Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz

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Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
SIRIUS 2022; 6(2): 129–149

Aufsätze

Hannes Adomeit*/Joachim Krause

Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische
Ultimatum vom Dezember 2021 und die
Folgen für die westliche Allianz
https://doi.org/10.1515/sirius-2022-2002                                   given Russia’s military capabilities the Western commu-
                                                                           nity is forced to confront the grave challenge. The contours
Zusammenfassung: Mit der Veröffentlichung zweier Ulti-
                                                                           of the emerging new Cold War are not yet clear but several
maten an die USA und die NATO will Russland eine grund-
                                                                           structural features and processes that will shape it can be
legende Veränderung der sicherheitspolitischen Ordnung
                                                                           identified.
erzwingen und ist – wie der Überfall auf die Ukraine
gezeigt hat – fest entschlossen, seine Vorstellungen auch                  Keywords: Russia, Ukraine, European security, Cold War
mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Dieser bewaff-
nete Konflikt hat nicht nur eine spezifisch russisch-ukrai-
nische Dimension: Er markiert den Beginn des zweiten
Kalten Kriegs in Europa, und es ist nicht sicher, ob er
                                                                           1 E
                                                                              inleitung
dieses Mal „kalt“ bleiben wird. Die russische Führungs-
                                                                           Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am
clique hat sich in ein Bild der Rolle Russlands in Europa
                                                                           24. Februar 2022 markierte einen einschneidenden
hineingesteigert, das zwar aus der Zeit gefallen scheint,
                                                                           Umbruch in den internationalen Beziehungen, den
angesichts der russischen Militärpotenziale aber die west-
                                                                           Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag ganz richtig
liche Staatengemeinschaft zwingt, sich mit der russischen
                                                                           eine „Zeitenwende“ nannte. Eingeleitet hatten dieses
Herausforderung auseinanderzusetzen. Noch sind die
                                                                           Drama zwei ungewöhnliche Ultimaten Russlands an die
Konturen des kommenden Kalten Kriegs nicht klar erkenn-
                                                                           US-Regierung und die Mitgliedstaaten der NATO, die die
bar, doch es lassen sich bereits Faktoren und Dynamiken
                                                                           russische Regierung Mitte Dezember 2021 auch auf der
identifizieren, die ihn strukturieren werden.
                                                                           Webseite des Außenministeriums veröffentlichte: Die
Schlüsselwörter: Russland, Ukraine, europäische Sicher-                    westlichen Staaten, so der Inhalt, sollten sich schriftlich
heit, Kalter Krieg                                                         und verbindlich verpflichten, kein weiteres Land in die
                                                                           NATO aufzunehmen. Zudem sei die Präsenz ausländischer
                                                                           Truppen auf dem Gebiet der neuen Mitglieder in Ostmit-
Abstract: With the publication of two ultimatums to the                    teleuropa gänzlich abzubauen. Auch müssten die USA
USA and NATO, as the invasion of Ukraine has confirmed,                    ihre Kernwaffen aus Europa zurückziehen und dürften in
Russia wants to achieve a fundamental change in the in-                    Europa keine Raketen stationieren, die Russland erreichen
ternational security system and for that end is determined                 könnten. Mit dieser Aufforderung einher ging die Andro-
to use military force. The war in Ukraine, therefore, not                  hung „militärtechnischer Maßnahmen“ für den Fall der
only has a specifically Russian-Ukrainian dimension,                       Zurückweisung. Um seine „militärtechnische“ Drohung
but it also marks the beginning of a second Cold War in                    zu untermauern, setzte Moskau die bereits begonnene
Europe and one that provides no guarantee that it will                     Verlegung von Truppen an die ukrainische Grenze fort
remain “cold.” Putin and the narrow circle of associates                   (auch unter Einbeziehung des Territoriums von Belarus).
around him appear to live in a world that strives for a role               Was viele nicht begreifen wollten: Dieses Ultimatum war
for Russia in Europe that may seem utterly outdated, but                   eine verklausulierte Kriegserklärung gegen die Ukraine
                                                                           und den Westen, gegen die auch noch so viel gut gemeinte
                                                                           Diplomatie nichts ausrichten konnte.1
*Kontakt: Dr. Hannes Adomeit †
Prof. Dr. Joachim Krause, Direktor, Institut für Sicherheitspolitik an
der Universität Kiel, Geschäftsführender Herausgeber von Sirius;           1 Andrew E. Kramer/Steven Erlanger: Putin Moves to Push NATO Out
E-Mail: jkrause@politik.uni-kiel.de                                        of Former Soviet Republics, New York Times, 18.12.2021, A1.

 Open Access. © 2022 Adomeit/Krause, publiziert von De Gruyter.              Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons
Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
130        Hannes Adomeit/Joachim Krause

     Mit dem Ultimatum und spätestens dem russischen              gehandelt hatte.3 Diese Ordnung bedeutete die politische
Überfall auf die Ukraine am Morgen des 24. Februar hat            Unabhängigkeit für Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn,
der jahrelang latente Konflikt zwischen Russland und              Rumänen und Bulgaren und für die Deutschen in der DDR.
der westlichen Staatengemeinschaft ein Niveau erreicht,           Sie bedeutete für Ukraine, Belarus, Estland, Lettland und
auf dem man von einem „neuen Kalten Krieg“ sprechen               Litauen, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan
muss. Und angesichts der Kämpfe in der Ukraine ist nicht          die nationale Unabhängigkeit. Sie basierte auf den Prinzi-
einmal sicher, ob es bei einem „kalten“ Krieg bleiben wird.       pien der Anerkennung der staatlichen Souveränität und
Die Härte seiner Forderung und die zeitnahe Umsetzung             Unverletzlichkeit von Grenzen, auf Gewaltverbot, dem
der angedrohten militärtechnischen Maßnahmen lassen               vertraglich geregelten Verzicht auf Invasionsfähigkeit und
den Schluss zu, dass Moskau alles viele Jahre im Voraus           dem verbrieften Recht jedes Staates, über seine Bündnis-
durchdacht und geplant hatte – und dass wir noch lange            zugehörigkeit selbst zu entscheiden. Zentrales Element
nicht das Ende der russischen Herausforderung gesehen             waren die Achtung des Völkerrechts und die Nutzung
haben. Dass sein Vorgehen eine Vielzahl von Sanktionen            multilateraler Institutionen, um die friedliche Zusammen-
und damit eine faktische Abkoppelung Russlands von der            arbeit zwischen Staaten zu ermöglichen.4 All dies steht
Weltwirtschaft auslösen wird, dessen war Moskau sich bei          jetzt in Frage, weil der Kreml diese Ordnung mit militäri-
der Planung sicher. All dies war einkalkuliert und zeigt,         schen Mitteln, Drohungen, Lügen und Täuschungsmanö-
dass die westliche Staatengemeinschaft es nicht mit einem         vern umstürzen will.
regionalen Konfliktgeschehen zu tun hat, das unglück-                  Um die Dimension und die Konsequenzen der der-
licherweise eskaliert ist, sondern mit einer internationa-        zeitigen Krise zu verstehen, sollen in diesem Beitrag vier
len Herausforderung, die grundsätzlicher Natur und von            Fragen beantwortet werden: (1) Welche Beweggründe und
globalstrategischer Reichweite ist.                               Zielsetzungen liegen Putins Drohungen und der Invasion
     Die Bundesregierung blieb bis zur Einleitung der             zugrunde? (2) Was hat er unternommen, um seine Ziele zu
Kampfhandlungen durch Russland zurückhaltend und                  erreichen? (3) Hat der Westen angemessen auf die Krise
vollzog erst dann eine Kehrtwende, als sich das gesamte           reagiert? und (4) Was bedeutet der Eintritt in den zweiten
Ausmaß des militärischen Überfalls und der enorme Ver-            Kalten Krieg für die westliche Staatengemeinschaft und
teidigungswille der ukrainischen Bevölkerung abzeich-             Deutschland?
neten. Zuvor hatten nahezu alle Verbündeten völlig zu
Recht die wankelmütige Einstellung der Ampelkoalition
(zu Nord Stream 2 und Waffenlieferungen an die Ukraine)
kritisiert. Auf der Sondersitzung des Deutschen Bundes-
                                                                  2 Z
                                                                     ielsetzungen des „Systems
tags am 27. Februar 2022 erfolgte schließlich im Rahmen             Putin“
der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz
die grundlegende Umorientierung der deutschen Politik.2           In den vielfältigen, sowohl im Westen als auch von re-
Sie umfasste die Zustimmung zu massiven Wirtschafts-              gierungsunabhängigen Analysten unternommenen Be-
sanktionen gegen Russland (einschließlich dem Stopp von           mühungen, hinter dem massiven Aufbau des Invasions-
Nord Stream 2), der Lieferung von Waffen an die Ukraine           potenzials und dem Forderungskatalog vom Dezember
und einem Sofortprogramm zur Ausrüstung und Wieder-               2021 die russischen Zielsetzungen zu erkennen, schälen
aufrüstung der Bundeswehr.                                        sich im Kern drei Interpretationen heraus.
     Der am 27. Februar 2022 angekündigte Politikwechsel          1. Russland verfolge strategisch defensive Ziele: Aus-
ist richtig und konsequent. Er kommt aber acht Jahre zu               gehend von den Forderungen des Kremls meint diese
spät. Spätestens seit Besetzung der Krim durch russische              Deutung eine defensive strategische Logik zu ent-
Spezialeinheiten im Februar 2014 und den anschlie-                    decken, laut der es Russland um Gleichberechtigung
ßenden Aggressionen gegen die Ost-Ukraine war offen-                  mit den USA geht. Moskau strebe nach strategischer
kundig, dass Russland die strategische Konfrontation                  Parität mit den USA und wolle geopolitische Nachteile
mit dem Westen sucht und eine fundamentale Revision                   verhindern, die ihm aus der NATO-Erweiterung ent-
der europäischen politischen Ordnung anstrebt, die man                stünden. „Vor allem ein NATO-Beitritt der Ukraine“, so
zwischen 1989 und 1997 unter Einbeziehung Moskaus aus-                ein Vertreter dieser Auffassung, „würde traditionelle

