur auf rhetorischer Ebene
– man erklärt Russland und China, wie sehr man guten Willens sei – er wird jedoch in der
Verteidigungs- und Rüstungskontrollpolitik nicht operativ. Damit stellt sich für Moskau

3   Bei einer negativen Sicherheitsgarantie versichern Kernwaffenstaaten all jenen Ländern, die keine Atom-
    waffen besitzen, sie nicht mit Kernwaffen zu bedrohen oder anzugreifen. Die positive Sicherheitsgarantie
    auch „erweiterte Abschreckung“ genannt, beinhaltet, dass Nuklearwaffenstaaten auch mit ihren Kernwaf-
    fen die Sicherheit nichtnuklearer Länder garantieren.
4                                                                 Fey/Franceschini/Müller/Schmidt

und Beijing die Frage, wie vertrauenswürdig die amerikanischen Zusicherungen im Lichte
des tatsächlichen Rüstungsverhaltens sind.

2.1    Die neue Rolle amerikanischer Kernwaffen in der NPR 2010
Die Vorgeschichte: die NPR von 2002 unter George W. Bush
Die Bush-Regierung legte dem Kongress fünf Monate nach den Anschlägen vom 11. Sep-
tember die Nuclear Posture Review 2002 vor. Diese zeichnete sich durch einen klaren
unilateralen Ansatz aus. Nicht nur drückte die Regierung darin ihre Geringschätzung für
bi- und multilaterale Rüstungskontrolle aus,4 sondern liebäugelte auch – trotz der Unter-
zeichnung des umfassenden Teststoppvertrages von 1996 – mit der Entwicklung neuer
taktischer Sprengköpfe (Ferguson 2002). Die NPR 2002 veränderte auch zentrale Begriff-
lichkeiten der vorhergehenden Doktrinen; so bezeichnete der Begriff der Triade nicht
mehr die land-, luft- und seegestützten Nuklearsysteme, sondern nun das Zusammenspiel
von nuklearen und konventionellen Offensivkapazitäten, der Raketenabwehr sowie einer
effektiven Verteidigungsinfrastruktur. Dementsprechend änderte sich das Aufgaben-
spektrum der Nuklearstreitkräfte: Es umfasste neben der „klassischen“ Abschreckung
Russlands und anderer Atommächte auch die Abschreckung und Eindämmung einer
Reihe von „Schurkenstaaten“. Zusätzlich gerieten nichtstaatliche Akteure und ihre Unter-
stützungsnetzwerke immer stärker in den Fokus amerikanischer Nuklearplanungen (US
DoD 2002; Müller/Sohnius 2006: 21). Zu diesem Zweck wurde die Rolle der amerikani-
schen Kernwaffen nochmals ausgedehnt. Damit unterlief die Doktrin allerdings die nega-
tiven Sicherheitsgarantien, welche die USA den nichtnuklearen Mitgliedstaaten im Zuge
der unbegrenzten Verlängerung des NVV 1995 gegeben hatten.

Die NPR von 2010 unter Obama
Im April 2010 legte Verteidigungsminister Robert Gates dem Kongress die insgesamt
dritte NPR seit dem Ende des Kalten Krieges vor. Dieses Dokument war ein hart er-
kämpfter Kompromiss zwischen den verschiedenen Fraktionen des politischen Spekt-
rums in Washington, insbesondere der Fraktion um US-Vizepräsident Joe Biden und
jener des Verteidigungsministers. Während Biden die Rolle amerikanischer Atomwaffen
in der Verteidigungsdoktrin drastisch zurückfahren wollte, um mehr Raum für die Ab-
rüstung zu gewinnen, strebte Gates danach, die Rolle der Nuklearwaffen zumindest bei-
zubehalten, um die Perspektive für eine neue Sprengkopfentwicklung nicht aus den Au-
gen zu verlieren. Keiner von beiden setzte sich durch: Weder bekam Gates einen neuen
Atomsprengkopf noch Biden einen Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz. Damit hat
Obama ein zentrales Zwischenziel auf dem Weg zur Globalen Null (Daalder/Lodal 2008)
– die No First Use-Deklaration – vorerst nicht erreicht und muss sich damit begnügen,
dass NFU in der neuen NPR vorerst nur als Fernziel aufscheint (US DoD 2010c: ix).

4   So wurden in der NPR 2002 sowohl der ABM (Anti Ballistic Missile)-Vertrag als auch der Umfassende
    Teststoppvertrag (Comprehensive Test Ban Treaty, CTBT) als hinderlich erachtet und Artikel 6 des NVV,
    der die Atommächte zur nuklearen Abrüstung verpflichtet, nicht einmal erwähnt.
Auf dem Weg zu Global Zero?                                                                                  5

