Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
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Der österreichische ANTISEMITISMUS Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker
Wir danken herzlich für die Kooperation: © Karl Renner-Museum Rennergasse 2, 2640 Gloggnitz, im Oktober 2021 www.rennermuseum.at Umschlaggestaltung: Michael Rosecker Grafische Gestaltung: Michael Rosecker Lektorat/Korrektorat: Christine Bobek, Madhavi Hussajenoff, Maria Maltschnig, Michael Rosecker und Wolfgang Zwander Dank an: Linda Erker, Erik Eybl, Christian Hoffmann, Walter Mentzel und Georg Spitaler
AUSSTELLUNG 2021/2022 Der österreichische Antisemitismus Grundton der Ersten Republik Michael Rosecker Über diese Ausstellung Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft aus- getragen wird – im Sinne des Freiheits- und Gleich- Wir verstehen das Karl-Renner-Museum als einen heitsversprechens der demokratischen Republik. offenen Ort historischer Wissensvermittlung, de- mokratischer Bildungsarbeit und gesellschaftspo- Der Antisemitismus-Begriff litischer Debatte. So stellen wir uns auch brisanten Themen. Der Antisemitismus-Begriff dieser Ausstellung Zu einer Auseinandersetzung mit den Widersprü- geht auf den deutschen Historiker Wolfgang Benz1 chen der Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte zurück. Er nennt vier Formen des Antisemitismus: des 20. Jahrhunderts gehört vor allem die Beschäf- # Der christliche Antijudaismus, der seit dem Mit- tigung mit dem Antisemitismus, der tief in die poli- telalter religiös motiviert ist, aber auch kulturell, tische Kultur eingeschrieben war. Daher zeigen wir sozial und ökonomisch bestimmt sein kann. eine Ausstellung, die sich mit dem Spannungsfeld # Der seit dem 19. Jahrhundert pseudowissen- einer generellen Politik der Feindschaft und der schaftlich, anthropologisch und biologistisch Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung ös- argumentierende Rassenantisemitismus. terreichischer Jüdinnen und Juden in der Ersten # Ein seit 1945 in Deutschland und Österreich auf- Republik auseinandersetzt. tretender Schuldabwehr-Antisemitismus, eine sich Die Verankerung des Antisemitismus in der öster- aus Scham und Schuldabwehr speisende Form reichischen Gesellschaft der Ersten Republik ist so des Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden. vielschichtig und umfassend, dass nicht alle Aspek- Kristallisationspunkt dafür waren und sind die Fra- te in dieser Ausstellung beleuchtet werden können. gen der Entschädigung bzw. Wiedergutmachung So liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung zent- erlittenen jüdischen Leids und die Frage der histo- raler politischer und gesellschaftlicher Institutionen rischen Verantwortung an der Shoah. und Akteur:innen des jungen Gemeinwesens. Mit der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem # Der israelbezogene Antisemitismus, der die alte Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 ver- Judenfeindschaft auf den 1948 gegründeten Staat schwand die weitverbreitete Judenfeindschaft nicht Israel projiziert. „plötzlich“. Daher werden auch deren Auswirkun- Antisemitismus ist heute die Gesamtheit juden- gen auf die Zweite Republik skizziert. feindlicher Äußerungen, Ressentiments, Haltun- Die Erste Republik bleibt die dauernde Mah- gen und Handlungen unabhängig von ihren re- nung, Politik nicht als Feindbildkonstruktion der ligiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Ausgrenzung und als ein Entweder-oder von Sieg Motiven. Judenfeindschaft ist die Projektion von und Niederlage zu verstehen. Viel mehr soll das Po- Vorurteilen auf eine Minderheit. Das hat für die litische als ein Widerstreit unterschiedlicher Inter- Mehrheit verschiedene Funktionen und Vorteile: essen und Werthaltungen verstanden werden, der z. B. die Versinnbildlichung von politischem, kul- auf rechtsstaatlichen/menschenrechtlichen Grund- lagen, in demokratischen Prozessen des besseren 1) Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus (C.H. Beck Arguments und basierend auf einer Haltung der 2005) 1
Karl-Renner-Museum turellem sowie ökonomischem Unbehagen; die schem Antisemitismus. Eigenständige Formen des Artikulation von Existenz- und Entfremdungsängs- Judenhasses trafen auf west- und osteuropäische ten; wirtschaftlicher Konkurrenzneid; Bereicherung Einflüsse. Gemeinsam machten sie die österrei- durch Entrechtung auf Kosten einer Minderheit; chische Variante zu einer der ausgeprägtesten in eine politische Mobilisierungsstrategie oder eine West- und Zentraleuropa vor Hitlers Machtüber- Verschleierung realer gesellschaftlicher Verhältnis- nahme in Deutschland 1933 (Bruce F. Pauley). se indem Aggressionen auf eine Minderheit ver- Verschärft wurde diese Tatsache dadurch, dass schoben werden. In seiner Komplexität ist der An- die Modernisierung Österreich-Ungarns durch tisemitismus das beispielgebende Phänomen für Industrialisierung, Verwissenschaftlichung/Tech- die Erforschung von Gruppenkonflikten und sozi- nisierung des Daseins, neue Ideologien und so- alen Vorurteilen. Der Antisemitismus ist ein „kultu- ziale Emanzipationsbestrebungen verspätet und reller Code“ und eine ideologische Grundorientie- somit „sprunghaft“ einsetzte. Konflikte zwischen rung. Beides hat nichts mit realem jüdischen Leben traditionellen und „modernen“ Vorstellungen von zu tun und wird unabhängig von tatsächlichen Er- Staat, Wirtschaft und Gesellschaft intensivierten fahrungen benutzt. Gleichsam „funktioniert“ Anti- sich. Gefühle der Orientierungslosigkeit und Zu- semitismus auch ohne Jüdinnen und Juden. kunftsängste wurden mit dem Antisemitismus be- dient und dieser selbst ein Instrument gegen die Der österreichische Antisemitismus Veränderungen. Von vielen Institutionen (Kirchen, Wer die Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert Parteien, Vereinen etc.) und deren Führungsperso- begreifen will, muss sich auf eine Beschäftigung nal wurde er gepflegt und tief eingeschrieben in mit dem Antisemitismus einlassen. Seit dem Mit- alltägliche Rituale und die politische Kultur. telalter sind antisemitische Propaganda, Agitation Die politische Wirksamkeit und Mobilisierungs- und rechtliche Diskriminierungen von Jüdinnen kraft des Antisemitismus wurden im Ersten Welt- und Juden nachzuweisen. Im 19. Jahrhundert kam krieg verschärft und gewannen mit der Repub- hinzu, dass die Habsburgermonarchie, im Zentrum likgründung 1918 an Dynamik. Als Produkt des Europas gelegen, allen geistigen Strömungen der Krieges war die junge Republik vielen Krisen und Zeit ausgesetzt war. Sie wurde so zu einem Brenn- Spannungen ausgesetzt. Sie wurde von vielen als punkt der damit verbundenen Innovationen und ein „Zwergstaat“ ohne nationale Identität und als Konflikte. Das betraf auch die Bedeutung und eine „Zwergenwirtschaft“, wirtschaftlich nicht über- Formen des Antisemitismus. Von katholischer Kir- lebensfähig empfunden. Es konnte keine gemein- che und christlicher Volksfrömmigkeit traditionell same politische Kultur (Anton Pelinka) entwickelt gepflegter religiöser Antijudaismus verband sich werden, die in der Lage gewesen wäre, Konflikte mit „modernem“ pseudowissenschaftlich-rassisti- demokratisch auszutragen, haltbare Kompromisse Im Zuge der Revolution 1848 kämpf- ten Wiener Jüdinnen und Juden an vorderster Front um ihre Emanzipation und Gleichstellung. Dies zog antise- mitische Ressentiments und Agitation nach sich. Ausschnitt einer antisemi- tischen Karikatur. (Johann Höfelich, Wien Museum) 2