2 https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/regierungserklae   3 Vgl. dazu die Dokumentation in diesem Heft, S. 227.
rung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356.    4 Vgl. hierzu Spohr 2020.
Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz              131

     Bindungen zu prorussischen Volksteilen im Osten                             herung der Ukraine an den Westen“ verhindern. Die
     des Landes zerreißen, weitere Stationierungsräume                           Ukraine zu verlieren wäre eine historische Ernied-
     der NATO in unmittelbarer Nähe russischer Kern-                             rigung für ihn.10 Daher werde er, „solange er am
     regionen schaffen und die US-Militärpräsenz in der                          Ruder ist, die Ukraine nicht gehen lassen.“11 Es gehe
     Schwarzmeerregion bis zum Don ausweiten. Moskau                             ihm um „mehr als eine bloße sicherheitspolitisch
     sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba-                            motivierte Pufferzone, sondern de facto um eine Ein-
     Krise von 1962 legitimiert, um strategische Sicher-                         flusszone im ganzen ehemals sowjetischen Raum.“12
     heitsinteressen zu schützen.“ Nachhaltig entschärfen                        In dieser Zone wären systempolitische Anforderungen
     lasse sich die Krise nur durch eine „Wiederbelebung                         zu erfüllen, die über eine formale Bündniszugehörig-
     von Sicherheitsvereinbarungen und Rüstungskon-                              keit hinausgehen. Die dortigen Regierungssysteme
     trolle.“5 Für Putin sei die Gewährleistung der Sicher-                      dürften sich nicht an europäischen oder generell
     heit Russlands „oberstes Gebot.“6 Ihm gehe es um                            westlichen demokratischen, pluralistischen, rechts-
     „eine neue europäische Sicherheitsarchitektur […];                          staatlichen und zivilgesellschaftlichen Verhältnissen
     sein Angriff ist nicht so sehr gegen die Ukraine ge-                        orientieren, da diese auf Russland überschwappen
     richtet als gegen den Westen; die Ukraine ist ‚nur‘                         könnten. „Farbrevolutionen“ gelte es für das System
     die Leidtragende in dieser Auseinandersetzung.“7                            Putin also zu verhindern. Von dieser Warte aus seien
     Ähnlich haben russische Fachleute für Putins Außen-                         die Massenproteste in Belarus ein immenser „Schock
     und Sicherheitspolitik argumentiert. So stellte Sergei                      für Russland gewesen, als ein mehrere Jahrzehnte
     Karaganow rund zwei Wochen vor Moskaus Invasion                             lang vermeintlich stabiles autoritäres Regime plötz-
     schon in der Überschrift eines Artikels apodiktisch                         lich [fundamental] herausgefordert wurde“.13
     fest: „Es geht nicht um die Ukraine.“ Und weiter: „Die                 3.   Russland verfolge offensive strategische Ziele: Dieser
     russischen Truppen, die sich in der Nähe der ukrai-                         Interpretation zufolge hat der Kreml weitergehende
     nischen Grenze befinden, werden nicht in das Land                           Ziele als die „Zurückeroberung“ der Ukraine und die
     einrücken. Es wäre einfach sinnlos. Das Aneignen von                        Wiederherstellung der Sowjetunion zum Zweck der
     Land, das von seinen antinationalen und korrupten                           Sicherung ihrer Herrschaft. Vielmehr habe Putin vor,
     herrschenden Schichten verwüstet wurde, wäre eines                          die von ihm empfundene Schmach der Jahre 1989–97
     der schlimmsten Szenarien. Die Truppen sind da, um                          zu tilgen, den Ost-West-Konflikt wieder zu beleben
     einen weiteren Angriff auf die Donbass-Republiken zu                        und zu Bedingungen zu beenden, die Russlands Vor-
     verhindern.“8 Ebenso entschieden verkündete Dmitri                          stellungen kontinentaler Vorherrschaft in Europa ent-
     Trenin: „Was Putin in der Ukraine wirklich will: Russ-                      sprächen. Russlands Ziel sei es, die NATO-Erweiterung
     land will die Expansion der NATO stoppen, nicht mehr                        faktisch rückgängig zu machen, die amerikanisch-
     Territorium annektieren.“9                                                  europäischen Verteidigungsbindungen zu zerstören
2.   Russland wolle das Gebiet der früheren Sowjetunion                          oder unwirksam werden zu lassen und eine Dominanz
     kontrollieren: Folgt man dieser Auslegung, so will                          Russlands auf dem europäischen Kontinent herzustel-
     Putin unter allen Umständen „eine weitere Annä-                             len.14

5 Richter 2022.                                                             10 Margarete Klein, Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und
6 Dmitri Trenin: Mapping Russia’s New Approach to the Post-Soviet           Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zitiert in
Space, Carnegie Moscow Center, Commentary, 15.2.2022; https://              Marco Fieber: Marschiert Russland in der Ukraine ein? Angst vor
carnegiemoscow.org/commentary/86438.                                        einem Krieg in Europa steigt, web.de vom 19.1.2022; https://web.
7 Michael von der Schulenburg: Putin ist schrecklich, aber die Al-          de/magazine/politik/marschiert-russland-ukraine-angst-krieg-
ternativen sind noch schlimmer, Berliner Zeitung, 26.2.2022.                europa-36523284.
8 Sergei A. Karaganov: It is not about Ukraine, Russia in Global            11 Fiona Hill zitiert bei Paul Sonne/Robyn Dixon: Wielding the
Affairs, 7.2.2022; https://eng.globalaffairs.ru/articles/it-is-not-about-   threat of war, a new, more aggressive Putin steps forward, Washington
ukraine/. Nachfolgend, auch in anderen Kapiteln, wird Karaganow             Post, 20.2.2022.
zitiert. Dies nicht deswegen, weil wir der Ansicht sind, dass er großen     12 Margarete Klein zitiert nach Fiber, Marschiert Russland, op.cit.
Einfluss auf das Denken, geschweige denn Entscheidungsfindungen             13 Ibid.
des Kremls habe, sondern weil er im Gegenteil das (verzerrte) Welt-         14 Damit dürfte die russische Politik eine Geisteshaltung überneh-
bild der Moskauer Machthaber völlig kritiklos reproduziert.                 men, der der deutsche Rechtswissenschaftler Carl Schmitt in einem
9 Dmitri Trenin: What Putin Really Wants in Ukraine: Russia Seeks           1939 erschienenen Essay Ausdruck verliehen hat. Seinen Vorstellun-
to Stop NATO’s Expansion, Not to Annex More Territory, Foreign              gen zufolge sollte es auf jedem Kontinent eine „Ordnungsmacht“
Affairs, 28.12.2021; https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-        geben, in Europa Deutschland, in Asien Japan und in der westlichen
fsu/2021-12-28/what-putin-really-wants-ukraine.                             Hemisphäre die USA. Und jede der Großmächte sollte sich verpflich-
132         Hannes Adomeit/Joachim Krause