   Die unmittelbaren Ziele, welche die neue NPR 2010 anvisiert, finden sich in den fol-
genden fünf Forderungen (US DoD 2010c: iii):
     • Bekämpfung der nuklearen Weiterverbreitung und des Nuklearterrorismus,
     • Reduzierung der Rolle von amerikanischen Nuklearwaffen in der nationalen
       Sicherheitsstrategie,
     • Erhalt der strategischen Abschreckung und Stabilität,
     • Stärkung der regionalen Abschreckung und der Garantie für US-Alliierte und
       Partner, und
     • Beibehalt eines sicheren und effektiven Nuklearwaffenarsenals.
Washingtons Engagement gegen die nukleare Weiterverbreitung und gegen die Gefahren
des Nuklearterrorismus ist kein genuin neues Ziel amerikanischer Sicherheitspolitik; neu
sind allerdings die Zentralität dieser Bedrohung sowie die Gesamtstrategie ihrer Bekämp-
fung. Bush nutzte die neuen Bedrohungen noch als Instrument, um damit die globale
amerikanische militärische Überlegenheit auszubauen. Obamas Doktrin hingegen ver-
folgt ihre Ziele unter dem Verzicht auf – zumindest nukleare – Dominanz. Während
Bush die Rolle der Nuklearwaffen auch auf die Bekämpfung der nuklearen Proliferation
und des nuklearen Terrorismus ausweitete, sieht die Obama-Doktrin zumindest gegen
den internationalen Terrorismus keinen Nuklearwaffeneinsatz mehr vor.
    Die Rolle der Nuklearwaffen in der US-Sicherheitspolitik wird weiter vermindert. So
soll ein Angriff eines Nichtkernwaffenstaates mit biologischen und chemischen Waffen
künftig nicht mehr mit Nuklearwaffen, sondern nur noch mit einem überwältigenden
konventionellen Gegenschlag vergolten werden (US DoD 2010c: viii). Allerdings bleibt
bei dieser Selbstbeschränkung ein Hintertürchen für den Fall offen, dass es im Bereich
biologischer Waffen zu sprungartigen Veränderungen kommt: Sollte diese Bedrohung
eine neue Qualität bekommen, dann behalten sich die Vereinigten Staaten das Recht auf
nukleare Vergeltung vor (US DoD 2010c: viii). Für die existierenden B- und C-
Waffenbedrohungen hingegen verzichten die USA auf ihre bisherige kalkulierte Zweideu-
tigkeit und schließen die nukleare Vergeltung aus. Explizit ausgenommen von dieser
Selbstbeschränkung sind Atommächte und NVV-Regelbrecher. Sollte ein Mitglied dieser
beiden Akteursgruppen einen konventionellen, chemischen oder biologischen Angriff auf
die USA, ihre Alliierten oder Partner5 verüben, so behält sich Washington eine nukleare
Antwort vor. Implizit wird damit am nuklearen Ersteinsatz festgehalten, der allerdings
nur mehr eine begrenzte Anzahl von Staaten – Atommächte und NVV-Regelbrecher –
betrifft. Die USA betonen dabei ausdrücklich, dass sich somit ihre Bereitschaft zum Ein-
satz solcher Waffen in keiner Weise erhöht hat und der Nuklearwaffeneinsatz grundsätz-
lich nur in „extreme circumstances to defend the vital interests of the U.S. or its allies or
partners“ (US DoD 2010c: viii-ix) erwogen werde.

5   Der Begriff „Partner“ ist nebulös, weil die USA eigentlich nur Staaten militärisch unterstützen dürfen, mit
    denen ein vom US-Kongress ratifizierte Beistandsabkommen besteht (vgl. Carnegie Endowment for In-
    ternational Peace 2010).
6                                                                    Fey/Franceschini/Müller/Schmidt

