Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
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SIRIUS 2022; 6(2): 129–149 Aufsätze Hannes Adomeit*/Joachim Krause Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz https://doi.org/10.1515/sirius-2022-2002 given Russia’s military capabilities the Western commu- nity is forced to confront the grave challenge. The contours Zusammenfassung: Mit der Veröffentlichung zweier Ulti- of the emerging new Cold War are not yet clear but several maten an die USA und die NATO will Russland eine grund- structural features and processes that will shape it can be legende Veränderung der sicherheitspolitischen Ordnung identified. erzwingen und ist – wie der Überfall auf die Ukraine gezeigt hat – fest entschlossen, seine Vorstellungen auch Keywords: Russia, Ukraine, European security, Cold War mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Dieser bewaff- nete Konflikt hat nicht nur eine spezifisch russisch-ukrai- nische Dimension: Er markiert den Beginn des zweiten Kalten Kriegs in Europa, und es ist nicht sicher, ob er 1 E inleitung dieses Mal „kalt“ bleiben wird. Die russische Führungs- Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am clique hat sich in ein Bild der Rolle Russlands in Europa 24. Februar 2022 markierte einen einschneidenden hineingesteigert, das zwar aus der Zeit gefallen scheint, Umbruch in den internationalen Beziehungen, den angesichts der russischen Militärpotenziale aber die west- Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag ganz richtig liche Staatengemeinschaft zwingt, sich mit der russischen eine „Zeitenwende“ nannte. Eingeleitet hatten dieses Herausforderung auseinanderzusetzen. Noch sind die Drama zwei ungewöhnliche Ultimaten Russlands an die Konturen des kommenden Kalten Kriegs nicht klar erkenn- US-Regierung und die Mitgliedstaaten der NATO, die die bar, doch es lassen sich bereits Faktoren und Dynamiken russische Regierung Mitte Dezember 2021 auch auf der identifizieren, die ihn strukturieren werden. Webseite des Außenministeriums veröffentlichte: Die Schlüsselwörter: Russland, Ukraine, europäische Sicher- westlichen Staaten, so der Inhalt, sollten sich schriftlich heit, Kalter Krieg und verbindlich verpflichten, kein weiteres Land in die NATO aufzunehmen. Zudem sei die Präsenz ausländischer Truppen auf dem Gebiet der neuen Mitglieder in Ostmit- Abstract: With the publication of two ultimatums to the teleuropa gänzlich abzubauen. Auch müssten die USA USA and NATO, as the invasion of Ukraine has confirmed, ihre Kernwaffen aus Europa zurückziehen und dürften in Russia wants to achieve a fundamental change in the in- Europa keine Raketen stationieren, die Russland erreichen ternational security system and for that end is determined könnten. Mit dieser Aufforderung einher ging die Andro- to use military force. The war in Ukraine, therefore, not hung „militärtechnischer Maßnahmen“ für den Fall der only has a specifically Russian-Ukrainian dimension, Zurückweisung. Um seine „militärtechnische“ Drohung but it also marks the beginning of a second Cold War in zu untermauern, setzte Moskau die bereits begonnene Europe and one that provides no guarantee that it will Verlegung von Truppen an die ukrainische Grenze fort remain “cold.” Putin and the narrow circle of associates (auch unter Einbeziehung des Territoriums von Belarus). around him appear to live in a world that strives for a role Was viele nicht begreifen wollten: Dieses Ultimatum war for Russia in Europe that may seem utterly outdated, but eine verklausulierte Kriegserklärung gegen die Ukraine und den Westen, gegen die auch noch so viel gut gemeinte Diplomatie nichts ausrichten konnte.1 *Kontakt: Dr. Hannes Adomeit † Prof. Dr. Joachim Krause, Direktor, Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Geschäftsführender Herausgeber von Sirius; 1 Andrew E. Kramer/Steven Erlanger: Putin Moves to Push NATO Out E-Mail: jkrause@politik.uni-kiel.de of Former Soviet Republics, New York Times, 18.12.2021, A1. Open Access. © 2022 Adomeit/Krause, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
130 Hannes Adomeit/Joachim Krause Mit dem Ultimatum und spätestens dem russischen gehandelt hatte.3 Diese Ordnung bedeutete die politische Überfall auf die Ukraine am Morgen des 24. Februar hat Unabhängigkeit für Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, der jahrelang latente Konflikt zwischen Russland und Rumänen und Bulgaren und für die Deutschen in der DDR. der westlichen Staatengemeinschaft ein Niveau erreicht, Sie bedeutete für Ukraine, Belarus, Estland, Lettland und auf dem man von einem „neuen Kalten Krieg“ sprechen Litauen, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan muss. Und angesichts der Kämpfe in der Ukraine ist nicht die nationale Unabhängigkeit. Sie basierte auf den Prinzi- einmal sicher, ob es bei einem „kalten“ Krieg bleiben wird. pien der Anerkennung der staatlichen Souveränität und Die Härte seiner Forderung und die zeitnahe Umsetzung Unverletzlichkeit von Grenzen, auf Gewaltverbot, dem der angedrohten militärtechnischen Maßnahmen lassen vertraglich geregelten Verzicht auf Invasionsfähigkeit und den Schluss zu, dass Moskau alles viele Jahre im Voraus dem verbrieften Recht jedes Staates, über seine Bündnis- durchdacht und geplant hatte – und dass wir noch lange zugehörigkeit selbst zu entscheiden. Zentrales Element nicht das Ende der russischen Herausforderung gesehen waren die Achtung des Völkerrechts und die Nutzung haben. Dass sein Vorgehen eine Vielzahl von Sanktionen multilateraler Institutionen, um die friedliche Zusammen- und damit eine faktische Abkoppelung Russlands von der arbeit zwischen Staaten zu ermöglichen.4 All dies steht Weltwirtschaft auslösen wird, dessen war Moskau sich bei jetzt in Frage, weil der Kreml diese Ordnung mit militäri- der Planung sicher. All dies war einkalkuliert und zeigt, schen Mitteln, Drohungen, Lügen und Täuschungsmanö- dass die westliche Staatengemeinschaft es nicht mit einem vern umstürzen will. regionalen Konfliktgeschehen zu tun hat, das unglück- Um die Dimension und die Konsequenzen der der- licherweise eskaliert ist, sondern mit einer internationa- zeitigen Krise zu verstehen, sollen in diesem Beitrag vier len Herausforderung, die grundsätzlicher Natur und von Fragen beantwortet werden: (1) Welche Beweggründe und globalstrategischer Reichweite ist. Zielsetzungen liegen Putins Drohungen und der Invasion Die Bundesregierung blieb bis zur Einleitung der zugrunde? (2) Was hat er unternommen, um seine Ziele zu Kampfhandlungen durch Russland zurückhaltend und erreichen? (3) Hat der Westen angemessen auf die Krise vollzog erst dann eine Kehrtwende, als sich das gesamte reagiert? und (4) Was bedeutet der Eintritt in den zweiten Ausmaß des militärischen Überfalls und der enorme Ver- Kalten Krieg für die westliche Staatengemeinschaft und teidigungswille der ukrainischen Bevölkerung abzeich- Deutschland? neten. Zuvor hatten nahezu alle Verbündeten völlig zu Recht die wankelmütige Einstellung der Ampelkoalition (zu Nord Stream 2 und Waffenlieferungen an die Ukraine) kritisiert. Auf der Sondersitzung des Deutschen Bundes- 2 Z ielsetzungen des „Systems tags am 27. Februar 2022 erfolgte schließlich im Rahmen Putin“ der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz die grundlegende Umorientierung der deutschen Politik.2 In den vielfältigen, sowohl im Westen als auch von re- Sie umfasste die Zustimmung zu massiven Wirtschafts- gierungsunabhängigen Analysten unternommenen Be- sanktionen gegen Russland (einschließlich dem Stopp von mühungen, hinter dem massiven Aufbau des Invasions- Nord Stream 2), der Lieferung von Waffen an die Ukraine potenzials und dem Forderungskatalog vom Dezember und einem Sofortprogramm zur Ausrüstung und Wieder- 2021 die russischen Zielsetzungen zu erkennen, schälen aufrüstung der Bundeswehr. sich im Kern drei Interpretationen heraus. Der am 27. Februar 2022 angekündigte Politikwechsel 1. Russland verfolge strategisch defensive Ziele: Aus- ist richtig und konsequent. Er kommt aber acht Jahre zu gehend von den Forderungen des Kremls meint diese spät. Spätestens seit Besetzung der Krim durch russische Deutung eine defensive strategische Logik zu ent- Spezialeinheiten im Februar 2014 und den anschlie- decken, laut der es Russland um Gleichberechtigung ßenden Aggressionen gegen die Ost-Ukraine war offen- mit den USA geht. Moskau strebe nach strategischer kundig, dass Russland die strategische Konfrontation Parität mit den USA und wolle geopolitische Nachteile mit dem Westen sucht und eine fundamentale Revision verhindern, die ihm aus der NATO-Erweiterung ent- der europäischen politischen Ordnung anstrebt, die man stünden. „Vor allem ein NATO-Beitritt der Ukraine“, so zwischen 1989 und 1997 unter Einbeziehung Moskaus aus- ein Vertreter dieser Auffassung, „würde traditionelle 2 https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/regierungserklae 3 Vgl. dazu die Dokumentation in diesem Heft, S. 227. rung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356. 4 Vgl. hierzu Spohr 2020.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz 131 Bindungen zu prorussischen Volksteilen im Osten herung der Ukraine an den Westen“ verhindern. Die des Landes zerreißen, weitere Stationierungsräume Ukraine zu verlieren wäre eine historische Ernied- der NATO in unmittelbarer Nähe russischer Kern- rigung für ihn.10 Daher werde er, „solange er am regionen schaffen und die US-Militärpräsenz in der Ruder ist, die Ukraine nicht gehen lassen.“11 Es gehe Schwarzmeerregion bis zum Don ausweiten. Moskau ihm um „mehr als eine bloße sicherheitspolitisch sieht sein Vorgehen wie das der USA in der Kuba- motivierte Pufferzone, sondern de facto um eine Ein- Krise von 1962 legitimiert, um strategische Sicher- flusszone im ganzen ehemals sowjetischen Raum.“12 heitsinteressen zu schützen.“ Nachhaltig entschärfen In dieser Zone wären systempolitische Anforderungen lasse sich die Krise nur durch eine „Wiederbelebung zu erfüllen, die über eine formale Bündniszugehörig- von Sicherheitsvereinbarungen und Rüstungskon- keit hinausgehen. Die dortigen Regierungssysteme trolle.“5 Für Putin sei die Gewährleistung der Sicher- dürften sich nicht an europäischen oder generell heit Russlands „oberstes Gebot.“6 Ihm gehe es um westlichen demokratischen, pluralistischen, rechts- „eine neue europäische Sicherheitsarchitektur […]; staatlichen und zivilgesellschaftlichen Verhältnissen sein Angriff ist nicht so sehr gegen die Ukraine ge- orientieren, da diese auf Russland überschwappen richtet als gegen den Westen; die Ukraine ist ‚nur‘ könnten. „Farbrevolutionen“ gelte es für das System die Leidtragende in dieser Auseinandersetzung.“7 Putin also zu verhindern. Von dieser Warte aus seien Ähnlich haben russische Fachleute für Putins Außen- die Massenproteste in Belarus ein immenser „Schock und Sicherheitspolitik argumentiert. So stellte Sergei für Russland gewesen, als ein mehrere Jahrzehnte Karaganow rund zwei Wochen vor Moskaus Invasion lang vermeintlich stabiles autoritäres Regime plötz- schon in der Überschrift eines Artikels apodiktisch lich [fundamental] herausgefordert wurde“.13 fest: „Es geht nicht um die Ukraine.“ Und weiter: „Die 3. Russland verfolge offensive strategische Ziele: Dieser russischen Truppen, die sich in der Nähe der ukrai- Interpretation zufolge hat der Kreml weitergehende nischen Grenze befinden, werden nicht in das Land Ziele als die „Zurückeroberung“ der Ukraine und die einrücken. Es wäre einfach sinnlos. Das Aneignen von Wiederherstellung der Sowjetunion zum Zweck der Land, das von seinen antinationalen und korrupten Sicherung ihrer Herrschaft. Vielmehr habe Putin vor, herrschenden Schichten verwüstet wurde, wäre eines die von ihm empfundene Schmach der Jahre 1989–97 der schlimmsten Szenarien. Die Truppen sind da, um zu tilgen, den Ost-West-Konflikt wieder zu beleben einen weiteren Angriff auf die Donbass-Republiken zu und zu Bedingungen zu beenden, die Russlands Vor- verhindern.“8 Ebenso entschieden verkündete Dmitri stellungen kontinentaler Vorherrschaft in Europa ent- Trenin: „Was Putin in der Ukraine wirklich will: Russ- sprächen. Russlands Ziel sei es, die NATO-Erweiterung land will die Expansion der NATO stoppen, nicht mehr faktisch rückgängig zu machen, die amerikanisch- Territorium annektieren.“9 europäischen Verteidigungsbindungen zu zerstören 2. Russland wolle das Gebiet der früheren Sowjetunion oder unwirksam werden zu lassen und eine Dominanz kontrollieren: Folgt man dieser Auslegung, so will Russlands auf dem europäischen Kontinent herzustel- Putin unter allen Umständen „eine weitere Annä- len.14 5 Richter 2022. 10 Margarete Klein, Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und 6 Dmitri Trenin: Mapping Russia’s New Approach to the Post-Soviet Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), zitiert in Space, Carnegie Moscow Center, Commentary, 15.2.2022; https:// Marco Fieber: Marschiert Russland in der Ukraine ein? Angst vor carnegiemoscow.org/commentary/86438. einem Krieg in Europa steigt, web.de vom 19.1.2022; https://web. 7 Michael von der Schulenburg: Putin ist schrecklich, aber die Al- de/magazine/politik/marschiert-russland-ukraine-angst-krieg- ternativen sind noch schlimmer, Berliner Zeitung, 26.2.2022. europa-36523284. 8 Sergei A. Karaganov: It is not about Ukraine, Russia in Global 11 Fiona Hill zitiert bei Paul Sonne/Robyn Dixon: Wielding the Affairs, 7.2.2022; https://eng.globalaffairs.ru/articles/it-is-not-about- threat of war, a new, more aggressive Putin steps forward, Washington ukraine/. Nachfolgend, auch in anderen Kapiteln, wird Karaganow Post, 20.2.2022. zitiert. Dies nicht deswegen, weil wir der Ansicht sind, dass er großen 12 Margarete Klein zitiert nach Fiber, Marschiert Russland, op.cit. Einfluss auf das Denken, geschweige denn Entscheidungsfindungen 13 Ibid. des Kremls habe, sondern weil er im Gegenteil das (verzerrte) Welt- 14 Damit dürfte die russische Politik eine Geisteshaltung überneh- bild der Moskauer Machthaber völlig kritiklos reproduziert. men, der der deutsche Rechtswissenschaftler Carl Schmitt in einem 9 Dmitri Trenin: What Putin Really Wants in Ukraine: Russia Seeks 1939 erschienenen Essay Ausdruck verliehen hat. Seinen Vorstellun- to Stop NATO’s Expansion, Not to Annex More Territory, Foreign gen zufolge sollte es auf jedem Kontinent eine „Ordnungsmacht“ Affairs, 28.12.2021; https://www.foreignaffairs.com/articles/russia- geben, in Europa Deutschland, in Asien Japan und in der westlichen fsu/2021-12-28/what-putin-really-wants-ukraine. Hemisphäre die USA. Und jede der Großmächte sollte sich verpflich-