Wir gehen davon aus, dass sich die erste dieser Argumen-                der Ambitionen. Das moralisch unterfütterte Narrativ des
tationen durch den Überfall auf die Ukraine erledigt hat                Kremls von der Bedrohung russischer Sicherheitsinteres-
und eine Kombination aus den beiden anderen der Rea-                    sen durch das „Vorschieben von NATO-Stoßkräften und In-
lität am nächsten kommt. Die zweite Auslegung trifft auf                frastruktur an Russlands Grenzen“ verstellt den Blick auf
jeden Fall zu, die dritte überzeugt immer mehr, je deutli-              Moskaus tatsächliche Motivation. Bei diesem Krieg geht es
cher wird, wie massiv Moskau in den Krieg investiert und                nicht um die Abwehr real existierender äußerer militäri-
wie entschlossen es mit den Ultimaten alle Brücken hinter               scher Bedrohungen. Es sind primär innere Faktoren, die
sich abgebaut hat. Beide Argumentationslinien schließen                 Russlands Außenverhalten bestimmen. Das Herbeireden
einander nicht aus.                                                     und Herbeiführen einer internationalen strategischen
     Unserer Interpretation zufolge hat der Kreml mit dem               Konfrontation ist ein zentrales Element der Herrschafts-
Überfall auf die Ukraine beabsichtigt, zunächst mithilfe                sicherung für die von Putin geschaffene kleptokratische
eines Regierungswechsels das gesamte Land zu unter-                     Diktatur.17
werfen. Dem sollten die Aufgabe der Westorientierung
des Landes folgen, Eingliederung der Ukraine in ein de
facto Satellitensystem auf post-sowjetischem Territorium,
die internationale Anerkennung von Annexionen wie
etwa der Krim sowie territoriale Abspaltungen vom ukrai-
nischen Staatsverband, allen voran der „unabhängigen“
Gebiete Luhansk und Donezk in ihren Grenzen vor dem
Jahr 2014. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Moskaus
Planungen weitergehender Natur waren und sind. Nimmt
man das Ultimatum vom Mitte Dezember 2021 beim
Wort, dann müsste der „Demilitarisierung“ und „Entna-
zifizierung“ der Ukraine die Verabreichung der gleichen
Medizin in den baltischen Staaten, in Polen sowie anderen
neuen NATO-Mitgliedstaaten folgen. Derartige Szenarien
wurden in den vergangenen Jahren immer wieder bei Pla-                  Generaloberst i.R. Iwaschow im Jahr 2005
nungen der Militärs in der NATO entworfen. Sie dürften
das strategische Kalkül in Moskau einigermaßen realis-
                                                                        Die wirklichen Motive sind nach überwiegender Auffas-
tisch wiedergeben.15 Zwar steht solchen Plänen das Wort
                                                                        sung von Russlandexperten eher innen- als geopolitischer
des amerikanischen Präsidenten entgegen, dass die USA
                                                                        Natur. Es geht um die „Stabilität des Putin-Systems und
jeden Zentimeter NATO-Territorium verteidigen werden.
                                                                        nur zweitrangig um russische Außenpolitik.“18 Hinter
Doch realistisch betrachtet wird die NATO die Beset-
                                                                        Putins Verhalten in der gegenwärtigen Krise steckt viel
zung der baltischen Staaten und großer Teile Polens mit
                                                                        innenpolitisches Kalkül. Diese Sichtweise wird nicht nur
den bislang dort stationierten Kräften nicht verhindern
                                                                        in der russischen Oppositionsbewegung geteilt, sondern
können. Sollte es sich zu einer Rückeroberung besetzter
                                                                        sogar in national-patriotischen Kreisen Russlands. Das
Gebiete entschließen, würde Russland im Sinne seiner
                                                                        geht aus einem „Appell“ hervor, in dem sich Generaloberst
Deeskalation-durch-Eskalation-Strategie mit dem Einsatz
                                                                        i.R. Leonid Iwaschow in seiner Eigenschaft als Sprecher
nicht-strategischer Kernwaffen drohen. Und das würde die
                                                                        der Allrussischen Offiziersversammlung, der Interessen-
NATO in eine Zerreißprobe treiben, die sie vermutlich po-
                                                                        vertretung der Offiziere der Reserve und im Ruhestand,
litisch nicht überleben wird.16
                                                                        Ende Januar 2022 „an den Präsidenten und die Bürger
     Der sicherheitspolitische Forderungskatalog vom
                                                                        Russlands“ gewandt hat.19 Die größte Bedrohung für
15. Dezember 2021 ist daher im Wesentlichen zu verstehen
                                                                        Russland, so der ehemalige Generalstabsoffizier, seien
als ein Zwischenziel bei der Verwirklichung weiterreichen-

                                                                        17 Zur russischen Kleptokratie siehe Dawisha 2014.
ten, nicht im Herrschaftsbereich der anderen zu intervenieren, vgl.     18 Vgl. Andreas Umland: Russlands Rolle und Ziele in der
Schmitt 1939. Anders als von Schmitt intendiert, wäre nach russischer   „Ukraine-Krise“, Ukraine-Nachrichten, August 2021; https://ukraine-
Vorstellung nunmehr Russland die dominierende Kontinentalmacht,         nachrichten.de/russlands-rolle-ziele-ukraine-krise_4065. Siehe auch
doch die Grundhaltung bleibt dieselbe.                                  Adomeit 2017a und Adomeit 2017b.
15 Vgl. Brauss/Krause 2019, Brauss/Krause 2021, s. a. Kroenig 2018.     19 Der Appell wird in deutscher Übersetzung in diesem Heft ver-
16 Siehe auch den Beitrag von Rainer Meyer zu Felde in diesem Heft.     öffentlicht, siehe S. 228.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz    133

Präsident Putin während seiner Fernsehansprache am 22.Februar 2022

die inneren Verhältnisse. Sie läge in einem fehlgeleiteten,          2.1 P
                                                                          utins Ziele
maroden Staatsmodell, mangelnder Qualität der Regie-
rungsführung, Ineffizienz des Macht- und Verwaltungs-                Neben den Beweggründen der Moskauer Machtelite sind
systems sowie der Passivität und Desorganisation der                 auch persönliche Motive des Kreml-Chefs zu nennen.
Gesellschaft. Das Aufschaukeln der Spannungen um die                 Putins Weltbild ist ganz „sowjetisch“ geprägt. Er kann sich
Ukraine sei in erster Linie „künstlicher“ Natur. Krieg sei           offensichtlich nicht von der Vorstellung der Sowjetunion
für die russische Regierung ein Mittel, um das Problem der           in ihren Grenzen unter Einschluss der baltischen Staaten,
„Aufrechterhaltung ihrer antinationalen Macht“ für eine              des südlichen Kaukasus und Zentralasiens lösen. So hat er
Weile zu lösen und den Reichtum zu bewahren, den sie                 im Lauf seiner Amtszeiten wiederholt kategorisch konsta-
„dem Volk gestohlen haben.“20 Das Besorgniserregende                 tiert: „Die Sowjetunion – auch das ist Russland, nur unter
an dieser innenpolitischen Voraussetzung der russischen              einem anderen Namen.“21 Und: „Der Zusammenbruch der
Außenpolitik ist, dass die verwendeten Narrative im Laufe            UdSSR, das war der Zusammenbruch des historischen
der Zeit immer radikaler wurden und tief sitzende Instinkte          Russlands unter dem Namen Sowjetunion.“22 Sein Bedau-
der russischen Gesellschaft ansprechen. Während die Dar-             ern darüber hat er mehrere Male zum Ausdruck gebracht.
stellung Putins und seiner Getreuen in den Jahren ab 2007            Am bekanntesten ist seine Äußerung in einer Rede zur Lage
hauptsächlich darin bestand, dass Russland vom Westen                der Nation vor der Föderalen Versammlung im Jahr 2005,
betrogen worden sei, gewinnen mittlerweile Narrative                 als er die Auflösung der UdSSR als eine „riesige geopoliti-
die Oberhand, die man als großrussisch-nationalistisch,
rechtsextrem und faschistoid qualifizieren muss. Hierzu
zählen Behauptungen Putins und seiner Entourage, die                 21 „Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. Aber was war das,
Ukraine sei kein eigener Staat und gehöre zu Russland.               die Sowjetunion? Auch das war Russland, nur hat man es anders
                                                                     genannt.“ Interv’ju Putina trem rossijskim telekanalam, Ria.ru,
                                                                     17.10,2011, http://ria.ru/politics/20111017/462204254.html.
                                                                     22 Putin: Rasval Sovetskogo Sojuza eto tragedija 20-ogo veka,
20 Siehe die Übersetzung in diesem Heft, S. 228.                     https://www.youtube.com/watch?v=joNosLwjP4M.
134         Hannes Adomeit/Joachim Krause