    Die neue US-Regierung betont in der NPR nachdrücklich ihre Verpflichtung zu nuk-
learer Abrüstung nach Artikel 6 des NVV und bekennt sich zu bi- und multilateraler nuk-
learer Rüstungskontrolle. Sie bekräftigt den Willen zu einer schnellen Ratifizierung und
Implementierung des NSTART sowie zu weitergehenden Verhandlungen. Neben der
Wiederaufnahme der multilateralen Verhandlungen über einen verifizierbaren Produkti-
onsstopp für spaltbares Material für Waffenzwecke (Fissile Material Cut-off Treaty,
FMCT) wird zudem die Ratifikation des Umfassenden Teststoppvertrages (Comprehen-
sive Test Ban Treaty, CTBT) angestrebt (US DOD 2010c: 12f). Das Dokument betont zu-
dem die Bedeutung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) für den Kampf
gegen Proliferation und Nuklearterrorismus und ist bereit, sowohl ihr reguläres Budget
als auch die eigenen außeretatmäßigen Zuwendungen zu erhöhen (US DoD 2010c: 9f).
Obama will außerdem keine Entwicklung neuer Sprengköpfe und keine neuen Aufgaben
für Atomwaffen. Die von der Bush-Regierung geforderten mini nukes und nuklearen
bunker buster sind damit genauso vom Tisch wie das besonders von den drei amerikani-
schen Nuklearwaffenlaboren und republikanischen Senatoren geforderte neue Design des
Reliable Replacement Warhead (RRW).6
   Weitere Möglichkeiten, die Rolle amerikanischer Nuklearwaffen zu reduzieren, wer-
den in der Um- und Aufrüstung konventioneller Fähigkeiten gesehen. Alle Kategorien
der nuklearstrategischen Träger (Bomber, landgestützte und U-Boot-gestützte Interkon-
tinentalraketen) sollen zu diesem Zweck künftig für konventionelle Aufgaben umgerüstet
werden können. Der Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz und auf die erweiterte nukle-
are Abschreckung wird damit an den Ausbau der regionalen Raketenabwehr und der
Entwicklung neuer konventioneller Fähigkeiten gebunden.
    Bis zur Verfügbarkeit dieser neuen Waffenoptionen soll allerdings die erweiterte Ab-
schreckung, mit denen die USA rund 30 Staaten weltweit unter ihren nuklearen Schutz
stellen, gestärkt werden. Das ist vor dem Hintergrund des Strebens neuer Staaten (Nord-
korea, Iran) nach Atomwaffen zu sehen, zumal in diesem Kontext die Ausdehnung der
erweiterten Abschreckung auf 40 und mehr Staaten diskutiert wird. Dazu wollen die USA
auch weiterhin aus Gründen der Bündniskohäsion an der Vornestationierung von sub-
strategischen Atomwaffen in Europa und ihrer Modernisierung festhalten (US DoD
2010c: xiii). Ausdrücklich soll dies aber mit den Bündnispartnern beraten und diese an
jeder Entscheidung beteiligt werden. Dabei wären die USA auch zum Abzug dieser Waf-
fen bereit, wenn die Allianzpartner dies wünschen. Ihre künftige Reduzierung ist im
Rahmen nuklearer Folgeverhandlungen vorgesehen, wobei die USA ihr größeres Potenzi-
al an Reservesprengköpfen mit dem größeren russischen Arsenal an substrategischen
Atomwaffen verrechnen wollen.

6   RRW war ein vorgeschlagenes neues Sprengkopfdesign, das keine neuen militärischen Fähigkeiten mit
    sich bringen, aber seinen Befürwortern zufolge zuverlässiger, unfallsicherer und leichter herzustellen und
    zu warten sein sollte. 2008 hat der Kongress die Gelder für das Programm verweigert und die Staatssekre-
    tärin für Rüstungskontrolle, Ellen Tauscher, machte bereits zwei Monate vor Erscheinen der NPR die
    Haltung der Obama-Regierung unmissverständlich klar: „RRW is dead and it is not coming back“, siehe
    www.america.gov/st/texttrans-english/2010/February/20100218140643xjsnommis4.973567e-02.html
    (5.6.2010).
Auf dem Weg zu Global Zero?                                                                             7

    Neben der Gefahr der Proliferation und des Nuklearterrorismus geht es der NPR um
ein stabiles Abschreckungsverhältnis zwischen den Atommächten, die zunehmend als
Kooperationspartner und weniger als potenzielle Gegner betrachtet werden. Nukleare
Abrüstung soll keine neuen destabilisierenden Asymmetrien zwischen ihnen schaffen, die
in Krisensituationen das Losschlagen einer Seite begünstigen. Die Stabilisierung der Ab-
schreckung verbessert die Kommunikation zwischen den Atommächten und die Chancen
der Kooperation vor allem im Hinblick auf die Nonproliferation und die Bekämpfung des
internationalen Terrorismus. NSTART ist dafür ein zentrales Mittel. An der strategischen
Triade von schweren Bombern, Interkontinentalraketen (Intercontinental Ballistic Missi-
le, ICBM) und U-Boot-gestützten Raketen (Submarine Launched Ballistic Missile, SLBM)
soll aus Gründen der Sicherheit und Stabilität auch künftig festgehalten werden. Die
schweren Bomber sind wegen ihrer Sichtbarkeit vorläufig noch ein wichtiges Mittel für
das Krisenmanagement. Die USA sichern zudem zu, die für einen Erstschlag besonders
geeigneten 450 Minuteman-ICBMs künftig statt mit drei nur noch mit einem Sprengkopf
auszurüsten. Das erhöht die strategische Stabilität. Das Ziel der Erhaltung von strategi-
scher Abschreckung und Stabilität ist auch zentral, um die Ratifizierung von NSTART im
US-Kongress zu sichern. Die weitere Absenkung des Alarmzustands (von ICBM und
SLBM) und des Bereitschaftsgrads der nuklearen Streitkräfte, zum Beispiel durch räumli-
che Trennung von Sprengkopf und Trägersystem zur Erhöhung der strategischen Stabili-
tät wird dabei von der US-Regierung vorerst abgelehnt (US DoD 2010c: 25f). Für die Zu-
kunft knüpft sie diese Option an eine Verbesserung der Kommando- und Führungs-
strukturen sowie das Ergebnis einer Prüfung der mobilen Dislozierung von ICBMs.
    Auch wenn Obama das Aufgabenspektrum der Kernwaffen im Unterschied zu Bush
vermindert, gibt es – neben der Beibehaltung der strategischen Triade – weitere Kontinui-
täten. Wie schon in der Vorgängerdoktrin betont die aktuelle NPR etwa die Wichtigkeit
nicht-nuklearer Potenziale, vor allem die der konventionellen globalen Angriffsfähigkeit
(long-range strike). Auch Raketenabwehr wird nach wie vor als essentiell für die Eindäm-
mung so genannter „Problemstaaten“ betrachtet (US DoD 2010c: 33). Schließlich verwei-
sen beide Doktrinen auf die Notwendigkeit, den Nuklearkomplex zu modernisieren und
finanziell besserzustellen.
    Die neue NPR geht vielen Abrüstungsbefürwortern nicht weit genug. Sie hatten sich
mutigere Schritte erhofft, etwa den völligen Verzicht auf den Ersteinsatz, die Verschrot-
tung aller ICBMs und eine niedrigere Einsatzbereitschaft der strategischen Kernwaffen.
Konservative Kritiker hingegen sehen die USA im Lichte dieser Nukleardoktrin bereits
auf dem Weg zur nuklearen Parität und langfristig sogar zur Unterlegenheit gegenüber
Russland bzw. einer Koalition anderer Nuklearmächte.7 Die Nuclear Posture Review 2010
stellt in der Tat in vielerlei Hinsicht einen Kompromiss dar und musste die Ansichten
verschiedener Flügel innerhalb der Regierung, aber auch zwischen Regierung und Kon-
gress in Einklang bringen.