132 Hannes Adomeit/Joachim Krause Wir gehen davon aus, dass sich die erste dieser Argumen- der Ambitionen. Das moralisch unterfütterte Narrativ des tationen durch den Überfall auf die Ukraine erledigt hat Kremls von der Bedrohung russischer Sicherheitsinteres- und eine Kombination aus den beiden anderen der Rea- sen durch das „Vorschieben von NATO-Stoßkräften und In- lität am nächsten kommt. Die zweite Auslegung trifft auf frastruktur an Russlands Grenzen“ verstellt den Blick auf jeden Fall zu, die dritte überzeugt immer mehr, je deutli- Moskaus tatsächliche Motivation. Bei diesem Krieg geht es cher wird, wie massiv Moskau in den Krieg investiert und nicht um die Abwehr real existierender äußerer militäri- wie entschlossen es mit den Ultimaten alle Brücken hinter scher Bedrohungen. Es sind primär innere Faktoren, die sich abgebaut hat. Beide Argumentationslinien schließen Russlands Außenverhalten bestimmen. Das Herbeireden einander nicht aus. und Herbeiführen einer internationalen strategischen Unserer Interpretation zufolge hat der Kreml mit dem Konfrontation ist ein zentrales Element der Herrschafts- Überfall auf die Ukraine beabsichtigt, zunächst mithilfe sicherung für die von Putin geschaffene kleptokratische eines Regierungswechsels das gesamte Land zu unter- Diktatur.17 werfen. Dem sollten die Aufgabe der Westorientierung des Landes folgen, Eingliederung der Ukraine in ein de facto Satellitensystem auf post-sowjetischem Territorium, die internationale Anerkennung von Annexionen wie etwa der Krim sowie territoriale Abspaltungen vom ukrai- nischen Staatsverband, allen voran der „unabhängigen“ Gebiete Luhansk und Donezk in ihren Grenzen vor dem Jahr 2014. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Moskaus Planungen weitergehender Natur waren und sind. Nimmt man das Ultimatum vom Mitte Dezember 2021 beim Wort, dann müsste der „Demilitarisierung“ und „Entna- zifizierung“ der Ukraine die Verabreichung der gleichen Medizin in den baltischen Staaten, in Polen sowie anderen neuen NATO-Mitgliedstaaten folgen. Derartige Szenarien wurden in den vergangenen Jahren immer wieder bei Pla- Generaloberst i.R. Iwaschow im Jahr 2005 nungen der Militärs in der NATO entworfen. Sie dürften das strategische Kalkül in Moskau einigermaßen realis- Die wirklichen Motive sind nach überwiegender Auffas- tisch wiedergeben.15 Zwar steht solchen Plänen das Wort sung von Russlandexperten eher innen- als geopolitischer des amerikanischen Präsidenten entgegen, dass die USA Natur. Es geht um die „Stabilität des Putin-Systems und jeden Zentimeter NATO-Territorium verteidigen werden. nur zweitrangig um russische Außenpolitik.“18 Hinter Doch realistisch betrachtet wird die NATO die Beset- Putins Verhalten in der gegenwärtigen Krise steckt viel zung der baltischen Staaten und großer Teile Polens mit innenpolitisches Kalkül. Diese Sichtweise wird nicht nur den bislang dort stationierten Kräften nicht verhindern in der russischen Oppositionsbewegung geteilt, sondern können. Sollte es sich zu einer Rückeroberung besetzter sogar in national-patriotischen Kreisen Russlands. Das Gebiete entschließen, würde Russland im Sinne seiner geht aus einem „Appell“ hervor, in dem sich Generaloberst Deeskalation-durch-Eskalation-Strategie mit dem Einsatz i.R. Leonid Iwaschow in seiner Eigenschaft als Sprecher nicht-strategischer Kernwaffen drohen. Und das würde die der Allrussischen Offiziersversammlung, der Interessen- NATO in eine Zerreißprobe treiben, die sie vermutlich po- vertretung der Offiziere der Reserve und im Ruhestand, litisch nicht überleben wird.16 Ende Januar 2022 „an den Präsidenten und die Bürger Der sicherheitspolitische Forderungskatalog vom Russlands“ gewandt hat.19 Die größte Bedrohung für 15. Dezember 2021 ist daher im Wesentlichen zu verstehen Russland, so der ehemalige Generalstabsoffizier, seien als ein Zwischenziel bei der Verwirklichung weiterreichen- 17 Zur russischen Kleptokratie siehe Dawisha 2014. ten, nicht im Herrschaftsbereich der anderen zu intervenieren, vgl. 18 Vgl. Andreas Umland: Russlands Rolle und Ziele in der Schmitt 1939. Anders als von Schmitt intendiert, wäre nach russischer „Ukraine-Krise“, Ukraine-Nachrichten, August 2021; https://ukraine- Vorstellung nunmehr Russland die dominierende Kontinentalmacht, nachrichten.de/russlands-rolle-ziele-ukraine-krise_4065. Siehe auch doch die Grundhaltung bleibt dieselbe. Adomeit 2017a und Adomeit 2017b. 15 Vgl. Brauss/Krause 2019, Brauss/Krause 2021, s. a. Kroenig 2018. 19 Der Appell wird in deutscher Übersetzung in diesem Heft ver- 16 Siehe auch den Beitrag von Rainer Meyer zu Felde in diesem Heft. öffentlicht, siehe S. 228.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz 133 Präsident Putin während seiner Fernsehansprache am 22.Februar 2022 die inneren Verhältnisse. Sie läge in einem fehlgeleiteten, 2.1 P utins Ziele maroden Staatsmodell, mangelnder Qualität der Regie- rungsführung, Ineffizienz des Macht- und Verwaltungs- Neben den Beweggründen der Moskauer Machtelite sind systems sowie der Passivität und Desorganisation der auch persönliche Motive des Kreml-Chefs zu nennen. Gesellschaft. Das Aufschaukeln der Spannungen um die Putins Weltbild ist ganz „sowjetisch“ geprägt. Er kann sich Ukraine sei in erster Linie „künstlicher“ Natur. Krieg sei offensichtlich nicht von der Vorstellung der Sowjetunion für die russische Regierung ein Mittel, um das Problem der in ihren Grenzen unter Einschluss der baltischen Staaten, „Aufrechterhaltung ihrer antinationalen Macht“ für eine des südlichen Kaukasus und Zentralasiens lösen. So hat er Weile zu lösen und den Reichtum zu bewahren, den sie im Lauf seiner Amtszeiten wiederholt kategorisch konsta- „dem Volk gestohlen haben.“20 Das Besorgniserregende tiert: „Die Sowjetunion – auch das ist Russland, nur unter an dieser innenpolitischen Voraussetzung der russischen einem anderen Namen.“21 Und: „Der Zusammenbruch der Außenpolitik ist, dass die verwendeten Narrative im Laufe UdSSR, das war der Zusammenbruch des historischen der Zeit immer radikaler wurden und tief sitzende Instinkte Russlands unter dem Namen Sowjetunion.“22 Sein Bedau- der russischen Gesellschaft ansprechen. Während die Dar- ern darüber hat er mehrere Male zum Ausdruck gebracht. stellung Putins und seiner Getreuen in den Jahren ab 2007 Am bekanntesten ist seine Äußerung in einer Rede zur Lage hauptsächlich darin bestand, dass Russland vom Westen der Nation vor der Föderalen Versammlung im Jahr 2005, betrogen worden sei, gewinnen mittlerweile Narrative als er die Auflösung der UdSSR als eine „riesige geopoliti- die Oberhand, die man als großrussisch-nationalistisch, rechtsextrem und faschistoid qualifizieren muss. Hierzu zählen Behauptungen Putins und seiner Entourage, die 21 „Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. Aber was war das, Ukraine sei kein eigener Staat und gehöre zu Russland. die Sowjetunion? Auch das war Russland, nur hat man es anders genannt.“ Interv’ju Putina trem rossijskim telekanalam, Ria.ru, 17.10,2011, http://ria.ru/politics/20111017/462204254.html. 22 Putin: Rasval Sovetskogo Sojuza eto tragedija 20-ogo veka, 20 Siehe die Übersetzung in diesem Heft, S. 228. https://www.youtube.com/watch?v=joNosLwjP4M.
