DIE FARBE DIESER ZEIT - SCHWERPUNKT GRUNDSATZPROGRAMM - DER - BÜNDNIS 90 ...
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DIE DAS MAG AZIN DER GRÜN EN FARBE 04 /2 02 0 GRU E N E . D E DIESER ZEIT SCHWERPUNKT GRUNDSATZPROGRAMM
WIR HABEN ES GESCHAFFT! Unser neues Grundsatzprogramm ist da. Ende November in Berlin beschlossen. Die Grundwerte grünen Handelns. 20. bis 22. November 2020, Tempodrom Der Auftakt zu mehr! Berlin: Mit dem Beschluss unseres vierten Grundsatzprogramms beginnt eine neue Phase der Partei – sowie eine neue Phase der Politik. Die Bilder auf den folgenden Seiten halten diesen wichtigen Moment in unserer 40-jäh- rigen Geschichte fest. DAS MAGAZIN DER BUNDESTAGSFRAKTION CRISIS? WHAT CRISIS? Fotos: Dominik Butzmann 3 profil-gruen64x64.indd 1 30.11.2020 10:21:43
DIE FARBE DIESER ZEIT Michael Kellner, Politischer Bundes In einer Welt, in der Gewalt und Krieg herrscht, setzen GESTALTEN wir weiter auf die Stärke des Rechts und nicht auf geschäftsführer, über den Kern das Recht des Stärkeren. Um den Frieden zu gewin- grüner Politik – und warum das Land nen, der viel mehr meint als die Abwesenheit von eine neue starke Farbe braucht. Gewalt, brauchen wir eine erneuerte Europäische Union als eine Föderale Republik Europa. All diese Werte machen deutlich, wie wir uns de- finieren – und uns als Partei maßgeblich von allen An einem Sonntag vor über vierzig Jahren anderen unterscheiden. Wir geben Orientierung und gründeten Frauen-, Friedens-, Bürger- Halt in Zeiten der Veränderung. Wir wollen eine rechts- und Umweltbewegte in Karlsruhe Epoche der Kooperation, der Bündnisse, der Zusam- eine Partei, die antrat, die Politik zu menarbeit und der internationalen Solidarität ein- verändern und Farbe in die verstaubte läuten. Wir schreiben Gegenwart nicht einfach linear Republik zu bringen. Die Grünen brachen fort, wir wollen Politik wirklich anders machen. verkrustete Strukturen auf – mit einem Und wir haben den Anspruch, eine Regierung anzu- völlig neuen Politikstil. Emotional und plakativ forderte das führen und zu definieren. erste Grundsatzprogramm auf 47 Seiten im Stil eines Maga- Dass wir den Mut haben, Neues zu gestalten, zins die Bonner Republik heraus. Unsere Werte, der Einsatz zeigt auch unsere digitale BDK. Als erste Partei in für Ökologie und eine freie, gleichberechtige Gesellschaft Deutschland überhaupt haben wir einen mehr wurden Leitbilder für die ganze Gesellschaft. Wir haben in tägigen virtuellen Parteitag auf die Beine gestellt. den letzten vier Jahrzehnten Veränderungen vorangetrie- Eigentlich war geplant, unser neues Grundsatz ben und das Gesicht Deutschlands maßgeblich mitgestaltet. programm in Karlsruhe, am Ort unserer Parteigrün- Unsere Grundsatzprogramme wurden stets von der dung, mit euch gemeinsam zu verabschieden und Zeit geprägt, in der sie entstanden sind: aus zwei deutschen zu feiern. Wegen Corona mussten wir den Parteitag Staaten wurde einer, aus den westdeutschen Grünen wur- ins Netz und Ende Oktober kurzfristig von Karlsruhe de eine gesamtdeutsche Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. ins Berliner Tempodrom verlegen. Weil Demokratie Aus der Anti-Parteien-Partei wurde im Jahr 1998 eine keine Pause kennt, haben wir schon zu Beginn der Regierungspartei im Bund. Und heute sind wir nicht mehr Coronakrise als Partei auf digital umgestellt. Dass wir Korrektur zu anderen, sondern erheben einen Führungs mit viel Energie neue politische Räume im Netz anspruch für dieses Land. schaffen konnten, war möglich, weil wir in den letzten Unser Wirken als politische Partei leitet sich aus unseren Jahren entscheidende Schritte nach vorne gemacht Grundwerten ab, die wir in den vergangenen drei Jahren haben, was die Digitalisierung unserer Parteiarbeit mit viel Leidenschaft verhandelt haben. „Im Mittelpunkt angeht. Auch unser Grundsatzprogramm haben wir unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und weitgehend digital erarbeitet. Freiheit.“ Was für ein großer Satz! Er steht ganz bewusst Diese BDK war eine ganz besondere in einer Zeit am Anfang unseres neuen Programms. Das 20. Jahrhundert gewaltigen Umbruchs. Einmal mehr können wir hat uns mit seinen Menschheitsverbrechen g elehrt, was fast mit Händen greifen, wie verletzlich die mensch- für Dynamiken entstehen können, wenn wir nicht jedes ein- liche Zivilisation ist. Wie fragil. Aber auch, welche zelne Individuum wertschätzen und schützen. Auch heute Kräfte Krisen freisetzen können, wenn wir es zulas- erleben wir, wie Autokraten gegen Einzelne hetzen, wie sie sen. In einer Zeit, die wir als Krise wahrnehmen, die individuelle Freiheit bedrohen, um ihre eigene Macht ergreifen wir die Chance, neu zu machen, was nicht zu verteidigen. Unser Programm ist der Gegenentwurf: Für mehr funktioniert. Wir haben auf dem Parteitag uns gilt, jeder Mensch kann sich nur entfalten, wenn die gezeigt, dass wir verstanden haben. Dass wir Ver- Regeln der Gesellschaft so sind, dass alle Menschen sich als antwortung übernehmen können und wollen. Gleiche begegnen. Das Programm wendet sich entschieden gegen Von dieser Vision leiten sich unsere fünf Grundwerte ab: eine Privatisierung von Politik. Es wäre eine Über- Ökologie, Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Demokratie, forderung des Einzelnen, die Welt einzig mit eigenen Frieden. Die ökologischen Krisen haben sich seit dem letzten Konsumentscheidungen zu retten. Die Aufgabe von Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2002 weiter verschärft. Politik ist es, gute Regeln zu setzen. Unser Handeln muss sich im Rahmen der Grenzen unseres Es ist, wie in Karlsruhe vor über 40 Jahren, wieder Planeten bewegen. Wir wollen die wachsende Ungleichheit Zeit für Farbe. Für neue Antworten in neuen Zeiten. verringern und das Leben der Menschen – und zwar a ller Gehen wir voran! Menschen – verbessern. Gerechtigkeit bedeutet für uns mehr als ein Leben ohne Armut. Für viele in unserem Land MICHAEL KELLNER ist es noch nicht Realität, in Selbstbestimmung zu leben. geboren 1977 im thüringischen Gera, ist Die Gesellschaft der vielen mit einer freien Entfaltung ist seit dem Jahr 2013 Politischer Bundesgeschäfts führer von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. unser klares Ziel. Ein ebenso zentraler grüner Grundsatz Neben der Außen- und Europapolitik hat er ein ist die V erteidigung der Demokratie. Über ihren Fortbe- besonderes Interesse daran, die lebendige stand stimmten die Menschen in den USA auf dem Wahl- demokratische Kultur der Partei zu pflegen und zettel ab. Das Ergebnis gibt Kraft und Hoffnung für Europa. mit neuen Ideen zu bereichern. 4
Die 45. Bundesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein Wochenende lang diskutierten über 800 Delegierte, aus ihren Wohn- und Arbeitszimmern auf die Videolein- wand ins Berliner Tempodrom zuge- schaltet, über die Zukunft Deutsch- lands und Europas. Ein Novum, auch für unseren Politischen Bundesge- schäftsführer Michael Kellner (oben) und unseren gesamten Bundesvor- stand (im Bild unten). 5