sche Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete.23 Im               tieren.“26 Im Einklang damit erklärte Wladimir Medinski,
Dokumentarfilm „Russland. Jüngste Geschichte“, der am                  der Leiter der russischen Delegation bei den Gesprächen
12. Dezember 2021 im russischen Fernsehsender Rossija 1                mit der Ukraine am 28. Februar 2022 an der belarussisch-
ausgestrahlt wurde, beklagte er wiederum den Zerfall der               ukrainischen Grenze, bei diesem Land handele es sich um
Sowjetunion. Gefragt nach seiner persönlichen Wahrneh-                 einen „Phantomstaat.“27
mung dieses Ereignisses, antwortete er: „Es war eine Tra-                   Sowohl der aus der russischen Geschichte abgeleitete
gödie, genauso wie für die große Mehrheit der Bürger des               territoriale Revisionismus als auch die Negierung ukrai-
Landes. […] Wir haben uns in ein völlig anderes Land ver-              nischer Staatlichkeit wurden bereits mit der Annexion der
wandelt. Was über 1.000 Jahre hinweg aufgebaut worden                  Krim und der Gründung der „Volksrepubliken“ Luhansk
war, ging weitgehend verloren.“24                                      und Donezk ins grelle Rampenlicht gerückt. Putin machte
     Putin will offensichtlich als Architekt der Wiederher-            sich für die Wiederherstellung eines Konstrukts stark, das
stellung der „Einheit Russlands“ in die Geschichte ein-                eigentlich nur Historiker kannten: das zaristische Gouver-
gehen. Folgt man seiner Ansicht, Russland sei das Äqui-                nement Noworossija (Neurussland). Wie Putin im April
valent der Sowjetunion, kann das nichts anderes bedeuten               2014 erklärte, bediente er sich hier der Terminologie aus
als die Verwirklichung eines zutiefst revisionistischen                Zarenzeiten. „Neurussland, das sind Charkow, Luhansk,
Konzepts: die Wiederherstellung des postsowjetischen                   Donezk, Cherson, Mykolajiw, Odessa – diese Städte ge-
Raums als russische Einflusssphäre bzw. die Annexion                   hörten zur Zarenzeit nicht zur Ukraine. Die Sowjetregie-
von ehemals sowjetischen Gebieten. Das Besondere daran                 rung übergab diese Gebiete erst in den 1920er-Jahren
ist nicht lediglich die Wiederkehr der „Breschnew-Dok-                 der Ukraine. Warum sie das tat, weiß nur Gott.“28 Würde
trin“ begrenzter Souveränität von Satellitenstaaten, da es             Putins Vision umgesetzt, würde Moskau die gesamte Küste
Putin zufolge „echte Souveränität“ nur im Verbund, nur                 des Asowschen und die nördliche Küste des Schwarzen
in „Partnerschaft“ mit Russland geben könne.25 Hinsicht-               Meeres beherrschen und ein breites Band zusammenhän-
lich der Ukraine sind es weit über diese Doktrin hinaus                gender Gebiete kontrollieren, das sich von Russlands der-
Putins territoriale Ansprüche und die Verneinung der                   zeitigen Westgrenzen bis zu den Grenzen Rumäniens und
Staatlichkeit sowie der Existenzberechtigung des Landes.               Moldawiens (einschließlich Moldawiens selbsternannter
So sagte er bei der Sitzung des NATO-Russland-Rats am                  „Moldauischen Republik Transnistrien“) erstreckt. Auch
4. April 2008 in Bukarest und dem Treffen mit Präsident                wenn Putin diesen Begriff kurz danach von der öffent-
George W. Bush am 6. April 2008 in Sotschi, die Ukraine                lichen Agenda nahm, blieb doch die Drohung einer mög-
sei „keine richtige Nation.“ Einen großen Teil ihres Ter-              lichen Abspaltung dieser Gebietsteile der Ukraine zurück.
ritoriums habe Russland „weggegeben.“ Russland könnte                       Neben der territorialen Dimension auf Basis einer ver-
eine Abspaltung der Krim und der östlichen Landesteile                 zerrten Geschichtsdarstellung sind bei der Invasion auch
der Ukraine betreiben. Und sollte die Ukraine der NATO                 ethnische und kulturelle Beweggründe zu berücksichtigen.
beitreten, würde die Ukraine „aufhören, als Staat zu exis-             Dem von Russland propagierten Kulturverfall des Westens

23 Putin: Raspad SSSR – krupnejšaja geopolitičeskaja katastrofa        26 Vladimir Socor: Moscow Makes Furious but Empty Threats to
veka, https://www.youtube.com/watch?v=d4Xlwd91IlY. Die Über-           Georgia and Ukraine, Eurasia Daily Monitor, 14. April 2008; Putin
setzung „riesig“ (oder „enorm“) für krupnejšaja ist richtig. Wäre es   Hints At Splitting Up Ukraine, Moscow Times, 8.4.2008; Ugroza
die „größte“ Katastrophe gewesen, hätte Putin samaja krupnaja ka-      Kremlja, Kommersant.com, 7.4.2008; Putin Threatens Unity of
tastrofa sagen müssen.                                                 Ukraine, Georgia, Unian, 7.4.2008, www.unian.netambassador. In
24 Putin: Raspad SSSR, op. cit. In der Doku versuchte er von der von   einem Radio-Interview bestätigte Außenminister Lawrow sinngemäß
ihm vorher diagnostizierten geopolitischen Dimension des Zusam-        diesen Bericht: Sowohl in Bukarest als auch in Sotschi hätte Putin
menbruchs der Sowjetunion abzulenken und stellte die „humanitä-        daran erinnert, wie die heutige Ukraine in ihren gegenwärtigen Gren-
ren“ Aspekte in den Vordergrund. Mit dem Zerfall der Sowjetunion,      zen geschaffen worden sei. Er habe an die Gegensätze zwischen der
sagte er, „fanden sich 25 Millionen Russen über Nacht im Ausland       westlichen Ukraine und ihren östlichen und südöstlichen Regionen
wieder, in den Republiken der ehemaligen UdSSR, die ihre Unabhän-      erinnert und gesagt, die westlichen Anstrengungen, die Ukraine in
gigkeit und Souveränität erlangten. [… Viele] Menschen sind dadurch    die NATO zu ziehen, würden nicht die wichtige Aufgabe erleichtern,
in die Enge getrieben und gegen ihren Willen ins Ausland vertrieben    der Ukraine bei der Wahrung ihrer Einheit zu helfen. Radio-Interview
worden. Es war unmöglich für sie, zurückzukehren und mit ihren Ver-    mit Echo Moskvy am 8.4.2008.
wandten wieder vereint zu werden. Es gab weder Arbeits- noch Wohn-     27 Natalya Vasilyeva: Russia’s chief negotiator in peace talks belie-
plätze. Dies ist eine große humanitäre Tragödie, ohne jegliche Über-   ves Ukraine is a “phantom” state, Telegraph (London), 28.2.2022.
treibung“; ibd.                                                        28 In der traditionellen Rede-und-Antwort-Sendung im russischen
25 Vladimir Putin: “Ob istoričeskom edinstve russkich i ukraincev”,    Fernsehen: Prjamaja linija s Vladimirom Putinym, Kremlin.ru,
Kremlin.ru, 12.7.2021, Kremlin.ru/events/president/news/66181.         17.4.2014, http://www.kremlin.ru/news/20796.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz             135