Der österreichische Antisemitismus zu finden und die schweren Nachkriegskrisen zu Religion erfragt. Vor der Volkszählung 1923 kam meistern. Dies beförderte die Entwicklung einer es im Parlament zu heftigen Auseinandersetzun- weitgehenden Polarisierung der Gesellschaft und gen über die Begrifflichkeiten auf den Befragungs- einer an Feindbildern ausgerichteten Politik. Der bögen, ob eine jüdische „Nation“ oder „Rasse“ Antisemitismus sickerte so endgültig als Mittel und erfragt werden solle. Damit wollte man „alle“ Jü- Zweck in alle Bereiche der Gesellschaft (Politik, dinnen und Juden erfassen. Vor allem die Sozial- Wirtschaft, Religion, Kultur und Wissenschaft) und demokratie stellte sich dem entgegen. Ebenso die wurde ein zentrales soziales Phänomen, das dem Regierung Dollfuß hätte 1934 gerne „alle Juden“ Nationalsozialismus den Weg ebnete. erfasst, aber man konnte sich erneut auf keine For- mulierung einigen. „Juden zählen“ – Streit um Begriffe Im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wurden bei Der Antisemitismus und die Katholische Volkszählungen ab 1880 in den beiden Reichs- Kirche – Zwischen Verkündigung des Wor- hälften uneinheitlich die Umgangssprache bzw. tes Gottes und Hetze Muttersprache erhoben. Es konnte jedoch nur aus Viele Aspekte des politischen Antisemitismus vorgegebenen Sprachen ausgewählt werden. Jid- haben ihren Ursprung im historisch gewachse- disch und Hebräisch waren nicht darunter. Daher nen Antijudaismus der katholischen Kirche. Über gaben Jüdinnen und Juden meist Deutsch als Um- Jahrhunderte gepflegte Ritualmordlegenden und gangssprache an. Nur unter der Rubrik „Religion“ „Gottesmord-Vorwürfe“ wurden auch in der „mo- wurden „Israeliten“ gezählt. dernen“ rassistischen Agitation verwendet. Umge- Die Auseinandersetzungen, ob „Juden“ nun kehrt wurden biologistische Argumentationslinien Angehörige einer Glaubensgemeinschaft, eines von Priestern und katholischen Aktivist:innen auf- „Volksstammes“, einer „Nation“ oder gar einer genommen, obwohl die Amtskirche sich vom „Ras- „Rasse“ seien, wurden ab den 1880er-Jahren im- senantisemitismus“ offiziell distanzierte. Durch die mer heftiger. Mit wachsendem Antisemitismus enge Verwobenheit vieler Geistlicher und der In- wurde in der „Judenfrage“ immer aggressiver mit stitution Kirche mit der Christlichsozialen Partei Statistiken argumentiert. Austritt aus der Kultusge- kam es zu einer Vermengung der antisemitischen meinde, „Assimilation“ und/oder christliche Taufe Sichtweisen und somit zur Politisierung des Antiju- nutzten wenig, um der Diskriminierung und Aus- daismus. So verschaffte die Kirche als moralische grenzung zu entkommen. Es wurde immer eine Autorität den Argumenten der Antisemit:innen kollektive „jüdische Identität“ jenseits aller Unter- Legitimation, die ihrerseits die „Vereinbarkeit“ schiede unterstellt. Bei den Volkszählungen in der von Christentum und Antisemitismus davon ab- Ersten Republik (1923 und 1934) wurde nur die leiteten. Viele kirchliche Würdenträger feindeten Für den bekannten katholischen Publizisten Anton Orel (1881–1959) war ein „wahrer Christ“ auch Antise- mit. 1934 erschienen drei antisemiti- sche Werke von ihm. Voraussetzung für die „wahre Ständeordnung“ sei die „Abgeschiedenheit der Juden“. (ÖNB) Der Südtiroler Pfarrer des Deutschen Ritterordens Arbogast Reiterer (= Gaston Ritter, 1886–1956) vertrat in dieser Hetzschrift von 1934 antisemi- tische Weltverschwörungstheorien. (Sammlung M. Rosecker) 3
Karl-Renner-Museum jüdische – vor allem sozialdemokratische und li- den kirchlichen Strukturen seiner Diözese. Ebenso berale – Intellektuelle in Politik, Wissenschaft und vertrat er eine Beschwichtigungspolitik gegenüber Kultur als Vorreiter:innen der „gottlosen Verweltli- dem Nationalsozialismus, rettete allerdings ab chung“ und „modernistischen Rationalität“ an. In 1940 mit der „Hilfsstelle für nichtarische Katholi- katholischen Tageszeitungen und Zeitschriften der ken“ vielen Jüdinnen und Juden das Leben. Ersten Republik – z.B. Das Kleine Kirchenblatt und Schönere Zukunft – bedienten höherer Klerus und Irene Harand Kämpferin gegen den Hass Theologen antijüdische Vorurteile. In lokalen Kir- Als Irene Wedl geboren, wuchs sie in einem groß- chenzeitungen und von der Kanzel wurden auch bürgerlichen toleranten Elternhaus auf. Sie heira- antikapitalistische Angriffe gegen das Judentum tete den k.u.k. Offizier Frank Harand. Ende der als „profitgierig“ und „herzlos egoistisch“ von Tei- 1920er-Jahre lernte sie den jüdischen Rechtsan- len des niederen Klerus massenwirksam kampag- walt Moritz Zalman kennen, der gegen die öster- nisiert und popularisiert. Dem Zionismus stand die reichische Regierung Entschädigungen für Tau- Kirche eher ablehnend gegenüber. sende „Kleinrentner“ (Rentner=Anleger) erstritt, Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus in die durch die Inflation mittellos geworden waren. den frühen 30er-Jahren versuchte die Amtskirche Mit ihm gründete sie 1930 die erste Österreichi- sich immer wieder von diesem abzugrenzen. Im sche Volkspartei (nicht mit der nach 1945 gegrün- Streben, die Hinwendung vieler Katholik:innen zur deten ÖVP zu verwechseln), in deren Zentrum der NSDAP zu verhindern, wurden Positionen von die- ser in abgeschwächter Form übernommen und als Kampf gegen den Antisemitismus stand. 