Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut

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Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
Der österreichische
ANTISEMITISMUS
Grundton der Ersten Republik

Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker
Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
Wir danken herzlich für die Kooperation:

                                           © Karl Renner-Museum
                                           Rennergasse 2, 2640 Gloggnitz, im Oktober 2021
                                           www.rennermuseum.at
                                           Umschlaggestaltung: Michael Rosecker
                                           Grafische Gestaltung: Michael Rosecker
                                           Lektorat/Korrektorat: Christine Bobek, Madhavi
                                           Hussajenoff, Maria Maltschnig, Michael Rosecker
                                           und Wolfgang Zwander

                                           Dank an: Linda Erker, Erik Eybl, Christian Hoffmann,
                                           Walter Mentzel und Georg Spitaler
Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
AUSSTELLUNG 2021/2022

Der österreichische
Antisemitismus
Grundton der Ersten Republik

Michael Rosecker

Über diese Ausstellung                                       Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft aus-
                                                             getragen wird – im Sinne des Freiheits- und Gleich-
Wir verstehen das Karl-Renner-Museum als einen
                                                             heitsversprechens der demokratischen Republik.
offenen Ort historischer Wissensvermittlung, de-
mokratischer Bildungsarbeit und gesellschaftspo-
                                                             Der Antisemitismus-Begriff
litischer Debatte. So stellen wir uns auch brisanten
Themen.                                                      Der Antisemitismus-Begriff dieser Ausstellung
    Zu einer Auseinandersetzung mit den Widersprü-           geht auf den deutschen Historiker Wolfgang Benz1
chen der Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte         zurück. Er nennt vier Formen des Antisemitismus:
des 20. Jahrhunderts gehört vor allem die Beschäf-           # Der christliche Antijudaismus, der seit dem Mit-
tigung mit dem Antisemitismus, der tief in die poli-         telalter religiös motiviert ist, aber auch kulturell,
tische Kultur eingeschrieben war. Daher zeigen wir           sozial und ökonomisch bestimmt sein kann.
eine Ausstellung, die sich mit dem Spannungsfeld             # Der seit dem 19. Jahrhundert pseudowissen-
einer generellen Politik der Feindschaft und der             schaftlich, anthropologisch und biologistisch
Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung ös-              argumentierende Rassenantisemitismus.
terreichischer Jüdinnen und Juden in der Ersten
                                                             # Ein seit 1945 in Deutschland und Österreich auf-
Republik auseinandersetzt.
                                                             tretender Schuldabwehr-Antisemitismus, eine sich
    Die Verankerung des Antisemitismus in der öster-
                                                             aus Scham und Schuldabwehr speisende Form
reichischen Gesellschaft der Ersten Republik ist so
                                                             des Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden.
vielschichtig und umfassend, dass nicht alle Aspek-
                                                             Kristallisationspunkt dafür waren und sind die Fra-
te in dieser Ausstellung beleuchtet werden können.
                                                             gen der Entschädigung bzw. Wiedergutmachung
So liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung zent-
                                                             erlittenen jüdischen Leids und die Frage der histo-
raler politischer und gesellschaftlicher Institutionen
                                                             rischen Verantwortung an der Shoah.
und Akteur:innen des jungen Gemeinwesens. Mit
der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem                # Der israelbezogene Antisemitismus, der die alte
Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 ver-                Judenfeindschaft auf den 1948 gegründeten Staat
schwand die weitverbreitete Judenfeindschaft nicht           Israel projiziert.
„plötzlich“. Daher werden auch deren Auswirkun-
                                                             Antisemitismus ist heute die Gesamtheit juden-
gen auf die Zweite Republik skizziert.
                                                             feindlicher Äußerungen, Ressentiments, Haltun-
    Die Erste Republik bleibt die dauernde Mah-
                                                             gen und Handlungen unabhängig von ihren re-
nung, Politik nicht als Feindbildkonstruktion der
                                                             ligiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen
Ausgrenzung und als ein Entweder-oder von Sieg
                                                             Motiven. Judenfeindschaft ist die Projektion von
und Niederlage zu verstehen. Viel mehr soll das Po-
                                                             Vorurteilen auf eine Minderheit. Das hat für die
litische als ein Widerstreit unterschiedlicher Inter-
                                                             Mehrheit verschiedene Funktionen und Vorteile:
essen und Werthaltungen verstanden werden, der
                                                             z. B. die Versinnbildlichung von politischem, kul-
auf rechtsstaatlichen/menschenrechtlichen Grund-
lagen, in demokratischen Prozessen des besseren
                                                             1) Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus (C.H. Beck
Arguments und basierend auf einer Haltung der                2005)

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Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
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turellem sowie ökonomischem Unbehagen; die                 schem Antisemitismus. Eigenständige Formen des
Artikulation von Existenz- und Entfremdungsängs-           Judenhasses trafen auf west- und osteuropäische
ten; wirtschaftlicher Konkurrenzneid; Bereicherung         Einflüsse. Gemeinsam machten sie die österrei-
durch Entrechtung auf Kosten einer Minderheit;             chische Variante zu einer der ausgeprägtesten in
eine politische Mobilisierungsstrategie oder eine          West- und Zentraleuropa vor Hitlers Machtüber-
Verschleierung realer gesellschaftlicher Verhältnis-       nahme in Deutschland 1933 (Bruce F. Pauley).
se indem Aggressionen auf eine Minderheit ver-             Verschärft wurde diese Tatsache dadurch, dass
schoben werden. In seiner Komplexität ist der An-          die Modernisierung Österreich-Ungarns durch
tisemitismus das beispielgebende Phänomen für              Industrialisierung, Verwissenschaftlichung/Tech-
die Erforschung von Gruppenkonflikten und sozi-            nisierung des Daseins, neue Ideologien und so-
alen Vorurteilen. Der Antisemitismus ist ein „kultu-       ziale Emanzipationsbestrebungen verspätet und
reller Code“ und eine ideologische Grundorientie-          somit „sprunghaft“ einsetzte. Konflikte zwischen
rung. Beides hat nichts mit realem jüdischen Leben        traditionellen und „modernen“ Vorstellungen von
zu tun und wird unabhängig von tatsächlichen Er-           Staat, Wirtschaft und Gesellschaft intensivierten
fahrungen benutzt. Gleichsam „funktioniert“ Anti-          sich. Gefühle der Orientierungslosigkeit und Zu-
semitismus auch ohne Jüdinnen und Juden.                   kunftsängste wurden mit dem Antisemitismus be-
                                                           dient und dieser selbst ein Instrument gegen die
Der österreichische Antisemitismus                         Veränderungen. Von vielen Institutionen (Kirchen,
Wer die Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert          Parteien, Vereinen etc.) und deren Führungsperso-
begreifen will, muss sich auf eine Beschäftigung           nal wurde er gepflegt und tief eingeschrieben in
mit dem Antisemitismus einlassen. Seit dem Mit-            alltägliche Rituale und die politische Kultur.
telalter sind antisemitische Propaganda, Agitation             Die politische Wirksamkeit und Mobilisierungs-
und rechtliche Diskriminierungen von Jüdinnen              kraft des Antisemitismus wurden im Ersten Welt-
und Juden nachzuweisen. Im 19. Jahrhundert kam             krieg verschärft und gewannen mit der Repub-
hinzu, dass die Habsburgermonarchie, im Zentrum            likgründung 1918 an Dynamik. Als Produkt des
Europas gelegen, allen geistigen Strömungen der            Krieges war die junge Republik vielen Krisen und
Zeit ausgesetzt war. Sie wurde so zu einem Brenn-          Spannungen ausgesetzt. Sie wurde von vielen als
punkt der damit verbundenen Innovationen und               ein „Zwergstaat“ ohne nationale Identität und als
Konflikte. Das betraf auch die Bedeutung und               eine „Zwergenwirtschaft“, wirtschaftlich nicht über-
Formen des Antisemitismus. Von katholischer Kir-           lebensfähig empfunden. Es konnte keine gemein-
che und christlicher Volksfrömmigkeit traditionell         same politische Kultur (Anton Pelinka) entwickelt
gepflegter religiöser Antijudaismus verband sich           werden, die in der Lage gewesen wäre, Konflikte
mit „modernem“ pseudowissenschaftlich-rassisti-            demokratisch auszutragen, haltbare Kompromisse

