Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ

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Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch       Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

A. Rainer Jordan, Nicolas Frenzel Baudisch

Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

  INDIZES
  Parodontologie, Prävention, Primärprävention, Sekundärprävention

  ZUSAMMENFASSUNG
  Der Aufsatz hat zum Ziel, auf Probleme bei der Verwendung des Präventionsbegriffs hinzuweisen
  und ihn für die Anwendung in der Parodontologie zu schärfen. Der Artikel gliedert sich in drei
  inhaltliche Teile: Der erste untersucht den Begriff der Prävention grundlegend und geht auf seine
  unterschiedlichen Implikationen ein. Der zweite Abschnitt thematisiert gängige Probleme, die
  allgemein im Umfeld von Präventionsmaßnahmen auftreten. Der letzte Abschnitt widmet sich der
  Anwendung des Präventionsbegriffs eingedenk seiner Probleme auf das Gebiet der Parodontologie
  und ordnet parodontale Maßnahmen in das Präventionsschema ein.

  Manuskripteingang: 06.11.2019, Annahme: 02.12.2019

Einleitung                                           ene und (Volks-)Gesundheit wurde der Begriff der
                                                     „Krankheitsprävention“ eingeführt, heute meist
In der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand die       verkürzt Prävention genannt.
Subdisziplin der Sozialmedizin. Industrialisierung       Der Begriff Prävention leitet sich vom Lateini-
und Bevölkerungswachstum hatten massenhaft           schen (praevenire = zuvorkommen) ab. Aus dem
ähnliche Arbeits- und Lebensbedingungen ge-          Griechischen konkurriert der Begriff der Prophy­
schaffen. Unter den Menschen, die unter diesen       laxe (prophylaxis = von vornherein ausschließen).
Voraussetzungen arbeiteten und lebten, grassier-     Vor allem in der Zahnmedizin wird der Begriff der
ten (Volks-)Krankheiten. Es ist das Verdienst der    Prävention vornehmlich für das Fachgebiet be-
Sozialmedizin, eben diese Lebens- und Arbeitsbe-     nutzt, während der Begriff Prophylaxe meist für
dingungen für das ätiopathogenetische Verständ-      konkrete, diesbezügliche Tätigkeiten (z. B. Indivi­
nis vieler Erkrankungen verstärkt ins Zentrum der    dual­prophylaxe) verwendet wird.
Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Zu diesem               Der Aufsatz hat zum Ziel, auf Probleme bei der
Zeitpunkt hatten sich die Erkenntnisse verdichtet,   Verwendung des Präventionsbegriffs hinzuweisen
dass unzureichende hygienische Lebensbedingun-       und ihn für die Anwendung in der Parodontologie
gen und belastende Arbeitsbedingungen zu den         zu schärfen. Dies erfolgt in den drei folgenden
beeinflussenden Faktoren einer eingeschränkten       Abschnitten: Der erste Abschnitt untersucht den
Lebensqualität und sogar Lebensdauer zählen.         Begriff der Prävention grundlegend und geht auf
Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen        seine unterschiedlichen Implikationen ein. Der fol-
Erkenntnisse und dem Diskurs über (soziale) Hygi-    gende Abschnitt thematisiert gängige Probleme,

Parodontologie 2020;31(1):7–17                                                                                    7
Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch   Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