134 Hannes Adomeit/Joachim Krause sche Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete.23 Im tieren.“26 Im Einklang damit erklärte Wladimir Medinski, Dokumentarfilm „Russland. Jüngste Geschichte“, der am der Leiter der russischen Delegation bei den Gesprächen 12. Dezember 2021 im russischen Fernsehsender Rossija 1 mit der Ukraine am 28. Februar 2022 an der belarussisch- ausgestrahlt wurde, beklagte er wiederum den Zerfall der ukrainischen Grenze, bei diesem Land handele es sich um Sowjetunion. Gefragt nach seiner persönlichen Wahrneh- einen „Phantomstaat.“27 mung dieses Ereignisses, antwortete er: „Es war eine Tra- Sowohl der aus der russischen Geschichte abgeleitete gödie, genauso wie für die große Mehrheit der Bürger des territoriale Revisionismus als auch die Negierung ukrai- Landes. […] Wir haben uns in ein völlig anderes Land ver- nischer Staatlichkeit wurden bereits mit der Annexion der wandelt. Was über 1.000 Jahre hinweg aufgebaut worden Krim und der Gründung der „Volksrepubliken“ Luhansk war, ging weitgehend verloren.“24 und Donezk ins grelle Rampenlicht gerückt. Putin machte Putin will offensichtlich als Architekt der Wiederher- sich für die Wiederherstellung eines Konstrukts stark, das stellung der „Einheit Russlands“ in die Geschichte ein- eigentlich nur Historiker kannten: das zaristische Gouver- gehen. Folgt man seiner Ansicht, Russland sei das Äqui- nement Noworossija (Neurussland). Wie Putin im April valent der Sowjetunion, kann das nichts anderes bedeuten 2014 erklärte, bediente er sich hier der Terminologie aus als die Verwirklichung eines zutiefst revisionistischen Zarenzeiten. „Neurussland, das sind Charkow, Luhansk, Konzepts: die Wiederherstellung des postsowjetischen Donezk, Cherson, Mykolajiw, Odessa – diese Städte ge- Raums als russische Einflusssphäre bzw. die Annexion hörten zur Zarenzeit nicht zur Ukraine. Die Sowjetregie- von ehemals sowjetischen Gebieten. Das Besondere daran rung übergab diese Gebiete erst in den 1920er-Jahren ist nicht lediglich die Wiederkehr der „Breschnew-Dok- der Ukraine. Warum sie das tat, weiß nur Gott.“28 Würde trin“ begrenzter Souveränität von Satellitenstaaten, da es Putins Vision umgesetzt, würde Moskau die gesamte Küste Putin zufolge „echte Souveränität“ nur im Verbund, nur des Asowschen und die nördliche Küste des Schwarzen in „Partnerschaft“ mit Russland geben könne.25 Hinsicht- Meeres beherrschen und ein breites Band zusammenhän- lich der Ukraine sind es weit über diese Doktrin hinaus gender Gebiete kontrollieren, das sich von Russlands der- Putins territoriale Ansprüche und die Verneinung der zeitigen Westgrenzen bis zu den Grenzen Rumäniens und Staatlichkeit sowie der Existenzberechtigung des Landes. Moldawiens (einschließlich Moldawiens selbsternannter So sagte er bei der Sitzung des NATO-Russland-Rats am „Moldauischen Republik Transnistrien“) erstreckt. Auch 4. April 2008 in Bukarest und dem Treffen mit Präsident wenn Putin diesen Begriff kurz danach von der öffent- George W. Bush am 6. April 2008 in Sotschi, die Ukraine lichen Agenda nahm, blieb doch die Drohung einer mög- sei „keine richtige Nation.“ Einen großen Teil ihres Ter- lichen Abspaltung dieser Gebietsteile der Ukraine zurück. ritoriums habe Russland „weggegeben.“ Russland könnte Neben der territorialen Dimension auf Basis einer ver- eine Abspaltung der Krim und der östlichen Landesteile zerrten Geschichtsdarstellung sind bei der Invasion auch der Ukraine betreiben. Und sollte die Ukraine der NATO ethnische und kulturelle Beweggründe zu berücksichtigen. beitreten, würde die Ukraine „aufhören, als Staat zu exis- Dem von Russland propagierten Kulturverfall des Westens 23 Putin: Raspad SSSR – krupnejšaja geopolitičeskaja katastrofa 26 Vladimir Socor: Moscow Makes Furious but Empty Threats to veka, https://www.youtube.com/watch?v=d4Xlwd91IlY. Die Über- Georgia and Ukraine, Eurasia Daily Monitor, 14. April 2008; Putin setzung „riesig“ (oder „enorm“) für krupnejšaja ist richtig. Wäre es Hints At Splitting Up Ukraine, Moscow Times, 8.4.2008; Ugroza die „größte“ Katastrophe gewesen, hätte Putin samaja krupnaja ka- Kremlja, Kommersant.com, 7.4.2008; Putin Threatens Unity of tastrofa sagen müssen. Ukraine, Georgia, Unian, 7.4.2008, www.unian.netambassador. In 24 Putin: Raspad SSSR, op. cit. In der Doku versuchte er von der von einem Radio-Interview bestätigte Außenminister Lawrow sinngemäß ihm vorher diagnostizierten geopolitischen Dimension des Zusam- diesen Bericht: Sowohl in Bukarest als auch in Sotschi hätte Putin menbruchs der Sowjetunion abzulenken und stellte die „humanitä- daran erinnert, wie die heutige Ukraine in ihren gegenwärtigen Gren- ren“ Aspekte in den Vordergrund. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, zen geschaffen worden sei. Er habe an die Gegensätze zwischen der sagte er, „fanden sich 25 Millionen Russen über Nacht im Ausland westlichen Ukraine und ihren östlichen und südöstlichen Regionen wieder, in den Republiken der ehemaligen UdSSR, die ihre Unabhän- erinnert und gesagt, die westlichen Anstrengungen, die Ukraine in gigkeit und Souveränität erlangten. [… Viele] Menschen sind dadurch die NATO zu ziehen, würden nicht die wichtige Aufgabe erleichtern, in die Enge getrieben und gegen ihren Willen ins Ausland vertrieben der Ukraine bei der Wahrung ihrer Einheit zu helfen. Radio-Interview worden. Es war unmöglich für sie, zurückzukehren und mit ihren Ver- mit Echo Moskvy am 8.4.2008. wandten wieder vereint zu werden. Es gab weder Arbeits- noch Wohn- 27 Natalya Vasilyeva: Russia’s chief negotiator in peace talks belie- plätze. Dies ist eine große humanitäre Tragödie, ohne jegliche Über- ves Ukraine is a “phantom” state, Telegraph (London), 28.2.2022. treibung“; ibd. 28 In der traditionellen Rede-und-Antwort-Sendung im russischen 25 Vladimir Putin: “Ob istoričeskom edinstve russkich i ukraincev”, Fernsehen: Prjamaja linija s Vladimirom Putinym, Kremlin.ru, Kremlin.ru, 12.7.2021, Kremlin.ru/events/president/news/66181. 