1933 rief eigenständige antisemitische Alternative präsen- Harand die „Weltbewegung gegen Rassenhass tiert. Vor allem nach der Machtergreifung Hitlers und Menschennot“ ins Leben, die bald als „Ha- in Deutschland 1933 und der Etablierung des aus- rand-Bewegung“ international bekannt wurde. trofaschistischen Regimes 1934 wurde diese Linie Im Eigenverlag gab sie 1935 ein Buch heraus, in in einigen Diözesen auch publizistisch intensiv pro- dem sie sich offen gegen den Nationalsozialismus pagiert. Die Positionen in der katholischen Kirche stellte. Während des „Anschlusses“ 1938 befand waren als Institution und bei ihren Repräsentanten sie sich im Ausland auf Vortragsreise. Sie kehrte oft gespalten und widersprüchlich. Der Priester erst nach 1945 nach Österreich zurück. Harand war und christlichsoziale Parteivorsitzende Ignaz Seipl eine überzeugte Katholikin, zunächst Monarchistin trat gegen den rassistischen Antisemitismus auf, und schließlich Anhängerin des austrofaschisti- bediente diesen jedoch auch offensiv, wenn es schen Regimes. Dieses kritisierte sie jedoch vehe- strategisch opportun erschien. Kardinal Theodor ment für dessen teils antisemitische Politik. Innitzer wiederum sprach sich öffentlich klar ge- gen den Antisemitismus aus, duldete ihn jedoch in Im Jahr 1933 rief Irene Harand (1900–1975) die „Weltbewegung gegen Rassenhass und Men- schennot“ ins Leben, die bald als „Harand-Bewegung“ international bekannt wurde. („Sein Kampf“) Der Republikanisierung und De- mokratisierung Österreichs 1918 standen Teile der politischen und wirtschaftlichen Eliten skeptisch gegenüber. Die Republik wurde auch (rote) „Wiener Judenrepub- lik“ genannt. Das antisemitische Wahlplakat zur Nationalratswahl 1920 mobilisierte dagegen. (Sammlung ÖNB) 4
Der österreichische Antisemitismus Der Antisemitismus der christlichsozialen „Angehörige der semitischen Rasse“ nicht Teil der Partei – Programm, Strategie und radikale „Wehrmacht“ sein können (1919) und alle „Juden Phrase als ausländisches Minoritätenvolk“ ohne „weitere Rechte“ (1920) zu behandeln wären, bestimmten Der Antisemitismus war programmatische Grund- immer wieder die Politik der CSP. Ebenso waren lage und ideologische Konstante der Christlichso- Christlichsoziale in antijüdischen Ausschreitungen zialen Partei (CSP) seit ihrer Gründung 1893. Eben- vor allem an den Hochschulen involviert. Diese so war er weltanschaulich-emotionales Bindeglied Übergriffe wurden oft höhnisch von der Parteipres- zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen se flankiert. In Fragen der ständischen Interessen- der Partei. Damit sollten die oft widersprüchlichen politik Wirtschaftstreibender wurde schon früh ein wirtschaftlichen und politischen Interessen zwi- „Kauft-nur-bei-Christen“ kampagnisiert. schen Arbeitern, Angestellten, Kleingewerbetrei- Der Antisemitismus diente auch als Kooperati- benden und Industriellen etc. überbrückt werden. onsangebot der Christlichsozialen an deutschna- Das antisemitische Ressentiment wurde nach der tionale und völkische Kreise. Der christlichsoziale Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts Antisemitismus verstand sich selbst als „harmlo- 1918 auch als agitatorisches Mobilisierungsinstru- ser“ als der gewaltbereite „Radau-Antisemitismus“ ment für neue Wähler:innenschichten verstanden. der Deutschnationalen. Diese Verharmlosung und Von der katholischen Kirche gepflegter religiös die gleichzeitig verwendete radikale Phrase mach- aufgeladener christlicher Antijudaismus vermengte ten jedoch den tatbereiten Judenhass in breiten sich mit wirtschaftlichem und „modernem“ pseu- Kreisen erst salonfähig. dowissenschaftlich rassistischem Antisemitismus. Bereits seit der Gründung der Republik wurde Karl Lueger – Lehrherr aller Antisemiten von der CSP versucht, die Diskriminierung von Jü- dinnen und Juden auf gesetzliche Grundlagen zu Lueger stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er stellen. Immer wieder wurden Handlungsanleitun- studierte Rechtswissenschaften und war Mitglied gen zur „Lösung der Judenfrage“ vorgeschlagen. einer katholischen Studentenverbindung. Als Diese reichten von rechtlich geregelter Segregati- Rechtsanwalt für „kleine Leute“ machte er sich ei- on und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung nen Namen. Seinem Vorbild, dem jüdischen Arzt (Leopold Kunschak: „Die Rechtsverhältnisse der Ignaz Mandl folgend, ging er als Liberaler in die Jüdischen Nation“ 1919/1936) bis hin zu Vorschlä- Politik. Er war Wiener Gemeinderat, Abgeordneter gen, weltweit deren Aussiedelung nach Palästina in im Reichsrat, niederösterreichischer Landtagsab- einer „einvernehmlichen Lösung“ zu organisieren geordneter und ab 1897 bis zu seinem Tod Wie- (Emmerich Czermak: „Ordnung in der Judenfra- ner Bürgermeister. 1893 gründete er die Christ- ge“, 1933). Radikale Forderungen wie jene, dass lichsoziale Partei. Dafür vereinigte er bestehende Karl Lueger (1844–1910) war Gründer der Christlichsozialen Partei und Wiener Bürgermeister. Seine volkstümliche und verhet- zende antisemitische Agitation prägte Strategie und Praxis des politischen Antisemitismus. Bei der Wahl zur Konstituieren- den Nationalversammlung im Februar 1919 durften Frauen das erste Mal wählen. Die steirischen Christlichsozialen warben als „ein- zig judenfreie Partei“, die gegen die durch die SDAP verursachte „umsichgreifende Verjudung“ an- kämpfe, um weibliche Stimmen. (Sammlung ÖNB) 5
Karl Renner-Museum katholisch-konservative Vereine (Handwerker, Ge- Kunschak war überzeugter Demokrat und Antise- werbetreibende, niederen Klerus etc.). Lueger er- mit. Im Nationalsozialismus wurde er verfolgt und kannte die Wirkmächtigkeit des Antisemitismus. hielt Kontakt zu Widerstandsgruppen. Nach 1945 Dieser war für ihn die ideologische Klammer seiner ist er einer der Mitbegründer der ÖVP und gemein- Rhetorik gegen Liberalismus, Kapitalismus, Sozial- sam mit Karl Renner (SPÖ) und Johann Koplenig demokratie und „Obrigkeit“. Ebenso diente das (KPÖ) Unterzeichner der österreichischen Unab- Feindbild „Jude“ als ständige Brücke zur deutsch- hängigkeitserklärung von Hitler-Deutschland. Vom nationalen Konkurrenz. In seine Zeit fielen kom- Antisemitismus konnte er sich auch nach 1945 nie munale Meilensteine wie die Verbesserung der klar distanzieren. städtischen Infrastruktur, die Kommunalisierung wichtiger Versorgungsbetriebe und die Schaffung Der Antisemitismus und das deutschnati- eines Grüngürtels. Seine volkstümliche und ver- onale Lager: Nation, „Rasse“ und Blut – hetzende Agitation prägte Strategie und Praxis von der Sprache zur Gewalt des politischen Antisemitismus. In deutschnationalen Kreisen und den schla- Leopold Kunschak – Demokrat und genden Burschenschaften der Donaumonarchie Antisemit wurde der völkisch-rassistisch begründete Anti- semitismus nach dem Zerfall der alten