                die allgemein im Umfeld von Präventionsmaßnah-        zierung zwischen Prävention und Gesundheitsför-
                men auftreten. Der letzte Abschnitt widmet sich       derung auch im hiesigen Kontext ihre Berechtigung
                der Anwendung des Präventionsbegriffs einge-          hat, so werden beide Begriffe beispielsweise im
                denk seiner Probleme auf die Parodontologie.          angelsächsischen Sprachraum oft synonym ver-
                                                                      wendet oder zumindest ohne Abgrenzung im
                                                                      gleichen Atemzug genannt4,5. Aus Platzgründen
                                                                      beschränken wir uns hier auf den Begriff der Prä-
                Der Begriff der Prävention                            vention und müssen eine umfassendere Berück-
                                                                      sichtigung von salutogenetischen Einsichten vor-
                Begriffliche Klärungen sind unersetzlich für kon-     erst schuldig bleiben.
                zeptuelles Arbeiten. Nichtsdestoweniger ist das           Um die verschiedenen Stufen von Prävention
                Definieren und Analysieren von Begriffen kein         besser nachvollziehen zu können, kann es hilfreich
                Selbstzweck und erscheint nur dann gerechtfer-        sein, zwischen der subjektiven Wahrnehmung der
                tigt, wenn damit ein Erkenntnisgewinn verbunden       präventionsadressierten Person mit ihrer wahrge-
                ist. Bevor jedoch auf ihre Probleme eingegangen       nommenen Gesundheitsstörung auf der einen
                werden kann, sind die Begriffe zunächst einzufüh-     Seite und der professionellen Diagnostik einer
                ren. Der Abschnitt beginnt mit der wohl bekann-       Krankheit auf der anderen Seite zu unterscheiden.
                testen Einteilung von Präventionsmaßnahmen.           Das Englische bietet hierfür zwei Begriffe: den
                                                                      der „disease“ für eine Krankheit gemäß schulme-
                                                                      dizinischer Definition mit festgelegten Diagnose-
                Primär- bis Quartärprävention
                                                                      kriterien und den der „illness“ für eine Krankheit
                Aufgrund der historischen Entwicklung im Zusam-       gemäß dem subjektiven Empfinden des Betroffe-
                menhang mit der Industrialisierung orientierte sich   nen. Fühlt sich ein Mensch krank und geht dar-
                Prävention lange Zeit am biomedizinisch-natur-        aufhin zum Arzt, ließe sich dies vereinfacht um-
                wissenschaftlichen Krankheitsmodell mit der Aus-      schreiben als „a patient enters the clinic with an
                richtung an Risikofaktoren und der Pathogenese,       illness and leaves with a disease“6. Die gängige
                auf deren Vermeidung Prävention ursprünglich          Klassifikation kann so folgendermaßen charakteri-
                fokussierte. Das Ziel der Reduktion von Neuer-        siert werden:
                krankungen (Inzidenzen) fassen wir heute unter
                Primärprävention bzw. im Falle der Vermeidung           Primäre Prävention (Vorsorge)
                von Risikofaktoren als Primordialprävention zu-         Ziel: Verringerung der Inzidenz von Krank-
                sammen.                                                 heiten
                    Im Verlauf des 20. Jahrhunderts setzte sich zu-     Bedingung:
                nehmend die Erkenntnis durch, dass sich viele           •• subjektiv: keine wahrgenommene Ge-
                Krankheiten meist nicht einfach mechanistisch               sundheitsstörung vorhanden (no illness)
                durch eine Elimination bekannter Risikofaktoren         •• professionell: keine Krankheit (Diagnose)
                verhindern lassen und Risikofaktoren oft nicht pa-          vorhanden (no disease)
                ternalistisch eliminierbar sind. Daraufhin erfolgte     Zeitpunkt: vor Eintritt einer Krankheit
                eine Ausdifferenzierung der Präventionsidee ent-        Adressaten: Gesunde
                lang der Progredienz bzw. der Zeitachse der Er-         Einfaches Beispiel: Impfung (Abb. 1)
                krankungen1. Damit wurde Prävention auch in
                Richtung biopsychosoziales Krankheitsmodell und
                Salutogenese geöffnet2. In diesem Zusammen-           Als Sonderfall der Primärprävention kann die pri-
                hang fand auch der Begriff der Gesundheits­           mordiale Prävention angesehen werden, in der es
                förderung Eingang in den Public-Health-Diskurs        speziell darum geht, dem Auftreten von Risikofak-
                (vgl. die Ottawa-Charta der Weltgesundheit­           toren vorzubeugen.
                sorganisation, WHO3). Auch wenn die Differen-

8                                                                                         Parodontologie 2020;31(1):7–17
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Abb. 1 Impfungen als Beispiel für primäre Prävention      Abb. 2 Screening-Untersuchung als Beispiel für sekun­däre
(Bildquelle: Andreas Morlok; pixelio.de).                 Prä­vention (Bildquelle: Rainer Sturm; pixelio.de).