17.4.2014, http://www.kremlin.ru/news/20796.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz 135 hat Putin das Konzept der „Russischen Welt“ (Russkij mir) erfolgreicher und werden es auch in Zukunft sein. Schließ- entgegengesetzt.29 Zu dieser Welt gehörten nicht nur über lich sind wir ein Volk.“32 25 Millionen ethnische Russen im Ausland, die russische Putins Überzeugung von der Bedeutung der „Bluts- „Volksgemeinschaft“ (obščina) und „Russischsprachige“ bande“ liefert eine wichtige Erklärung für seine Entschlos- (russkojazyčnye), sondern sie vereine „all diejenigen, senheit, die „Einheit Russlands“ mit Gewalt herzustellen. die die russische Sprache und Kultur wertschätzen, ganz Wie der starke Widerstand der Ukrainer, unabhängig von unabhängig davon, wo sie leben, sei es in Russland oder ihrem ethnischen und kulturellen Hintergrund, gegen die jenseits seiner Grenzen.“30 Putin leitet daraus eine „große russische Invasion zeigt, entsprechen seine Vorstellungen Mission der Russen“ ab, „unsere Zivilisation zu vereinen nicht der Wirklichkeit. und zu binden.“ Trotz dieser Anerkennung der multieth- nischen Zusammensetzung der Russischen Föderation ist auch bei Putin − um bewusst ein politisch sensibles 2.2 U nterwerfung der Ukraine Wort zu gebrauchen − ein starkes „völkisches“ Element zu erkennen. Dies macht vor allem seine Sicht der Ukraine Wie die Bereitstellung umfangreicher Truppenverbände und der Ukrainer deutlich. So hat er in einem Artikel vom und die massive Invasion aus vier Hauptrichtungen 12. Juli 2021 „Über die historische Einheit von Russen und zeigten, war und ist Putins Endziel die Unterwerfung der Ukrainern“ einleitend erklärt: „Russen und Ukrainer sind gesamten Ukraine. Zu diesem Zweck sollten Präsident, ein Volk, ein geeintes Ganzes. […] Ich habe das schon oft Regierung und Parlament durch moskauhörige Quislinge gesagt, es ist meine feste Überzeugung.“31 Er schloss ab ersetzt werden. Das geht unmissverständlich aus Putins mit den Worten: „Unsere religiösen, menschlichen und Artikel vom 12. Juli 2021 und dem Dmitri Medwedews kulturellen Beziehungen sind über Jahrhunderte ge- vom 11. Oktober 2021 hervor. Ganz bewusst sprechen sie wachsen, sie beruhen auf gemeinsamen Ursprüngen und vom „gegenwärtigen“ Präsidenten, den „gegenwärtigen wurden durch gemeinsame Prüfungen, Errungenschaften Führern“ und den „gegenwärtigen Machthabern.“ Diese, und Siege gestählt. Unsere verwandtschaftliche Nähe wird so Putin, schürten Feindschaft und Hass gegen Russland von Generation zu Generation weitergegeben. Sie lebt in und alles Russische und Kiews „gegenwärtige Politik“ den Herzen und im Gedächtnis der Menschen im heutigen bestehe aus einer „aggressive Assimilationspolitik“ – aus Russland und in der Ukraine, in Gestalt der Blutsbande, der Etablierung eines ethnisch sauberen ukrainischen die Millionen unserer Familien verbinden. Gemeinsam Staates, die sich aggressiv gegen Russland richte und in waren wir schon immer um ein Vielfaches stärker und ihren Folgen dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gleichkomme. Millionen von Menschen, die eine „echte“ Unabhängigkeit wünschten, würden unterdrückt. „Für ihre Überzeugungen […] werden sie nicht nur verfolgt, 29 Grundlegend hierzu Quiring 2017. Nachfolgend wird bei der Über- setzung die Möglichkeit der deutschen Sprache genutzt, zwischen sondern auch ermordet.“ So weist Putin darauf hin, dass „russisch“ (russkij) und „russländisch“ (rossijskij) zu unterscheiden. nach dem Maidan „Pogrome über die Städte der Ukraine Das Adjektiv „russisch“ hat eine historische und eine ethnische hinwegrollten und in Odessa ukrainische Neonazis Men- Dimension. Es bezieht sich auf das Russland unter den Zaren und schen bei lebendigem Leibe verbrannten.“ ethnisch auf die „Russen“ (russskie), die in der gegenwärtigen na- Medwedew trieb diese Entmenschlichung der ukrai- tionalpatriotischen Stimmung den Kern der Russischen Welt (Russkij mir) bilden; „russländisch“ bezieht sich dagegen auf alles, was mit nischen Elite auf die Spitze.33 Dabei nahm er insbeson- der Russländischen Föderation (Rossijskaja Federacija) zu tun hat. dere den ukrainischen Präsidenten und dessen jüdische 30 Putin Ende 2006 auf einem Kongress in St. Petersburg zum Jahr Wurzeln aufs Korn: Nachdem Selenski Präsident gewor- der russischen Sprache, zit. von Außenminister Lawrow: Lavrov den war, „begann er den reaktionärsten nationalistischen nazval vnešnepolitičeskim prioritetom Rossii podderšku „Russkogo mira“, Rifinfo.ru, 2.11.2015, http://www.rifinfo.ru/news/41125. − Erläu- terung zum „[sic]: Es zeugt von Putins mentaler Identifikation „Russ- lands“ mit der „Russländischen Föderation“ gleichzusetzen, denn er 32 Ibid. (Hervorhebung im Original). hätte hier den letzteren Begriff gebrauchen müssen. 33 Medwedew weist sich in diesem Artikel mit dem Titel „Warum 31 Vladimir V. Putin: Ob istoričeskom edinstve russkich i ukrain- Kontakte mit der gegenwärtigen ukrainischen Führung sinnlos sind“ cev, Kremlin.ru, 12.7.2021; Kremlin.ru/events/president/news/66181. als „stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats“ aus. Der Artikel, wie auch der Dmitri Medwedews vom 11. Oktober, ist Offensichtlich ist der Autor ein anderer als derjenige, der im Jahr im Grunde als Legitimationsbasis des Kremls für die Invasion der 2009 geschrieben hatte, grundlegende innere Reformen seien not- Ukraine zu betrachten; Dmitrij A. Medvedev: Počemu bessmyslen- wendig, um die Existenz Russlands für die Zukunft zu sichern. Einzel- nyj kontakty s nynešnym ukrainskim rykovodstvom, Kommersant, heiten und Analyse der damaligen Forderungen bei Adomeit 2017a 11.10.2021’, https://www.kommersant.ru/doc/5028300. und 2017b.