Mehr als drei Jahre haben wir Grüne am neuen Grundsatzprogramm g eschrieben – und unendlich viel debattiert. Mit über 3.000 Teilneh- mer*innen auf den Konventen des Bundesverbands und bei den Regio- nalkonferenzen im ganzen Land. Im Dialog mit über 100 Verbänden und NGOs. In sechs Impulsgruppen. Auf unzähligen Veranstaltungen der Bun- des- und Landesarbeitsgemeinschaf- ten und der Kreisverbände. Mit über 1.300 Änderungsanträgen zum Ent- wurf des Bundesvorstands. Der digi tale Parteitag beschloss das neue P rogramm – nach drei Tagen und mehr als 80 Abstimmungen. 6
POLITIK IST ANGEWANDTE LIEBE Rebecca Harms, Gründungsmitglied später erlebte ich als Europaabgeordnete viel härtere KÄMPFEN der ersten Bürgerinitiative gegen das Atommüll-Endlager in Gorleben, Konflikte mit: die Gewalt und Massenkriminalisierung in der Türkei seit den Gezi-Demonstrationen oder den Maidan in Kyjiw. Diese Erfahrungen und erst recht die über vier Jahrzehnte Widerstand – an der Front in der Ukraine haben mich beim Wort und wie man mit konkreten Szenarien „Kampf“ vorsichtiger gemacht. Denn Protest und Oppo- sition in einem Rechtsstaat, wie gegen ein atomares Menschen überzeugt. Endlager, und die Kämpfe gegen autoritäre Regierungen oder eine Invasion im eigenen Land dürfen nicht ver- wechselt werden. Wir sollten nie vergessen, wie sehr wir in Deutschland heute selbst bei großen Konfliktsitua Es war eine großartige Nachricht im Sep- tionen auf den Rechtsstaat vertrauen und uns auf eine tember: Der Salzstock Gorleben wird kein demokratische Ordnung stützen können. Endlager für Atommüll! Ich habe sofort Wenn man große gesellschaftliche Veränderungen meine alten Freunde aus der Bürgerinitia- erreichen will, gilt eine Erfahrung, die wir Grüne tive angerufen und mit meinem Mann auf auf dem Weg zum Atomausstieg gemacht haben. Wir den Sieg angestoßen. Im Wendland haben haben gelernt, in Szenarien zu denken. Wir haben wir oft darüber gesprochen, was uns die- verstanden, dass wir zeigen müssen, wie es gehen kann ser lange Weg abverlangt, aber auch, was er uns gegeben ohne Atomkraftwerke, wie der Umstieg auf neue hat: Wir jauchzten himmelhoch, als im März 1979 Hundert- Technologien funktioniert und wie die Arbeitsplätze tausende nach Hannover kamen, um unseren Gorlebentreck ersetzt werden, die mit dem Atomausstieg wegfallen. zu empfangen; ein Häuflein von uns war tagelang mit Trak- Auch wer heute erfolgreich Politik für Klimaschutz toren und zu Fuß unterwegs gewesen, um Aufmerksamkeit und nachhaltige Entwicklung umsetzen will, muss in für die Atommüllfrage zu schaffen. Aber wir waren auch Szenarien denken. Die Schritte zur Veränderung, die wir zu Tode betrübt, als wir später erlebten, wie zehntausende für notwendig halten, müssen vorstellbar gemacht Polizist*innen Jahr für Jahr das Wendland besetzten, um werden. Szenarien müssen zeigen, auf welchen Wegen Atommülltransporte nach Gorleben durchzusetzen. was erreicht werden kann: für die Reduzierung von Die Gorleben-Bewegung brachte Bürger*innen, Bäuer*in- Emissionen, aber auch für die Zukunft der Arbeit. Wir nen, Edelleute und Freaks zusammen. Wer glaubt, dass un- müssen die Interessen der Beschäftigten in der Auto ser Protest gegen das Establishment gerichtet war, der irrt. industrie oder die der Landwirte ernst nehmen, wir Wir kamen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Zu- müssen ihnen zuhören und dürfen nicht denken, dass sammenhängen, sind uns politisch längst nicht in allem einig dauerhafte Veränderungen gegen sie durchgesetzt gewesen. Gerade diese Heterogenität der Bürgerinitiative werden können. Das Denken in Szenarien zwingt uns, wurde ihre Stärke. Die Anti-Atomkraftbewegung hat die weit gesteckte Ziele mit gangbaren Wegen zu ver Grünen mit hervorgebracht. Und die Grünen haben mit binden, die überzeugen und nicht abschrecken. Was wir dem Weg in Parlamente und Regierungen über viele Hürden im Kopf haben müssen: Die Klimaziele der Grünen sind hinweg wesentlich dafür gesorgt, dass Deutschland diese jene von Paris. Und selbst wenn sie hinter denen von Hochrisikotechnologie hinter sich lässt. „Fridays for Future“ zurückbleiben, sind sie sehr ehr Die Auseinandersetzung um die Atomkraft war geprägt geizig und brauchen Verständigung und nicht immer von heftiger Konfrontation: in der Bewegung, zwischen wieder nur Konfrontation über „zu wenig“ und „zu Bewegung und Partei, zwischen der Minderheit und Mehr- spät“. Auch Klimaschutz kann gesellschaftliche Polari- heit im Land. Einander zuhören, Toleranz, die Bereitschaft sierung verschärfen, wie wir unter anderem in den zu streiten, aber auch Argumente von anderen gelten zu las- USA sehen. In Deutschland und Europa müssen wir eine sen: Das war mühsam, aber Teil des Erfolgs und die Voraus- Spaltung der Gesellschaft bei diesem Thema vermeiden. setzung dafür, dass wir keine radikale Minderheit blieben, Denn die großen Veränderungen, die der Klimaschutz sondern die Zustimmung der Mehrheit bekamen. verlangt, werden ohne breite Zustimmung nicht kommen. Ich streite gern. Unbedingt. Aber ich zweifle auch gern. Weitsichtige grüne Politik darf sich nicht in Klimazielen Denn Politiker*innen können keine Lösungen liefern, wenn für 2050 erschöpfen, sondern muss die Wege dahin vor- sie ihre eigenen Positionen nicht immer wieder überprü- stellbar und mehrheitsfähig machen. fen. Sie können nicht gut sein, wenn sie die Welt und die Menschen nicht mögen, so wie sie sind. In meiner ersten Bewerbungsrede vor den Grünen in Niedersachsen war ein REBECCA HARMS Zitat von Hannah Ahrend der rote Faden: „Politik ist an war im Jahr 1977 eine der Gründer*innen Protokoll: Julia Decker gewandte Liebe zur Welt.“ Besser kann ich es nicht sagen. der Bürgerinitiative gegen das Nukleare Auch Herzblut alleine ist kein Erfolgsrezept. Jede drän Entsorgungszentrum Gorleben im Wendland gende Überzeugung, mit der wir etwas verändern wollen, in Niedersachsen. Sie saß für die Grünen im Landtag in Niedersachsen und im Europa muss von Vernunft begleitet werden. Und von viel Geduld. parlament, dort war sie mehrfach Spitzen- Geleitet von der Idee des zivilen Ungehorsams habe kandidatin. Heute ist sie Vorstandsmitglied des ich mit wendländischen Freunden einige der größten Aktio- Europäischen Zentrums für Pressefreiheit nen der Anti-Atomkraftbewegung angeführt. Viele Jahre und M itglied des N achhaltigkeitsbeirats von VW. 7
Im Zahlenstudio ( links unten) liefen alle Ergebnisse zusammen. Mehr als ein Terabyte Daten wurde hin- und her- geschickt: Das entspricht 225.280.000 DIN-A4-Seiten Text. Wir zählten 100.000 Zugriffe auf unserer Plattform, über eine Million Menschen erreich- ten wir über Social Media. Die Delegier- ten konnten elektronisch diskutieren, abstimmen und miteinander chatten. Aminata Touré (großes Bild), Vizeprä- sidentin des schleswig-holsteinischen Landtags, führte auf dem Präsidium zusammen mit Britta Haßelmann, Oliver Hildenbrand und Jürgen Suhr durch die BDK. 8