liberalen Kunschak stammte aus ärmlichen Verhältnissen Honoratiorenparteien ab den 1870er-Jahren do- und lernte das Sattlerhandwerk. Bewegt von sozia- minantes politisches Element. Er wurde nach der len Fragen und der 1891 veröffentlichten Sozialen- Gründung des (klein)deutschen Nationalstaats zyklika Papst Leos XIII. (Rerum novarum) nahm er (Deutsches Kaiserreich) im Jahr 1871 – ohne die Kontakt zu Karl Luegers Umfeld auf. 1892 gründe- „Deutschen“ der österreichisch-ungarischen Mo- te Kunschak den Christlichsozialen Arbeiterverein, narchie – in diesen Milieus zentrales Identifikati- in dem ein rabiater Antisemitismus ein wichtiges onsmerkmal und Grundorientierung. Vor allem ideologisches und agitatorisches Element bilden durch die Agitation der Alldeutschen Bewegung sollte. Er wurde Wiener Gemeinderat, Reichsrats- Georg Heinrich Schönerers wurden alte liberale abgeordneter, nach dem Ersten Weltkrieg Na- Ideen durch den aggressiven Antisemitismus ver- tionalratsabgeordneter und nach dem Zweiten drängt. Die Vorstellung einer „nationalen Volksge- Weltkrieg Präsident des Nationalrats. Politisch ver- meinschaft“, die auf „rassenbiologischer“ Zuge- suchte er stets, sich gegen die Deutschnationalen hörigkeit beruhe, wurde dominierend. Nach der abzugrenzen, sich gegen die demokratiefeindliche Ausrufung der Republik versuchte das vielfältige Orientierung der Heimwehren durchzusetzen und deutschnational-bürgerliche Lager sich in der ein kooperatives Verhältnis zur SDAP herzustellen. Großdeutschen Volkspartei (GDVP) zu vereinigen. Zur Kärntner Landtagswahl 1923 traten die Christlichsozialen, der Kärntner Land- bund und die Großdeutsche Volkspartei als Einheitsliste gegen die Sozialdemo- kratie an. Der Antisemitismus gegen die „verjudete“ Sozialdemokratie war tra- gendes Element der Wahlkampagne und richtete sich gegen den sozialdemokrati- schen Landeshauptmann Florian Gröger. Die Einheitsliste siegte und Obmann des Landbundes, Vinzenz Schumy, wurde zum Landeshauptmann gewählt. (Sammlung Erik Eybl) Ein Wahlplakat der Großdeutschen Volkspartei, das sich antiklerikal gegen die Christlichsozialen und antisemitisch gegen die Sozialdemokratie richtete. (Steirisches Landesarchiv) 6
Der österreichische Antisemitismus In ihrem Salzburger Gründungsprogramm (1920) Georg von Schönerer – Hitlers politisches wurde im Kapitel „Unsere Stellung zur Judenfra- Vorbild ge“ ein rabiater rassistischer Antisemitismus ver- Schönerer war Sohn eines geadelten Eisenbahnin- treten. Das Judentum wurde als „Fremdkörper“ genieurs und studierter Landwirt, der sich in schla- definiert und 1921 ein „Arierparagraph“ einge- genden Burschenschaften engagierte. Im Jahr führt. Obwohl sich alle Parteifunktionär:innen 1873 wurde er für die liberale Deutsche Verfas- mit ihrer Unterschrift verpflichten mussten, diese sungspartei in das Abgeordnetenhaus des Reichs- Ideen mit Vehemenz zu vertreten, führte die Ra- rats gewählt. Als radikaler Anhänger der großdeut- dikalität in der „Judenfrage“ zu innerparteilichen schen Idee entfernte er sich vom Liberalismus und Diskussionen. Die oftmalige Regierungsverant- bekämpfte den habsburgischen Vielvölkerstaat. wortung in bürgerlichen Koalitionen mit teilweise Schönerer gründete 1882 den Deutschnationalen gemäßigten Ministern zog jedoch eine Zurückhal- Verein und erarbeitete maßgeblich das liberal-na- tung in der politischen Praxis nach sich. Besonders tionale Linzer Parteiprogramm. In Folge erweiter- radikale antisemitische politische Fantasien, wie te er dieses eigenständig um radikale rassistisch- die Einführung einer „Volkurkunde“ als Vorläufer antisemitische Passagen. Die Einführung eines des „Ariernachweises“, wurden vor allem im 1921 „Arierpragraphen“ führte zur völligen Abkehr von vom Abgeordnetenverband der GDVP gegründe- liberalen Ideen. 1891 erfolgte die Gründung der ten „Fachausschuss für die Judenfrage“ ausge- Alldeutschen Bewegung, die radikal und brutal in lebt. Viele Forderungen blieben ohne Wirkung. Sprache und Agitation den rassistischen Antisemi- Gewalt gegen Jüdinnen und Juden war vor allem tismus in der Politik etablierte. Georg von Schöne- auf die Universitäten beschränkt. rer war ein wuchtiger Rhetoriker, der wortgewandt Mit wachsender Arbeitslosigkeit und der Kri- mit Drohungen, Irrationalismen und extremen For- se des politischen Systems Ende der 20er-Jah- derungen die einen begeisterte und die anderen re entstand im erstarkenden österreichischen ängstigte. Sein völkischer Nationalismus und sein Nationalsozialismus ein Konkurrent, der die rassistischer Antisemitismus wurden in Inhalt und Wähler:innenschaft mit noch radikaleren Phrasen Methode politisch wegweisend. abzog. Mit dem einhergehenden Bedeutungsver- lust erfolgte ein Generationenwechsel beim Füh- Walter Riehl – Antisemit in vielen Parteien rungspersonal. Die neuen Kader kamen aus dem Nationalsozialismus. Ein Aufgehen der GDVP in Riehl wurde in Wiener Neustadt geboren, besuch- der NSDAP war die Folge, die das meiste ihrer te das Gymnasium und studierte Jus. Zunächst radikalen antisemitischen Rhetorik und Agitation wandte er sich der Sozialdemokratie zu. Er wan- nicht „erfinden“ musste, sondern bereits vorfand. delte sich jedoch zum radikalen antisemitischen Drastische Hetzpropaganda der österreichischen NSDAP aus dem Jahr 1933. Vor allem der sozial- demokratischen, sozialistischen und liberalen Pres- se wurde unterstellt, Gräuelpropaganda gegen die nationalsozialistische deutsche Regierung zu betreiben und deren Vorgehen gegen Jüdinnen und Juden zu übertreiben. (Sammlung Erik Eybl) 7
Karl-Renner-Museum Deutschnationalen und versuchte bürgerliche Ein Ziel dieses elitären, männlichen und meist deutsch-nationale Kreise mit einer völkischen Ar- akademischen Machtnetzwerkes war die personel- beiterbewegung zu verbinden. 1919 übernahm er le und ideele Durchdringung der staatlichen, öko- den Vorsitz der Deutschen Nationalsozialistischen nomischen und gesellschaftlichen Strukturen der Arbeiterpartei (DNSAP) und war im Antisemiten- Republik. So sollte den eigenen weltanschaulichen bund aktiv. Das Verhältnis zu den deutschen Nati- und ökonomischen Interessen zum Durchbruch ver- onalsozialisten wurde schlechter und Riehl spalte- holfen werden. Einflussnahmen auf Gesetzgebung te sich mit Getreuen ab. Als Rechtsanwalt vertrat und Justiz erfolgten aufgrund der personellen Ver- Riehl den Mörder Hugo Bettauers, die Täter von flochtenheit zwischen DK und staatlichen Struk- Schattendorf und den Attentäter des missglückten turen auf vielfältige Weise. Der DK war im Laufe Anschlags auf Bürgermeister Karl Seitz 1927. 