   Sekundäre Prävention (Früherkennung und                   Tertiäre Prävention (Nachsorge)
   Frühbehandlung)                                           Ziel: Verhinderung von Folgeschäden von
   Ziel: Senkung der Prävalenz von Krankheiten               Krankheiten oder des Wiederauftretens von
   Bedingung:                                                Krankheiten
   •• subjektiv: keine wahrgenommene Ge-                     Bedingung:
       sundheitsstörung vorhanden (no illness)               •• subjektiv: wahrgenommene Gesundheits­
   •• professionell: Krankheit wird (durch Dia-                  störung vorhanden (illness)
       gnose) entdeckt (disease)                             •• professionell: Krankheit manifest (bereits
   Zeitpunkt: im (zunächst unbemerkten) Früh-                    diagnostiziert und therapiert; disease)
   stadium einer Krankheit                                   Zeitpunkt: nach Manifestation und/oder
   Adressaten: Klienten, (die sich zwar gesund/              (Akut-)Therapie der Krankheit
   symptomlos fühlen) die durch diagnostische                Adressaten: Patienten
   Maßnahmen (z. B. Früherkennung durch                      Einfaches Beispiel: Rehabilitation (Abb. 3)
   Screening) jedoch zu Patienten werden
   Einfaches Beispiel: Screening (Abb. 2)
                                                          Die Entwicklung der Versorgungsforschung in
                                                          der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet
Problematisch im Sinne einer überschneidungsfreien        sich schließlich den tatsächlichen Zuständen und
Abgrenzung wird die Idee der tertiären Prävention,        (Therapie-)Ergebnissen in der Patientenversorgung
die erst dann einsetzt, wenn die Krankheit bereits        und löst sich von dem Gedanken, aus in der Rea-
manifest ist, und der man insofern nicht mehr zuvor-      lität nicht vorkommenden Forschungssettings auf
kommen (praevenire) kann. Eine exakte Differenzie-        den Versorgungsalltag zu schließen. Damit kamen
rung zwischen tertiärer Prävention, Therapie und          zwangsläufig auch Fragen der Über-, Unter- und
Palliation erscheint nicht immer trennscharf möglich      Fehlversorgung aufs kritische Tableau der Wissen-
und damit ist auch der Nutzen des Begriffs an sich        schaft. In diesem Sinne kann der Gedanke der
fraglich7. Dies gilt auch für die Abgrenzung zur Se-      quartären Prävention verstanden werden8, der
kundärprävention (siehe unten das Beispiel der un-        sich auf das grundlegende hippokratische Prinzip
terstützenden Parodontitis-Therapie [UPT] unter           des „primum nil nocere“ rückbesinnt: Denkt man
dem Abschnitt„Der parodontale Präventionsweg“).           die Unterscheidung von „illness“ und „disease“
Bei Differenzierung der Bedingungen für die einzel-       konsequent weiter, komplettiert die quartäre Prä-
nen Präventionsstufen zwischen subjektiver Krank-         vention eine Präventions-Vierfeldertafel (Abb. 4):
heitswahrnehmung und professioneller Krankheits-          Die quartäre Prävention ist auf der Zeitachse nach
diagnose fällt die Abgrenzung – zumindest in              der tertiären Prävention zu verorten und besteht
Richtung Sekundärprävention – jedoch leichter.            in der Verhinderung von medizinisch unnötigen

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                                                                                                 Brücke bei stabilem Zahnstand, angesichts der kli-
                                                                                                 nischen Situation in der Mundhöhle zu hohe Fre-
                                                                                                 quenz an Zahnarztbesuchen. Maßnahmen, die die
                                                                                                 Vermeidung dieser Formen von Überdiagnostik
                                                                                                 und -therapie zum Ziel haben und somit der quar-
                                                                                                 tären Prävention zugeordnet werden könnten,
                                                                                                 sind bislang ungleich schwerer zu finden. Im wei-
                                                                                                 teren Sinne könnten zahnmedizinische Leitlinien
                                                                                                 als solche Maßnahmen aufgefasst werden: Sie
                                                                                                 geben vor, welche Behandlungsschritte bei einer
                Abb. 3 Reha-Sport als Beispiel für tertiäre Prävention
                (Bildquelle: SilviaJansen; iStockphoto.com).                                     gegebenen Erkrankung aus wissenschaftlich-
                                                                                                 medizinischer Sicht angemessen sind – und lassen
                                                                                                 unangemessene Maßnahmen außen vor.