136 Hannes Adomeit/Joachim Krause Kräften der Ukraine fanatisch zu dienen. […]“ Die Quint- dass der „Gewinn“ einer Seite der „Verlust“ der anderen essenz der Angriffe Putins und Medwedews auf die „ge- ist. genwärtige“ politische Führung der Ukraine ist offensicht- Putin hat diese Sicht auf den postsowjetischen Raum lich: Sie muss beseitigt werden – und sei es mit Gewalt.34 übertragen. „In den internationalen Beziehungen können Machtvakua nicht lange bestehen. Würde Russland auf eine aktive Politik in der GUS [Gemeinschaft Unabhängi- 3 D ie Umsetzung der Strategie ger Staaten] verzichten oder gar eine unbegründete Pause einlegen, würde dies unweigerlich dazu führen, dass gegen die Ukraine andere, aktivere Staaten [zum Beispiel der NATO?] diesen politischen Raum entschlossen ausfüllen würden.“37 Putins zentrales Instrument zur Verwirklichung seiner Das sowjetisch geprägte Weltbild mit seiner heraus- Zielsetzungen war und ist militärische Macht, erst ihre An- ragenden Bedeutung militärischer Macht durchzieht auch drohung, dann ihre Anwendung. Die Wahl dieses Mittels das Denkmuster des Kreml-Hoftheoretikers Karaganow. ist stets nicht als eine Ad-hoc-Lösung zu betrachten. Sie Schon 1993, als Kräfte und Befürworter einer „Großmacht“- wurzelt vielmehr zutiefst in Putins Weltbild, das nicht Politik die von Außenminister Andrej Kosyrew vertretene bloß ganz allgemein „sowjetisch“, sondern durchaus sta- pro-atlantische Linie unter Beschuss nahmen, forderte er, linistisch geprägt ist. Diesem Bild eigen ist eine vulgäre Moskaus Macht und Einfluss im postsowjetischen Raum Vorstellung von Darwins survival of the fittest als survival wiederherzustellen: Ob Russland wolle oder nicht, Russ- of the strongest: Schwach zu sein oder Schwäche zu zeigen land würde „gezwungen“ sein, eine wichtige postimpe- ist fatal. „Wer zurückfällt, wird geschlagen“, stellte Stalin riale Rolle in Eurasien zu spielen, und obwohl sich „nicht bereits 1931 fest.35 alles mit Gewalt“ lösen lasse, so müsse Russland doch Zum selben Axiom bekannte sich Putin schon früh „die präventive Rolle der Gewalt“ rekonstituieren.38 in seiner Amtszeit als Präsident. „Generell muss man Von dieser „Notwendigkeit“ zieht sich eine gerade zugeben“, sagte er, „dass wir die Komplexität und Ge- Linie zu der Fernsehansprache vom 22. Februar 2022, in fahren der laufenden Prozesse in unserem eigenen Land der Putin die zwei Tage später einsetzende „militärische und in der Welt nicht verstanden haben. Jedenfalls haben Sonderoperation im Donbass“ zu rechtfertigen versuchte. wir es versäumt, angemessen darauf zu reagieren. Wir Die Frage stelle sich, führte er aus, „ob man alle Probleme haben Schwäche gezeigt. Und die Schwachen werden ge- mit Hilfe von Gewalt lösen oder man auf der Seite des schlagen.“36 Mit „Stärke“ als Antonym von Schwäche ist Guten bleiben sollte. Warum denken Sie, dass das Gute vor allem militärische Stärke gemeint. Diese Auffassung immer gewaltfrei sein sollte? Ich sehe das nicht so.“39 reiht sich nahtlos in das marxistisch-leninistische und Sogar der als besonnener geltende Dmitri Trenin von Stalin bis hin zu Breschnew, Andropow und Tscher- schrieb eine Woche vor Beginn der Invasion: „Die Ukraine- nenko geteilte Bild einer Welt als einer „Arena“, die von Krise hat zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges „antagonistischen Widersprüchen“ geprägt und in der die Bereitschaft Russlands gezeigt, militärische Gewalt ein wesentliches Kriterium für die Gestaltung der Außen- anzuwenden, um eine weitere Expansion des westlichen politik die korrekte Diagnose der „Korrelation der Kräfte“ Bündnisses in ehemaliges sowjetisches Gebiet zu verhin- (sootnošenie sil) ist. In dieser Weltschau, um die Begriff- dern. Das ist eine riskante Strategie, die aber zumindest lichkeit westlicher Spieltheorie zu verwenden, gibt es teilweise aufgehen könnte: Angesichts der starken Oppo- keine Win-win-Situationen, sondern gilt nur die Regel, sition Moskaus hat Washington weder das Interesse noch 37 Putin am 12.7.2004 auf dem Jahrestreffen mit den russischen Bot- 34 Medwedew zieht allerdings aus den Verunglimpfungen und Ver- schaftern und diplomatischen Vertretern im Ausland: Putin 2004b. urteilungen der politischen Führung der Ukraine einen anderen und GUS ist die Abkürzung für Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Der höchst unglaubwürdigen Schluss: „Was soll man in dieser Situation Begriff ist im russischen Sprachgebrauch im Wesentlichen identisch machen? Die Antwort lautet: Nichts! Wir müssen auf die Erscheinung mit dem postsowjetischen Raum. einer vernünftigen Regierung in der Ukraine warten.“ 38 Zit. bei Evans Rowl/Robert Novak: Russia’s “Monroe Doctrine”, 35 Stalin 1953, 457–458. Washington Post, 26.2.1993. 36 Vladimir V. Putin: Obraščenie Prezidenta Rossii Vladimira Pu- 39 Putin, Vladimir V.: Historical Address Over Ukraine, 22.2.2022; tina, 4.9.2004; http://www.kremlin/ru/appears/2004/09/04/1752_ https://www.youtube.com/watch?v=nWl_dO7ofSs, Putin weiter: type63374_76320.shtml. Diese Fernsehansprache erfolgte am 4. Sep- „Das Gute setzt die Möglichkeit voraus, sich selbst zu verteidigen“, tember 2004 in seiner Fernsehansprache nach dem Terrorangriff in mutatis mutandis wohl auch den „Schutz“ der ukrainischem „Völker- Beslan. Die Rede wurde später von der Webseite des Kremls entfernt. mord“ ausgesetzten „russischsprachigen“ Menschen.
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz 137 die Absicht, mit Russland über die Ukraine zu kämpfen Am 24. Februar 2022 begann der militärische Überfall oder Russland mit der Stationierung von US-Raketen dort auf die Ukraine mit Luftangriffen auf militärische Ziele zu sehr zu provozieren.“40 Von einem möglichen Fehl- und einer Luftlandeoperation mit dem Ziel, in die City von schlag der riskanten Strategie war dabei nicht die Rede. Kiew vorzudringen und Präsident Selenski festzunehmen Die militärische Ausführung der russischen Zielset- oder zu töten. Gleichzeitig setzten sich die ersten mecha- zungen wurde Ende März 2021 erkennbar. In den russi- nisierten Einheiten entlang von vier Angriffsachsen in schen sozialen Medien tauchten unzählige Videos von Bewegung. Die Luftangriffe blieben erstaunlich verhalten, Waffentransporten auf, die sich in Richtung der Gebiete die gegen den ukrainischen Präsidenten gerichtete Luft- (oblasti) Woronesch und Rostow am Don sowie Krasnodar landeoperation misslang kläglich und die Heeresverbände (krai) und Krim bewegten.41 Die nächste größere Etappe blieben nach 100 bis 120 Kilometern stehen, da die Logis- der Invasionsvorbereitungen war das Manöver Sapad-2021, tik am Limit war und vor allem, weil die ukrainischen das vom 10. bis 16. September stattfand. Im Gegensatz Streitkräfte massiven Widerstand leisteten. Nach wenigen zu früheren Sapad-Manövern, einschließlich des letzten Tagen zeichnete sich ab, dass – was immer der russische anno 2017, wurde Sapad-2021 mit umfangreichen Übungen Plan gewesen sein mochte – eine rasche Unterwerfung der auf russischem und belarussischem Territorium in den Ukraine nicht gelingen würde. Dennoch setzte sich der Monaten Juli und August eingehend vorbereitet. Zudem – Krieg fort, von russischer