hat Putin das Konzept der „Russischen Welt“ (Russkij mir)                  erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein. Schließ-
entgegengesetzt.29 Zu dieser Welt gehörten nicht nur über                  lich sind wir ein Volk.“32
25 Millionen ethnische Russen im Ausland, die russische                         Putins Überzeugung von der Bedeutung der „Bluts-
„Volksgemeinschaft“ (obščina) und „Russischsprachige“                      bande“ liefert eine wichtige Erklärung für seine Entschlos-
(russkojazyčnye), sondern sie vereine „all diejenigen,                     senheit, die „Einheit Russlands“ mit Gewalt herzustellen.
die die russische Sprache und Kultur wertschätzen, ganz                    Wie der starke Widerstand der Ukrainer, unabhängig von
unabhängig davon, wo sie leben, sei es in Russland oder                    ihrem ethnischen und kulturellen Hintergrund, gegen die
jenseits seiner Grenzen.“30 Putin leitet daraus eine „große                russische Invasion zeigt, entsprechen seine Vorstellungen
Mission der Russen“ ab, „unsere Zivilisation zu vereinen                   nicht der Wirklichkeit.
und zu binden.“ Trotz dieser Anerkennung der multieth-
nischen Zusammensetzung der Russischen Föderation
ist auch bei Putin − um bewusst ein politisch sensibles                    2.2 U
                                                                                nterwerfung der Ukraine
Wort zu gebrauchen − ein starkes „völkisches“ Element zu
erkennen. Dies macht vor allem seine Sicht der Ukraine                     Wie die Bereitstellung umfangreicher Truppenverbände
und der Ukrainer deutlich. So hat er in einem Artikel vom                  und die massive Invasion aus vier Hauptrichtungen
12. Juli 2021 „Über die historische Einheit von Russen und                 zeigten, war und ist Putins Endziel die Unterwerfung der
Ukrainern“ einleitend erklärt: „Russen und Ukrainer sind                   gesamten Ukraine. Zu diesem Zweck sollten Präsident,
ein Volk, ein geeintes Ganzes. […] Ich habe das schon oft                  Regierung und Parlament durch moskauhörige Quislinge
gesagt, es ist meine feste Überzeugung.“31 Er schloss ab                   ersetzt werden. Das geht unmissverständlich aus Putins
mit den Worten: „Unsere religiösen, menschlichen und                       Artikel vom 12. Juli 2021 und dem Dmitri Medwedews
kulturellen Beziehungen sind über Jahrhunderte ge-                         vom 11. Oktober 2021 hervor. Ganz bewusst sprechen sie
wachsen, sie beruhen auf gemeinsamen Ursprüngen und                        vom „gegenwärtigen“ Präsidenten, den „gegenwärtigen
wurden durch gemeinsame Prüfungen, Errungenschaften                        Führern“ und den „gegenwärtigen Machthabern.“ Diese,
und Siege gestählt. Unsere verwandtschaftliche Nähe wird                   so Putin, schürten Feindschaft und Hass gegen Russland
von Generation zu Generation weitergegeben. Sie lebt in                    und alles Russische und Kiews „gegenwärtige Politik“
den Herzen und im Gedächtnis der Menschen im heutigen                      bestehe aus einer „aggressive Assimilationspolitik“ – aus
Russland und in der Ukraine, in Gestalt der Blutsbande,                    der Etablierung eines ethnisch sauberen ukrainischen
die Millionen unserer Familien verbinden. Gemeinsam                        Staates, die sich aggressiv gegen Russland richte und in
waren wir schon immer um ein Vielfaches stärker und                        ihren Folgen dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen
                                                                           gleichkomme. Millionen von Menschen, die eine „echte“
                                                                           Unabhängigkeit wünschten, würden unterdrückt. „Für
                                                                           ihre Überzeugungen […] werden sie nicht nur verfolgt,
29 Grundlegend hierzu Quiring 2017. Nachfolgend wird bei der Über-
setzung die Möglichkeit der deutschen Sprache genutzt, zwischen            sondern auch ermordet.“ So weist Putin darauf hin, dass
„russisch“ (russkij) und „russländisch“ (rossijskij) zu unterscheiden.     nach dem Maidan „Pogrome über die Städte der Ukraine
Das Adjektiv „russisch“ hat eine historische und eine ethnische            hinwegrollten und in Odessa ukrainische Neonazis Men-
Dimension. Es bezieht sich auf das Russland unter den Zaren und            schen bei lebendigem Leibe verbrannten.“
ethnisch auf die „Russen“ (russskie), die in der gegenwärtigen na-
                                                                               Medwedew trieb diese Entmenschlichung der ukrai-
tionalpatriotischen Stimmung den Kern der Russischen Welt (Russkij
mir) bilden; „russländisch“ bezieht sich dagegen auf alles, was mit
                                                                           nischen Elite auf die Spitze.33 Dabei nahm er insbeson-
der Russländischen Föderation (Rossijskaja Federacija) zu tun hat.         dere den ukrainischen Präsidenten und dessen jüdische
30 Putin Ende 2006 auf einem Kongress in St. Petersburg zum Jahr           Wurzeln aufs Korn: Nachdem Selenski Präsident gewor-
der russischen Sprache, zit. von Außenminister Lawrow: Lavrov              den war, „begann er den reaktionärsten nationalistischen
nazval vnešnepolitičeskim prioritetom Rossii podderšku „Russkogo
mira“, Rifinfo.ru, 2.11.2015, http://www.rifinfo.ru/news/41125. − Erläu-
terung zum „[sic]: Es zeugt von Putins mentaler Identifikation „Russ-
lands“ mit der „Russländischen Föderation“ gleichzusetzen, denn er         32 Ibid. (Hervorhebung im Original).
hätte hier den letzteren Begriff gebrauchen müssen.                        33 Medwedew weist sich in diesem Artikel mit dem Titel „Warum
31 Vladimir V. Putin: Ob istoričeskom edinstve russkich i ukrain-          Kontakte mit der gegenwärtigen ukrainischen Führung sinnlos sind“
cev, Kremlin.ru, 12.7.2021; Kremlin.ru/events/president/news/66181.        als „stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats“ aus.
Der Artikel, wie auch der Dmitri Medwedews vom 11. Oktober, ist            Offensichtlich ist der Autor ein anderer als derjenige, der im Jahr
im Grunde als Legitimationsbasis des Kremls für die Invasion der           2009 geschrieben hatte, grundlegende innere Reformen seien not-
Ukraine zu betrachten; Dmitrij A. Medvedev: Počemu bessmyslen-             wendig, um die Existenz Russlands für die Zukunft zu sichern. Einzel-
nyj kontakty s nynešnym ukrainskim rykovodstvom, Kommersant,               heiten und Analyse der damaligen Forderungen bei Adomeit 2017a
11.10.2021’, https://www.kommersant.ru/doc/5028300.                        und 2017b.
136         Hannes Adomeit/Joachim Krause

Kräften der Ukraine fanatisch zu dienen. […]“ Die Quint-              dass der „Gewinn“ einer Seite der „Verlust“ der anderen
essenz der Angriffe Putins und Medwedews auf die „ge-                 ist.
genwärtige“ politische Führung der Ukraine ist offensicht-                 Putin hat diese Sicht auf den postsowjetischen Raum
lich: Sie muss beseitigt werden – und sei es mit Gewalt.34            übertragen. „In den internationalen Beziehungen können
                                                                      Machtvakua nicht lange bestehen. Würde Russland auf
                                                                      eine aktive Politik in der GUS [Gemeinschaft Unabhängi-