OHNE ANGST VERSCHIEDEN SEIN Der Philosoph und Politikwissen- Notgedrungen muss es die Partei im Zuge ihrer VERÄNDERN schaftler Rainer Forst über Radikalität und die lebendige Streitkultur der rofessionalisierung auch aushalten, mit neuen Bewe- P gungen konfrontiert zu werden, die in ihrem Vorgehen radikaler und unmittelbarer sein können und wollen; Grünen, die sich in einem diskursiven Bewegungen wie „Extinction Rebellion“ etwa, die ein Politikstil niederschlagen sollte. zentrales Ziel verfolgen und daraus eine umfassende Dringlichkeit formulieren. Es mag für die Grünen schmerzhaft sein, aber als Partei, die eine plausible Aussicht auf Regierungsbeteiligung im Bund hat, muss man anders agieren, als es eine solche Bewegung Das neue grüne Grundsatzprogramm ist kann. Also auch auf andere Gesellschaftsgruppen und da, und wieder wird kontrovers diskutiert, Interessen eingehen, die nicht den gleichen Kurs fahren wie radikal die Grünen noch sein dürfen wie man selbst. Man ist jetzt eben Teil einer gesamt oder sollen. Geht man von der Wortbedeu- gesellschaftlichen Diskussion. tung aus – Radikalität kommt von „radix“, Ich finde, Robert Habeck und Annalena Baerbock lateinisch für Wurzel –, besteht Radikalität sind da auf dem richtigen Weg. Du musst in komplexen zum einen im Nachdenken darüber, wo Diskussionen nicht nur eine Menge Fachwissen parat man herkommt, welche Wurzeln man hat. Also in der Selbst- haben, sondern auch eine Haltung an den Tag legen, die vergewisserung über Grundwerte und Grundprinzipien. nichts Oberlehrerhaftes hat, dabei aber prinzipienfest Radikalität heißt aber natürlich auch, dass man Ziele ver- ist. Die beiden verkörpern eine gute Mischung aus Ziel- folgt, die sich grundlegend von dem Bestehenden lösen. In strebigkeit und Gesprächsbereitschaft. Sie zeigen an, diesem Sinne lassen sich im Grundsatzprogramm die A nsätze dass sie bereit sind, gesamtgesellschaftliche Verant- zu einer transnationalen Demokratie, einer ökologischen wortung zu übernehmen. Wirtschaft oder zur wirklichen Gleichheit der G eschlechter Für mich ist das Grundsatzprogramm deshalb gerade und zu einer multikulturellen Gesellschaft lesen, in der auch in seiner Detailgenauigkeit mutig und gelungen. man, mit Adorno gesagt, „ohne Angst verschieden“ sein kann. Mutig auch, weil die allgemeinere Werte- und Prinzipien- Zugleich stellt sich die Frage, wie radikal die Mittel sein diskussion diesmal einen sehr stark humanistischen dürfen, um diese Ziele umzusetzen. Viele Leute sehen die Anstrich hat. Das gesamte Programm wird von der Men- Grünen noch immer als eine Partei, die Politik primär als stra- schenwürde her entfaltet, was bei Anhänger*innen, tegisches Umsetzungsspiel betreibt. Mit anderen Worten: die den Eigenwert der Natur betonen, nicht nur auf Be- Man wirft den Grünen vor, sie seien eine Partei der paterna- geisterung stößt. Ich denke, dass dieser humanistische listischen Reglementierungen und nicht bereit, auf Inter- Einschlag, der sehr stark Fragen der Gerechtigkeit in den essen der Gesellschaft zu reagieren, die nicht in ihr Konzept Vordergrund rückt, auch über unsere Gesellschaft hin- passen. Ich denke, es wäre daher wichtig – gerade in aus Gültigkeit hat. Bezug auf die Mittel, die man wählt – einen Politikstil zu Gerechtigkeitspolitik endet bei den Grünen nicht an pflegen, der die Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft den eigenen Grenzen; das ist in Zeiten, in denen die betont. Dass man also beispielsweise bereit ist, bei der Frage Demokratie sich wieder auf die Nation zurückbezieht, der ökologischen Transformation der Wirtschaft auf alle nicht nur wegen der Pandemie sehr wichtig. Auch die Betroffenen offen zuzugehen. Wenn man etwa Fahrverbote Frage der Migration kann ja nicht nur aus dem Ansatz für Dieselfahrzeuge in Großstädten gutheißt, muss man bestehen, zu bestimmen, wie viele Menschen man auf auch einem Kleinunternehmer zuhören, der zwei ältere Trans- welche Weise in das Land hineinlässt. Die Grünen wen- porter hat und nicht über das Geld verfügt, sich mal schnell den sich nicht nur gegen die Ausbeutung der Natur, andere Fahrzeuge zuzulegen. sondern auch gegen die Ausbeutung anderer Menschen – Die Mittel zur Diskussion zu stellen, bedeutet dabei nicht, Menschen, die in Produktions- und Lieferketten ein dass man bei der Radikalität der Ziele Abstriche machen gebunden sind, von denen unsere Wirtschaft profitiert muss. Es muss aber eine umfassende gesellschaftliche De- und die unseren Konsum ermöglichen. Im Grundsatz- batte über die Abwägung der Mittel möglich sein. Die programm noch mehr über transnationale Gerechtigkeit Grünen sind eine Partei, die eine Vision hat, eine Partei, die zu sprechen und dies mit transnationaler Demokratie es mit Ökologie, transnationaler Gerechtigkeit und Multi zu verbinden, ist insofern ein wichtiger Schritt. kulturalismus wirklich ernst meint. Aber sie muss auch als eine Partei angesehen werden, die nicht schon immer alles besser weiß. Sie muss sich in den demokratischen Protokoll: Gero Günther Meinungs- und Interessenstreit begeben und zeigen, dass sie bereit ist, aus diesem Streit zu lernen. Innerhalb der Partei war die Diskussionskultur schon immer auf RAINER FORST einem hohen Niveau. Ich habe die Grünen im Markenkern geboren 1964, ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität als die diskursiv lebendigste Partei wahrgenommen, in in F rankfurt am Main. Der Leibniz-Preisträger der man gut streiten kann und voneinander lernt. Nun sollte gehört zur sogenannten „dritten Generation sich auch der Politikstil nach außen, gegenüber den Ge- der Frankfurter Schule“ und ist Sprecher werkschaften beispielsweise, weiter verändern. des Forschungsclusters „Normative Ordnungen“. 9
OHNE HANDWERK KEINE ENERGIEWENDE Holger Schwannecke, Generalsekretär besinnen uns darauf, Haushaltsgeräte, Schuhe und Fahrräder zu reparieren, zu warten und zu pflegen. All das sind Beispiele dafür, wie Handwer- des Zentralverbands des Deutschen ker*innen täglich und nachhaltig an einer sozial-ökologischen Marktwirt- Handwerks, über die Rolle seiner Zunft schaft mitwirken – und zugleich das Neue auf die Straße bringen. bei der sozialökologischen Trans- Jeder fünfte Handwerksbetrieb ist in der Klima- und Energietechnologie formation – und darüber, wo das Hand- tätig. Das reicht vom energieeffizienten Dach mit klimafreundlicher Photovoltaikanlage über nachhaltiges Bauen mit Recycling-Baustoffen, werk noch mehr Unterstützung Holz und Lehm bis hin zur E-Mobilität. Dass die Grünen die Bedeutung von den Grünen braucht. des Handwerks in ihrem Grundsatzprogramm verankert haben, ist für uns daher ein wichtiges Signal. Wir wünschen uns von der Partei aber auch den Mut, die akademische Brille öfter abzusetzen. Um die großen Zukunfts- aufgaben zu lösen, brauchen wir Bedingungen, die ökologisch wie öko Gesellschaft und Wirtschaft, Tradition und Zu- nomisch Sinn machen und die praktisch umsetzbar sind. Am Beispiel kunft, Bewährtes und Innovatives: All das Elektroschrott wird das klar: Gebrauchte Elektrogeräte dürfen auch in vereint das Handwerk. Die Vielfalt der Lebens- Geschäften zurückgegeben werden, wo sie gar nicht gekauft wurden. bereiche, in denen Handwerker*innen tätig In der Praxis sieht das oft