                Maßnahmen als Ergebnis einer übertriebenen Be-
                handlung oder Nachsorge. Wird bei der medizini-                                     Quartäre Prävention (Folgenvorsorge)
                schen Versorgung einer Erkrankung über das Ziel                                     Ziel: Vermeidung von Überdiagnostik und
                hinausgeschossen, handelt es sich um Überversor-                                    Übertherapie von Krankheiten
                gung – Beispiele wären entweder eine Therapie                                       Bedingung:
                mit erheblichen Nebenwirkungen und fragwürdi-                                       •• subjektiv: wahrgenommene Gesundheits­
                gem Nutzen oder auch eine den Bedarf übertref-                                          störung vorhanden (illness)
                fende Arztdichte in einer Region. Dehnt sich die                                    •• professionell: keine rechtfertigende In­
                medizinische Versorgung hingegen auf einen Be-                                          dikation vorhanden bzw. keine Folge­
                reich aus, auf den sie sich vormals nicht erstreckte,                                   erkrankung vorhanden (no disease)
                spricht man von Medikalisierung – als Beispiel                                      Zeitpunkt: vor Eintritt einer Folgeerkrankung
                kann hier die immer umfassendere medizinische                                       Adressaten: Patienten
                Betreuung von Schwangeren dienen. Auch in der                                       Einfaches Beispiel: eine Leitlinie, die Über-
                Zahnmedizin lassen sich hierfür Beispiele finden:                                   therapie zumindest erschwert
                Wurzelkaries, ästhetische zahnärztliche Dienstleis-

                                                                           Arztsicht: Krankheit/disease

                                                                     absent                           präsent
                 Gesundheitsstörung/illness

                                                                                               Sekundäre Prävention
                                              absent

                                                               Primäre Prävention               (Früherkennung und
                                                                   (Vorsorge)                     Frühbehandlung)
                      Patientensicht:

                                                                                                                           Abb. 4 Vierfeldertafel zur
                                                                                                                           Einsortierung der quartären
                                              präsent

                                                               Quartäre Prävention              Tertiäre Prävention        Prävention (in den blauen
                                                                (Folgenvorsorge)                   (Nachsorge)             Feldern ist der Kontakt mit
                                                                                                                           medizinischem Fachpersonal
                                                                                                                           notwendig) (modifiziert nach
                                                                                                                           Jamoulle8).

10                                                                                                                    Parodontologie 2020;31(1):7–17
Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch       Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