3 D
   ie Umsetzung der Strategie                                        ger Staaten] verzichten oder gar eine unbegründete Pause
                                                                      einlegen, würde dies unweigerlich dazu führen, dass
  gegen die Ukraine                                                   andere, aktivere Staaten [zum Beispiel der NATO?] diesen
                                                                      politischen Raum entschlossen ausfüllen würden.“37
Putins zentrales Instrument zur Verwirklichung seiner                      Das sowjetisch geprägte Weltbild mit seiner heraus-
Zielsetzungen war und ist militärische Macht, erst ihre An-           ragenden Bedeutung militärischer Macht durchzieht auch
drohung, dann ihre Anwendung. Die Wahl dieses Mittels                 das Denkmuster des Kreml-Hoftheoretikers Karaganow.
ist stets nicht als eine Ad-hoc-Lösung zu betrachten. Sie             Schon 1993, als Kräfte und Befürworter einer „Großmacht“-
wurzelt vielmehr zutiefst in Putins Weltbild, das nicht               Politik die von Außenminister Andrej Kosyrew vertretene
bloß ganz allgemein „sowjetisch“, sondern durchaus sta-               pro-atlantische Linie unter Beschuss nahmen, forderte er,
linistisch geprägt ist. Diesem Bild eigen ist eine vulgäre            Moskaus Macht und Einfluss im postsowjetischen Raum
Vorstellung von Darwins survival of the fittest als survival          wiederherzustellen: Ob Russland wolle oder nicht, Russ-
of the strongest: Schwach zu sein oder Schwäche zu zeigen             land würde „gezwungen“ sein, eine wichtige postimpe-
ist fatal. „Wer zurückfällt, wird geschlagen“, stellte Stalin         riale Rolle in Eurasien zu spielen, und obwohl sich „nicht
bereits 1931 fest.35                                                  alles mit Gewalt“ lösen lasse, so müsse Russland doch
     Zum selben Axiom bekannte sich Putin schon früh                  „die präventive Rolle der Gewalt“ rekonstituieren.38
in seiner Amtszeit als Präsident. „Generell muss man                       Von dieser „Notwendigkeit“ zieht sich eine gerade
zugeben“, sagte er, „dass wir die Komplexität und Ge-                 Linie zu der Fernsehansprache vom 22. Februar 2022, in
fahren der laufenden Prozesse in unserem eigenen Land                 der Putin die zwei Tage später einsetzende „militärische
und in der Welt nicht verstanden haben. Jedenfalls haben              Sonderoperation im Donbass“ zu rechtfertigen versuchte.
wir es versäumt, angemessen darauf zu reagieren. Wir                  Die Frage stelle sich, führte er aus, „ob man alle Probleme
haben Schwäche gezeigt. Und die Schwachen werden ge-                  mit Hilfe von Gewalt lösen oder man auf der Seite des
schlagen.“36 Mit „Stärke“ als Antonym von Schwäche ist                Guten bleiben sollte. Warum denken Sie, dass das Gute
vor allem militärische Stärke gemeint. Diese Auffassung               immer gewaltfrei sein sollte? Ich sehe das nicht so.“39
reiht sich nahtlos in das marxistisch-leninistische und                    Sogar der als besonnener geltende Dmitri Trenin
von Stalin bis hin zu Breschnew, Andropow und Tscher-                 schrieb eine Woche vor Beginn der Invasion: „Die Ukraine-
nenko geteilte Bild einer Welt als einer „Arena“, die von             Krise hat zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges
„antagonistischen Widersprüchen“ geprägt und in der                   die Bereitschaft Russlands gezeigt, militärische Gewalt
ein wesentliches Kriterium für die Gestaltung der Außen-              anzuwenden, um eine weitere Expansion des westlichen
politik die korrekte Diagnose der „Korrelation der Kräfte“            Bündnisses in ehemaliges sowjetisches Gebiet zu verhin-
(sootnošenie sil) ist. In dieser Weltschau, um die Begriff-           dern. Das ist eine riskante Strategie, die aber zumindest
lichkeit westlicher Spieltheorie zu verwenden, gibt es                teilweise aufgehen könnte: Angesichts der starken Oppo-
keine Win-win-Situationen, sondern gilt nur die Regel,                sition Moskaus hat Washington weder das Interesse noch

                                                                      37 Putin am 12.7.2004 auf dem Jahrestreffen mit den russischen Bot-
34 Medwedew zieht allerdings aus den Verunglimpfungen und Ver-        schaftern und diplomatischen Vertretern im Ausland: Putin 2004b.
urteilungen der politischen Führung der Ukraine einen anderen und     GUS ist die Abkürzung für Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Der
höchst unglaubwürdigen Schluss: „Was soll man in dieser Situation     Begriff ist im russischen Sprachgebrauch im Wesentlichen identisch
machen? Die Antwort lautet: Nichts! Wir müssen auf die Erscheinung    mit dem postsowjetischen Raum.
einer vernünftigen Regierung in der Ukraine warten.“                  38 Zit. bei Evans Rowl/Robert Novak: Russia’s “Monroe Doctrine”,
35 Stalin 1953, 457–458.                                              Washington Post, 26.2.1993.
36 Vladimir V. Putin: Obraščenie Prezidenta Rossii Vladimira Pu-      39 Putin, Vladimir V.: Historical Address Over Ukraine, 22.2.2022;
tina, 4.9.2004; http://www.kremlin/ru/appears/2004/09/04/1752_        https://www.youtube.com/watch?v=nWl_dO7ofSs, Putin weiter:
type63374_76320.shtml. Diese Fernsehansprache erfolgte am 4. Sep-     „Das Gute setzt die Möglichkeit voraus, sich selbst zu verteidigen“,
tember 2004 in seiner Fernsehansprache nach dem Terrorangriff in      mutatis mutandis wohl auch den „Schutz“ der ukrainischem „Völker-
Beslan. Die Rede wurde später von der Webseite des Kremls entfernt.   mord“ ausgesetzten „russischsprachigen“ Menschen.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz    137