so aus: Der Kunde erwirbt das Gerät bei einem sind, ist uns im Alltag selten bewusst. Das Bröt- der großen Onlineversandhändler, gibt es dann aber beim Elektrofach chen zum Frühstück, die Brille und das Hör geschäft um die Ecke zurück, das es lagern, entsorgen und das Ganze gerät, die uns das Leben erleichtern, die Heizung dokumentieren muss. und der Kühlschrank, die zuverlässig funktionieren, das neu Gleichzeitig haben wir stark Energie verbrauchende Unternehmen wie gebaute Haus und die sanierten Straßen – Handwerk ist all das, Bäckereien, Tischlereien oder Metallbetriebe. Hier arbeiten die Umwelt- was unser Leben ausmacht, was wir aber oft nicht mehr richtig zentren in den Handwerkskammern intensiv daran, die Energieeffizienz wertschätzen, weil wir es als selbstverständlich hinnehmen. und den Ressourcenverbrauch durch gezielte Beratung zu verbessern. Dabei denken Handwerker*innen schon immer über das Dabei hilft auch das digitale Energiebuch, ein praktisches Controlling- Tagwerk hinaus. Wir geben unser Wissen und Können genera- Instrument, das nächstes Jahr zudem als App erscheinen wird: Damit tionenübergreifend weiter, wir stärken und entwickeln den können die 1.250 Betriebe, die bereits Kontakt zum Energiebuch hatten, mit ländlichen Raum, wir gehen sorgsam mit Ressourcen um und geringem Aufwand etwa Energiekosten erfassen oder ihre CO2-Emissionen ANZEIGE EINE TRENNUNG KANN AUCH ENTSPANNT ABLAUFEN. Im echten Leben sind Trennungen eher problematisch. Beim Recycling von Getränkekartons ist das völlig anders. Mehr erfahren Sie unter karton-natürlich.de
ANZEIGE auswerten. So können sie beispielsweise sehen, ob sich die Die Natur HALT SCHAFFEN Umrüstung auf LED-Beleuchtung wirklich gelohnt hat. Um unserer ökologischen Verantwortung nachzukommen, müssen die für das Handwerk typischen kleinen Betriebe mit ihren speziellen Strukturen und Abläufen noch stärker in den Fokus rücken. Denn sie tragen die Lasten «Ich kann Professor Josef Settele, Insektenforscher und Mitverfasser des Welt-Biodiversitätsberichts ausnurpolitischen Ent- sagen: Jede Art, die verschwindet, ist ein braucht Schutz thema Das Magazin der Heinrich-Böll-Stift ung kleiner Tipping Point oder Kipppunkt. Viele Millionen Letzte Chance: scheidungen, die nur industrielle Abläufe undvonMassengeschäfte Josef Settele über den Schwund der Arten Jahre Investition, wenn man es ökonomisch denkt, Klare Ursachen: Warum Corona im Blick haben, wie etwa bei der Lebensmittel-Kennzeichnung: viele Millionen Jahre von Evolution: Sie sind dann menschgemacht ist einfach unwiderruflich verlorengegangen.» 20–4 Neue Wege: Wie Brandenburg seine Tiere rettet Die Dokumentationspflicht für Inhaltsstoffe ist auf industri Böll.Thema 20-4 Die Natur braucht Schutz – Schwerpunkt: Biodiversität elle Massenproduktion zugeschnitten, führt aber bei einer Bä- ckerei mit sechs Beschäftigten zu unglaublichem Frust. Hier – wie auf vielen anderen Feldern – wünschen wir uns weniger Bürokratie und damit faire Wettbewerbsbedingungen. Damit geht für uns auch eine Neubewertung beim Thema Sozialversicherungsbeiträge einher. Das Handwerk lebt von seinen Mitarbeiter*innen und ihrem Know-how. Zwölf Prozent Die Heinrich-Böll-Stiftung ist eine Agentur für grüne Ideen und Projekte, eine reformpolitische den traditionellen politischen Richtungen des Sozialismus, des Liberalismus und des Konser- aller Erwerbstätigen und 28 Prozent aller Auszubildenden in Zukunftswerkstatt und ein vatismus herausgebildet hat. internationales Netzwerk mit Organisatorisch ist die Heinrich- weit über 100 Partnerpro- Böll-Stiftung unabhängig und jekten in rund 60 Ländern. Demo- steht für geistige Offenheit. Deutschland sind im Handwerk tätig. Als beschäftigungsinten- kratie und Menschenrechte Mit derzeit 33 Auslandsbüros ist durchsetzen, gegen die Zerstörung sie weltweit gut vernetzt. Sie unseres globalen Ökosystems kooperiert mit 16 Landesstiftungen angehen, patriarchale Herrschafts- in allen Bundesländern und Download und Bestellung: sive Branche bekommen wir den Druck bei den Sozialabgaben strukturen überwinden, in Krisen- fördert begabte, gesellschafts- zonen präventiv den Frieden politisch engagierte Studierende boell.de/thema sichern, die Freiheit des Individu- und Graduierte im In- und ums gegen staatliche und Ausland. Heinrich Bölls Ermun- besonders zu spüren. Hier müssen wir überlegen, wie wir diese wirtschaftliche Übermacht vertei- digen – das sind die Ziele, die Denken und Handeln der Heinrich- terung zur zivilgesellschaft- lichen Einmischung in die Politik folgt sie gern und möchte Böll-Stiftung bestimmen. Sie ist andere anstiften mitzutun. sozialen Kosten zukünftig gerecht verteilen wollen. Spürbare damit Teil der « grünen » politi- schen Grundströmung, die sich weit über die Bundesrepublik hinaus Die Natur braucht Schutz in Auseinandersetzung mit www.boell.de Entlastung wünschen wir uns auch bei unserem Leib- und Ma- Schwerpunkt: Biodiversität gen-Thema Bildung. Unsere Meister*innen engagieren sich jedes Jahr, um ihr Wissen an rund 369.000 Lehrlinge weiterzu- Böll.Thema 20-4: geben und damit die Fachkräfte von morgen auszubilden. Allerdings verabschieden sich immer mehr Kleinstbetriebe aus Schwerpunkt: Biodiversität dieser Aufgabe, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Biodiversität ist faszinierend. Sie Wir sind jedoch auf gute Fachkräfte angewiesen. Deshalb ist bringt uns alle zum Staunen, sobald es unser Ansatz, akademische und berufliche Ausbildung als wir begreifen, wie Abermilliarden gleichwertig anzusehen und zu fördern. Student*innen können von Organismen zusammenwirken sich bis zum Alter von 25 Jahren in der Familie kostenfrei mit- und Neues schaffen. versichern. Das möchten wir auch für unsere Auszubildenden. Doch wir zerstören diese Fülle und Und es wäre ein schöner Beitrag zur Wertschätzung des beruf unser aller Lebensgrundlagen unauf- lichen Ausbildungswegs, der immer noch ein Schattendasein hörlich, auch in den entlegensten führt. Wir brauchen den Meister genauso wie den Master. Winkeln der Welt – wir überfischen Und nicht zuletzt müssen wir bei den tiefgreifenden Trans- die Meere, holzen die Wälder ab und formationsprozessen auch die mitnehmen, die sich mit Ver wandeln wertvolle Böden um. änderung schwertun. Bei den Menschen in den Kohle-Regionen etwa sehe ich viel Unsicherheit. Das müssen wir ernst neh- Jede Art, die verschwindet, ist men. Veränderung schafft nicht nur Halt, wie es im Grundsatz- ein kleiner Kipppunkt. Viele programm heißt, Veränderung braucht auch Halt. Das gilt Millionen Jahre von Evolution: insbesondere für die Übergangszeit, in der wir uns befinden. Sie sind dann einfach unwi- Diesen Halt sollten wir gemeinsam schaffen. derruflich verlorengegangen. Unser neues Böll.Thema beschäftigt sich mit der Frage, wie wir unsere Lebensgrundlage noch retten können. Podcast zum Thema Böll.Fokus Protokoll: Hanna Henigin HOLGER SCHWANNECKE Biodiversität: geboren 1961 in Helmstedt, ist Jurist und seit 2010 Vom Netz des Generalsekretär des Zentralverbands des Deutschen Lebens Handwerks – und damit Interessensvertreter von über einer Million Betrieben mit rund 5,6 Millionen Beschäftigten. Er ist zudem Hauptgeschäftsführer Heinrich-Böll-Stiftung des Deutschen Handwerkskammertages (DHKT) und Schumannstr. 8, 10117 Berlin Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverbands Deutsches Handwerk (UDH). LY_ANZ_Master_Maganzin derGruenen_NEU.indd 3 20.11.2020 15:02