                                                                              Im Zuge der Revolution 1848 kämpf-
                                                                              ten Wiener Jüdinnen und Juden an
                                                                              vorderster Front um ihre Emanzipation
                                                                              und Gleichstellung. Dies zog antise-
                                                                              mitische Ressentiments und Agitation
                                                                              nach sich. Ausschnitt einer antisemi-
                                                                              tischen Karikatur. (Johann Höfelich,
                                                                              Wien Museum)

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Der österreichische Antisemitismus

zu finden und die schweren Nachkriegskrisen zu              Religion erfragt. Vor der Volkszählung 1923 kam
meistern. Dies beförderte die Entwicklung einer             es im Parlament zu heftigen Auseinandersetzun-
weitgehenden Polarisierung der Gesellschaft und             gen über die Begrifflichkeiten auf den Befragungs-
einer an Feindbildern ausgerichteten Politik. Der           bögen, ob eine jüdische „Nation“ oder „Rasse“
Antisemitismus sickerte so endgültig als Mittel und         erfragt werden solle. Damit wollte man „alle“ Jü-
Zweck in alle Bereiche der Gesellschaft (Politik,           dinnen und Juden erfassen. Vor allem die Sozial-
Wirtschaft, Religion, Kultur und Wissenschaft) und          demokratie stellte sich dem entgegen. Ebenso die
wurde ein zentrales soziales Phänomen, das dem              Regierung Dollfuß hätte 1934 gerne „alle Juden“
Nationalsozialismus den Weg ebnete.                         erfasst, aber man konnte sich erneut auf keine For-
                                                            mulierung einigen.
„Juden zählen“ – Streit um Begriffe
Im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wurden bei
                                                            Der Antisemitismus und die Katholische
Volkszählungen ab 1880 in den beiden Reichs-
                                                            Kirche – Zwischen Verkündigung des Wor-
hälften uneinheitlich die Umgangssprache bzw.
                                                            tes Gottes und Hetze
Muttersprache erhoben. Es konnte jedoch nur aus             Viele Aspekte des politischen Antisemitismus
vorgegebenen Sprachen ausgewählt werden. Jid-               haben ihren Ursprung im historisch gewachse-
disch und Hebräisch waren nicht darunter. Daher             nen Antijudaismus der katholischen Kirche. Über
gaben Jüdinnen und Juden meist Deutsch als Um-              Jahrhunderte gepflegte Ritualmordlegenden und
gangssprache an. Nur unter der Rubrik „Religion“            „Gottesmord-Vorwürfe“ wurden auch in der „mo-
wurden „Israeliten“ gezählt.                                dernen“ rassistischen Agitation verwendet. Umge-
   Die Auseinandersetzungen, ob „Juden“ nun                 kehrt wurden biologistische Argumentationslinien
Angehörige einer Glaubensgemeinschaft, eines                von Priestern und katholischen Aktivist:innen auf-
„Volksstammes“, einer „Nation“ oder gar einer               genommen, obwohl die Amtskirche sich vom „Ras-
„Rasse“ seien, wurden ab den 1880er-Jahren im-              senantisemitismus“ offiziell distanzierte. Durch die
mer heftiger. Mit wachsendem Antisemitismus                 enge Verwobenheit vieler Geistlicher und der In-
wurde in der „Judenfrage“ immer aggressiver mit             stitution Kirche mit der Christlichsozialen Partei
Statistiken argumentiert. Austritt aus der Kultusge-        kam es zu einer Vermengung der antisemitischen
meinde, „Assimilation“ und/oder christliche Taufe           Sichtweisen und somit zur Politisierung des Antiju-
nutzten wenig, um der Diskriminierung und Aus-              daismus. So verschaffte die Kirche als moralische
grenzung zu entkommen. Es wurde immer eine                  Autorität den Argumenten der Antisemit:innen
kollektive „jüdische Identität“ jenseits aller Unter-       Legitimation, die ihrerseits die „Vereinbarkeit“
schiede unterstellt. Bei den Volkszählungen in der          von Christentum und Antisemitismus davon ab-
Ersten Republik (1923 und 1934) wurde nur die               leiteten. Viele kirchliche Würdenträger feindeten

Für den bekannten katholischen
Publizisten Anton Orel (1881–1959)
war ein „wahrer Christ“ auch Antise-
mit. 1934 erschienen drei antisemiti-
sche Werke von ihm. Voraussetzung
für die „wahre Ständeordnung“ sei
die „Abgeschiedenheit der Juden“.
(ÖNB)

Der Südtiroler Pfarrer des Deutschen
Ritterordens Arbogast Reiterer (=
Gaston Ritter, 1886–1956) vertrat in
dieser Hetzschrift von 1934 antisemi-
tische Weltverschwörungstheorien.
(Sammlung M. Rosecker)

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jüdische – vor allem sozialdemokratische und li-           den kirchlichen Strukturen seiner Diözese. Ebenso
berale – Intellektuelle in Politik, Wissenschaft und       vertrat er eine Beschwichtigungspolitik gegenüber
Kultur als Vorreiter:innen der „gottlosen Verweltli-       dem Nationalsozialismus, rettete allerdings ab
chung“ und „modernistischen Rationalität“ an. In           1940 mit der „Hilfsstelle für nichtarische Katholi-
katholischen Tageszeitungen und Zeitschriften der          ken“ vielen Jüdinnen und Juden das Leben.
Ersten Republik – z.B. Das Kleine Kirchenblatt und
Schönere Zukunft – bedienten höherer Klerus und            Irene Harand Kämpferin gegen den Hass
Theologen antijüdische Vorurteile. In lokalen Kir-
                                                           Als Irene Wedl geboren, wuchs sie in einem groß-
chenzeitungen und von der Kanzel wurden auch
                                                           bürgerlichen toleranten Elternhaus auf. Sie heira-
antikapitalistische Angriffe gegen das Judentum
                                                           tete den k.u.k. Offizier Frank Harand. Ende der
als „profitgierig“ und „herzlos egoistisch“ von Tei-
                                                           1920er-Jahre lernte sie den jüdischen Rechtsan-
len des niederen Klerus massenwirksam kampag-
                                                           walt Moritz Zalman kennen, der gegen die öster-
nisiert und popularisiert. Dem Zionismus stand die
                                                           reichische Regierung Entschädigungen für Tau-
Kirche eher ablehnend gegenüber.
                                                           sende „Kleinrentner“ (Rentner=Anleger) erstritt,
   Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus in
                                                           die durch die Inflation mittellos geworden waren.
den frühen 30er-Jahren versuchte die Amtskirche
                                                           Mit ihm gründete sie 1930 die erste Österreichi-
sich immer wieder von diesem abzugrenzen. Im
                                                           sche Volkspartei (nicht mit der nach 1945 gegrün-
Streben, die Hinwendung vieler Katholik:innen zur
                                                           deten ÖVP zu verwechseln), in deren Zentrum der
NSDAP zu verhindern, wurden Positionen von die-
ser in abgeschwächter Form übernommen und als              Kampf gegen den Antisemitismus stand. 1933 rief
eigenständige antisemitische Alternative präsen-           Harand die „Weltbewegung gegen Rassenhass
tiert. Vor allem nach der Machtergreifung Hitlers          und Menschennot“ ins Leben, die bald als „Ha-
in Deutschland 1933 und der Etablierung des aus-           rand-Bewegung“ international bekannt wurde.
trofaschistischen Regimes 1934 wurde diese Linie           Im Eigenverlag gab sie 1935 ein Buch heraus, in
in einigen Diözesen auch publizistisch intensiv pro-       dem sie sich offen gegen den Nationalsozialismus
pagiert. Die Positionen in der katholischen Kirche         stellte. Während des „Anschlusses“ 1938 befand
waren als Institution und bei ihren Repräsentanten         sie sich im Ausland auf Vortragsreise. Sie kehrte
oft gespalten und widersprüchlich. Der Priester            erst nach 1945 nach Österreich zurück. Harand war
und christlichsoziale Parteivorsitzende Ignaz Seipl        eine überzeugte Katholikin, zunächst Monarchistin
trat gegen den rassistischen Antisemitismus auf,           und schließlich Anhängerin des austrofaschisti-
bediente diesen jedoch auch offensiv, wenn es              schen Regimes. Dieses kritisierte sie jedoch vehe-
strategisch opportun erschien. Kardinal Theodor            ment für dessen teils antisemitische Politik.
Innitzer wiederum sprach sich öffentlich klar ge-
gen den Antisemitismus aus, duldete ihn jedoch in