7   Ob die USA allerdings heute über eine nukleare Vorrangstellung gegenüber den anderen Atommächten
    verfügen, ist unter Experten umstritten. Siehe den Austausch von Flory, Payne, Podvig, Arbatov, Lieber
    und Press in der Foreign Affairs in der Ausgabe September/Oktober 2006, 149-157.
8                                                                 Fey/Franceschini/Müller/Schmidt

2.2    Modernisierung von Kernwaffen?

Neben der Einengung der Aufgaben des US-Nukleararsenals bildet die Modernisierungs-
frage eine der interessantesten Neuigkeiten der Nuclear Posture Review. Hier wird die
Aussage Obamas präzisiert, die der Präsident während seiner berühmten Prager Abrüs-
tungsrede am 5. April 2009 machte und die einige Beobachter irritierte (Mello 2010): Sein
Land wolle auf dem langen Weg zu Global Zero auf ein sicheres und zuverlässiges Nukle-
ararsenal nicht verzichten und werde daher für den Erhalt des Nuklearwaffenkomplexes
hinreichende Mittel zur Verfügung stellen.
   Diese Mittel wurden von der Regierung für das Haushaltsjahr 2011 in einer beachtli-
chen Höhe angesetzt: So soll die National Nuclear Security Regierung (NNSA) nach der
bereits bewilligten Budgeterhöhung für das Fiscal Year 2010 für das FY 2011 noch einmal
einen 13,4-prozentigen Zuwachs auf insgesamt 11,2 Mrd. USD erhalten.8 Wird der Kon-
gress die Mittel für FY2011 bewilligen, so können sich allein die Los Alamos National
Laboratories auf ein Budgetwachstum von 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr freuen, der
höchsten Erhöhung seit dem Manhattan Projekt, während des Zweiten Weltkrieges. Die
NPR erklärt diese Finanzspritzen mit der Notwendigkeit einer umfassenden Modernisie-
rung des Nuklearwaffenkomplexes: Der Modernisierungsbedarf erstreckt sich dabei auf
die alternden Sprengköpfe und auf die teilweise veraltete Infrastruktur des Kernwaffen-
komplexes sowie auf das dazugehörende Humankapital. An allen drei Fronten besteht
Handlungsbedarf, um die Sicherheit und Zuverlässigkeit des amerikanischen Arsenals
über die nächsten Jahrzehnte sicherzustellen.

Sprengköpfe
In der Sprengkopffrage verfolgt die NPR einen konservativen Ansatz, der mit der allge-
meinen Rücknahme der Rolle der Atomwaffen in Einklang steht: Für die wenigen Ein-
satzszenarien amerikanischer Kernwaffen reichen die existierenden Sprengköpfe voll-
kommen aus, für alle weiteren Bedrohungen werden zunehmend konventionelle
Fähigkeiten bevorzugt. Im Fokus des Strategiepapiers steht daher die Erhaltung der be-
reits existierenden Sprengkopftypen.
   Die Konservierung dieser Sprengköpfe ist keine triviale Aufgabe, denn die meisten
amerikanischen Kernwaffen haben ihre ursprünglich angesetzte Lebenszeit bereits über-
schritten (US DoD 2010c: 37).9 Dies bedeutet aber nicht, dass sie damit automatisch funk-
tionsuntauglich geworden wären, sondern lediglich, dass durch alternde Komponenten
das Risiko gewisser Leistungseinbußen (Yieldverschiebungen, suboptimale oder verse-
hentliche Zündungen etc.) steigen. Um diese Alterungsdefekte zu beheben, laufen seit
etwa einem Jahrzehnt in den amerikanischen Waffenlaboren so genannte Life Extension