Weitere Gliederungsmöglichkeiten von                      gleichzeitig die gesellschaftlichen Verhältnisse
Präventionsmaßnahmen                                      beeinflussen;
                                                       •• ökonomische Anreiz- und Bestrafungssysteme
Prävention kann auch entlang von Zielgruppen              mit ähnlicher Ausrichtung wie normativ-regu-
klassifiziert werden:                                     latorische Maßnahmen.
•• universale Prävention richtet sich auf die
    Gesamt­bevölkerung mit dem Ziel allgemeiner
    Prophylaxe;
•• selektive Prävention richtet sich auf Risiko-       Probleme im Zusammenhang mit
    gruppen mit speziellen Risikofaktoren;             Prävention
•• indizierte Prävention richtet sich an Hoch­
    risikogruppen, die bereits Vorstufen der Er-       Komplexe Konzepte wie das der Prävention brin-
    krankung aufweisen.                                gen es mit sich, dass sie an sich verändernde Um-
                                                       stände angepasst werden müssen. Zudem kann
Es sind zudem zwei grundsätzliche Ansätze zu un-       ihre praktische Umsetzung unerwünschte Folgen
terscheiden: Maßnahmen der Verhaltenspräven-           zeitigen, die zu berücksichtigen sind. Oder die An-
tion und Maßnahmen der Verhältnisprävention.           wendung auf einen neuen Kontext wirft Wider-
Die Verhaltensprävention bezieht sich unmittelbar      sprüche auf, die für eine reibungslose Implemen-
auf den einzelnen Menschen und dessen individu-        tierung der Maßnahmen aufgelöst werden sollten.
elles Gesundheitsverhalten. Die Verhältnispräven-
tion hingegen berücksichtigt unter anderem die
                                                       „Den Risikofaktoren flussaufwärts das
Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Dazu zählen bei-
                                                       Wasser abgraben“
spielsweise die Wohnumgebung und auch andere
Faktoren, welche die Gesundheit beeinflussen           Aus der aktuellen Fünften Deutschen Mundge-
können, so etwa das Einkommen und die Bildung.         sundheitsstudie (DMS V) ist bekannt, dass die bei-
Die Einführung der Anschnallpflicht für Autofah-       den chronischen Haupterkrankungen in der Zahn-
rer in Deutschland im Jahr 1984 ist ein Beispiel für   medizin, Karies und Parodontitis, einem generellen
Verhaltensprävention, wohingegen die Ausstat-          Trend der Morbiditätskompression unterlie-
tung eines Autos mit Airbags eine Maßnahme der         gen10,11. Seit mehreren Jahrzehnten verschiebt
Verhältnisprävention darstellt: In einem Fall wird     sich die Initiation parodontaler Erkrankungsfälle
der Anwender zu einem konkreten Verhalten an-          im Lebens­bogen weiter nach hinten12 (Abb. 5).
gehalten, im anderen Fall verändern sich die Um-       Bedingt durch den demografischen Wandel, der
gebungsverhältnisse des Autofahrers ohne sein          mit einer weiter steigenden Lebenserwartung ge-
eigenes Zutun.                                         nauso verbunden ist wie mit der Zunahme multi-
    Methodisch kann man unterschiedliche Wege          morbider Menschen, die länger krank sind, ist mit
beschreiten, eine Präventionsmaßnahme auszu-           einer weiteren Verstärkung der Morbiditätskom-
gestalten. Entsprechend ihrer Vorgehensweise las-      pression in der Zahnmedizin zu rechnen, sodass
sen sich unterscheiden9:                               sich die Therapiebedarfe auch zukünftig zeitlich
•• edukative Verfahren – hierbei können psycho-        weiter nach hinten verschieben werden und die Prä­
    edukative Verfahren, die eine Änderung des         ventionsspanne entsprechend länger wird. Durch
    Verhaltens bewirken sollen, unterschieden          den erheblichen medizinischen Fortschritt kommt
    werden von sozio-edukativen Verfahren, die         es außerdem zu einem grundlegenden Krank-
    auf Änderungen der (Lebens-)Verhältnisse           heitswandel, der durch weniger vermeidbare
    abziel­en;                                         beziehungsweise heilbare Infektionskrankheiten
•• normativ-regulatorische Maßnahmen zielen            cha­rakterisiert ist und stattdessen mehr chronisch-
    durch Gebote und Verbote auf eine individu-        degenerative Erkrankungen mit sich bringt13. Sie
    elle Verhaltensänderung ab und sollen dadurch      sind zwar häufig nicht heilbar, dafür aber oftmals

Parodontologie 2020;31(1):7–17                                                                                     11
Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch                              Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

                                                  40       1997                                                                        2030
                                                           2005

                  Kumulative Parodontitis-Fälle
                                                           2014                                                                        2025
                                                  30
                          in Millionen                                                                                                 2020

                                                                                                                                       2015
                                                  20
                                                                                                                                       2010

                                                  10                                                                                   2005

                                                                                                                                       2000
                                                   0
                                                   10         20       30      40          50         60     70         80       90+
                                                                                    Alter (in Jahren)