                                                                                 Im Jahr 1933 rief Irene Harand
                                                                                 (1900–1975) die „Weltbewegung
                                                                                 gegen Rassenhass und Men-
                                                                                 schennot“ ins Leben, die bald als
                                                                                 „Harand-Bewegung“ international
                                                                                 bekannt wurde.
                                                                                 („Sein Kampf“)

                                                                                 Der Republikanisierung und De-
                                                                                 mokratisierung Österreichs 1918
                                                                                 standen Teile der politischen und
                                                                                 wirtschaftlichen Eliten skeptisch
                                                                                 gegenüber. Die Republik wurde
                                                                                 auch (rote) „Wiener Judenrepub-
                                                                                 lik“ genannt. Das antisemitische
                                                                                 Wahlplakat zur Nationalratswahl
                                                                                 1920 mobilisierte dagegen.
                                                                                 (Sammlung ÖNB)

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Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
Der österreichische Antisemitismus

Der Antisemitismus der christlichsozialen                 „Angehörige der semitischen Rasse“ nicht Teil der
Partei – Programm, Strategie und radikale                 „Wehrmacht“ sein können (1919) und alle „Juden
Phrase                                                    als ausländisches Minoritätenvolk“ ohne „weitere
                                                          Rechte“ (1920) zu behandeln wären, bestimmten
Der Antisemitismus war programmatische Grund-             immer wieder die Politik der CSP. Ebenso waren
lage und ideologische Konstante der Christlichso-         Christlichsoziale in antijüdischen Ausschreitungen
zialen Partei (CSP) seit ihrer Gründung 1893. Eben-       vor allem an den Hochschulen involviert. Diese
so war er weltanschaulich-emotionales Bindeglied          Übergriffe wurden oft höhnisch von der Parteipres-
zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen           se flankiert. In Fragen der ständischen Interessen-
der Partei. Damit sollten die oft widersprüchlichen       politik Wirtschaftstreibender wurde schon früh ein
wirtschaftlichen und politischen Interessen zwi-          „Kauft-nur-bei-Christen“ kampagnisiert.
schen Arbeitern, Angestellten, Kleingewerbetrei-
                                                             Der Antisemitismus diente auch als Kooperati-
benden und Industriellen etc. überbrückt werden.
                                                          onsangebot der Christlichsozialen an deutschna-
Das antisemitische Ressentiment wurde nach der
                                                          tionale und völkische Kreise. Der christlichsoziale
Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts
                                                          Antisemitismus verstand sich selbst als „harmlo-
1918 auch als agitatorisches Mobilisierungsinstru-
                                                          ser“ als der gewaltbereite „Radau-Antisemitismus“
ment für neue Wähler:innenschichten verstanden.
                                                          der Deutschnationalen. Diese Verharmlosung und
Von der katholischen Kirche gepflegter religiös
                                                          die gleichzeitig verwendete radikale Phrase mach-
aufgeladener christlicher Antijudaismus vermengte
                                                          ten jedoch den tatbereiten Judenhass in breiten
sich mit wirtschaftlichem und „modernem“ pseu-
                                                          Kreisen erst salonfähig.
dowissenschaftlich rassistischem Antisemitismus.
   Bereits seit der Gründung der Republik wurde
                                                          Karl Lueger – Lehrherr aller Antisemiten
von der CSP versucht, die Diskriminierung von Jü-
dinnen und Juden auf gesetzliche Grundlagen zu            Lueger stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er
stellen. Immer wieder wurden Handlungsanleitun-           studierte Rechtswissenschaften und war Mitglied
gen zur „Lösung der Judenfrage“ vorgeschlagen.            einer katholischen Studentenverbindung. Als
Diese reichten von rechtlich geregelter Segregati-        Rechtsanwalt für „kleine Leute“ machte er sich ei-
on und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung          nen Namen. Seinem Vorbild, dem jüdischen Arzt
(Leopold Kunschak: „Die Rechtsverhältnisse der            Ignaz Mandl folgend, ging er als Liberaler in die
Jüdischen Nation“ 1919/1936) bis hin zu Vorschlä-         Politik. Er war Wiener Gemeinderat, Abgeordneter
gen, weltweit deren Aussiedelung nach Palästina in        im Reichsrat, niederösterreichischer Landtagsab-
einer „einvernehmlichen Lösung“ zu organisieren           geordneter und ab 1897 bis zu seinem Tod Wie-
(Emmerich Czermak: „Ordnung in der Judenfra-              ner Bürgermeister. 1893 gründete er die Christ-
ge“, 1933). Radikale Forderungen wie jene, dass           lichsoziale Partei. Dafür vereinigte er bestehende

Karl Lueger (1844–1910) war
Gründer der Christlichsozialen
Partei und Wiener Bürgermeister.
Seine volkstümliche und verhet-
zende antisemitische Agitation
prägte Strategie und Praxis des
politischen Antisemitismus.

Bei der Wahl zur Konstituieren-
den Nationalversammlung im
Februar 1919 durften Frauen das
erste Mal wählen. Die steirischen
Christlichsozialen warben als „ein-
zig judenfreie Partei“, die gegen
die durch die SDAP verursachte
„umsichgreifende Verjudung“ an-
kämpfe, um weibliche Stimmen.
(Sammlung ÖNB)

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Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
Karl Renner-Museum

katholisch-konservative Vereine (Handwerker, Ge-           Kunschak war überzeugter Demokrat und Antise-
werbetreibende, niederen Klerus etc.). Lueger er-          mit. Im Nationalsozialismus wurde er verfolgt und
kannte die Wirkmächtigkeit des Antisemitismus.             hielt Kontakt zu Widerstandsgruppen. Nach 1945
Dieser war für ihn die ideologische Klammer seiner         ist er einer der Mitbegründer der ÖVP und gemein-
Rhetorik gegen Liberalismus, Kapitalismus, Sozial-         sam mit Karl Renner (SPÖ) und Johann Koplenig
demokratie und „Obrigkeit“. Ebenso diente das              (KPÖ) Unterzeichner der österreichischen Unab-
Feindbild „Jude“ als ständige Brücke zur deutsch-          hängigkeitserklärung von Hitler-Deutschland. Vom
nationalen Konkurrenz. In seine Zeit fielen kom-           Antisemitismus konnte er sich auch nach 1945 nie
munale Meilensteine wie die Verbesserung der               klar distanzieren.
städtischen Infrastruktur, die Kommunalisierung
wichtiger Versorgungsbetriebe und die Schaffung            Der Antisemitismus und das deutschnati-
eines Grüngürtels. Seine volkstümliche und ver-            onale Lager: Nation, „Rasse“ und Blut –
hetzende Agitation prägte Strategie und Praxis             von der Sprache zur Gewalt
des politischen Antisemitismus.
                                                            In deutschnationalen Kreisen und den schla-
Leopold Kunschak – Demokrat und                            genden Burschenschaften der Donaumonarchie
Antisemit                                                  wurde der völkisch-rassistisch begründete Anti-
                                                           semitismus nach dem Zerfall der alten liberalen
Kunschak stammte aus ärmlichen Verhältnissen               Honoratiorenparteien ab den 1870er-Jahren do-
und lernte das Sattlerhandwerk. Bewegt von sozia-          minantes politisches Element. Er wurde nach der
len Fragen und der 1891 veröffentlichten Sozialen-         Gründung des (klein)deutschen Nationalstaats
zyklika Papst Leos XIII. (Rerum novarum) nahm er           (Deutsches Kaiserreich) im Jahr 1871 – ohne die
Kontakt zu Karl Luegers Umfeld auf. 1892 gründe-           „Deutschen“ der österreichisch-ungarischen Mo-
te Kunschak den Christlichsozialen Arbeiterverein,         narchie – in diesen Milieus zentrales Identifikati-
in dem ein rabiater Antisemitismus ein wichtiges           onsmerkmal und Grundorientierung. Vor allem
ideologisches und agitatorisches Element bilden            durch die Agitation der Alldeutschen Bewegung
sollte. Er wurde Wiener Gemeinderat, Reichsrats-           Georg Heinrich Schönerers wurden alte liberale
abgeordneter, nach dem Ersten Weltkrieg Na-                Ideen durch den aggressiven Antisemitismus ver-
tionalratsabgeordneter und nach dem Zweiten                drängt. Die Vorstellung einer „nationalen Volksge-
Weltkrieg Präsident des Nationalrats. Politisch ver-       meinschaft“, die auf „rassenbiologischer“ Zuge-
suchte er stets, sich gegen die Deutschnationalen          hörigkeit beruhe, wurde dominierend. Nach der
abzugrenzen, sich gegen die demokratiefeindliche           Ausrufung der Republik versuchte das vielfältige
Orientierung der Heimwehren durchzusetzen und              deutschnational-bürgerliche Lager sich in der
ein kooperatives Verhältnis zur SDAP herzustellen.         Großdeutschen Volkspartei (GDVP) zu vereinigen.