8   US NNSA 2010: 1.
9   Die nominelle Lebenszeit einer Kernwaffe wurde bis zum Teststoppvertrag auf etwa zwanzig Jahre festge-
    setzt. Spätestens nach Ablauf dieses „Haltbarkeitsdatum“ wurde ein Sprengkopf in der Regel durch eine
    (zuvor ausgiebig getestete) Neuentwicklung ersetzt. Heute liegt das Durchschnittsalter des amerikani-
    schen Arsenals bei weit über zwanzig Jahren.
Auf dem Weg zu Global Zero?                                                                              9

Programs (LEP), die durch Reparieren, Warten oder Ersetzen kritischer Waffenkompo-
nenten die Lebensdauer amerikanischer Sprengköpfe kontinuierlich erhöhen. Die NPR
erhebt nun diese LEP zur zentralen Aufgabe des Sprengkopf-Managements und mahnt
dabei den konservativsten Ansatz zur Lebensdauerverlängerung an. Wenn möglich solle
eine bereits existierende Komponente gewartet und generalüberholt werden (refurbish-
ment). Sollte dies aus praktischen Gründen nicht möglich sein, solle auf ein bereits getes-
tetes Modul einer anderen Kernwaffe zurückgegriffen werden (re-use). Nur wenn weder
refurbishment noch re-use möglich sind, solle man dazu übergehen, eine Ersatzkompo-
nente (replacement) zu entwickeln und einzubauen (US DoD 2010c: 39).10
    Die politisch heikle Entscheidung eines replacement muss vom Präsidenten und vom
Kongress bestätigt werden und wird nicht allein den Waffenlaboren überlassen. Dennoch
werden sich mit fortschreitender Zeit die amerikanischen Sprengköpfe durch das sukzes-
sive Ersetzen kritischer Komponenten unweigerlich mehr und mehr von ihren Original-
designs entfernen. Es ist den Autoren der NPR aber wichtig, dass diese Maßnahmen stets
im Geiste des Testmoratoriums und einer rigorosen change control discipline erfolgen
müssen. So soll der Verdacht zerstreut werden, im Schatten der LEP laufe ein schleichen-
des Modernisierungsprogramm, das langfristig dem amerikanischen Arsenal neue militä-
rische Fähigkeiten verleihe.
   Die NPR betont explizit, dass im Rahmen der LEP die modernisierten Sprengköpfe
keine neuen militärischen Fähigkeiten erhalten sollen (US DoD 2010c: xiv) und kein neu-
er Sprengkopf entwickelt werden darf. Dennoch überzeugt das nicht alle Modernisie-
rungskritiker: Sie verweisen darauf, dass aufgrund der unscharfen Definition der Begriffe
„Modernisierung“ und „neuer Sprengkopf“ sowie der begrenzten Gültigkeit der NPR eine
Rückkehr zum RRW oder anderen neuen Sprengkopfkonzepten nicht auszuschließen sei
(Butt 2010, Kristensen 2010).

Infrastruktur und Humankapital
Die NPR beklagt den graduellen Verfall der Infrastruktur des Nuklearwaffenkomplexes
sowie die nachlassende Arbeitsmoral seiner Angestellten. Beides steht im Bezug zueinan-
der und kann nur durch substantielle Investitionen aufgefangen werden. Dabei wird es
einerseits darum gehen, einige veraltete Anlagen des Nuklearkomplexes mit moderneren,
kostengünstigeren und umweltschonenderen Modulen zu ersetzen und andererseits eine
Forschungsoffensive zu starten, um sicher zu stellen, dass weiterhin hoch motivierte und
exzellente Wissenschaftler den Weg zu den Waffenlaboren in New Mexiko (Los Alamos
und Sandia-NM) und Kalifornien (Livermore und Sandia-CA) finden.
   Während die Modernisierung der Infrastruktur bei hinreichender Finanzierung kein
Problem darstellen dürfte, steht die Frage des Know-how-Erhalts und der damit zusam-
menhängenden Rekrutierung geeigneter Wissenschaftler vor erheblichen Hürden, die

10 Da sämtliche amerikanische Kernwaffen aus den 1980er Jahren stammen, können einige Komponenten
   nicht mehr identisch nachgebaut werden. Ersatzkomponenten müssen daher so entwickelt werden, dass
   sie ihren ursprünglichen Designs so ähnlich wie nur möglich sind; dies gilt auch, wenn es bereits moder-
   nere Technologieoptionen gibt.
10                                                       Fey/Franceschini/Müller/Schmidt