                Abb. 5 Erwartete kumulative Parodontitis-Fälle in Deutschland (in Millionen) bis 2030.

                verhaltensbedingt und beeinflusst über Ernährung                             sundheitssystems) und es geht weniger auf den
                (Übergewicht), Lebensstil (Sport, Alkohol, Rau-                              Adressaten zu. Zum anderen kommt es zu
                chen) und Arbeitsbedingungen (langes Sitzen,                                 Matthäus-Effekten, wenn Menschen mit höherem
                schwere körperliche Tätigkeit). Diese Vorausset-                             sozioökonomischem Status im Allgemeinen am
                zungen prädestinieren für sogenannte Upstream-                               meisten von Präventionsmaßnahmen profitieren.
                Präventionsmaßnahmen, die hier versprechen,                                  Letzterer Umstand wird auch als Präventions­
                effizienter zu sein, weil sie früher einsetzen und                           dilemma bezeichnet14. Die Schwierigkeiten bei
                weniger aufwändige Maßnahmen umfassen als                                    der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen
                die zu einem späteren Zeitpunkt ansetzenden                                  können aber auch bereits auf begrifflicher Ebene
                Kurations- und Therapiemaßnahmen oder gar                                    beginnen.
                Palliationsmaßnahmen mit deutlich höherem
                Ressourcenaufwand.
                                                                                             Eine Frage der Perspektive I: Bluthochdruck
                                                                                             Die Beurteilung einer Maßnahme als Primär-, Se-
                „Wer hat, dem wird gegeben“
                                                                                             kundär- oder Tertiärprävention ist nicht immer
                Allerdings unterliegt Prävention häufig auch soge-                           zweifelsfrei möglich und die Zuordnung sorgt re-
                nannten Matthäus-Effekten (angelehnt an „Wer                                 gelmäßig für Diskussionen, denn sie ist stets ab-
                hat, dem wird gegeben“ Mt 25,29). Im Allgemei-                               hängig von der (willkürlich) gewählten Perspek-
                nen bezeichnet man eine Wirkung dann als Mat-                                tive auf die gegebene Maßnahme. Besondere
                thäus-Effekt, wenn eine bereits privilegierte Per-                           Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung sekun-
                sonengruppe durch eine Intervention noch mehr                                därer Präventionsmaßnahmen von Maßnahmen
                begünstigt wird, während die weniger Privilegier-                            sowohl der primären Prävention als auch der terti-
                ten von der Intervention auch weniger profitieren.                           ären Prävention15. Das Problem beginnt allerdings
                Zum einen liegt ein Matthäus-Effekt vor, wenn die                            bereits früher, nämlich in der Unterscheidung von
                Konzentration auf Kuration und Therapie vor al-                              Risikofaktoren und Krankheiten: So muss für jede
                lem denjenigen mit leichtem Zugang zum Versor-                               Fragestellung gesondert definiert werden, ob
                gungssystem hilft. Dies liegt darin begründet, dass                          Bluthochdruck (bei ansonsten gesunden Per­
                es strukturell eher re-aktiv aufgebaut ist und we-                           sonen) als Risikofaktor anzusehen ist (z. B. für
                niger pro-aktiv: Das Versorgungssystem geht eher                             koronare Herzkrankheit) oder bereits eine eigene
                auf den Adressaten ein (Komm-Struktur des Ge-                                Erkrankung darstellt. Erst danach können Maß-

12                                                                                                                Parodontologie 2020;31(1):7–17
Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch       Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