                                                                            Zur Kärntner Landtagswahl 1923 traten
                                                                            die Christlichsozialen, der Kärntner Land-
                                                                            bund und die Großdeutsche Volkspartei
                                                                            als Einheitsliste gegen die Sozialdemo-
                                                                            kratie an. Der Antisemitismus gegen die
                                                                            „verjudete“ Sozialdemokratie war tra-
                                                                            gendes Element der Wahlkampagne und
                                                                            richtete sich gegen den sozialdemokrati-
                                                                            schen Landeshauptmann Florian Gröger.
                                                                            Die Einheitsliste siegte und Obmann des
                                                                            Landbundes, Vinzenz Schumy, wurde
                                                                            zum Landeshauptmann gewählt.
                                                                            (Sammlung Erik Eybl)

                                                                            Ein Wahlplakat der Großdeutschen
                                                                            Volkspartei, das sich antiklerikal gegen
                                                                            die Christlichsozialen und antisemitisch
                                                                            gegen die Sozialdemokratie richtete.
                                                                            (Steirisches Landesarchiv)

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Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
Der österreichische Antisemitismus

In ihrem Salzburger Gründungsprogramm (1920)              Georg von Schönerer – Hitlers politisches
wurde im Kapitel „Unsere Stellung zur Judenfra-           Vorbild
ge“ ein rabiater rassistischer Antisemitismus ver-
                                                          Schönerer war Sohn eines geadelten Eisenbahnin-
treten. Das Judentum wurde als „Fremdkörper“
                                                          genieurs und studierter Landwirt, der sich in schla-
definiert und 1921 ein „Arierparagraph“ einge-
                                                          genden Burschenschaften engagierte. Im Jahr
führt. Obwohl sich alle Parteifunktionär:innen
                                                          1873 wurde er für die liberale Deutsche Verfas-
mit ihrer Unterschrift verpflichten mussten, diese
                                                          sungspartei in das Abgeordnetenhaus des Reichs-
Ideen mit Vehemenz zu vertreten, führte die Ra-
                                                          rats gewählt. Als radikaler Anhänger der großdeut-
dikalität in der „Judenfrage“ zu innerparteilichen
                                                          schen Idee entfernte er sich vom Liberalismus und
Diskussionen. Die oftmalige Regierungsverant-
                                                          bekämpfte den habsburgischen Vielvölkerstaat.
wortung in bürgerlichen Koalitionen mit teilweise
                                                          Schönerer gründete 1882 den Deutschnationalen
gemäßigten Ministern zog jedoch eine Zurückhal-
                                                          Verein und erarbeitete maßgeblich das liberal-na-
tung in der politischen Praxis nach sich. Besonders
                                                          tionale Linzer Parteiprogramm. In Folge erweiter-
radikale antisemitische politische Fantasien, wie
                                                          te er dieses eigenständig um radikale rassistisch-
die Einführung einer „Volkurkunde“ als Vorläufer
                                                          antisemitische Passagen. Die Einführung eines
des „Ariernachweises“, wurden vor allem im 1921
                                                          „Arierpragraphen“ führte zur völligen Abkehr von
vom Abgeordnetenverband der GDVP gegründe-
                                                          liberalen Ideen. 1891 erfolgte die Gründung der
ten „Fachausschuss für die Judenfrage“ ausge-
                                                          Alldeutschen Bewegung, die radikal und brutal in
lebt. Viele Forderungen blieben ohne Wirkung.
                                                          Sprache und Agitation den rassistischen Antisemi-
Gewalt gegen Jüdinnen und Juden war vor allem
                                                          tismus in der Politik etablierte. Georg von Schöne-
auf die Universitäten beschränkt.
                                                          rer war ein wuchtiger Rhetoriker, der wortgewandt
   Mit wachsender Arbeitslosigkeit und der Kri-
                                                          mit Drohungen, Irrationalismen und extremen For-
se des politischen Systems Ende der 20er-Jah-
                                                          derungen die einen begeisterte und die anderen
re entstand im erstarkenden österreichischen
                                                          ängstigte. Sein völkischer Nationalismus und sein
Nationalsozialismus ein Konkurrent, der die
                                                          rassistischer Antisemitismus wurden in Inhalt und
Wähler:innenschaft mit noch radikaleren Phrasen
                                                          Methode politisch wegweisend.
abzog. Mit dem einhergehenden Bedeutungsver-
lust erfolgte ein Generationenwechsel beim Füh-
                                                          Walter Riehl – Antisemit in vielen Parteien
rungspersonal. Die neuen Kader kamen aus dem
Nationalsozialismus. Ein Aufgehen der GDVP in             Riehl wurde in Wiener Neustadt geboren, besuch-
der NSDAP war die Folge, die das meiste ihrer             te das Gymnasium und studierte Jus. Zunächst
radikalen antisemitischen Rhetorik und Agitation          wandte er sich der Sozialdemokratie zu. Er wan-
nicht „erfinden“ musste, sondern bereits vorfand.         delte sich jedoch zum radikalen antisemitischen

Drastische Hetzpropaganda der österreichischen
NSDAP aus dem Jahr 1933. Vor allem der sozial-
demokratischen, sozialistischen und liberalen Pres-
se wurde unterstellt, Gräuelpropaganda gegen
die nationalsozialistische deutsche Regierung zu
betreiben und deren Vorgehen gegen Jüdinnen
und Juden zu übertreiben.
(Sammlung Erik Eybl)

                                                      7
Der österreichische ANTISEMITISMUS - Grundton der Ersten Republik Ausstellungsbroschüre von Michael Rosecker - Karl-Renner-Institut
Karl-Renner-Museum