SOLIDARITÄT MACHT KRISENRESILIENT Anja Piel, Vorstandsmitglied des „No jobs on a dead planet“ heißt es bei „Fridays ACHTEN For Future“. Das stimmt, und es gilt auch: Wir kön- Deutschen Gewerkschaftsbundes, über nen die Veränderungen, den Wandel nur mit starken die Coronakrise, den Zusammenhang Beschäftigten schaffen und mit Sicherheitsverspre- von Sozial- und Umweltpolitik – und chen, die auch wirklich tragen. Ich habe da Michael warum es ein neues soziales Sicherheits- Vassiliadis, den Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie und Energie, im Ohr, der auf einem Kongress gesagt versprechen braucht. hat: „Man kann keine Umweltpolitik ohne Sozial politik machen und keine Sozialpolitik ohne Umwelt- politik“. Die Gestaltung von umweltfreundlicheren Produktionsprozessen funktioniert nur, wenn die Zu- Es ist immer wieder die Rede davon, dass kunftsperspektiven derjenigen stimmen, die diese die Pandemie wie ein Brennglas wirkt. Be- Arbeit übernehmen sollen. Dafür brauchen wir reits bestehende Missstände werden durch ein starkes Mitspracherecht der Arbeitnehmerver- die Coronakrise verstärkt: Prekär Beschäf- tretung. Wer bereit sein soll, neue Aufgabenfelder tigte, Leute mit schlechter Berufsausbil- anzugehen, muss wissen, dass seine oder ihre beruf- dung und Menschen in Minijobs sind in gro- liche Existenz und das Einkommen gesichert sind. ße Not geraten. Es haben sich Gerechtigkeitslücken aufgetan, Klimaschutz und Sozialpolitik dürfen schon allein die man politisch schließen muss. In der Krise hat man auf Druck deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden, der Gewerkschaften hin versucht, mit dem Kurzarbeitergeld weil prekäre Beschäftigung und Perspektivlosigkeit so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten. Trotzdem, das dazu führen, dass Menschen kein Interesse mehr zeigen die Zahlen, werden viele Stellen wegfallen. an demokratischer Teilhabe spüren und damit auch Wir werden zudem eine Debatte darüber führen müssen, wer anfällig für Extremismus werden. Sozial- und die Krisenkosten bezahlt. Wir sehen beispielsweise, dass Covid- A rbeitsmarktpolitik sind auch für die Sicherung Testungen aus den Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen unserer Demokratie extrem wichtig. bezahlt werden, was einer Verlagerung der Krisenkosten alleine Um die sozial-ökologische Transformation er auf die Beitragszahler*innen gleichkommt. Von den politischen folgreich umzusetzen, gibt es verschiedene Hebel. Parteien werden wir daher einfordern, dass sie die richtigen Ein Beispiel: Wenn öffentliche Aufträge vergeben Ableitungen aus der Krise treffen. Wir brauchen eine Politik, werden, sollten in Zukunft bei der Auswahl der Un- die jene achtet und schützt, die sich zum Wohl aller einsetzen. ternehmen diejenigen bevorzugt werden, die nach Die systemrelevanten Berufe in Gesundheit und Pflege müssen Tarif bezahlen und gute Arbeitsverhältnisse bieten. besser bezahlt werden. Erst wenn in Krankenhäusern und Die Unternehmen müssen Vorteile davon haben, Pflegeheimen genügend Personal zur Verfügung steht, kann wenn sie Arbeit vernünftig gestalten. Ein weiterer die Selbstausbeutung wirksam beendet werden. Das beste Punkt ist, Weiterbildung zu fördern. Im nächsten Mittel, um Menschen im Alter gut zu versorgen, ist, dass sie in Jahr werden wir die Auswirkungen der Coronakrise jungen Jahren zu vernünftigen Tarifen gearbeitet haben. stark spüren. Mehr Arbeitslosigkeit und mehr In Auch im Einzelhandel haben wir gesehen, dass bei den Mini- solvenzen kommen auf uns zu. Trotzdem dürfen die jobs eine unerhörte soziale Schärfe entstanden ist – bei den Transformationsprozesse nicht einschlafen. Das Menschen, die das Land in der Krise am Laufen halten. Deswe- funktioniert nur, wenn wir die Menschen fit für Ver- gen fordern wir als Gewerkschaften: raus aus den prekären änderungen machen. Eine Rolle wird dabei die Jobs, hin zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung! Das Bundesagentur für Arbeit mit guten Beratungsange- ist allein schon wegen der Altersversorgung wichtig. Die Ge- boten spielen, eine andere die Arbeitgeber*innen. rechtigkeitslücken betreffen in vielen Fällen Berufe, die vor Das, was in der Veränderung Halt schafft, kann nur allem von Frauen ausgeübt werden. Wir fordern höhere Ein- gemeinsam herbeigeführt werden. Dafür müssen kommen in den frauentypischen Berufen, bessere Bedingungen Politik, Gewerkschaften und sozialrelevante Gruppen und familienfreundlichere Arbeitsplätze. starke Bündnisse schmieden. Ob in der Corona- Eine Krise lenkt den Blick immer wieder auf die drängends- oder Klimakrise: Wir stehen vor gewaltigen gesamt- ten Themen: Haben wir zum Beispiel ein Gesundheitssystem, gesellschaftlichen Aufgaben, die sich nicht von das sich an der gesundheitlichen Versorgung ausrichtet oder alleine erledigen. an den Renditen? Wir sollten endlich auch verstehen, dass die Kosten des Gesundheitswesens solidarischer verteilt werden müssen. Beispielsweise durch eine Bürgerversicherung, die auch Protokoll: Gero Günther den Beamt*innen keine Nachteile bringt. Das wird nicht von selbst passieren, sondern muss politisch verabredet werden. Die Coronakrise hat uns aber zugleich deutlich gezeigt: ANJA PIEL Solidarität ist die Währung, die uns krisenresilient macht. Wenn geboren 1965, war Fraktionsvorsitzende der Grünen im Niedersächsischen Landtag wir die Veränderungen, die nach der Krise auf uns zukommen, und Oppositionsführerin. Am 25. März 2020 meistern wollen, dann nur, indem die Akteur*innen sich respek- wechselte die gelernte Industriekauffrau tieren und einander achten. Nur so können wir auch die Klima und Mitbegründerin des Mütterzentrums krise bewältigen. Hameln in den DGB-Bundesvorstand. 12
Ein Parteitag in einer Zeit gewaltiger Herausforderungen: Anstatt unser neues Grundsatzprogramm gemein- sam in Karlsruhe zu feiern und zu verabschieden, haben wir all unsere Energie in ein spannendes digitales Konzept gesteckt. Allein die Program- mierung des Abstimmungstools hat rund drei Monate gedauert. Wer die Halle betreten wollte, musste sich ei- nem Corona-Schnelltest unterziehen. 13