1930 der 30er-Jahre maßgeblich für die nationalsozialis- wurde Riel dennoch Mitglied der NSDAP-Hitlerbe- tische Unterwanderung Österreich verantwortlich. wegung und 1932 Wiener Gemeinderat. Es folgten Im Jahr 1939 wurde er aufgelöst. ein erneuter Ausschluss aus der NSDAP und eine Viele seiner Mitglieder sollten nach 1945 wie- kurze Verhaftung nach dem „Anschluss“ 1938. Von der eine politische Rolle spielen. 1957 erlebte der der Roten Armee wurde er 1945 ebenso kurzfristig „Deutsche Klub“ als „Neuer Klub“ eine Art Wie- in Haft genommen. Seine politische Heimat fand derbelebung. Riehl 1947 in der ÖVP, die er u.a. mit Wahlaufru- fen an die ehemaligen Nationalsozialist:innen un- Der Antisemitenbund terstützte, wie in einer programmatischen Rund- Der Antisemitenbund (AB) wurde als Deutschös- funkansprache 1953. terreichischer Schutzverein – Antisemitenbund von christlichsozialen und deutschnationalen Po- Der Deutsche Klub litikern 1919 in Wien gegründet. Er war als eine Der Deutsche Klub (DK) wurde 1908 im Milieu partei- und klassenübergreifende Agitationsplatt- deutschnationaler Studentenverbindungen ge- form für die Massenmobilisierung gedacht. Neue gründet. Mit Ausrufung der Republik 1918 entwi- Wähler:innengruppen sollten erreicht werden. Der ckelte er sich zum Sammelbecken für katholisch-na- AB sollte „Aufklärungs- und Erziehungsarbeit“ für tionale, völkisch-rassistische und antidemokratische den Kampf gegen den „Krankheitserreger: Juden- bürgerliche Kreise. Deren weltanschauliches Binde- tum“ und die „Krankheit: der jüdische Geist“ leis- glied war die Ablehnung der mit der Republikgrün- ten (Freie Stimmen, 2.10.1919). dung einhergehenden Veränderungen in Staat und Pogromhetze und Gewalt begleiteten die Agita- Gesellschaft sowie der Antisemitismus in all seinen tion des AB bereits von Beginn an. Die Rhetorik der Schattierungen. Vereinsgazette Der eiserner Besen kann als Vorläu- Georg von Schönerer (1842–1921) wandelte sich vom Deutschliberalen zum rabiaten Rassenantisemiten. Sein völkischer Nationalismus und sein rassis- tischer Antisemitismus wurden in Inhalt und Methode politisch wegweisend. (ÖNB) Bei der Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung 1919 wurden auf einem Wahlplakat der steirischen SDAP Geldflüsse des „jüdischen und christli- chen Geldsackes“ in Richtung Wahlfonds der Großkapitalisten und Großgrundbe- sitzer der Christlichsozialen und Deutsch- nationalen behauptet. Die antikapitalis- tische Polemik bemühte dafür auch das antisemitische Klischee des jüdischen Bankapitals. (Sammlung Erik Eybl) 8
Der österreichische Antisemitismus ferin der NS-Hetzschrift Der Stürmer gesehen wer- nicht als „nationenbildend“. „Jüdisch“ waren jene, den. die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehör- Eine politische Forderung war die Erstellung eines ten. Dieser Logik folgend stand die SDAP dem „Judenkatasters für Wien“. Dies war mit einem Auf- Zionismus kritisch gegenüber, da dieser die „Ju- ruf an die „arische Bevölkerung“ verbunden, im ei- denfrage“ primär als nationale Frage verstand. Der genen Umfeld „Hauslisten“ anzulegen (Reichspost, Antisemitismus sei ein reaktionäres, „dummes“ und 11.5.1921). Die Christlichsoziale Partei suchte mit im Sozialismus verschwindendes Phänomen (Otto wechselnder Intensität die Nähe zum AB. Er wurde Bauer, 1907). Das führte in der SDAP zu dessen Ba- dennoch immer mehr durch Nationalsozialisten un- gatellisierung und immer wieder zur Zurückhaltung terwandert, schließlich 1933 formell aufgelöst und bei seiner Bekämpfung. Programmatisch lehnte die blieb von der Regierung geduldet jedoch legal bis SDAP den Antisemitismus ab und warb bei Wahlen 1938 aktiv. immer wieder offen um jüdische Stimmen. Dennoch verwendete die Sozialdemokratie Der Antisemitismus und die Sozialdemo- rhetorische Versatzstücke der antisemitischen po- kratie – Die SDAP als „Judenschutztrup- litischen Konkurrenz. Zum einen aus Angst vor pe“ mit Widersprüchen der Mobilisierungskraft des Antisemitismus in der In der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) Arbeiter:innenschaft und somit als „Abwehr“ der spielte der Antisemitismus eine untergeordnete Anfeindung als „Judenschutztruppe“ und „Juden- Rolle, da sie versuchte, ein übernationales Klas- sozi“. Zum anderen, um manipulativ die antisemi- senbewusstsein zur Identitätsbildung und Mobi- tischen Parteien als „Helfershelfer des Kapitals“ lisierung zu schaffen. Vielmehr verstand sich die („Der Judenschwindel“, 1923) darzustellen. Die Sozialdemokratie als Emanzipationsbewegung, die antikapitalistische Argumentationslinie, das „Ban- Menschen aus wirtschaftlicher und rechtlicher Ab- kenkapital“ – egal ob „jüdisch“ oder „christlich“ – hängigkeit befreien wollte. Aus diesem Verständnis finanziere die bürgerlichen Parteien und der Antise- heraus schlossen sich ihr viele Jüdinnen und Juden mitismus sei ein strategischer Trick der Ablenkung an und übernahmen sowohl in der politischen Pra- („Klassenkampf“ statt „Rassenkampf“), bediente xis als auch in der theoretischen Arbeit führende selbst antisemitische Stereotypen. Die Niederlage Rollen ein. Seit ihrer Gründung 1888/89 wurde ge- und Zerschlagung der Sozialdemokratie im Feb- gen die SDAP als „verjudete Partei“ mobilisiert. ruar 1934 machte Teile ihrer Parteigänger:innen Die Sozialdemokratie, die sich schon in der empfänglich für die austrofaschistische und natio- Habsburgermonarchie mit der Nationalitätenfra- nalsozialistische antisemitische Propaganda, dass ge beschäftigt hatte, verstand jedoch im Sinne ih- „jüdische Führer“ sie „verführt“ und „verraten“ res austromarxistischen Theoriegebäudes Religion hätten. Die einzige maßgebliche Partei, die Jüdinnen und Juden die Möglichkeit politischer Tätigkeit und Karriere bot, war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Organisationen wie die jüdische sozial- demokratische „Poale-Zion“ (= Arbeiter Zions) und der „Verband sozialistischer Juden“ unterstützten sie; ein Aufruf zur Nationalratswahl 1930. (ÖNB) 9