die Absicht, mit Russland über die Ukraine zu kämpfen                      Am 24. Februar 2022 begann der militärische Überfall
oder Russland mit der Stationierung von US-Raketen dort               auf die Ukraine mit Luftangriffen auf militärische Ziele
zu sehr zu provozieren.“40 Von einem möglichen Fehl-                  und einer Luftlandeoperation mit dem Ziel, in die City von
schlag der riskanten Strategie war dabei nicht die Rede.              Kiew vorzudringen und Präsident Selenski festzunehmen
     Die militärische Ausführung der russischen Zielset-              oder zu töten. Gleichzeitig setzten sich die ersten mecha-
zungen wurde Ende März 2021 erkennbar. In den russi-                  nisierten Einheiten entlang von vier Angriffsachsen in
schen sozialen Medien tauchten unzählige Videos von                   Bewegung. Die Luftangriffe blieben erstaunlich verhalten,
Waffentransporten auf, die sich in Richtung der Gebiete               die gegen den ukrainischen Präsidenten gerichtete Luft-
(oblasti) Woronesch und Rostow am Don sowie Krasnodar                 landeoperation misslang kläglich und die Heeresverbände
(krai) und Krim bewegten.41 Die nächste größere Etappe                blieben nach 100 bis 120 Kilometern stehen, da die Logis-
der Invasionsvorbereitungen war das Manöver Sapad-2021,               tik am Limit war und vor allem, weil die ukrainischen
das vom 10. bis 16. September stattfand. Im Gegensatz                 Streitkräfte massiven Widerstand leisteten. Nach wenigen
zu früheren Sapad-Manövern, einschließlich des letzten                Tagen zeichnete sich ab, dass – was immer der russische
anno 2017, wurde Sapad-2021 mit umfangreichen Übungen                 Plan gewesen sein mochte – eine rasche Unterwerfung der
auf russischem und belarussischem Territorium in den                  Ukraine nicht gelingen würde. Dennoch setzte sich der
Monaten Juli und August eingehend vorbereitet. Zudem –                Krieg fort, von russischer Seite von Tag zu Tag brutaler.
und das war die Besonderheit – erfolgte der Hauptteil der                  Nach acht Wochen war erkennbar, dass der Krieg
Großübung nicht in der Nähe der Kontaktlinie zwischen                 durch eine Patt-Situation gekennzeichnet war, bei der ei-
Russland und der NATO, sondern weit davon entfernt in                 nerseits die russische Invasion als gescheitert angesehen
den Regionen Nischni Nowgorod (Truppenübungsplatz                     werden musste, andererseits aber die Ukraine die Kon-
Mulino) und Woronesch (Pogowo).42 Und damit nicht                     trolle über etwa 15 Prozent seines Territoriums verloren
von ungefähr in Gebieten, die deutlich näher an Charkiw,              hatte und zudem Schäden in der Größenordnung von 500
Donezk und Luhansk liegen als an Minsk.                               bis 600 Mrd. Euro erleiden musste.
     Der Truppenaufbau ging unter dem Deckmantel
immer neuer Militärmanöver weiter, so dass Russland
zu Beginn der Invasion am 24. Februar eine Streitmacht
von 169.000–190.000 Soldaten (pro-russische Rebellen in
                                                                      4 H
                                                                         at die westliche Staatenge-
der Ostukraine inklusive) an den Grenzen zur Ukraine zu-                meinschaft angemessen auf die
sammengezogen hatte; allein im Monat zuvor war diese
Streitmacht um mehr als 90.000 Mann gewachsen.43 Als
                                                                        Herausforderung reagiert?
Speerspitzen der Einsatzkräfte sollten die sogenannten
                                                                      Putins rücksichtslose, um nicht zu sagen brutale Vor-
taktischen Bataillonsgruppen (BTG) dienen. Verfügten die
                                                                      gehensweise, wirft kein positives Licht auf die bisherige
russischen Streitkräfte 2016 noch über 66 BTG, so waren es
                                                                      Politik der westlichen Staatengemeinschaft (die demo-
2022 insgesamt 168, von denen zu Beginn der Invasion 117
                                                                      kratisch regierten Staaten Europas, die USA und Kanada)
bereitgestellt und 111 eingesetzt wurden.44
                                                                      gegenüber Russland. Wer wie Putin derart weitgehende
                                                                      Forderungen in Form eines Ultimatums stellt, der macht
40 Trenin, Mapping Russia’s New Approach to the Post-Soviet Space,    deutlich, dass er eine umfassende und radikale Verände-
op. cit.                                                              rung der internationalen Beziehungen anstrebt (zumin-
41 Detaillierte Angaben zu den Bewegungen von Truppeneinheiten
                                                                      dest auf dem europäischen Kontinent). Er drückt damit
und Waffen mit entsprechenden Quellen bei Adomeit 2022.
42 Adomeit 2022.
                                                                      ebenfalls aus, was er von der gegnerischen Seite hält –
43 Ebd.                                                               nämlich nichts. Für Putin ist der Westen im Niedergang be-
44 Zu den taktischen Bataillonsgruppen und ihrem Einsatz in           griffen: Er hält die westlichen Gesellschaften für dekadent
der Ukraine siehe Andrzei Wilk/Pjotr Zochowski: Russia’s at-          und schwach, die Politiker für uneinig, unentschlossen,
tack on Ukraine: day 8, Webseite des Center for Eastern Studies       teilweise käuflich und die Führungsmacht des Westens
(Warsaw) vom 4.3.2022; https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/
                                                                      infolge innenpolitischer Polarisierungen für geschwächt.
analyses/2022-03-04/russias-attack-ukraine-day-8. Siehe auch
Pawel Makowiec: Russia Losing 22 Battalion Tactical Groups: Is
BTG a myth, or is it truly effective in combat?, Defence24.com-Web-
seite vom 14.3.2022; https://defence24.com/armed-forces/land-
forces/russia-losing-22-battalion-tactical-groups-is-btg-a-myth-or-   Ukraine, Popularmechnics.com-Webseite vom 24.2.2022; https://
is-it-truly-effective-in-combat-analysis. Siehe auch Mizokami, Kyle   www.popularmechanics.com/military/weapons/a39193732/russian-
(2022): How Russia’s Battalion Tactical Groups Will Tackle War With   battalion-tactical-groups-explained/.
138         Hannes Adomeit/Joachim Krause

Und Chinas Aufstieg führe dazu, dass Washington seine                     das Thema NATO-Erweiterung für die damalige Clinton-
internationalen Engagements zurückfahren müsse.                           Administration nicht auf der Agenda und entsprechende
                                                                          Signale aus Warschau, Budapest oder Prag wurden abge-
                                                                          blockt. Eindeutige Priorität der Politik der führenden
4.1 N
     ATO-Erweiterung: ein Fehler?                                        westlichen Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich und
                                                                          Deutschland) war es damals, Russland die Gelegenheit
Bei der Diskussion über Fehler „des Westens“ gegenüber                    einer demokratischen Erneuerung und Transformation
Russland finden sich überraschenderweise viele Stimmen                    zur Marktwirtschaft zu bieten – und da hätte eine Erwei-
aus dem Lager der Realistischen Schule der Politikwissen-                 terung der Nordatlantischen Allianz angesichts der un-
schaft, die dem Westen mangelnden Respekt gegenüber                       klaren innenpolitischen Lage in Russland möglicherweise
Russland vorwerfen. Insbesondere die „rücksichtslose“                     das falsche Zeichen gesetzt.
Ausweitung der NATO werten sie als Bedrohung russischer                        Die Lage änderte sich mit dem Ausgang der ersten
Sicherheitsinteressen. Ohne diese wäre das Verhältnis zu                  freien Parlamentswahl in Russland im Dezember 1993.
Russland heute ein anderes. Ein realistischer Umgang                      Das Ergebnis war niederschmetternd für alle, die auf
mit einer Großmacht wie Russland hätte es geboten, auf                    eine demokratische Transformation in Russland gehofft
dessen Sicherheitsbedürfnisse einzugehen. Auch gäbe es                    hatten. Jene Parteien, die eine solche Transformation an-
subtile Formen, Einflusszonen von Mächten wie Russland                    strebten, erhielten zusammen etwas mehr als 15 Prozent
zu akzeptieren, ohne westliche Werte verraten zu müssen                   der Stimmen. Stärkste Kraft mit fast 23 Prozent wurde eine
(siehe Finnlands Position nach dem Zweiten Weltkrieg).45                  rechtsnationalistische Partei, die sich zu offener Feind-
Gerne wird der Realist und Russland-Kenner George F.                      schaft zum Westen bekannte. Die Kommunistische Partei,
Kennan erwähnt, der Ende der 90er-Jahre eindringlich vor                  die für die Wiederherstellung der Sowjetunion stand,
einer NATO-Erweiterung gewarnt hatte.46 Aus dieser rea-                   wurde drittstärkste Kraft. Mit diesem Wahlausgang bestä-
listischen Perspektive ist es für die Ukrainer geboten, sich              tigten sich besonders in Ostmitteleuropa die schlimmsten
dem russischen Willen zu beugen und nicht zu kämpfen.47                   Befürchtungen.
     Es ist natürlich angebracht, gegenüber einer Groß-                        Schon im Januar 1994 beschloss die NATO ein Partner-
macht wie Russland Realismus walten zu lassen und                         schaftsprogramm, das Beitrittsinteressierten die Möglich-
sorgsam zwischen einer werteorientierten und einer                        keit der Mitwirkung in Einrichtungen der NATO gewährte.
machtorientierten Politik abzuwägen. Genau das war die                    Ein Jahr später eruierte man vorsichtig, welche Länder man
Politik der westlichen Allianz ab den frühen neunziger                    unter welchen Bedingungen aufnehmen könnte. Gleich-
Jahren – was die genannten „Realisten“ offensichtlich aus                 zeitig führte die NATO mit Russland Verhandlungen mit
ihrer Erinnerung gelöscht haben. Bis Anfang 1994 stand                    dem Ziel, Russland für den Fall einer NATO-Erweiterung
                                                                          Sicherheitsgarantien einzuräumen. Diese Verhandlungen
                                                                          mündeten 1997 in der Vereinbarung der NATO-Russland-
45 John Mearsheimer on why the West is principally responsible for        Akte. Darin verpflichtete sich die NATO, in neuen Mit-
the Ukrainian crisis. The political scientist believes the reckless ex-   gliedstaaten keine Kernwaffen und ausländische Truppen
pansion of NATO provoked Russia, The Economist, 11.3.2022; siehe          nur in einer militärisch irrelevanten Größenordnung zu
auch Johannes Varwick: Der Westen muss Russland eine Brücke
                                                                          stationieren. Außerdem wurde der NATO-Russland-Rat
bauen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.2022; oder: Politikwissen-
schaftler gibt Westen Mitschuld an Eskalation in Ukraine (gemeint
                                                                          geschaffen, der einen kontinuierlichen Dialog zwischen
ist der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler), Wallstreet-    Russland und der NATO sicherstellen sollte. Erst danach,
online.de, 24.2.2022.                                                     im Jahr 1999, wurden Polen, Ungarn und Tschechien in
46 George F. Kennan hatte sich 1997 in scharfen Worten gegen die          die NATO aufgenommen. Gleichzeitig wurden die Bundes-
NATO-Erweiterung ausgesprochen, die seiner Meinung nach die na-           wehr und andere europäische Streitkräfte verkleinert,
tionalistischen, anti-westlichen und militaristischen Tendenzen in
                                                                          sodass die Gesamtzahl der in Europa befindlichen Streit-
der russischen Gesellschaft wiedererwecken könnte, zitiert bei Alfred
Cahen: Answers to Some Common Questions on NATO Expansion,                kräfte des atlantischen Bündnisses zum Zeitpunkt des
International Herald Tribune, 2.7.1997. Tatsächlich waren die von ihm     Beitritts dieser drei Staaten (von denen nur Polen als mi-
genannten Tendenzen schon ab Mitte der 90er-Jahre in Russland             litärisch relevant zu bezeichnen ist) geringer war als vor
dominant und Hauptmotiv der russischen Nachbarn für einen NATO-           Verabschiedung der NATO-Russland-Akte. Im Jahr 2004
Beitritt.
                                                                          wurde unter den gleichen Regularien die zweite NATO-Er-
47 Vgl. Johannes Varwick: Krieg vom Ende her denken, Westdeut-
scher Rundfunk, Redezeit, 15.3.2022; https://www1.wdr.de/radio/
                                                                          weiterung eingeleitet, die dieses Mal die (militärisch völlig
wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-johannes-varwick-100.             unbedeutenden) baltischen Staaten, die Slowakei, Rumä-
html.                                                                     nien, Bulgarien und Slowenien umfasste. Beim NATO-Gip-
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz        139