FORTSCHRITT IST GRÜN Anne Spiegel, Familienministerin Die „Fridays for Future“-Bewegung hat uns als SCHÜTZEN esellschaft wachgerüttelt. Wir Grüne haben Rekord- G und Spitzenkandidatin für die Landtags- zuwachszahlen. Es gibt einen Schwung und eine Auf- wahl 2021 in Rheinland-Pfalz, über bruchsstimmung, die wir unbedingt nutzen müssen. Im unsere Welt am Limit – und wie wir sie Rahmen meiner Spitzenkandidatur führe ich gerade bewahren können. zahlreiche Gespräche in Unternehmen. Viele Menschen dort sind in ihrem Denken und Handeln schon viel weiter als die politischen Rahmenbedingungen. Fort- schritt ist kein Begriff, den man den Neoliberalen überlassen darf. Wir können Fortschritt auch mit grünen Die Umwelt und unsere Mitmenschen zu Themen durchdeklinieren! achten und zu schützen, das gehört schon Fortschritt darf aber auf keinen Fall so aussehen wie immer zu unserer grünen DNA. Was wir das, was uns die Landwirtschaftsminister*innen jetzt derzeit am existenziellsten schützen müs- als EU-Agrarreform verkaufen wollen. Das ist eine Farce. sen, ist das Klima. Denn wenn die Krise Es ist kein Systemwechsel, der uns hier vorgeschlagen mit voller Wucht voranschreitet, braucht wird, sondern ein Zementieren der alten Missstände. man sich über andere Schutzkonzepte Nach wie vor sollen die meisten Gelder in klima- und gar keine Gedanken mehr zu machen. Klima- und Artenschutz umweltzerstörende Großbetriebe gesteckt werden. Wir sichern unser eigenes Überleben. wollen beim ökologischen Landbau ganz kräftig nach Ich habe vier kleine Kinder. Sie sind zwischen zwei und legen. In Rheinland-Pfalz sind wir da bereits auf einem neun Jahre alt. Mein Blick richtet sich schon deshalb automa- guten Weg. Den Anteil der Biolandwirtinnen und Bio- tisch auf die kommenden Generationen. Es ist klar, dass wir landwirte wollen wir von elf auf 30 Prozent steigern. mit unseren endlichen Ressourcen so umgehen müssen, dass Zum Glück werden Ökoprodukte auch von den Konsu- auch für sie noch etwas übrigbleiben wird. Damit meine ich ment*innen immer stärker nachgefragt. Wir brauchen beispielsweise Wasser. Wasserknappheit ist nicht nur global aber auch faire Preise. Es ist völlig absurd, wenn Pro- gesehen ein riesiges Problem. Damit meine ich aber auch dukte wie Fleisch und Milch zu einem Preis verkauft die Wälder vor unserer Haustüre. Wir brauchen sie als grüne werden, der nicht einmal die Herstellungskosten der Lunge, als Lebensraum und als Erholungsgebiet. Landwirt*innen deckt. Man kann in der Landwirtschaft Wenn meine Familie und ich Zeit haben, gehen wir gerne auf Länderebene etwas erreichen, aber die wichtigsten im Pfälzer Wald wandern. Die Kinder können dort rennen und Weichen müssen vom Bund und in der EU gestellt wer- toben, und für mich ist das ein wichtiger Ausgleich. Aber un den. Was Agrarministerin Julia Klöckner uns da aufge- sere Wälder sind bedroht. Die Forstexpert*innen, mit denen ich tischt hat, können wir uns nicht mehr leisten. im Gespräch bin, sind alarmiert. Rheinland-Pfalz ist prozentual Wir brauchen eine ideenreiche und zupackende das waldreichste Bundesland und der Zustand unserer Wälder Politik, die alle Grenzen der Erde respektiert – und macht einen sprachlos. Ein Laie sieht das nicht auf den ersten gleichzeitig auch die Menschen schützt. Das national- Blick, aber die Förster*innen wissen, dass der Wald in vielen staatliche, auf den eigenen Vorteil bedachte Denken, Regionen in einem erschreckenden Zustand ist. Da sterben Bäu- das momentan grassiert, ist Gift für die europäische me, die 100 oder 120 Jahre alt sind. Gemeinschaft. Für mich ist die Verbundenheit über die Die Folgen der Klimakrise sind längst bei uns angekommen. Grenzen hinweg eine Selbstverständlichkeit. Mein Deshalb müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien Mann ist Schotte, meine Kinder wachsen zweisprachig entschieden beschleunigen. Wir wollen in Rheinland-Pfalz die auf. Meine Oma hat sizilianische, mein Opa rumänische Leistung der Windenergie bis zum Jahr 2030 verdoppeln und Wurzeln. Die europäische Union ist eine Wertegemein- die der Photovoltaik verdreifachen, wir wollen auch die Mobili- schaft, die wir schützen und ausbauen müssen. tät klimafreundlich gestalten: hin zu mehr ÖPNV, zur Schiene, zu Bussen, Fahrrädern, E-Bikes – da ist eine Revolution nötig und wir wollen die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Am 14. März 2021 findet die Wahl zum Wichtig ist für uns aber auch die Bezahlbarkeit. In Rheinland- 18. Landtag von Rheinland-Pfalz statt. Derzeit Pfalz soll es ein 365 Euro-Ticket geben, das auch die viel regiert Ministerpräsidentin Malu Dreyer zu komplizierten Tarifstrukturen vereinfacht. mit einer Ampelkoalition aus SPD, FDP und Wir befinden uns in einer Phase, in der die Alarmglocken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. laut schrillen. Für die Transformation zur Klimaneutralität bleibt nicht mehr viel Zeit. Wie keine andere Partei setzen wir Protokoll: Gero Günther uns schon sehr lange für Umwelt-, Klima- und Artenschutz ANNE SPIEGEL ein. Dafür sind wir in der Vergangenheit belächelt worden. In- Jahrgang 1980, ist die Spitzenkandidatin der Grünen zwischen ist dieser besorgniserregende Zeitdruck für die bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz. Sie hat meisten Menschen deutlich spürbar. Die nächste Legislatur Politikwissenschaften, Philosophie und Psychologie studiert, arbeitete in einem kambodschanischen periode wird entscheidend sein. Wir müssen es in den kom- Waisenhaus und als Sprachtrainerin. Seit 2011 ist menden Koalitionsverträgen auf Bundes- und Landesebene Spiegel Abgeordnete im rheinland-pfälzischen Landtag. schaffen, die Weichen wirklich neu zu stellen und die plane 2016 wurde sie zur Ministerin für Familie, Frauen, taren Grenzen als Leitlinie unseres Handelns durchzusetzen. Jugend, Integration und Verbraucherschutz ernannt. 14
Der Parteitag ging auch virtuell einen geordneten Gang. Gespannt verfolgte der Bundesvorstand die Debatten und Gastbeiträge, zum Beispiel von Publizistin Ferda Ataman (Bild oben). 15
WEIL WIR ES KÖNNEN Winfried Kretschmann, Ministerpräsident ehalten haben. In der jüngeren deutschen Geschichte g ERNEUERN denke ich dabei an den Fall der Mauer. Plötzlich von Baden-Württemberg, über den flossen die Energien zusammen und haben die Welt grünen Weg in die ökologische Moderne – verändert. In der Wissenschaft spricht man von und welche Wunder wir von der Kipppunkten und exponenziellen Entwicklungen. Politik erwarten können. Hannah Arendt hat – sehr viel anschaulicher – von „Wundern“ gesprochen, und dass wir gerade von der Politik solche Wunder erwarten dürfen. Dass also etwas Unerwartetes und Unvorhergesehenes geschieht. Ich glaube, dass ein solches Wunder Am Beginn der Umweltbewegung standen auch im Hinblick auf unseren Kampf gegen die Klima- nicht nur Berichte und Bücher, sondern auch krise und das Artensterben möglich ist. Ich glaube, Bilder. Eines der wirkmächtigsten stammt dass es uns gelingen kann, das Ruder noch rechtzei- aus der Umlaufbahn des Mondes. Es zeigt eine tig herumzureißen. Und ich sehe es als politische in ewiger Dunkelheit schimmernde blau- Kernaufgabe von uns Grünen an, diese Veränderungen weiße Erdkugel, umschlossen von einer hauch- anzustoßen und unser Land in die ökologische dünnen Schutzhülle. Ein Bild, das viele Men- Moderne zu führen. schen in seiner Würde und Schönheit tief berührt hat, auch mich. Doch was genau ist zu tun? Geht es nicht letzt- Es zeigt, wie einzigartig die Schöpfung ist, aber auch, wie ver lich vor allem um Verzicht? Ich meine: Es ist wichtig, letzlich. Nur wenige Monate, nachdem dieses Foto aufgenommen dass Bürgerinitiativen, NGOs oder Kirchen hier das wurde, betrat der erste Mensch den Mond. Aber das eigentlich Wort ergreifen und Verhaltensänderungen einfordern. Beeindruckende war, er kam auch wieder heil zur Erde zurück. Ohne wird es nicht gehen, zum Beispiel bei der Er- Auch diese Erfahrung ist wertvoll für uns, denn sie zeigt, zu was nährung. Doch die Kernaufgabe der Politik ist das wir fähig sind. Wie beflügelnd es ist, sich große Ziele zu setzen. meines Erachtens nach nicht. Wir brauchen keine Was wir erreichen können, wenn wir all unser Engagement, all moralisierende Politik, die den Menschen kleinteilig unsere Anstrengung, all unseren Tüftlergeist zusammennehmen. neue Sitten abfordert. Wir brauchen eine morali- Und dass wahr werden kann, was die meisten für unmöglich sche Politik, die die richtigen Rahmenbedingungen ANZEIGE für unsere gesundheit FEIERT HEBAMME LINDA JEDEN TAG GEBURTSTAG. Wir sagen Danke. Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem jeden Tag zu einem der besten der Welt. Mehr unter pkv.de/linda