Karl-Renner-Museum Käthe Leichter – Sozialdemokratische Jüdin reden in der Ersten Republik. Diese wurden jedoch nur bruchstückhaft und kontextlos zitiert. Käthe Pick wurde 1895 in Wien geboren, wo sie in Festzuhalten ist, dass Karl Renner sowohl den wohlhabenden Verhältnissen aufwuchs. Durch eine Antisemitismus der Christlichsozialen Partei als auch Klage beim Reichsgericht erkämpfte sie als Frau von Leopold Kunschak seit den Tagen Karl Luegers die Zulassung zum Studium und inskribierte im in Artikeln analysierte und öffentlich kritisierte. Die Jahre 1914 Staatswissenschaften an der Universität bürgerlichen Parteien betrieben für die National- Wien. Promovieren musste sie in Heidelberg (bei ratswahl 1920 einen massiv antisemitischen Wahl- Max Weber), da ihr das als Frau in Österreich nicht kampf. Nach dem christlichsozialen Wahlsieg wur- gestattet war. 1925 übernahm sie den Aufbau des de dieser als wahlentscheidend wahrgenommen Frauenreferats in der Arbeiterkammer Wien. Leich- und von Renner mit ironisch-sarkastischer Rhetorik ter baute systematisch eine Datenbank mit Materi- scharf kritisiert. Dabei überzog er in einzelnen Pas- al über arbeitende Frauen auf und erhob detailliert sagen den Sarkasmus im parteipolitischen Streit deren private und berufliche Lebensumstände. Da- und bediente in seiner Kritik des christlichsozialen raus resultierten der Film „Frauenleben. Frauen- Antisemitismus selbst antisemitische Vorurteile. los“ aus dem Jahr 1931 sowie zahlreiche Studien. Ebenso verwendete er – vor allem im Wahlkampf In der Frage des Antisemitismus vertrat sie die in 1923 – das in dieser Ausstellung beschriebene von der Sozialdemokratie weitverbreitete Ansicht, die- der Sozialdemokratie verwendete antikapitalisti- ser sei eine Form des Antiintellektualismus und sche Klischee von der Zusammenarbeit des „jüdi- des fehlgeleiteten Antikapitalismus. Als Sozialde- schen Bankenkapitals“ mit den „Antisemiten“. All mokratin, Jüdin und Frau war sie mehrdimensional das muss Gegenstand historisch-kritischer Betrach- Ressentiments ausgesetzt – auch in ihrem Arbeits- tungen sein. umfeld. Die Flucht vor der rassistischen und poli- Ebenso bei der Beschäftigung mit Karl Renners tischen Verfolgung durch den Nationalsozialismus historischen Leistungen bei der Wiedererrichtung gelang ihr nicht mehr. Sie wurde 1942 in der NS- der Republik 1945, muss neben der Erfolgsge- Tötungsanstalt Bernburg mit Giftgas ermordet. schichte auch über seine Indifferenz gegenüber der Shoah berichtet werden. Der von ihm mitkon- Karl Renner und der Antisemitismus struierte „Opfermythos“ mit der Ausblendung der Im Zuge der Debatte um die Umbenennung des österreichischen Mitverantwortung an den Verbre- Dr.-Karl-Lueger-Rings wurde Karl Renner in der ge- chen des Nationalsozialismus war parteiübergrei- schichtspolitischen Auseinandersetzung ebenso fender Konsens der politischen Eliten und gleich- mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert und eine zeitig ein politisch-moralisches Legitimationsdefizit Umbenennung des Dr.-Karl-Renner-Rings themati- der Zweiten Republik. Diese Ambivalenz war der siert. Anstoß dafür waren einige seiner Parlaments- Gründung der Zweiten Republik 1945 mit der von Das Feindbild des Wiener Hausherrn und Mietzinswucherers sowie das des Kapitalisten der sozialdemokratischen Propaganda trug meist nur die feisten Züge des Satten und Mitleidlosen. Es konnte jedoch auch den antisemitischen Ressentiments entsprechen- de „jüdische“ Stereotype aufweisen; wie bei diesem Plakat aus dem Jahr 1919: „Die Reak- tionäre auf der Krone“. (Sammlung Erik Eybl) 10
Der österreichische Antisemitismus Renner maßgeblich verfassten Unabhängigkeits- führung machte viele Menschen in Europa zu erklärung von NS-Deutschland bis weit über den Flüchtlingen. In Österreich-Ungarn waren es ca. Staatsvertrag 1955 hinaus eingeschrieben. Bei ers- 1,5 Millionen. Darunter viele jüdische Kriegsver- tem wurde die Shoah ausgespart und bei zweitem triebene aus Galizien und der Bukowina, die vor wurde auf Intervention Leopold Figls auch die Mit- den russischen Truppen nach Wien flohen. Die verantwortung am Zweiten Weltkrieg getilgt. k.u.k. Armee erlitt an der Ostfront schwere Nie- Dennoch war Antisemitismus für Karl Renners derlagen. Nach anfänglichem Wohlwollen der Politikverständnis und Weltanschauung keine maß- Bevölkerung kippte bald die Stimmung und die gebliche Kategorie und vor allem keine innere An- geflüchteten „Ostjuden“ wurden Opfer der anti- triebskraft für sein Denken und Handeln. In den Be- semitischen Agitation und Mobilisierung. Gegen richten der Historiker:innenkommissionen zu den Kriegsende kam es im Zuge der Grenzziehungs- problematischen nach Personen benannten öffent- und Bürgerkriege in den Jahren 1918/19 in Polen lichen Flächen in Wien (2012) und Salzburg (2021) und in der Ukraine zu Pogromen gegen jüdische wurde dies gleichfalls beschrieben. Ein Blick in Karl Minderheiten. Nach den Kriegs- kamen nun auch Renners Werk zeigt vieles, auch Irrwege und Fehl- Pogromflüchtlinge nach Wien und Niederöster- entscheidungen, aber keine Grundorientierung an reich. Diese flohen als Staatsangehörige der Habs- der Ausgrenzung von Menschen und Spaltung der burgermonarchie in die mittellose und hungernde Gesellschaft. Republik Deutschösterreich. Laut Schätzung waren Eine Beschäftigung mit diesem Ausnahmepoli- Ende 1918 rund 28.000 „ostjüdische“ Geflüchtete tiker wird weiterhin jenseits von Verdammung und in Wien. Sie wurden politischer Spielball und Op- Hagiografie notwendig sein. Für die Existenz der fer antisemitischer Hetze. Die politischen Forde- demokratischen Republik 1918 und ihre Wiederer- rungen überschlugen sich in ihrer Radikalität. richtung im Jahr 1945 ist er federführend verant- Der sozialdemokratische Landeshauptmann wortlich, somit auch für ihre Verdienste und ihre von Niederösterreich, Albert Sever, forderte im Mängel. Daher gilt es, die große Lebensleistung September 1919 per Erlass alle Personen, die Karl Renners zu würdigen und sich den vorhande- nicht „in einer Gemeinde Deutschösterreichs hei- nen Schatten zu stellen. matberechtigt“ seien, auf, das Land zu verlassen. Massiver Ressourcenmangel und Widerstand der Erster Weltkrieg, „ostjüdische“ Flüchtlin- Siegermächte verhinderten dieses Ansinnen, das ge und antisemitische Mobilisierung Sever kurz danach als politischen Fehler bedauer- Ein entscheidender Höhepunkt des österreichi- te. Die parlamentarische Forderung von Leopold schen Antisemitismus begann sich im Ersten Kunschak (CSP), für jene „Juden“, die das Land Weltkrieg aufzubauen. Die rücksichtslose Kriegs- nicht freiwillig verlassen wollen, „Konzentrationsla- Der Journalist Bruno Frei war Mitglied der SDAP und bekannt für seine aufrüt- telnden Sozialreportagen. Das jüdische Flüchtlingselend in Wien beschrieb er in einer 1920 erschienen Broschüre. (Samm- lung M. Rosecker) Das Thema der „ostjüdischen“ Flücht- linge mobilisierte und radikalisierte die Ressentiments in der schweren Versor- gungs- und Wohnungskrise nach dem Krieg. Bei der Nationalratswahl 1920 wurde das Thema wahlentscheidend ge- gen die SDAP eingesetzt. Das Feindbild „Ostjude“ blieb Jahrzehnte erhalten. Das Plakat rief 1923 zur antisemitischen Massenversammlung auf. (DÖW) 11