möglicherweise nicht nur durch finanzielle Zuwendungen aus dem Weg geräumt werden
können. Denn durch die Pensionierung der letzten Generation „echter“ Waffendesigner
befinden sich heute in Los Alamos und Livermore vermehrt Ingenieure und Physiker, die
keine genuinen Neuentwicklungen samt zugehöriger Tests mehr erlebt haben. Ihr theore-
tisches Wissen über Kernwaffen bewegt sich auf hohem Niveau, aber dafür fehlt ihnen
vermehrt jenes praktische Wissen (tacit knowledge), das man letztendlich zum Bomben-
bau braucht (MacKenzie/Spinardi 1995). Ob das Forschen an teuren Großprojekten wie
der National Ignition Facility (NIF) in Livermore oder die Simulationen auf den schnells-
ten Großrechnern der Welt diesen Verlust an praktischem Know-how kompensiert, ist
unter Experten strittig (Franceschini/Schaper 2006).
   Die NPR zeigt sich in dieser Frage allerdings zuversichtlich und lässt wenig Zweifel da-
ran, über die Prestigeprojekte wie der NIF den Zufluss exzellenter Wissenschaftler in die
Forschungseinrichtungen des Nuklearwaffenkomplexes sicherstellen zu können (US DoD
2010c: 41).

Warum finanziert Obama den Nuklearwaffenkomplex so großzügig?
Trotz aller Erklärungen der NPR über Sicherheit und Zuverlässigkeit des Arsenals bleibt
die Frage im Raum, ob diese Modernisierungsmaßnahmen für den Weg zur Globalen
Null notwendig sind. Denn wer eine nukleare Nulloption anstrebt, kann theoretisch ein
minimalistisches Wartungsprogramm fahren, das gerade ausreicht, um den Zusammen-
bruch des Nuklearwaffenkomplexes bis zu jenem Tag zu vermeiden, an dem die letzte
Kernwaffe vom Erdboden verschwindet.
    Dass die Obama-Regierung sich für ein aufwendiges Modernisierungsprogramm aus-
spricht, lässt sich mit zwei Gründen erklären. Erstens wollen die Vereinigten Staaten in
einer Welt mit weniger Kernwaffen keine Abstriche an ihrer Sicherheit riskieren und
investieren daher immer größere Summen in ihr schrumpfendes Arsenal. Zweitens muss
der Präsident Rücksicht auf die inneramerikanische Konstellation nehmen. Den Abrüs-
tungsvisionen Obamas steht ein politisches Lager von Skeptikern und Gegnern gegen-
über, das den Weg des Präsidenten in eine kernwaffenfreie Welt nicht mitgehen will und
ihm vorwirft, eine für die nationale Sicherheit der USA riskante Politik zu verfolgen. Ge-
gen diese Vorwürfe muss er sich immun machen und überdies den Kritikern entgegen-
kommen, wenn sie die ersten Meilen auf diesem Weg mitgehen sollen. In diesem Lichte
ist das hohe NNSA-Budget eine Vorauszahlung der demokratischen Regierung, um das
Votum einer kritischen Masse an Republikanern für die Ratifikation des NSTART (2010)
und des CTBT (2011) zu gewinnen.

Sind diese Finanzspritzen noch mit der Abrüstungsvision vereinbar?
Dass die Obama-Regierung das Nuklearwaffenbudget deutlich erhöht und den Nuklear-
komplex rundum erneuert, scheint auf den ersten Blick in scharfem Widerspruch mit
dem Ziel einer kernwaffenfreien Welt zu stehen. Indes besteht der Prozess der nuklearen
Abrüstung aus einer Abfolge mehrerer Etappen. Eine bedeutende Zwischenetappe bildet
dabei jener „minimization point“ (ICNND 2010), an dem die Atommächte ihr Arsenal
auf Minimaldimensionen abgerüstet haben, die ihnen (gerade) noch hinreichende Ab-
Auf dem Weg zu Global Zero?                                                                        11

schreckung und gesicherte Zweitschlagfähigkeit sichern sollen. Von hier aus sollen dann
vertrauensbildende Maßnahmen unter den Atommächten helfen, die letzte Meile Rich-
tung nuklearer Null zu gehen.
    Die NPR betont explizit die Bedeutung sicherer und zuverlässiger Kernwaffen für die
weitere Reduzierung der Arsenale. Ein Großteil des amerikanischen Atomwaffenbestands
gehört nicht zum stationierten Arsenal, sondern dient lediglich als Kreislaufreserve und
als Absicherung gegen ein plötzliches und unerwartetes Versagen eines Teils des Arse-
nals.11 Wenn man alle Sprengköpfe genauestens inspiziert und kritische Komponenten
rechtzeitig austauscht (LEP), so lässt sich dieser Absicherungsvorrat aber bedeutend re-
duzieren und man arbeitet sich dabei kontinuierlich an diesen Minimierungspunkt heran.
Die Zuversicht auf ein sicheres und zuverlässiges Arsenal unterstützt diesen Prozess, und
die Modernisierung des amerikanischen Nuklearwaffenkomplexes ist eine notwendige
Bedingung für den Quantensprung von der maximalen zur minimalen Abschreckung
(Sauer 2009).