Deutschnationalen und versuchte bürgerliche                    Ein Ziel dieses elitären, männlichen und meist
deutsch-nationale Kreise mit einer völkischen Ar-          akademischen Machtnetzwerkes war die personel-
beiterbewegung zu verbinden. 1919 übernahm er              le und ideele Durchdringung der staatlichen, öko-
den Vorsitz der Deutschen Nationalsozialistischen          nomischen und gesellschaftlichen Strukturen der
Arbeiterpartei (DNSAP) und war im Antisemiten-             Republik. So sollte den eigenen weltanschaulichen
bund aktiv. Das Verhältnis zu den deutschen Nati-          und ökonomischen Interessen zum Durchbruch ver-
onalsozialisten wurde schlechter und Riehl spalte-         holfen werden. Einflussnahmen auf Gesetzgebung
te sich mit Getreuen ab. Als Rechtsanwalt vertrat          und Justiz erfolgten aufgrund der personellen Ver-
Riehl den Mörder Hugo Bettauers, die Täter von             flochtenheit zwischen DK und staatlichen Struk-
Schattendorf und den Attentäter des missglückten           turen auf vielfältige Weise. Der DK war im Laufe
Anschlags auf Bürgermeister Karl Seitz 1927. 1930          der 30er-Jahre maßgeblich für die nationalsozialis-
wurde Riel dennoch Mitglied der NSDAP-Hitlerbe-            tische Unterwanderung Österreich verantwortlich.
wegung und 1932 Wiener Gemeinderat. Es folgten             Im Jahr 1939 wurde er aufgelöst.
ein erneuter Ausschluss aus der NSDAP und eine                 Viele seiner Mitglieder sollten nach 1945 wie-
kurze Verhaftung nach dem „Anschluss“ 1938. Von            der eine politische Rolle spielen. 1957 erlebte der
der Roten Armee wurde er 1945 ebenso kurzfristig           „Deutsche Klub“ als „Neuer Klub“ eine Art Wie-
in Haft genommen. Seine politische Heimat fand             derbelebung.
Riehl 1947 in der ÖVP, die er u.a. mit Wahlaufru-
fen an die ehemaligen Nationalsozialist:innen un-          Der Antisemitenbund
terstützte, wie in einer programmatischen Rund-            Der Antisemitenbund (AB) wurde als Deutschös-
funkansprache 1953.                                        terreichischer Schutzverein – Antisemitenbund
                                                           von christlichsozialen und deutschnationalen Po-
Der Deutsche Klub                                          litikern 1919 in Wien gegründet. Er war als eine
Der Deutsche Klub (DK) wurde 1908 im Milieu                partei- und klassenübergreifende Agitationsplatt-
deutschnationaler Studentenverbindungen ge-                form für die Massenmobilisierung gedacht. Neue
gründet. Mit Ausrufung der Republik 1918 entwi-            Wähler:innengruppen sollten erreicht werden. Der
ckelte er sich zum Sammelbecken für katholisch-na-         AB sollte „Aufklärungs- und Erziehungsarbeit“ für
tionale, völkisch-rassistische und antidemokratische       den Kampf gegen den „Krankheitserreger: Juden-
bürgerliche Kreise. Deren weltanschauliches Binde-         tum“ und die „Krankheit: der jüdische Geist“ leis-
glied war die Ablehnung der mit der Republikgrün-          ten (Freie Stimmen, 2.10.1919).
dung einhergehenden Veränderungen in Staat und                  Pogromhetze und Gewalt begleiteten die Agita-
Gesellschaft sowie der Antisemitismus in all seinen        tion des AB bereits von Beginn an. Die Rhetorik der
Schattierungen.                                            Vereinsgazette Der eiserner Besen kann als Vorläu-

                                                                            Georg von Schönerer (1842–1921)
                                                                            wandelte sich vom Deutschliberalen
                                                                            zum rabiaten Rassenantisemiten. Sein
                                                                            völkischer Nationalismus und sein rassis-
                                                                            tischer Antisemitismus wurden in Inhalt
                                                                            und Methode politisch wegweisend.
                                                                            (ÖNB)

                                                                            Bei der Wahl zur Konstituierenden
                                                                            Nationalversammlung 1919 wurden auf
                                                                            einem Wahlplakat der steirischen SDAP
                                                                            Geldflüsse des „jüdischen und christli-
                                                                            chen Geldsackes“ in Richtung Wahlfonds
                                                                            der Großkapitalisten und Großgrundbe-
                                                                            sitzer der Christlichsozialen und Deutsch-
                                                                            nationalen behauptet. Die antikapitalis-
                                                                            tische Polemik bemühte dafür auch das
                                                                            antisemitische Klischee des jüdischen
                                                                            Bankapitals. (Sammlung Erik Eybl)

                                                       8
Der österreichische Antisemitismus

ferin der NS-Hetzschrift Der Stürmer gesehen wer-         nicht als „nationenbildend“. „Jüdisch“ waren jene,
den.                                                      die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehör-
Eine politische Forderung war die Erstellung eines        ten. Dieser Logik folgend stand die SDAP dem
„Judenkatasters für Wien“. Dies war mit einem Auf-        Zionismus kritisch gegenüber, da dieser die „Ju-
ruf an die „arische Bevölkerung“ verbunden, im ei-        denfrage“ primär als nationale Frage verstand. Der
genen Umfeld „Hauslisten“ anzulegen (Reichspost,          Antisemitismus sei ein reaktionäres, „dummes“ und
11.5.1921). Die Christlichsoziale Partei suchte mit       im Sozialismus verschwindendes Phänomen (Otto
wechselnder Intensität die Nähe zum AB. Er wurde          Bauer, 1907). Das führte in der SDAP zu dessen Ba-
dennoch immer mehr durch Nationalsozialisten un-          gatellisierung und immer wieder zur Zurückhaltung
terwandert, schließlich 1933 formell aufgelöst und        bei seiner Bekämpfung. Programmatisch lehnte die
blieb von der Regierung geduldet jedoch legal bis         SDAP den Antisemitismus ab und warb bei Wahlen
1938 aktiv.
                                                          immer wieder offen um jüdische Stimmen.
                                                               Dennoch verwendete die Sozialdemokratie
Der Antisemitismus und die Sozialdemo-                    rhetorische Versatzstücke der antisemitischen po-
kratie – Die SDAP als „Judenschutztrup-                   litischen Konkurrenz. Zum einen aus Angst vor
pe“ mit Widersprüchen                                     der Mobilisierungskraft des Antisemitismus in der
In der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP)         Arbeiter:innenschaft und somit als „Abwehr“ der
spielte der Antisemitismus eine untergeordnete            Anfeindung als „Judenschutztruppe“ und „Juden-
Rolle, da sie versuchte, ein übernationales Klas-         sozi“. Zum anderen, um manipulativ die antisemi-
senbewusstsein zur Identitätsbildung und Mobi-            tischen Parteien als „Helfershelfer des Kapitals“
lisierung zu schaffen. Vielmehr verstand sich die         („Der Judenschwindel“, 1923) darzustellen. Die
Sozialdemokratie als Emanzipationsbewegung, die           antikapitalistische Argumentationslinie, das „Ban-
Menschen aus wirtschaftlicher und rechtlicher Ab-         kenkapital“ – egal ob „jüdisch“ oder „christlich“ –
hängigkeit befreien wollte. Aus diesem Verständnis        finanziere die bürgerlichen Parteien und der Antise-
heraus schlossen sich ihr viele Jüdinnen und Juden        mitismus sei ein strategischer Trick der Ablenkung
an und übernahmen sowohl in der politischen Pra-          („Klassenkampf“ statt „Rassenkampf“), bediente
xis als auch in der theoretischen Arbeit führende         selbst antisemitische Stereotypen. Die Niederlage
Rollen ein. Seit ihrer Gründung 1888/89 wurde ge-         und Zerschlagung der Sozialdemokratie im Feb-
gen die SDAP als „verjudete Partei“ mobilisiert.          ruar 1934 machte Teile ihrer Parteigänger:innen
    Die Sozialdemokratie, die sich schon in der           empfänglich für die austrofaschistische und natio-
Habsburgermonarchie mit der Nationalitätenfra-            nalsozialistische antisemitische Propaganda, dass
ge beschäftigt hatte, verstand jedoch im Sinne ih-        „jüdische Führer“ sie „verführt“ und „verraten“
res austromarxistischen Theoriegebäudes Religion          hätten.

Die einzige maßgebliche Partei, die
Jüdinnen und Juden die Möglichkeit
politischer Tätigkeit und Karriere bot, war
die Sozialdemokratische Arbeiterpartei.
Organisationen wie die jüdische sozial-
demokratische „Poale-Zion“ (= Arbeiter
Zions) und der „Verband sozialistischer
Juden“ unterstützten sie; ein Aufruf zur
Nationalratswahl 1930. (ÖNB)