ANZEIGE setzt und die richtigen Preissignale gibt. Dass es uns im letzten Jahr gelungen ist, nach direkt eine Landesinitiative für klima neutrale Unternehmen gemacht haben. Naturliebe und schwierigen Verhandlungen mit Bund und Ein Kongress übrigens, der inzwischen Menschenhass Ländern den CO2-Preis nach oben zu drü- zur Pilgerstätte für unternehmerische Pi- cken, empfinde ich deshalb als wichtigen oniere geworden ist. Allein die 100 Un- Völkische Zwischenerfolg. Denn wir brauchen die ternehmen, deren Beispiele wir kürzlich Siedler*innen in Schnelligkeit und Innovationskraft der Markt- zusammengetragen haben, sparen mit Thüringen, Sachsen, wirtschaft. Nur mit ihrer Hilfe haben wir die ihren Innovationen zehntausende Tonnen Sachsen-Anhalt, Chance, die ökologische Erneuerung unserer Stahl- und Eisenmetalle, Aluminium, Hessen und Wirtschaft schnell genug voranzutreiben. Blei, Kunststoffe, Farben, Lacke und Che- Bayern Nur wenn wir auf Unternehmergeist und In- mikalien ein. novation setzen, können wir zeigen, dass wir Aber machen wir uns nichts vor: Viel boell.de/publikationen die ökologische Erneuerung nicht nur wollen, Zeit bleibt nicht mehr, um den Klima sondern auch können. Dass wir Ökonomie wandel und das Artensterben wirksam In fast allen Bundesländern versu- und Ökologie – die vom Wortsinn her ohne- abzubremsen. Die entscheidenden Ver chen völkische Akteur*innen durch hin dasselbe bedeuten – miteinander ver änderungen müssen jetzt kommen, in Besiedlung ländlicher Räume ihre binden und den Naturverbrauch vom Wirt- diesem Jahrzehnt. Gleichzeitig zeigt autoritäre und rassistische Gesin- schaftswachstum entkoppeln können. Das das Beispiel anderer Länder, dass es schon nung zu verbreiten. Es eint sie die ist entscheidend, nicht unser absoluter Anteil bei sehr viel weniger einschneidenden Ablehnung der pluralistischen am weltweiten CO2-Ausstoß. Im Kern geht Transformationsprozessen zu Kultur- Gesellschaft und der parlamentari- es um Kopierfähigkeit. Um die Entwicklung kämpfen kommen kann, die zu lähmen- schen Demokratie. eines Wirtschaftsmodells, um die Entwick- dem Stillstand führen, oft sogar zu lung von technologischen Innovationen, die Rückschritten. Um etwas zu transformie- alle haben und anwenden wollen. Wie die ren, muss noch etwas da sein, das man Podcast zum Thema Solarenergie, deren Siegeszug vor 20 Jahren transformieren kann. Einen Rust Belt «Naturliebe und mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz be- können wir uns nicht leisten. Wir brau- Menschenhass» gonnen hat. Das ist unsere Verantwortung als chen eine ökologische Transformation, boell.de/podcasts führendes Industrieland. die die Menschen nicht abhängt, sondern Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, mitreißt. Das ist die zentrale Herausfor dass wachsende Teile der Wirtschaft bereit derung der kommenden zehn Jahre. Und Leipziger Autoritarismus Studie 2020 sind, den Weg der ökologischen Erneuerung mit uns zu gehen. Ein Beispiel dafür ist der dabei kommt es mehr denn je auf uns Grüne an, auf unsere Kompetenz in Öko- Autoritäre Strategiedialog Automobilwirtschaft, den ich vor einigen Jahren ins Leben gerufen habe. logie und Ökonomie. Auf alle, die diese Herausforderung annehmen und die po Dynamiken Dabei handelt es sich um ein neues Politik- litische Verantwortung übernehmen: Alte Ressentiments – neue Radikalität format mit dem Ziel, die notwendigen Ver in den Kommunen, in den Ländern, und Von Oliver änderungen zu beschleunigen. Auf diese Weise schon bald auch im Bund. Ich bin sicher: Decker und machen wir Baden-Württemberg zum Mus- Wir können das! Elmar Brähler terland der Elektrifizierung, mit einem über- all verfügbaren dichten Netz von Ladesäulen und Schnellladeparks. Wir arbeiten nicht nur an der nächsten Generation der Batterie, sondern auch an einer Fabrik, die im industri- Am 14. März 2021 findet die boell.de/leipziger- Wahl zum 17. Landtag von Baden- autoritarismus-studie ellen Maßstab Batterien recycelt. Wir ma- Württemberg statt. Minister chen Baden-Württemberg zur Modellregion präsident Winfried Kretschmann für eine grüne Wasserstoffwirtschaft und treiben die Erforschung von synthetischen steht seit 2016 an der Spitze einer Die Studie zeigt, wie stark sich die Koalition aus Grünen und CDU. Gesellschaft polarisiert und wie sehr Kraftstoffen voran. Unseren Mittelstand unterstützen wir mit Rat und Tat, mit Innova- sich die extreme Rechte inzwischen tionsgutscheinen und Weiterbildungsan radikalisiert hat. geboten für die Jobs der Zukunft. Ja, unsere Dass ihr dabei mittels Antisemitis- Unternehmen sind spät in das Zeitalter der WINFRIED KRETSCHMANN mus, Verschwörungsmythen und alternativen Antriebe gestartet. Aber inzwi- geboren 1948, ist Gründungsmitglied Antifeminismus der Anschluss an die schen rollen bei uns Elektroautos vom Band, der Grünen in Baden-Württemberg. gesellschaftliche Mitte gelingt, zeigt, die tausende neuer Arbeitsplätze schaffen. Seit mehr als drei Jahrzehnten gestaltet wie groß die Herausforderungen für Die ersten klimaneutralen Fabriken haben er Politik in seiner Heimat: zunächst unsere Gesellschaft sind. als Landtagsabgeordneter und grüner ihre Arbeit aufgenommen. Und die ersten Zu- Heinrich-Böll-Stiftung Fraktionsvorsitzender, seit 2011 als lieferer machen ihr gesamtes Unternehmen Ministerpräsident. Am besten zur Ruhe Schumannstr. 8, 10117 Berlin klimaneutral. Klar, dass wir daraus bei unse- kommt der Hobby-Handwerker beim rem letzten Ressourceneffizienzkongress Wandern auf der Schwäbischen Alb. LY_ANZ_Master_Maganzin derGruenen_NEU.indd 1 20.11.2020 17:29
Auch eine große Halle wird in der Pandemie schnell zu klein: Um die Bundesdelegiertenkonferenz digital und mit genügend Abstand abhalten zu können, verwandel- ten wir das Berliner Tempodrom in ein riesiges Fernsehstudio. Aus der Halle berichteten ARD, ZDF, Phoenix und RTL live über das Geschehen auf den vier Bühnen. Über 100 Videos, viele von den Parteimitgliedern selbst produziert, wurden während des Parteitags gezeigt.