nahmen zur Eindämmung des Bluthochdrucks als           kulotika, Behandlung von resistenzmindernden
primäre oder sekundäre Prävention klassifiziert        Begleiterkrankungen sowie Alkohol- und Nikotin-
werden. Interessiert man sich für die koronare         abstinenz zu den tertiärpräventiven Maßnahmen16.
Herzkrankheit und geht davon aus, dass Blut-
hochdruck bei ansonsten gesunden Personen le-
diglich einen Risikofaktor für diese Zielerkrankung
darstellt, wären entsprechende Präventionsmaß-         Der Präventionsbegriff in der
nahmen primärer oder sogar primordialer Natur.         Parodontologie
Gelangt man hingegen zu der Einschätzung, dass
Bluthochdruck im Rahmen einer anderen Frage-           Mit der parodontalen Gesundheitskompetenz
stellung bereits eine eigene Erkrankung darstellt,
                                                       in Deutschland ist es nicht weit her
und man beabsichtigt, mit Hilfe der Präventions-       Laut einer aktuellen Umfrage in Deutschland ist
maßnahme eine Verschlimmerung der Erkrankung           etwa 1 % der Bevölkerung in der Lage, die Krank-
zu vermeiden, wären dieselben Maßnahmen eher           heit Parodontitis richtig zu definieren17: Auf offen
der sekundären Prävention zuzuordnen.                  gestellte Fragen nach den Folgen von Parodontitis
                                                       nannten 0,4 % persistierende Schäden am Kiefer-
                                                       knochen und 3 % Zahnverlust. Bezüglich der Risi-
Eine Frage der Perspektive II: Rauchen
                                                       kofaktoren für Parodontitis nannte nur knapp ein
Ein Beispiel großen weltweiten Erfolgs von Prä-        Viertel der Befragten von sich aus Faktoren, die
vention ist das Rauchverbot in öffentlich zugäng-      mit der Mundhygiene zusammenhängen. Zwei
lichen Gebäuden. Handelt es sich dabei um Ver-         Drittel der Befragten waren fälschlicherweise der
hältnis- oder Verhaltensprävention? Es ist erneut      Meinung, dass das Bürsten von Kauflächen für die
eine Frage der Perspektive, ausgehend von den          Prävention von Parodontitis am wichtigsten sei.
Nutznießern der Maßnahme: Aus der Sicht aller          Mit der parodontalen Gesundheitskompetenz in
Anwesenden im Gebäude handelt es sich um eine          Deutschland ist es also nicht weit her und eine
universale Verhältnisprävention; universal, weil sie   bessere Aufklärung über Parodontitis auf Bevölke-
sich an alle Personen im Gebäude mit dem Ziel der      rungsebene wäre angesichts der hohen Prävalenz
allgemeinen Gesundheitsfürsorge richtet; Ver­          wünschenswert. Auch hierbei ist a priori die Frage
hältnisprävention, da Umgebungsverhältnisse ge-        zu beantworten, ob eine solche Präventionskam-
schaffen werden, von denen jeder Gebäudenutzer         pagne universal oder zielgruppenspezifisch ausge-
grundsätzlich ohne eigenes Zutun profitiert. Aus       richtet sein sollte.
der Perspektive eines rauchenden Büroangestellten          Eine universale Strategie würde sich an die all-
dieses Gebäudes ließe sich auch eine Einordnung        gemeine Bevölkerung richten. Sie wäre zwar für
als selektive Verhaltensprävention rechtfertigen:      viele Adressaten nicht angemessen, weil sie sich
Verhaltensprävention, sofern das Rauchverbot           als Unbetroffene nicht angesprochen fühlten; ge-
beim rauchenden Büroangestellten eine Ver-             samtgesellschaftlich dürfte sie jedoch den größten
haltensänderung bewirkt, nämlich zum Rauchen           Nutzen bringen, weil bei einer universal ausge-
das Gebäude verlassen zu müssen; selektiv, weil        richteten Präventionsstrategie gegen Parodontitis
das Rauchverbot nur rauchende Personen trifft.         mit einer hohen Effektivität der Maßnahme ge-
Nikotinabstinenz lässt sich zudem als tertiäre Prä-    rechnet werden kann. Effektivität geht der Frage
ventionsmaßnahme konstruieren – beispielsweise         nach, ob die Maßnahme geeignet ist, das defi-
aus der Perspektive der Tuberkuloseprävention:         nierte Ziel zu erreichen (Hilfsfrage: Bringt uns die
Im europäischen Lebensraum zählen vernünftige          Maßnahme dem Ziel näher?).
Wohnverhältnisse, Ernährung und Hygiene zur                Wenn die Präventionskampagne hingegen ef-
Primärprävention, Röntgen-Reihenuntersuchungen,        fizient in ihrer Wirkung sein soll, erscheint eine
Tuberkulintests und Untersuchungen im Umfeld           zielgruppenspezifische Ausrichtung vielverspre-
von Patienten zur Sekundärprävention, Antituber-       chender (Hilfsfrage: Gehen wir den Weg des ge-