                                                      9
Karl-Renner-Museum

Käthe Leichter – Sozialdemokratische Jüdin                 reden in der Ersten Republik. Diese wurden jedoch
                                                           nur bruchstückhaft und kontextlos zitiert.
Käthe Pick wurde 1895 in Wien geboren, wo sie in
                                                              Festzuhalten ist, dass Karl Renner sowohl den
wohlhabenden Verhältnissen aufwuchs. Durch eine
                                                           Antisemitismus der Christlichsozialen Partei als auch
Klage beim Reichsgericht erkämpfte sie als Frau
                                                           von Leopold Kunschak seit den Tagen Karl Luegers
die Zulassung zum Studium und inskribierte im
                                                           in Artikeln analysierte und öffentlich kritisierte. Die
Jahre 1914 Staatswissenschaften an der Universität
                                                           bürgerlichen Parteien betrieben für die National-
Wien. Promovieren musste sie in Heidelberg (bei
                                                           ratswahl 1920 einen massiv antisemitischen Wahl-
Max Weber), da ihr das als Frau in Österreich nicht
                                                           kampf. Nach dem christlichsozialen Wahlsieg wur-
gestattet war. 1925 übernahm sie den Aufbau des
                                                           de dieser als wahlentscheidend wahrgenommen
Frauenreferats in der Arbeiterkammer Wien. Leich-
                                                           und von Renner mit ironisch-sarkastischer Rhetorik
ter baute systematisch eine Datenbank mit Materi-
                                                           scharf kritisiert. Dabei überzog er in einzelnen Pas-
al über arbeitende Frauen auf und erhob detailliert
                                                           sagen den Sarkasmus im parteipolitischen Streit
deren private und berufliche Lebensumstände. Da-
                                                           und bediente in seiner Kritik des christlichsozialen
raus resultierten der Film „Frauenleben. Frauen-
                                                           Antisemitismus selbst antisemitische Vorurteile.
los“ aus dem Jahr 1931 sowie zahlreiche Studien.
                                                           Ebenso verwendete er – vor allem im Wahlkampf
In der Frage des Antisemitismus vertrat sie die in
                                                           1923 – das in dieser Ausstellung beschriebene von
der Sozialdemokratie weitverbreitete Ansicht, die-
                                                           der Sozialdemokratie verwendete antikapitalisti-
ser sei eine Form des Antiintellektualismus und
                                                           sche Klischee von der Zusammenarbeit des „jüdi-
des fehlgeleiteten Antikapitalismus. Als Sozialde-
                                                           schen Bankenkapitals“ mit den „Antisemiten“. All
mokratin, Jüdin und Frau war sie mehrdimensional
                                                           das muss Gegenstand historisch-kritischer Betrach-
Ressentiments ausgesetzt – auch in ihrem Arbeits-
                                                           tungen sein.
umfeld. Die Flucht vor der rassistischen und poli-
                                                              Ebenso bei der Beschäftigung mit Karl Renners
tischen Verfolgung durch den Nationalsozialismus
                                                           historischen Leistungen bei der Wiedererrichtung
gelang ihr nicht mehr. Sie wurde 1942 in der NS-
                                                           der Republik 1945, muss neben der Erfolgsge-
Tötungsanstalt Bernburg mit Giftgas ermordet.
                                                           schichte auch über seine Indifferenz gegenüber
                                                           der Shoah berichtet werden. Der von ihm mitkon-
Karl Renner und der Antisemitismus
                                                           struierte „Opfermythos“ mit der Ausblendung der
Im Zuge der Debatte um die Umbenennung des                 österreichischen Mitverantwortung an den Verbre-
Dr.-Karl-Lueger-Rings wurde Karl Renner in der ge-         chen des Nationalsozialismus war parteiübergrei-
schichtspolitischen Auseinandersetzung ebenso              fender Konsens der politischen Eliten und gleich-
mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert und eine          zeitig ein politisch-moralisches Legitimationsdefizit
Umbenennung des Dr.-Karl-Renner-Rings themati-             der Zweiten Republik. Diese Ambivalenz war der
siert. Anstoß dafür waren einige seiner Parlaments-        Gründung der Zweiten Republik 1945 mit der von

Das Feindbild des Wiener Hausherrn und
Mietzinswucherers sowie das des Kapitalisten
der sozialdemokratischen Propaganda trug
meist nur die feisten Züge des Satten und
Mitleidlosen. Es konnte jedoch auch den
antisemitischen Ressentiments entsprechen-
de „jüdische“ Stereotype aufweisen; wie bei
diesem Plakat aus dem Jahr 1919: „Die Reak-
tionäre auf der Krone“. (Sammlung Erik Eybl)

                                                      10
Der österreichische Antisemitismus

Renner maßgeblich verfassten Unabhängigkeits-                führung machte viele Menschen in Europa zu
erklärung von NS-Deutschland bis weit über den               Flüchtlingen. In Österreich-Ungarn waren es ca.
Staatsvertrag 1955 hinaus eingeschrieben. Bei ers-           1,5 Millionen. Darunter viele jüdische Kriegsver-
tem wurde die Shoah ausgespart und bei zweitem               triebene aus Galizien und der Bukowina, die vor
wurde auf Intervention Leopold Figls auch die Mit-           den russischen Truppen nach Wien flohen. Die
verantwortung am Zweiten Weltkrieg getilgt.                  k.u.k. Armee erlitt an der Ostfront schwere Nie-
    Dennoch war Antisemitismus für Karl Renners              derlagen. Nach anfänglichem Wohlwollen der
Politikverständnis und Weltanschauung keine maß-             Bevölkerung kippte bald die Stimmung und die
gebliche Kategorie und vor allem keine innere An-            geflüchteten „Ostjuden“ wurden Opfer der anti-
triebskraft für sein Denken und Handeln. In den Be-          semitischen Agitation und Mobilisierung. Gegen
richten der Historiker:innenkommissionen zu den              Kriegsende kam es im Zuge der Grenzziehungs-
problematischen nach Personen benannten öffent-              und Bürgerkriege in den Jahren 1918/19 in Polen
lichen Flächen in Wien (2012) und Salzburg (2021)            und in der Ukraine zu Pogromen gegen jüdische
wurde dies gleichfalls beschrieben. Ein Blick in Karl        Minderheiten. Nach den Kriegs- kamen nun auch
Renners Werk zeigt vieles, auch Irrwege und Fehl-            Pogromflüchtlinge nach Wien und Niederöster-
entscheidungen, aber keine Grundorientierung an              reich. Diese flohen als Staatsangehörige der Habs-
der Ausgrenzung von Menschen und Spaltung der                burgermonarchie in die mittellose und hungernde
Gesellschaft.                                                Republik Deutschösterreich. Laut Schätzung waren
    Eine Beschäftigung mit diesem Ausnahmepoli-              Ende 1918 rund 28.000 „ostjüdische“ Geflüchtete
tiker wird weiterhin jenseits von Verdammung und             in Wien. Sie wurden politischer Spielball und Op-
Hagiografie notwendig sein. Für die Existenz der             fer antisemitischer Hetze. Die politischen Forde-
demokratischen Republik 1918 und ihre Wiederer-              rungen überschlugen sich in ihrer Radikalität.
richtung im Jahr 1945 ist er federführend verant-                Der sozialdemokratische Landeshauptmann
wortlich, somit auch für ihre Verdienste und ihre            von Niederösterreich, Albert Sever, forderte im
Mängel. Daher gilt es, die große Lebensleistung              September 1919 per Erlass alle Personen, die
Karl Renners zu würdigen und sich den vorhande-              nicht „in einer Gemeinde Deutschösterreichs hei-
nen Schatten zu stellen.                                     matberechtigt“ seien, auf, das Land zu verlassen.
                                                             Massiver Ressourcenmangel und Widerstand der
Erster Weltkrieg, „ostjüdische“ Flüchtlin-                   Siegermächte verhinderten dieses Ansinnen, das
ge und antisemitische Mobilisierung                          Sever kurz danach als politischen Fehler bedauer-
Ein entscheidender Höhepunkt des österreichi-                te. Die parlamentarische Forderung von Leopold
schen Antisemitismus begann sich im Ersten                   Kunschak (CSP), für jene „Juden“, die das Land
Weltkrieg aufzubauen. Die rücksichtslose Kriegs-             nicht freiwillig verlassen wollen, „Konzentrationsla-

                                                                              Der Journalist Bruno Frei war Mitglied
                                                                              der SDAP und bekannt für seine aufrüt-
                                                                              telnden Sozialreportagen. Das jüdische
                                                                              Flüchtlingselend in Wien beschrieb er in
                                                                              einer 1920 erschienen Broschüre. (Samm-
                                                                              lung M. Rosecker)

                                                                              Das Thema der „ostjüdischen“ Flücht-
                                                                              linge mobilisierte und radikalisierte die
                                                                              Ressentiments in der schweren Versor-
                                                                              gungs- und Wohnungskrise nach dem
                                                                              Krieg. Bei der Nationalratswahl 1920
                                                                              wurde das Thema wahlentscheidend ge-
                                                                              gen die SDAP eingesetzt. Das Feindbild
                                                                              „Ostjude“ blieb Jahrzehnte erhalten.
                                                                              Das Plakat rief 1923 zur antisemitischen
                                                                              Massenversammlung auf. (DÖW)