Karl-Renner-Museum ger“ zu schaffen, radikalisierte ebenso die Debat- men. Über den Umweg München, Hamburg und te. All das fiel im Zuge der Friedensverhandlungen New York kehrte er 1910 nach Wien zurück. Er war von Saint-Germain-en-Laye im Jahr 1919 mit der als Romanautor, Journalist und Herausgeber tätig. Auseinandersetzung um das Staatsbürgerschafts- Einige seiner Romane wurden Bestseller und zwei recht der Republik zusammen. Im Friedensvertrag davon verfilmt: „Die Stadt ohne Juden“ und „Die wurde das französische Wort „race“ (= Nationa- freudlose Gasse“. Ersterer führte mit seiner Vision lität als Staatsangehörigkeit) mit dem deutschen eines Wiens ohne Juden zu heftigen Anfeindun- Wort „Rasse“ übersetzt, was zu dieser Zeit bereits gen durch deutschvölkische und christliche Kreise. vorwiegend biologistisch/rassistisch verstanden Ebenso kämpfte er mit mehreren von ihm heraus- wurde. Artikel 80 legte fest, dass Personen für die gegebenen Zeitschriften für die Emanzipation von Staatsbürgerschaft eines Nachfolgestaates der Frauen und die freie Sexualität. Diese machten ihn Monarchie „optieren“ können, wenn sie „die glei- endgültig zum antisemitischen Hassobjekt. Der che Sprache sprechen und derselben Rasse zuge- arbeitslose Zahntechniker Otto Rothstock fügte hören“ wie die Bevölkerungsmehrheit. Das wurde Bettauer am 10. März 1925 fünf Schussverletzun- juristisch gegen jüdische Optierende verwendet. gen zu, an deren Folgen er Tage später starb. Der Sie gehörten demnach nicht zur „deutschen Ras- Mörder verbrachte acht Monate in einer Nerven- se“. Im Urteil stand: „Sie [= die „Rasse] ist eine heilanstalt und war dann frei. ihm angestammte, ihm inhärente, durch physische und psychische Momente bestimmte und charak- Robert Stricker – Zionist und Opfer der terisierte Eigenart dauernden Charakters, ein ihm Shoah anhaftender Zustand, der nicht willkürlich abge- Stricker war der Sohn von Israel und Florentina legt und nicht nach belieben verändert werden Stricker. Er besuchte die technische Hochschule in kann“(OG-Urteil: 9.6.1921). Brünn und trat in den Dienst der k.k. österr. Staats- bahnen. Als Anhänger Theodor Herzls Zionismus Hugo Bettauer – Opfer der Engstirnigkeit gab er bereits als Student die Jüdische Volksstim- Bettauer wuchs in einer wohlhabenden jüdischen me heraus und begründete 1896 die jüdisch-nati- Familie auf und konvertierte 1890 zum evange- onale Studentenverbindung Veritas zu Brünn. lischen Glauben. Zunächst zog er in die Schweiz Für die 1892 in Lemberg gegründete Jüdische und wanderte in die USA aus. Als US-Staatsbürger Nationale Partei errang er bei der Wahl zur Kon- ging er 1899 nach Berlin und wurde Journalist. Als stituierenden Nationalversammlung der Republik Aufdecker von Skandalen machte er sich einen Na- Deutschösterreich 1919 ein Mandat. Als Abgeord- Links außen: Robert Stricker (1879–1944) war auch Redak- teur der Jüdischen Zeitung, 1919 bis 1927 war er Chefre- dakteur und Mitherausgeber der wöchentlich erscheinen- den zionistischen Wiener Mor- genzeitung und gab anschlie- ßend die Zeitschrift Die Neue Welt. (ÖNB) Links: Hugo Bettauer (1872– 1925) trat als Herausgeber mehrerer Zeitschriften auf. Darin setzte er sich für freie Sexualität und die Emanzipa- tion der Frau ein: „Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“ und „Bettauers Wochenschrift“. (Das Interes- sante Blatt) 12
Der österreichische Antisemitismus neter vertrat er die Ansicht, dass die österreichi- seien zu unterstützen. Ebenso sei er gut für die schen Juden und Jüdinnen als eigene „Nation“ an- „Fremdenindustrie“ (Wiener Zeitung, 9.8.1925). erkannt und bei Volkszählungen als solche erfasst Die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung werden sollten. Sein diesbezüglicher (abgelehnter) stand dem Kongress skeptisch gegenüber. Der Antrag im Parlament im Oktober 1919 fand An- „Volkstag“ wurde zunächst untersagt. Dennoch klang bei den Antisemiten, da sie das Einfallstor kam es trotz massivem Polizeiaufgebots am für „legale“ Segregation darin erkannten. Strickers Tag vor dem Kongress und am Eröffnungstag Plan, alle „jüdischen Volksgenossen“ in einer „Jü- zu antisemitischen Großdemonstrationen mit dischen Volkspartei“ zu vereinen, scheiterte, da Ausschreitungen der „deutschen und christli- viele trotz Sympathien für den Zionismus andere chen Verbände“ und einer Bombendrohung. Parteien, vor allem die SDAP wählten. Nach dem Es folgten Massenverhaftungen. Am 22. August „Anschluss“ wurde Stricker im März 1938 verhaftet fand dann eine behördlich genehmigte antise- und 1944 in Auschwitz ermordet. mitische Demonstration ohne Ausschreitungen statt. Der Zionistenkongress 1925 Der Antisemitismus und die österreichi- In Wien fand 1925 zum zweiten Mal ein Zionis- schen Universitäten – „Ehrwürdige“ tenkongress statt. Im Gegensatz zum ersten im Bildungsstätten oder judenfeindliche Jahr 1913 führte dieser zu einer massiven anti- „Hölle“? semitischen Bewegung. Der 1923 gegründete „Völkisch-antisemitische Kampfausschuss“, dem Aus dem akademischen Milieu und den Univer- u.a. der Antisemitenbund, der Deutsche Tur- sitäten kamen schon im 19. Jahrhundert Forde- nerbund, der Alldeutsche Verband, aber auch rungen nach diskriminierenden Schritten gegen die christlichsoziale „Reichspost“ und die nati- Jüdinnen und Juden. Die Burschenschaften und onalsozialistische „Deutschösterreichische Ta- Teile des universitären Lehrkörpers bildeten da- geszeitung“ angehörten, wollte ihn verhindern bei die Speerspitzen. Die Studentenschaft und und rief zu einem „Deutschen Volkstag“ auf. weite Teile des akademischen Milieus radikali- Die Regierungskoalition zwischen Christlichso- sierten sich in der Ersten Republik in Folge der zialen und Großdeutschen genehmigte jedoch wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, den Kongress mit dem Hinweis, das zionistische die mit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Ziel der eigenen nationalen „Heimstätte“ in Pa- Habsburgermonarchie auftraten. Grenzverschie- lästina und somit die jüdische Auswanderung bungen und Migrationsbewegungen schufen Der Deutsche Klub residierte von 1923 bis 1939 im Leopoldini- schen Trakt der Wiener Hofburg. Der Ort entsprach dem elitären Selbstverständnis des Vereins. (Bildarchiv Foto Marburg) 13