2.3    Raketenabwehr: Probleme und Chancen

Auch unter Präsident Obama bleibt Raketenabwehr ein integraler Bestandteil der ameri-
kanischen Verteidigungspolitik. Am Ziel, die USA sicher gegen Raketenangriffe kleinerer
Staaten zu machen und amerikanische Truppen im Ausland sowie Verbündete gegen
solche Angriffe zu schützen, hält die Regierung fest (US DoD 2010a: iiiff.). Wie viel davon
eigener Überzeugung geschuldet, und wie viel Tribut an die innenpolitischen Verhältnis-
se, sei dahin gestellt. Denn sowohl die militärische Führung als auch die Republikaner im
Senat sind gegen jegliche Beschränkung der amerikanischen Handlungsfreiheit in der
Raketenabwehr (Pincus 2010).
   Die Regierung hat freilich indirekt Grenzen eingezogen: Die Systeme sollen technisch
verlässlich funktionieren und bezahlbar sein. Das bedeutet das Ende für einige teure und
exotische Einzelprojekte der Bush-Regierung (US DoD 2010a: 38-40). Außerdem wird in
der Raketenabwehr die Zusammenarbeit mit Partnern gesucht, wozu auch Russland ge-
hört. Russland soll in der einen oder anderen Form an einer regionalen Raketenabwehr
im europäischen Raum beteiligt werden; mit China wird der strategische Dialog gesucht,
in dessen Rahmen chinesische Befürchtungen über die amerikanischen Abwehrpläne
diskutiert werden können (US DoD 2010a: 34f). Der geplante Fortschritt ist in einem
angemessenen Tempo gehalten. Ziel bleibt die Abwehr kleiner Angriffe, global und regio-
nal. Die Verteidigung der USA ist nicht gegen China und Russland gerichtet (US DoD
2010a: 4). Sie beschränkt sich zunächst auf 30 Abfangraketen. 14 weitere Silos sollen ge-
baut werden, um für unerwartete Eventualitäten die Möglichkeit zu haben, die Zahl der
Abfangraketen um knapp die Hälfte zu steigern (US DoD 2010a: 15f). An einer europäi-

11 Die neuesten Zahlen der US-Regierung geben darüber Aufschluss: von den 5.137 Sprengköpfen des akti-
   ven amerikanischen Arsenals ist nur etwa jeder dritte Sprengkopf stationiert.
12                                                      Fey/Franceschini/Müller/Schmidt

schen Komponente hält die Regierung fest, was – je nach dem wie sie gestaltet wird –
Konflikte mit Russland ergeben kann.
   Auf die Stationierung von Radarsystemen und Abwehrraketen in Polen und der
Tschechischen Republik – wie von Bush geplant – hat die Obama-Regierung verzichtet
und stattdessen mit der Regierung Rumäniens ein Gastrecht für solche Komponenten
ausgehandelt. Freilich überraschte man mit diesem Plan Moskau erneut, was dort kriti-
sche Fragen zu der erklärten Kooperationsbereitschaft Washingtons aufgeworfen hat.
Polen erhält allerdings Patriot-Raketen, für die Endphase des europäischen Regionalsys-
tems ist auch ein Standort im europäischen Norden geplant (US DoD 2010a: 24, 29).
   Es ist gegenüber der Vorgängerregierung ein Fortschritt, dass die Stabilitätsprobleme,
die – zumindest aus der Sicht Russlands und Chinas – durch die amerikanischen Rake-
tenabwehraktivitäten aufgeworfen werden, überhaupt Eingang in die Regierungsdoku-
mente gefunden haben. Das Problem ist damit jedenfalls benannt (US DoD 2010c: x, 28;
US DoD 2010a).
    Die Pläne für eine Raketenabwehr sind dennoch für die kleineren Kernwaffenstaaten
grundsätzlich beunruhigend, weil ein dichtes Raketenabwehrsystem ihre Zweitschlags-
fähigkeit grundlegend in Frage stellt. Für China ist das heute bereits problematisch, weil
schon bei den gegenwärtigen Dimensionen der amerikanischen Raketenabwehr fraglich
ist, ob sein im Vergleich zu Amerika und Russland beträchtlich kleineres strategisches
Potenzial überlebensfähig ist. Die amerikanische Absicht, die eigenen Systeme so flexibel
zu gestalten, dass qualitative und quantitative Anpassungen schnell erfolgen können (US
DoD 2010a: 16f), stellt China daher vor eine große Herausforderung. Sie signalisiert das
Risiko eines amerikanischen Aufwuchses, der das Wachstum des chinesischen Arsenals
neutralisiert, sollten die USA in Zukunft Beijing als ihren Gegner definieren. Auch für
Russland ist dieses „Hedging“ problematisch, wenn es an den weiteren Abbau seines stra-
tegischen Arsenals geht. Verschärft wird das russische Misstrauen durch die Parallelität
amerikanischer Kooperationsangebote und unilateraler amerikanischer Entscheidungen.
Der gesamte Phasenplan für eine europäische Raketenabwehrkomponente bis 2020 ist
ebenso ohne Konsultationen mit Russland entstanden wie die Vereinbarungen mit Ru-
mänien und Polen über einzelne Schritte im Rahmen dieses Plans. Russland wird daher
prüfen, ob das amerikanische Kooperationsangebot mehr ist als ein Placebo.
    Dass die US-Regierung ihre entscheidende Bemühung, die Sicherheitsbedenken des
russischen und chinesischen Partners zu zerstreuen, darauf konzentriert zu beteuern, die
Raketenabwehrpläne seien gegen den Iran und Nordkorea, aber keineswegs gegen die
etablierten Atommächte gerichtet, vielmehr sehe man in den beiden Ländern „wichtige
Partner für die Zukunft“ (US DoD 2010c: x, 28f; US DoD 2010a: 5), erscheint kaum aus-
reichend. Das Angebot eines strategischen Dialogs ist zwar vernünftig und wünschens-
wert, aber Worte allein werden die Sicherheitsbedürfnisse Chinas und Russlands nicht
befriedigen, solange die Planungen der USA die Möglichkeit zur zügigen Ausweitung des
Systems enthalten und Washington entschieden jede vereinbarte Beschränkung seiner
Raketenabwehraktivitäten zurückweist (US DoD 2010c: x; US DoD 2010a: vi). Gegenüber
Russland böte eine intensive technische und strategische Zusammenarbeit in der Rake-
tenabwehr vielleicht die Chance, die Bedenken zu zerstreuen, wenn sie denn von den
Auf dem Weg zu Global Zero?                                                           13