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Karl-Renner-Museum

ger“ zu schaffen, radikalisierte ebenso die Debat-         men. Über den Umweg München, Hamburg und
te. All das fiel im Zuge der Friedensverhandlungen         New York kehrte er 1910 nach Wien zurück. Er war
von Saint-Germain-en-Laye im Jahr 1919 mit der             als Romanautor, Journalist und Herausgeber tätig.
Auseinandersetzung um das Staatsbürgerschafts-             Einige seiner Romane wurden Bestseller und zwei
recht der Republik zusammen. Im Friedensvertrag            davon verfilmt: „Die Stadt ohne Juden“ und „Die
wurde das französische Wort „race“ (= Nationa-             freudlose Gasse“. Ersterer führte mit seiner Vision
lität als Staatsangehörigkeit) mit dem deutschen           eines Wiens ohne Juden zu heftigen Anfeindun-
Wort „Rasse“ übersetzt, was zu dieser Zeit bereits         gen durch deutschvölkische und christliche Kreise.
vorwiegend biologistisch/rassistisch verstanden            Ebenso kämpfte er mit mehreren von ihm heraus-
wurde. Artikel 80 legte fest, dass Personen für die        gegebenen Zeitschriften für die Emanzipation von
Staatsbürgerschaft eines Nachfolgestaates der              Frauen und die freie Sexualität. Diese machten ihn
Monarchie „optieren“ können, wenn sie „die glei-           endgültig zum antisemitischen Hassobjekt. Der
che Sprache sprechen und derselben Rasse zuge-             arbeitslose Zahntechniker Otto Rothstock fügte
hören“ wie die Bevölkerungsmehrheit. Das wurde             Bettauer am 10. März 1925 fünf Schussverletzun-
juristisch gegen jüdische Optierende verwendet.            gen zu, an deren Folgen er Tage später starb. Der
Sie gehörten demnach nicht zur „deutschen Ras-             Mörder verbrachte acht Monate in einer Nerven-
se“. Im Urteil stand: „Sie [= die „Rasse] ist eine         heilanstalt und war dann frei.
ihm angestammte, ihm inhärente, durch physische
und psychische Momente bestimmte und charak-               Robert Stricker – Zionist und Opfer der
terisierte Eigenart dauernden Charakters, ein ihm          Shoah
anhaftender Zustand, der nicht willkürlich abge-
                                                           Stricker war der Sohn von Israel und Florentina
legt und nicht nach belieben verändert werden
                                                           Stricker. Er besuchte die technische Hochschule in
kann“(OG-Urteil: 9.6.1921).
                                                           Brünn und trat in den Dienst der k.k. österr. Staats-
                                                           bahnen. Als Anhänger Theodor Herzls Zionismus
Hugo Bettauer – Opfer der Engstirnigkeit                   gab er bereits als Student die Jüdische Volksstim-
Bettauer wuchs in einer wohlhabenden jüdischen             me heraus und begründete 1896 die jüdisch-nati-
Familie auf und konvertierte 1890 zum evange-              onale Studentenverbindung Veritas zu Brünn.
lischen Glauben. Zunächst zog er in die Schweiz                Für die 1892 in Lemberg gegründete Jüdische
und wanderte in die USA aus. Als US-Staatsbürger           Nationale Partei errang er bei der Wahl zur Kon-
ging er 1899 nach Berlin und wurde Journalist. Als         stituierenden Nationalversammlung der Republik
Aufdecker von Skandalen machte er sich einen Na-           Deutschösterreich 1919 ein Mandat. Als Abgeord-

                                                                                     Links außen: Robert Stricker
                                                                                     (1879–1944) war auch Redak-
                                                                                     teur der Jüdischen Zeitung,
                                                                                     1919 bis 1927 war er Chefre-
                                                                                     dakteur und Mitherausgeber
                                                                                     der wöchentlich erscheinen-
                                                                                     den zionistischen Wiener Mor-
                                                                                     genzeitung und gab anschlie-
                                                                                     ßend die Zeitschrift Die Neue
                                                                                     Welt. (ÖNB)

                                                                                     Links: Hugo Bettauer (1872–
                                                                                     1925) trat als Herausgeber
                                                                                     mehrerer Zeitschriften auf.
                                                                                     Darin setzte er sich für freie
                                                                                     Sexualität und die Emanzipa-
                                                                                     tion der Frau ein: „Er und Sie.
                                                                                     Wochenschrift für Lebenskultur
                                                                                     und Erotik“ und „Bettauers
                                                                                     Wochenschrift“. (Das Interes-
                                                                                     sante Blatt)

                                                      12
Der österreichische Antisemitismus

neter vertrat er die Ansicht, dass die österreichi-        seien zu unterstützen. Ebenso sei er gut für die
schen Juden und Jüdinnen als eigene „Nation“ an-           „Fremdenindustrie“ (Wiener Zeitung, 9.8.1925).
erkannt und bei Volkszählungen als solche erfasst          Die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung
werden sollten. Sein diesbezüglicher (abgelehnter)         stand dem Kongress skeptisch gegenüber. Der
Antrag im Parlament im Oktober 1919 fand An-               „Volkstag“ wurde zunächst untersagt. Dennoch
klang bei den Antisemiten, da sie das Einfallstor          kam es trotz massivem Polizeiaufgebots am
für „legale“ Segregation darin erkannten. Strickers        Tag vor dem Kongress und am Eröffnungstag
Plan, alle „jüdischen Volksgenossen“ in einer „Jü-         zu antisemitischen Großdemonstrationen mit
dischen Volkspartei“ zu vereinen, scheiterte, da           Ausschreitungen der „deutschen und christli-
viele trotz Sympathien für den Zionismus andere            chen Verbände“ und einer Bombendrohung.
Parteien, vor allem die SDAP wählten. Nach dem             Es folgten Massenverhaftungen. Am 22. August
„Anschluss“ wurde Stricker im März 1938 verhaftet          fand dann eine behördlich genehmigte antise-
und 1944 in Auschwitz ermordet.                            mitische Demonstration ohne Ausschreitungen
                                                           statt.
Der Zionistenkongress 1925
                                                           Der Antisemitismus und die österreichi-
In Wien fand 1925 zum zweiten Mal ein Zionis-
                                                           schen Universitäten – „Ehrwürdige“
tenkongress statt. Im Gegensatz zum ersten im
                                                           Bildungsstätten oder judenfeindliche
Jahr 1913 führte dieser zu einer massiven anti-
                                                           „Hölle“?
semitischen Bewegung. Der 1923 gegründete
„Völkisch-antisemitische Kampfausschuss“, dem              Aus dem akademischen Milieu und den Univer-
u.a. der Antisemitenbund, der Deutsche Tur-                sitäten kamen schon im 19. Jahrhundert Forde-
nerbund, der Alldeutsche Verband, aber auch                rungen nach diskriminierenden Schritten gegen
die christlichsoziale „Reichspost“ und die nati-           Jüdinnen und Juden. Die Burschenschaften und
onalsozialistische „Deutschösterreichische Ta-             Teile des universitären Lehrkörpers bildeten da-
geszeitung“ angehörten, wollte ihn verhindern              bei die Speerspitzen. Die Studentenschaft und
und rief zu einem „Deutschen Volkstag“ auf.                weite Teile des akademischen Milieus radikali-
Die Regierungskoalition zwischen Christlichso-             sierten sich in der Ersten Republik in Folge der
zialen und Großdeutschen genehmigte jedoch                 wirtschaftlichen und politischen Veränderungen,
den Kongress mit dem Hinweis, das zionistische             die mit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der
Ziel der eigenen nationalen „Heimstätte“ in Pa-            Habsburgermonarchie auftraten. Grenzverschie-
lästina und somit die jüdische Auswanderung                bungen und Migrationsbewegungen schufen

                                                                                 Der Deutsche Klub residierte von
                                                                                 1923 bis 1939 im Leopoldini-
                                                                                 schen Trakt der Wiener Hofburg.
                                                                                 Der Ort entsprach dem elitären
                                                                                 Selbstverständnis des Vereins.
                                                                                 (Bildarchiv Foto Marburg)