Karl-Renner-Museum zudem neue wirtschaftliche und gesellschaftli- „Feinde des angestammten Volkes“ (Jüdinnen che Verhältnisse und beförderten den Konkur- und Juden, Liberale und „Rote“) zu vertreiben. renzdruck, der durch die Wirtschaftskrise noch Der wachsenden Zahl jüdischer Studierender seit zusätzlich erhöht wurde. Der Abbau alter bzw. den 1870er-Jahren folgten unter dem Vorwand Aufbau neuer politischer und nationaler Eliten der „Überfremdung“ der „deutsch-christlichen“ brachte eine Unsicherheit am akademischen Ar- Hochschulen Debatten über deren Ausschluss beitsmarkt mit sich, die viele durch die steigen- oder Begrenzung (Numerus clausus oder Nume- de Arbeitslosigkeit zu spüren bekamen (Regina rus nullus). An der Universität Wien scheiterten Fritz). All das führte dazu, dass das politische solche Forderungen an deren Rechtswidrigkeit. Klima an den österreichischen Hochschulen der Erst im April 1938 wurde eine Zwei-Prozent- Zwischenkriegszeit von Diskriminierung und Ge- Grenze für Jüdinnen und Juden festgelegt. walt gegen jüdische und linke Universitätsange- hörige geprägt war. Bruno Kreisky beschrieb sei- Die Bärenhöhle ne Studienzeit in Wien in seiner Autobiografie, An der Frage, wie die Anzahl jüdischer Studie- als „schlicht und einfach eine Hölle“. render und Lehrender beschränkt werden könn- Für Wissenschaftler:innen jüdischer Herkunft te, entzündete sich die antisemitische Hetze an wurde es ab den 1920er-Jahren fast unmöglich, den Universitäten bereits ab den 1870er-Jahren. eine Professur zu erlangen. Völkische und auch Die Forderung nach einer Quote mit max. 10 Pro- katholisch-nationale Studenten veranstalteten zent für studierende Jüdinnen und Juden wurde regelmäßig pogromartige Gewaltexzesse ge- erhoben. Diese widersprach jedoch klar dem von gen ihre jüdischen Kommiliton:innen. Maßgebli- der Verfassung der Republik garantierten Gleich- chen Anteil an diesen Entwicklungen hatten u.a. heitsgrundsatz und konnte nur für Ausländer:innen das 1923 gegründete „Kulturamt der Deutschen durchgesetzt werden. Studentenschaft“ und das 1924 ins Leben ge- rufene „Institut zur Pflege deutschen Wissens“. Um die Anzahl von Lehrenden zu beschränken, Beide Organisationen waren Plattformen für wurden informelle geheime Zirkel gegründet. Eine die Vernetzung rechtsgerichteter männlicher dieser antisemitischen männlichen Seilschaften an bürgerlicher Eliten und die Durchsetzung de- der Philosophischen Fakultät war die so genann- ren Interessen. Gegenseitige Förderung durch te „Bärenhöhle“ (BH). Dieses Netzwerk umfasste Publikationen, Vorträge, Arbeitsstellen und For- 18 Universitätsprofessoren. Interne Absprachen, schungsaufträge auf der einen und Diskrimi- Intrigen und Denunziationen dieser Clique ver- nierung, Gewaltanwendung und Denunziation hinderten unzählige wissenschaftliche Karrieren auf der anderen Seite waren die Mittel, um die von jüdischen, sozialdemokratischen und libera- Der Seminarraum für Paläontologie an der Universität Wien war namengebend für dieses antisemitische Netzwerk, um 1928. (Wikimedia Commons) 14
Der österreichische Antisemitismus len Wissenschaftler:innen. Die Etablierung inno- marxismus“ die Verantwortung zugeschoben: vativer Forschungsansätze wurde dadurch unter- „Jüdische Philosophie“ habe an einer „christlich- bunden. Einige Wissenschaftler:innen wurden in deutschen Hochschule“ nichts verloren. die Emigration gedrängt. Die Karrieren von An- tisemiten wurden hingegen systematisch geför- Jüdische Strategien gegen den Antisemi- dert. Einige Vertreter der Bärenhöhle kamen nach tismus 1945 erneut in führende universitäre Positionen Die unterschiedlichen jüdischen Gruppierun- und hintertrieben oftmals die Rückkehr jüdischer gen entwickelten verschiedene Gegenstrategi- Wissenschaftler:innen. en zum Antisemitismus. Die liberale Vereinigung „Deutschösterreichischer Juden“, die bis 1932 Moritz Schlick Opfer des „Irrationalen“ die Israelitische Kultusgemeinde dominierte, ver- Schlick wurde protestantisch getauft und hatte kei- trat die Ansicht, dass die Anfeindungen verschwin- ne jüdischen Vorfahren. Er studierte Mathematik den würden, wenn Jüdinnen und Juden kulturell und Naturwissenschaften in Berlin, Heidelberg und und wirtschaftlich völlig in der österreichischen Lausanne. 1922 übernahm er den Lehrstuhl für Na- Gesellschaft integriert sein würden. Sie gingen turphilosophie an der Universität Wien. 1924 grün- u.a. juristisch gegen Diskriminierungen und Ver- dete er den interdisziplinären Diskussionszirkel, hetzung vor und setzen auf öffentliche Aufklä- der als Wiener Kreis in die Philosophiegeschichte rung. Ähnlich sahen dies auch jene Jüdinnen und einging und bald Hochburg des logischen Empiris- Juden, die in der politischen Linken aktiv waren. mus wurde. Dessen Orientierung an den Naturwis- Mit dem Sozialismus würde der Antisemitismus senschaften und der damit verbundene Anspruch verschwinden. Die Befreiung der Menschen aus an Rationalität in der Philosophie wurden bald zum den Fesseln der kapitalistischen Unfreiheit, werde Feindbild für die antisemitischen reaktionären und den Judenhass obsolet machen. Für Zionist:innen völkischen Kräfte an der Universität Wien. Moritz war der „Zusammenschluss aller Juden“ in einer Schlick wurde am 22. Juni 1936 in der Universität eigenen autonomen Nation die Möglichkeit, den von seinem ehemaligen Studenten Hans Nelböck Antisemitismus kraftvoll zu bekämpfen. Für ortho- erschossen. Als Motiv gab dieser an, dass er we- doxe Gläubige war der weitgehende Rückzug aus gen Schlicks antimetaphysischer Philosophie alle der österreichischen Gesellschaft eine Möglich- „religiösen Überzeugungen und überhaupt jeden keit, Konflikte zu dämpfen und sich Respekt durch Halt verloren“ habe. In der öffentlichen Debatte Strenggläubigkeit zu erarbeiten. Die alle ideologi- wurde durch aktive Schuldumkehr dem Opfer als schen, religiösen und klassenspezifischen Grenzen „gehätschelte[m] Hausphilosoph[en] des Austro- übersteigende geforderte Einheit aller Jüdinnen Innen: Oswald Menghin (1888– 1973) war Professor für Ur- und Frühgeschichte. Er war ein Brü- ckenbauer zwischen katholisch- konservativem und deutschnatio- nalem bzw. nationalsozialistischem Lager. Am 11. März 1938 wurde er Unterrichtsminister und führte u.a. die judenfeindliche Zwei-Prozent- Grenze ein. 1945 kam er in ein US-Internierungslager aus dem er in ein US-Internierungslager aus dem er 1948 nach Argentinien floh. (ÖNB) Moritz Schlicks (1882–1936) im Jahr 1930. Sein Mörder musste von seiner 10-jährigen Kerkerstrafe le- diglich zwei Jahre absitzen. (Archiv der Universität Wien) 15
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