fel 2008 sollten neben den militärisch ebenfalls irrelevan-        umfassten die Besetzung der Krim durch russische Son-
ten Staaten Albanien und Kroatien auch die Ukraine und             dereinsatzkräfte und „Freiwilligenverbände“ (plus die
Georgien aufgenommen werden. Gegen den Beitritt von                „Volksabstimmung“ zugunsten eines Beitritts der Krim zu
Ukraine und Georgien sprachen sich damals Deutschland              Russland) sowie die gewaltsamen Operationen russischer
und Frankreich unter Verweis auf russische Empfindlich-            Einsatzkräfte zur Vertreibung ukrainischer Behörden aus
keiten und mögliche Reaktionen Moskaus aus, weshalb                Städten und Landkreisen im Donbass und in Odessa.
deren Mitgliedschaftsanträge bis zum heutigen Tag unbe-            Während diese Form der hybriden Aggression in Odessa
antwortet sind.                                                    scheiterte, gelang es Russland, einen Teil der östlichen
     Von einer Missachtung russischer Sicherheitsinte-             Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Als im Frühjahr
ressen bei der NATO-Erweiterung kann also keineswegs               2015 ukrainische Truppen die Gebiete zurückzuerobern
die Rede sein. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten der              versuchten, intervenierte ein mechanisierter Verband der
Allianz behutsam abgewogen zwischen dem berechtigten               russischen Armee zugunsten der „Volksrepubliken“ und
Interesse der Staaten Ostmitteleuropas an Mitwirkung in            fügte den ukrainischen Einheiten eine Niederlage zu.
einer kollektiven Verteidigungsallianz einerseits und der              Deutschland und auch Frankreich begingen damals
russischen Sicherheitsperzeption andererseits. Damit ver-          einen entscheidenden Fehler: Sie wollten den prinzipiell
änderte sich der Charakter der NATO: die Verteidigung der          konfrontativen Charakter der russischen Politik gegen-
neuen Mitglieder blieb eine politische Formel, hinter der          über dem Westen nicht wahrhaben, der in den hybriden
nicht mehr eine gemeinsame Verteidigungsplanung und                Aggressionen gegenüber der Ukraine zum Vorschein kam.
Aufstellung entsprechender internationaler Streitkräfte-           Vielmehr hingen sie der irrigen Annahme an, es läge ein
formationen in den neuen Mitgliedstaaten standen. Falsch           regional begrenzter Konflikt zwischen Russland und der
ist auch das immer wieder zu vernehmende Argument, die             Ukraine vor, in dem man vermitteln könne und Äquidis-
NATO sei „an Russlands Grenzen herangerückt“. Es träfe             tanz praktizieren müsse. Dabei verstieß die russische Re-
zu, wenn größere ausländische Verbände nahe der russi-             gierung mit den Aggressionen gegen die Ukraine nicht nur
schen Grenze stationiert worden wären. Doch das ist nie            gegen zentrale Bestimmungen des Völkerrechts, sondern
versucht worden.                                                   auch gegen die Kernpunkte der sicherheitspolitischen
                                                                   Vereinbarungen und Absprachen, die der Kreml und die
                                                                   westlichen Regierungen zwischen 1990 und 1997 getroffen
4.2 D
     ie wirklichen Fehler des Westens                             hatten. Gerade wenn die Bundesregierung so viel Wert auf
                                                                   die Wahrung der internationalen regelbasierten Ordnung
Die tatsächlichen Fehler des Westens sind den folgen-              legte, hätte sie viel grundsätzlicher und härter reagieren
den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz zu entneh-                müssen. Auf ungesühnte kleine Regelverstöße folgen in
men, der am 8.2.2022 anlässlich eines Treffens mit dem             der Regel größere und am Ende bleibt von den Regeln
französischen und dem polnischen Präsidenten sagte:                nicht mehr viel übrig. Aber in ihrer illusorischen Politik
„Eine weitere Verletzung der territorialen Integrität und          fand sich die Bundesregierung durch Paris unterstützt
Souveränität der Ukraine ist inakzeptabel und würde                und zeitweilig hatte man den Eindruck, dass jede Regie-
weitreichende Konsequenzen für Russland nach sich                  rung die andere in einer russlandfreundlichen Politik zu
ziehen, politisch, wirtschaftlich und sicherlich auch geo-         übertrumpfen versuchte.49
strategisch.“48 Die Betonung liegt hier auf weitere Verlet-            Man muss allerdings einräumen, dass die Bundes-
zung der territorialen Integrität der Ukraine. Der größte          regierung im Herbst 2014 und vor allem im Frühjahr 2015
Fehler der westlichen Staatenwelt besteht genau darin,             mit den Verhandlungen im sogenannten Normandie-
vorherige massive Verletzungen der territorialen Integri-          Format der Ukraine eine womöglich nachhaltigere Nie-
tät der Ukraine durch Russland zugelassen zu haben. Sie            derlage erspart hat. Ergebnis waren die Vereinbarungen
                                                                   von Minsk (Minsk I und II sowie weitere Bestimmungen).50
                                                                   Doch hatten sich Berlin und Paris mit den Minsk-Abkom-
48 Pressestatements von Bundeskanzler Scholz, dem französi-        men auf ein Netz russischer Lügen und Propagandatricks
schen Präsidenten Macron und dem polnischen Präsidenten Duda       eingelassen, das den Spielraum für eine friedliche Lösung
beim Treffen im Format des Weimarer Dreiecks am 8. Februar
2022 in Berlin, https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/
pressestatements-von-bundeskanzler-scholz-dem-franzoesischen-      49 Vgl. Michaela Wiegel: Putin falsch eingeschätzt. Wie Frankreichs
praesidenten-macron-und-dem-polnischen-praesidenten-duda-          Präsident Macron die Warnzeichen ignorierte, FAZ, 28.3.2022, 8.
beim-treffen-im-format-des-weimarer-dreiecks-am-8-februar-2022-    50 Ausführlich zu den Bestimmungen der Abkommen vgl. Wissen-
in-berlin-2003880?utm_campaign.                                    schaftliche Dienste Deutscher Bundestags 2022.
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