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Karl-Renner-Museum

zudem neue wirtschaftliche und gesellschaftli-           „Feinde des angestammten Volkes“ (Jüdinnen
che Verhältnisse und beförderten den Konkur-             und Juden, Liberale und „Rote“) zu vertreiben.
renzdruck, der durch die Wirtschaftskrise noch           Der wachsenden Zahl jüdischer Studierender seit
zusätzlich erhöht wurde. Der Abbau alter bzw.            den 1870er-Jahren folgten unter dem Vorwand
Aufbau neuer politischer und nationaler Eliten           der „Überfremdung“ der „deutsch-christlichen“
brachte eine Unsicherheit am akademischen Ar-            Hochschulen Debatten über deren Ausschluss
beitsmarkt mit sich, die viele durch die steigen-        oder Begrenzung (Numerus clausus oder Nume-
de Arbeitslosigkeit zu spüren bekamen (Regina            rus nullus). An der Universität Wien scheiterten
Fritz). All das führte dazu, dass das politische         solche Forderungen an deren Rechtswidrigkeit.
Klima an den österreichischen Hochschulen der            Erst im April 1938 wurde eine Zwei-Prozent-
Zwischenkriegszeit von Diskriminierung und Ge-           Grenze für Jüdinnen und Juden festgelegt.
walt gegen jüdische und linke Universitätsange-
hörige geprägt war. Bruno Kreisky beschrieb sei-         Die Bärenhöhle
ne Studienzeit in Wien in seiner Autobiografie,
                                                         An der Frage, wie die Anzahl jüdischer Studie-
als „schlicht und einfach eine Hölle“.
                                                         render und Lehrender beschränkt werden könn-
   Für Wissenschaftler:innen jüdischer Herkunft
                                                         te, entzündete sich die antisemitische Hetze an
wurde es ab den 1920er-Jahren fast unmöglich,
                                                         den Universitäten bereits ab den 1870er-Jahren.
eine Professur zu erlangen. Völkische und auch
                                                         Die Forderung nach einer Quote mit max. 10 Pro-
katholisch-nationale Studenten veranstalteten
                                                         zent für studierende Jüdinnen und Juden wurde
regelmäßig pogromartige Gewaltexzesse ge-
                                                         erhoben. Diese widersprach jedoch klar dem von
gen ihre jüdischen Kommiliton:innen. Maßgebli-
                                                         der Verfassung der Republik garantierten Gleich-
chen Anteil an diesen Entwicklungen hatten u.a.
                                                         heitsgrundsatz und konnte nur für Ausländer:innen
das 1923 gegründete „Kulturamt der Deutschen
                                                         durchgesetzt werden.
Studentenschaft“ und das 1924 ins Leben ge-
rufene „Institut zur Pflege deutschen Wissens“.             Um die Anzahl von Lehrenden zu beschränken,
Beide Organisationen waren Plattformen für               wurden informelle geheime Zirkel gegründet. Eine
die Vernetzung rechtsgerichteter männlicher              dieser antisemitischen männlichen Seilschaften an
bürgerlicher Eliten und die Durchsetzung de-             der Philosophischen Fakultät war die so genann-
ren Interessen. Gegenseitige Förderung durch             te „Bärenhöhle“ (BH). Dieses Netzwerk umfasste
Publikationen, Vorträge, Arbeitsstellen und For-         18 Universitätsprofessoren. Interne Absprachen,
schungsaufträge auf der einen und Diskrimi-              Intrigen und Denunziationen dieser Clique ver-
nierung, Gewaltanwendung und Denunziation                hinderten unzählige wissenschaftliche Karrieren
auf der anderen Seite waren die Mittel, um die           von jüdischen, sozialdemokratischen und libera-

                                                                    Der Seminarraum für Paläontologie an der
                                                                    Universität Wien war namengebend für dieses
                                                                    antisemitische Netzwerk, um 1928.
                                                                    (Wikimedia Commons)

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Der österreichische Antisemitismus

len Wissenschaftler:innen. Die Etablierung inno-           marxismus“ die Verantwortung zugeschoben:
vativer Forschungsansätze wurde dadurch unter-             „Jüdische Philosophie“ habe an einer „christlich-
bunden. Einige Wissenschaftler:innen wurden in             deutschen Hochschule“ nichts verloren.
die Emigration gedrängt. Die Karrieren von An-
tisemiten wurden hingegen systematisch geför-              Jüdische Strategien gegen den Antisemi-
dert. Einige Vertreter der Bärenhöhle kamen nach           tismus
1945 erneut in führende universitäre Positionen
                                                           Die unterschiedlichen jüdischen Gruppierun-
und hintertrieben oftmals die Rückkehr jüdischer
                                                           gen entwickelten verschiedene Gegenstrategi-
Wissenschaftler:innen.
                                                           en zum Antisemitismus. Die liberale Vereinigung
                                                           „Deutschösterreichischer Juden“, die bis 1932
Moritz Schlick Opfer des „Irrationalen“                    die Israelitische Kultusgemeinde dominierte, ver-
Schlick wurde protestantisch getauft und hatte kei-        trat die Ansicht, dass die Anfeindungen verschwin-
ne jüdischen Vorfahren. Er studierte Mathematik            den würden, wenn Jüdinnen und Juden kulturell
und Naturwissenschaften in Berlin, Heidelberg und          und wirtschaftlich völlig in der österreichischen
Lausanne. 1922 übernahm er den Lehrstuhl für Na-           Gesellschaft integriert sein würden. Sie gingen
turphilosophie an der Universität Wien. 1924 grün-         u.a. juristisch gegen Diskriminierungen und Ver-
dete er den interdisziplinären Diskussionszirkel,          hetzung vor und setzen auf öffentliche Aufklä-
der als Wiener Kreis in die Philosophiegeschichte          rung. Ähnlich sahen dies auch jene Jüdinnen und
einging und bald Hochburg des logischen Empiris-           Juden, die in der politischen Linken aktiv waren.
mus wurde. Dessen Orientierung an den Naturwis-            Mit dem Sozialismus würde der Antisemitismus
senschaften und der damit verbundene Anspruch              verschwinden. Die Befreiung der Menschen aus
an Rationalität in der Philosophie wurden bald zum         den Fesseln der kapitalistischen Unfreiheit, werde
Feindbild für die antisemitischen reaktionären und         den Judenhass obsolet machen. Für Zionist:innen
völkischen Kräfte an der Universität Wien. Moritz          war der „Zusammenschluss aller Juden“ in einer
Schlick wurde am 22. Juni 1936 in der Universität          eigenen autonomen Nation die Möglichkeit, den
von seinem ehemaligen Studenten Hans Nelböck               Antisemitismus kraftvoll zu bekämpfen. Für ortho-
erschossen. Als Motiv gab dieser an, dass er we-           doxe Gläubige war der weitgehende Rückzug aus
gen Schlicks antimetaphysischer Philosophie alle           der österreichischen Gesellschaft eine Möglich-
„religiösen Überzeugungen und überhaupt jeden              keit, Konflikte zu dämpfen und sich Respekt durch
Halt verloren“ habe. In der öffentlichen Debatte           Strenggläubigkeit zu erarbeiten. Die alle ideologi-
wurde durch aktive Schuldumkehr dem Opfer als              schen, religiösen und klassenspezifischen Grenzen
„gehätschelte[m] Hausphilosoph[en] des Austro-             übersteigende geforderte Einheit aller Jüdinnen

                                                                                 Innen: Oswald Menghin (1888–
                                                                                 1973) war Professor für Ur- und
                                                                                 Frühgeschichte. Er war ein Brü-
                                                                                 ckenbauer zwischen katholisch-
                                                                                 konservativem und deutschnatio-
                                                                                 nalem bzw. nationalsozialistischem
                                                                                 Lager. Am 11. März 1938 wurde er
                                                                                 Unterrichtsminister und führte u.a.
                                                                                 die judenfeindliche Zwei-Prozent-
                                                                                 Grenze ein. 1945 kam er in ein
                                                                                 US-Internierungslager aus dem er
                                                                                 in ein US-Internierungslager aus
                                                                                 dem er 1948 nach Argentinien floh.
                                                                                 (ÖNB)

                                                                                 Moritz Schlicks (1882–1936) im
                                                                                 Jahr 1930. Sein Mörder musste von
                                                                                 seiner 10-jährigen Kerkerstrafe le-
                                                                                 diglich zwei Jahre absitzen. (Archiv
                                                                                 der Universität Wien)

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