Seite von Tag zu Tag brutaler. und das war die Besonderheit – erfolgte der Hauptteil der Nach acht Wochen war erkennbar, dass der Krieg Großübung nicht in der Nähe der Kontaktlinie zwischen durch eine Patt-Situation gekennzeichnet war, bei der ei- Russland und der NATO, sondern weit davon entfernt in nerseits die russische Invasion als gescheitert angesehen den Regionen Nischni Nowgorod (Truppenübungsplatz werden musste, andererseits aber die Ukraine die Kon- Mulino) und Woronesch (Pogowo).42 Und damit nicht trolle über etwa 15 Prozent seines Territoriums verloren von ungefähr in Gebieten, die deutlich näher an Charkiw, hatte und zudem Schäden in der Größenordnung von 500 Donezk und Luhansk liegen als an Minsk. bis 600 Mrd. Euro erleiden musste. Der Truppenaufbau ging unter dem Deckmantel immer neuer Militärmanöver weiter, so dass Russland zu Beginn der Invasion am 24. Februar eine Streitmacht von 169.000–190.000 Soldaten (pro-russische Rebellen in 4 H at die westliche Staatenge- der Ostukraine inklusive) an den Grenzen zur Ukraine zu- meinschaft angemessen auf die sammengezogen hatte; allein im Monat zuvor war diese Streitmacht um mehr als 90.000 Mann gewachsen.43 Als Herausforderung reagiert? Speerspitzen der Einsatzkräfte sollten die sogenannten Putins rücksichtslose, um nicht zu sagen brutale Vor- taktischen Bataillonsgruppen (BTG) dienen. Verfügten die gehensweise, wirft kein positives Licht auf die bisherige russischen Streitkräfte 2016 noch über 66 BTG, so waren es Politik der westlichen Staatengemeinschaft (die demo- 2022 insgesamt 168, von denen zu Beginn der Invasion 117 kratisch regierten Staaten Europas, die USA und Kanada) bereitgestellt und 111 eingesetzt wurden.44 gegenüber Russland. Wer wie Putin derart weitgehende Forderungen in Form eines Ultimatums stellt, der macht 40 Trenin, Mapping Russia’s New Approach to the Post-Soviet Space, deutlich, dass er eine umfassende und radikale Verände- op. cit. rung der internationalen Beziehungen anstrebt (zumin- 41 Detaillierte Angaben zu den Bewegungen von Truppeneinheiten dest auf dem europäischen Kontinent). Er drückt damit und Waffen mit entsprechenden Quellen bei Adomeit 2022. 42 Adomeit 2022. ebenfalls aus, was er von der gegnerischen Seite hält – 43 Ebd. nämlich nichts. Für Putin ist der Westen im Niedergang be- 44 Zu den taktischen Bataillonsgruppen und ihrem Einsatz in griffen: Er hält die westlichen Gesellschaften für dekadent der Ukraine siehe Andrzei Wilk/Pjotr Zochowski: Russia’s at- und schwach, die Politiker für uneinig, unentschlossen, tack on Ukraine: day 8, Webseite des Center for Eastern Studies teilweise käuflich und die Führungsmacht des Westens (Warsaw) vom 4.3.2022; https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/ infolge innenpolitischer Polarisierungen für geschwächt. analyses/2022-03-04/russias-attack-ukraine-day-8. Siehe auch Pawel Makowiec: Russia Losing 22 Battalion Tactical Groups: Is BTG a myth, or is it truly effective in combat?, Defence24.com-Web- seite vom 14.3.2022; https://defence24.com/armed-forces/land- forces/russia-losing-22-battalion-tactical-groups-is-btg-a-myth-or- Ukraine, Popularmechnics.com-Webseite vom 24.2.2022; https:// is-it-truly-effective-in-combat-analysis. Siehe auch Mizokami, Kyle www.popularmechanics.com/military/weapons/a39193732/russian- (2022): How Russia’s Battalion Tactical Groups Will Tackle War With battalion-tactical-groups-explained/.
138 Hannes Adomeit/Joachim Krause Und Chinas Aufstieg führe dazu, dass Washington seine das Thema NATO-Erweiterung für die damalige Clinton- internationalen Engagements zurückfahren müsse. Administration nicht auf der Agenda und entsprechende Signale aus Warschau, Budapest oder Prag wurden abge- blockt. Eindeutige Priorität der Politik der führenden 4.1 N ATO-Erweiterung: ein Fehler? westlichen Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland) war es damals, Russland die Gelegenheit Bei der Diskussion über Fehler „des Westens“ gegenüber einer demokratischen Erneuerung und Transformation Russland finden sich überraschenderweise viele Stimmen zur Marktwirtschaft zu bieten – und da hätte eine Erwei- aus dem Lager der Realistischen Schule der Politikwissen- terung der Nordatlantischen Allianz angesichts der un- schaft, die dem Westen mangelnden Respekt gegenüber klaren innenpolitischen Lage in Russland möglicherweise Russland vorwerfen. Insbesondere die „rücksichtslose“ das falsche Zeichen gesetzt. Ausweitung der NATO werten sie als Bedrohung russischer Die Lage änderte sich mit dem Ausgang der ersten Sicherheitsinteressen. Ohne diese wäre das Verhältnis zu freien Parlamentswahl in Russland im Dezember 1993. Russland heute ein anderes. Ein realistischer Umgang Das Ergebnis war niederschmetternd für alle, die auf mit einer Großmacht wie Russland hätte es geboten, auf eine demokratische Transformation in Russland gehofft dessen Sicherheitsbedürfnisse einzugehen. Auch gäbe es hatten. Jene Parteien, die eine solche Transformation an- subtile Formen, Einflusszonen von Mächten wie Russland strebten, erhielten zusammen etwas mehr als 15 Prozent zu akzeptieren, ohne westliche Werte verraten zu müssen der Stimmen. Stärkste Kraft mit fast 23 Prozent wurde eine (siehe Finnlands Position nach dem Zweiten Weltkrieg).45 rechtsnationalistische Partei, die sich zu offener Feind- Gerne wird der Realist und Russland-Kenner George F. schaft zum Westen bekannte. Die Kommunistische Partei, Kennan erwähnt, der Ende der 90er-Jahre eindringlich vor die für die Wiederherstellung der Sowjetunion stand, einer NATO-Erweiterung gewarnt hatte.46 Aus dieser rea- wurde drittstärkste Kraft. Mit diesem Wahlausgang bestä- listischen Perspektive ist es für die Ukrainer geboten, sich tigten sich besonders in Ostmitteleuropa die schlimmsten dem russischen Willen zu beugen und nicht zu kämpfen.47 Befürchtungen. Es ist natürlich angebracht, gegenüber einer Groß- Schon im Januar 1994 beschloss die NATO ein Partner- macht wie Russland Realismus walten zu lassen und schaftsprogramm, das Beitrittsinteressierten die Möglich- sorgsam zwischen einer werteorientierten und einer keit der Mitwirkung in Einrichtungen der NATO gewährte. machtorientierten Politik abzuwägen. Genau das war die Ein Jahr später eruierte man vorsichtig, welche Länder man Politik der westlichen Allianz ab den frühen neunziger unter welchen Bedingungen aufnehmen könnte. Gleich- Jahren – was die genannten „Realisten“ offensichtlich aus zeitig führte die NATO mit Russland Verhandlungen mit ihrer Erinnerung gelöscht haben. Bis Anfang 1994 stand dem Ziel, Russland für den Fall einer NATO-Erweiterung Sicherheitsgarantien einzuräumen. Diese Verhandlungen mündeten 1997 in der Vereinbarung der NATO-Russland- 45 John Mearsheimer on why the West is principally responsible for Akte. Darin verpflichtete sich die NATO, in neuen Mit- the Ukrainian crisis. The political scientist believes the reckless ex- gliedstaaten keine Kernwaffen und ausländische Truppen pansion of NATO provoked Russia, The Economist, 11.3.2022; siehe nur in einer militärisch irrelevanten Größenordnung zu auch Johannes Varwick: Der Westen muss Russland eine Brücke stationieren. Außerdem wurde