USA ernst genommen und auf gleichberechtigter Basis verwirklicht wird. Gegenüber
China wird nicht einmal ein solcher Schritt ins Auge gefasst. Das dürfte negative Auswir-
kungen auf den weiteren Abrüstungsprozess haben.

2.4   Zukunft der erweiterten Abschreckung: Folgen für substrategische
      Kernwaffen

Im Schatten der Nuklearkrisen in Nordkorea und im Iran will die neue US-Regierung die
erweiterte Abschreckung stärken und modernisieren und ist vorläufig auch nicht bereit,
auf die Androhung des nuklearen Ersteinsatzes völlig zu verzichten. Die Wirkung der
erweiterten Abschreckung ist jedoch ambivalent: Einerseits soll die nukleare Schutzgaran-
tie die zu schützenden Staaten davon abhalten, selbst nach Kernwaffen zu streben, ande-
rerseits kann sie auch die Sicherheit anderer nichtnuklearer Staaten bedrohen und damit
deren Interesse an Kernwaffen erhöhen.
    Obama will diesen negativen Effekt durch zwei Maßnahmen minimieren. Zum einen
richtet sich die Androhung des nuklearen Ersteinsatzes nur noch gegen solche nichtnuk-
leare Staaten, die den NVV verletzen. Andere nichtnukleare Staaten werden künftig da-
von ausgenommen. Zweitens will der neue US-Präsident nicht nur die strategische, son-
dern auch die erweiterte nukleare Abschreckung konventionalisieren. Zum einen soll der
Ausbau regionaler strategischer Raketenabwehr besser vor gegnerischen Raketen mit
Massenvernichtungsmitteln schützen, zum anderen ist auch an neue konventionelle
Counterforce-Optionen gedacht, die den Einsatz solcher Massenvernichtungsmittel of-
fensiv verhindern sollen. Diese beiden Maßnahmen könnten langfristig die Stationierung
von substrategischen Kernwaffen entbehrlich machen. Während es für die regionale Ra-
ketenabwehr mit dem Ballistic Missile Defense Review 2010 schon entsprechende kon-
zeptionelle Planungen gibt, prüfen die USA noch mit welchen künftigen konventionellen
long-range strike- und prompt global strike-Waffen (siehe Kap. 3.2) sie diesen Schutz be-
reitstellen wollen (US DoD 2010c: 33f).
   Ob diese Konventionalisierung der erweiterten Abschreckung allerdings wirklich die
nuklearen Ambitionen von Problemstaaten wie dem Iran oder Nordkorea senkt, er-
scheint eher zweifelhaft. Denn sie reduziert für die USA und andere Staaten die nukleare
Selbstabschreckung und kann deshalb den Einsatz solcher Waffen gegen die Problemstaa-
ten wahrscheinlicher machen. Können die Problemstaaten im konventionellen militäri-
schen Bereich technologisch und aus Kostengründen nicht mithalten, bleibt ihnen aus
ihrer Sicht nur die nukleare Option, um dagegenzuhalten. Die Konventionalisierung der
erweiterten Abschreckung mag daher für die etablierte Atommacht und ihre Bündnis-
partner Risiken mindern, für die Problemstaaten verschärft sich die Bedrohung und ihre
nuklearen Ambitionen können sich deshalb verstärken.
   Positiv ist zu vermerken, dass die neue US-Regierung anders als unter Bush die Bünd-
nispartner an den Entscheidungen im Bereich der erweiterten Abschreckung stärker kon-
sultieren und beteiligen will. Die neue NPR unterscheidet sich hier wohltuend von ihrer
Vorgängerin. Dies wird auch darin deutlich, dass in ihr alle Bündnispositionen zu den
substrategischen Nuklearwaffen in Europa abgedeckt werden, auch der Vorschlag
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