Das Studio-Wohnzimmer, ein Raum grüner Geschichte. An der Wand hin- gen Bilder aus 40 grünen Jahren in Deutschland und ein Plakat aus dem Jahr 1979: „Stillegung aller Atom anlagen.“ Mit Ninia La Grande und Marco Ammer führten zwei profes sionelle Moderator*en durch das Pro- gramm und füllten die Pausen, die sich immer wieder ergaben. Das hielt der stellvertretenden Bundesvor sitzenden Jamila Schäfer (großes Bild) und M ichael Kellner mit seinem Team um Büroleiterin Jana Abresch (Bild links unten) den Rücken frei. Protokoll: Christina Waechter 20
FÜR ALLE Amina Gerlach, Sprecherin der Berliner Ein Beispiel ist die Haushaltspolitik: Wir haben VIELFALT LEBEN Landesarbeitsgemeinschaft Frauen* und Gender, über Feminismus und Viel- verankert, dass Gender-Budgeting berücksichtigt, der Haushalt also auch geschlechtsspezifisch betrach- tet werden soll. Im Kapitel „Frieden“ wird gefordert, falt als Vision grüner Politik. dass Frauen bei Friedensverhandlungen mit einbe- zogen werden sollen, weil Friedensverhandlungen, an denen Frauen beteiligt sind, als sehr viel erfolg- reicher gelten. Und im Kapitel „Rechtsstaat und „Feminismus ist kein nettes Anhängsel, sondern Sicherheit“ wird Gewalt gegen Frauen gesondert der rote Faden, der sich quer durch unsere betrachtet. Politik zieht.“ Diesen Anspruch an unser neues Wir denken Feminismus aber vielfältiger, inter- Grundsatzprogramm habe ich im März 2019 sektionaler. Denn Menschen werden auch aufgrund am Anfang des Prozesses formuliert. Eineinhalb rassistischer oder anderer Gründe diskriminiert und Jahre später steht fest: Wir haben geliefert. nicht nur aufgrund ihres Geschlechts. Das ist inso- Den Grünen geht es schon immer darum, fern wichtig, als wir in unserer Gesellschaft glückli- eine Gesellschaftsutopie zu verwirklichen. Es ist fast etwas cherweise zunehmend vielfältige Perspektiven wie in Vergessenheit geraten, aber der Feminismus war neben zum Bespiel die migrantische wahrnehmen. Wenn in der ökologischen Bewegung eine der tragenden Gründungs- einer Gesellschaft die Ideen und Meinungen all ihrer säulen unserer Partei. Es gibt viele Themen, die schon die Mitglieder gehört werden, wird sie durch die verschie- Urgrünen umgetrieben haben, und die noch heute aktuell denen Erfahrungen reicher – und alle politischen sind: das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, gleiche Entscheidungen werden vielfältiger und besser. Bezahlung, die faire Aufteilung von Care-Arbeit oder die Das, was feministisch oder progressiv ist, müssen Forderung, dass Frauen in Politik und Wirtschaft stärker wir dabei als Gesellschaft immer wieder neu defi- repräsentiert werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat nieren. Schon im Jahr 1986 haben die Grünen die sich viel getan: Tradierte Geschlechterrollen verändern Hälfte der Macht in der Partei den Frauen übertragen. sich, Frauen definieren sich weniger über die Mutterrolle Während andere Parteien mehr als drei Jahrzehnte und stärker über den Beruf. Aber die Realität hinkt den später noch immer über Frauenquoten in ihren Rei- Ansprüchen hinterher. hen streiten, gehen wir einen Schritt weiter. Wir Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt noch immer stark be- wollen die Vielfalt, die in unserer Gesellschaft längst nachteiligt: Ob bei der Einkommens- oder Rentenlücke, Realität ist, auch in der Partei abbilden: In Zukunft beim Anteil der in Vollzeit erwerbstätigen Frauen oder bei sollen ebenso viele Menschen mit Migrationsbiogra- der Verteilung der Arbeitszeit – überall belegt Deutsch- fie Posten übernehmen, wie es ihrem Anteil in der land einen der letzten Plätze im OECD-Vergleich. Um Gleich- Gesellschaft entspricht. Ein Vielfaltstatut ergänzt berechtigung in unserer Gesellschaft zu erreichen, ist das Frauenstatut. deshalb für uns der Arbeitsmarkt das zentrale Feld. Wir Auch in anderer Hinsicht nehmen wir Grüne eine wollen das Arbeits- und Steuerrecht reformieren, um starke Rolle als Multiplikator und Verstärker ein. Geschlechterungerechtigkeiten zu beseitigen. Mehrarbeit Das Gender-Sternchen ist das perfekte Beispiel: Wir lohnt sich für viele verheiratete Frauen kaum, weil der waren die erste Partei, die beschlossen hat, alle deutsche Fiskus ihnen so viel vom Lohn abnimmt wie fast Schriftstücke komplett geschlechterneutral zu gen- kein anderes Industrieland. Steuerliche Fehlanreize wie dern. Was anfangs belächelt wurde, ist heute fest das Ehegattensplitting gehören daher abgeschafft, denn verankert und wird auch von Behörden adaptiert. sie fördern ein überholtes Familienmodell. In der Politik geht es am Ende darum, den Alltag Nach der Geburt des ersten Kindes wächst die Lohnun- aller Menschen zu verbessern und zu erleichtern. gleichheit zwischen den Geschlechtern bis zum Rentenalter Ich bin davon überzeugt, dass wir es schaffen werden, immer weiter. Zentral ist, dass die Sorgearbeit fairer unter Vielfalt weiter vorzuleben und eine gerechtere Ge- den Geschlechtern aufgeteilt wird. Ein wichtiger Baustein sellschaft zu prägen. ist zudem der Ausbau der Kinderbetreuung. Insbesondere in den alten Bundesländern zwingt der Mangel an Kitaplätzen Mütter dazu, weniger zu arbeiten. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, braucht es aber auch für Schulkinder einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung. Feminismus als Vision und Weg ist für mich eine gute Definition dafür, wie wir solche Themen in unserem Grund- satzprogramm eingebracht haben. Das gesamte Programm wird von einer feministischen Perspektive aus betrachtet AMINA GERLACH und durchleuchtet. Das ist vermutlich der große Unter- 32, geboren in Berlin, arbeitet als P resse- schied zum vorherigen Programm aus dem Jahr 2002. Als referentin bei der grünen Bundestagsfraktion. Querschnittsthema zieht sich Feminismus durch alle Sie ist seit 2016 Mitglied der Berliner Grünen Kapitel – und damit werden alle Themen noch mal viel und ehrenamtliche Sprecherin der Lan- progressiver gedacht. desarbeitsgemeinschaft Frauen* und Gender. 21
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