der NATO-Russland-Rat bauen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.2022; oder: Politikwissen- schaftler gibt Westen Mitschuld an Eskalation in Ukraine (gemeint geschaffen, der einen kontinuierlichen Dialog zwischen ist der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler), Wallstreet- Russland und der NATO sicherstellen sollte. Erst danach, online.de, 24.2.2022. im Jahr 1999, wurden Polen, Ungarn und Tschechien in 46 George F. Kennan hatte sich 1997 in scharfen Worten gegen die die NATO aufgenommen. Gleichzeitig wurden die Bundes- NATO-Erweiterung ausgesprochen, die seiner Meinung nach die na- wehr und andere europäische Streitkräfte verkleinert, tionalistischen, anti-westlichen und militaristischen Tendenzen in sodass die Gesamtzahl der in Europa befindlichen Streit- der russischen Gesellschaft wiedererwecken könnte, zitiert bei Alfred Cahen: Answers to Some Common Questions on NATO Expansion, kräfte des atlantischen Bündnisses zum Zeitpunkt des International Herald Tribune, 2.7.1997. Tatsächlich waren die von ihm Beitritts dieser drei Staaten (von denen nur Polen als mi- genannten Tendenzen schon ab Mitte der 90er-Jahre in Russland litärisch relevant zu bezeichnen ist) geringer war als vor dominant und Hauptmotiv der russischen Nachbarn für einen NATO- Verabschiedung der NATO-Russland-Akte. Im Jahr 2004 Beitritt. wurde unter den gleichen Regularien die zweite NATO-Er- 47 Vgl. Johannes Varwick: Krieg vom Ende her denken, Westdeut- scher Rundfunk, Redezeit, 15.3.2022; https://www1.wdr.de/radio/ weiterung eingeleitet, die dieses Mal die (militärisch völlig wdr5/sendungen/neugier-genuegt/redezeit-johannes-varwick-100. unbedeutenden) baltischen Staaten, die Slowakei, Rumä- html. nien, Bulgarien und Slowenien umfasste. Beim NATO-Gip-
Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz 139 fel 2008 sollten neben den militärisch ebenfalls irrelevan- umfassten die Besetzung der Krim durch russische Son- ten Staaten Albanien und Kroatien auch die Ukraine und dereinsatzkräfte und „Freiwilligenverbände“ (plus die Georgien aufgenommen werden. Gegen den Beitritt von „Volksabstimmung“ zugunsten eines Beitritts der Krim zu Ukraine und Georgien sprachen sich damals Deutschland Russland) sowie die gewaltsamen Operationen russischer und Frankreich unter Verweis auf russische Empfindlich- Einsatzkräfte zur Vertreibung ukrainischer Behörden aus keiten und mögliche Reaktionen Moskaus aus, weshalb Städten und Landkreisen im Donbass und in Odessa. deren Mitgliedschaftsanträge bis zum heutigen Tag unbe- Während diese Form der hybriden Aggression in Odessa antwortet sind. scheiterte, gelang es Russland, einen Teil der östlichen Von einer Missachtung russischer Sicherheitsinte- Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Als im Frühjahr ressen bei der NATO-Erweiterung kann also keineswegs 2015 ukrainische Truppen die Gebiete zurückzuerobern die Rede sein. Vielmehr haben die Mitgliedstaaten der versuchten, intervenierte ein mechanisierter Verband der Allianz behutsam abgewogen zwischen dem berechtigten russischen Armee zugunsten der „Volksrepubliken“ und Interesse der Staaten Ostmitteleuropas an Mitwirkung in fügte den ukrainischen Einheiten eine Niederlage zu. einer kollektiven Verteidigungsallianz einerseits und der Deutschland und auch Frankreich begingen damals russischen Sicherheitsperzeption andererseits. Damit ver- einen entscheidenden Fehler: Sie wollten den prinzipiell änderte sich der Charakter der NATO: die Verteidigung der konfrontativen Charakter der russischen Politik gegen- neuen Mitglieder blieb eine politische Formel, hinter der über dem Westen nicht wahrhaben, der in den hybriden nicht mehr eine gemeinsame Verteidigungsplanung und Aggressionen gegenüber der Ukraine zum Vorschein kam. Aufstellung entsprechender internationaler Streitkräfte- Vielmehr hingen sie der irrigen Annahme an, es läge ein formationen in den neuen Mitgliedstaaten standen. Falsch regional begrenzter Konflikt zwischen Russland und der ist auch das immer wieder zu vernehmende Argument, die Ukraine vor, in dem man vermitteln könne und Äquidis- NATO sei „an Russlands Grenzen herangerückt“. Es träfe tanz praktizieren müsse. Dabei verstieß die russische Re- zu, wenn größere ausländische Verbände nahe der russi- gierung mit den Aggressionen gegen die Ukraine nicht nur schen Grenze stationiert worden wären. Doch das ist nie gegen zentrale Bestimmungen des Völkerrechts, sondern versucht worden. auch gegen die Kernpunkte der sicherheitspolitischen Vereinbarungen und Absprachen, die der Kreml und die westlichen Regierungen zwischen 1990 und 1997 getroffen 4.2 D ie wirklichen Fehler des Westens hatten. Gerade wenn die Bundesregierung so viel Wert auf die Wahrung der internationalen regelbasierten Ordnung Die tatsächlichen Fehler des Westens sind den folgen- legte, hätte sie viel grundsätzlicher und härter reagieren den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz zu entneh- müssen. Auf ungesühnte kleine Regelverstöße folgen in men, der am 8.2.2022 anlässlich eines Treffens mit dem der Regel größere und am Ende bleibt von den Regeln französischen und dem polnischen Präsidenten sagte: nicht mehr viel übrig. Aber in ihrer illusorischen Politik „Eine weitere Verletzung der territorialen Integrität und fand sich die Bundesregierung durch Paris unterstützt Souveränität der Ukraine ist inakzeptabel und würde und zeitweilig hatte man den Eindruck, dass jede Regie- weitreichende Konsequenzen für Russland nach sich rung die andere in einer russlandfreundlichen Politik zu ziehen, politisch, wirtschaftlich und sicherlich auch geo- übertrumpfen versuchte.49 strategisch.“48 Die Betonung liegt hier auf weitere Verlet- Man muss allerdings einräumen, dass die Bundes- zung der territorialen Integrität der Ukraine. Der größte regierung im Herbst 2014 und vor allem im Frühjahr 2015 Fehler der westlichen Staatenwelt besteht genau darin, mit den Verhandlungen im sogenannten Normandie- vorherige massive Verletzungen der territorialen Integri- Format der Ukraine eine womöglich nachhaltigere Nie- tät der Ukraine durch Russland zugelassen zu haben. Sie derlage erspart hat. Ergebnis waren die Vereinbarungen von Minsk (Minsk I und II sowie weitere Bestimmungen).50 Doch hatten sich Berlin und Paris mit den Minsk-Abkom- 48 Pressestatements von Bundeskanzler Scholz, dem französi- men auf ein Netz russischer Lügen und Propagandatricks schen Präsidenten Macron und dem polnischen Präsidenten Duda eingelassen, das den Spielraum für eine friedliche Lösung beim Treffen im Format des Weimarer Dreiecks am 8. Februar 2022 in Berlin, https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/ pressestatements-von-bundeskanzler-scholz-dem-franzoesischen- 49 Vgl. Michaela Wiegel: Putin falsch eingeschätzt. Wie Frankreichs praesidenten-macron-und-dem-polnischen-praesidenten-duda- Präsident Macron die Warnzeichen ignorierte, FAZ, 28.3.2022, 8. beim-treffen-im-format-des-weimarer-dreiecks-am-8-februar-2022- 50 Ausführlich zu den Bestimmungen der Abkommen vgl. Wissen- in-berlin-2003880?utm_campaign. schaftliche Dienste Deutscher Bundestags 2022.
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