Parodontologie 2020;31(1):7–17                                                                                     13
Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch    Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

                ringsten Aufwandes, um unser Ziel zu erreichen?).              Hierbei werden die wichtigsten Risikofaktoren
                Zur Effizienzsteigerung würde man sich nicht an            in Angriff genommen, die einer Vielzahl bedeu-
                die allgemeine Bevölkerung wenden, sondern an              tender chronischer Krankheiten gemein sind, ein-
                Personen, die bereits Vorstufen der Erkrankung             schließlich Krankheiten des Mundes und der
                zeigen wie zum Beispiel Zahnfleischbluten. Eine            Zähne. Der CRFA konzentriert sich auf die ge-
                solchermaßen ausgestaltete Präventionskampa-               meinsamen zugrunde liegenden Determinanten
                gne wäre individuell für all diejenigen tatsächlich        für Gesundheit, mit dem Ziel, die allgemeine Ge-
                Betroffenen angemessen, die mit dieser Erkran-             sundheit von Bevölkerungen zu verbessern und
                kung noch nicht adäquat umgehen.                           auf diese Weise soziale Ungleichheiten zu reduzie-
                    Eine universale Strategie ist prädestiniert, primär-   ren. Die Hauptimplikation des CRFA hinsichtlich
                präventiv wirksam zu sein (Inzidenzsenkung), wo-           der Formulierung von Strategien zur Förderung
                hingegen eine zielgruppenspezifische respektive            der Mundgesundheit besteht daher in der Zusam-
                indizierte Strategie besonders sekundär-präventiv          menarbeit mit einer Reihe anderer Sektoren und
                wirkt mit dem Ziel der Früherkennung und Früh-             Disziplinen. Belange der Mundgesundheit sollten
                behandlung (Prävalenzsenkung). Beide Ziele, die            in die Empfehlungen zur Verbesserung der Allge-
                Prävalenz und die Inzidenz, mit einer Maßnahme             meingesundheit integriert werden. Verbesserungen
                zu senken, ist in der Regel nicht erfolgverspre-           in der Mundgesundheit und eine Reduzierung der
                chend; dieses Dilemma bezeichnet man auch als              Ungleichheiten in der Mundgesundheit werden
                Präventionsparadox18.                                      wahrscheinlicher durch eine sektoren- und disziplin­
                    Das Ziel der Stärkung von Gesundheitskompe-            übergreifende Zusammenarbeit erreicht sowie
                tenz (health literacy) und der Eigenverantwortung          über Strategien, die sich auf die vorgelagerten,
                führt auch zu einer Verringerung des medizini-             zugrundeliegenden Determinanten von Mund­
                schen Paternalismus, was vor allem bei chronisch-          erkrankungen konzentrieren19.
                degenerativen Erkrankungen erstrebenswert ist,
                wo Patienten zu Experten ihrer eigenen Erkran-
                                                                           Der parodontale Präventionsweg
                kung werden sollen. Allerdings kann die damit
                verbundene Verlagerung der Verantwortung auf               Die European Federation of Periodontology (EFP)
                das Individuum auch zu einer Überforderung füh-            hat in einem Präventions-Workshop 2014 einen
                ren an einer Stelle, wo eigentlich die Politik, die        „Leitfaden für die effektive Prävention von Par-
                Gesundheitsakteure oder die Betriebe in der Ver-           odontalerkrankungen erarbeitet. Zu diesen allge-
                antwortung stehen. Dies birgt die Gefahr einer             meinen Empfehlungen gehören (nach eigenen
                Täter-Opfer-Umkehrung in sich.                             Angaben) als primärpräventive Maßnahme das
                    Gerade parodontale Erkrankungen sind ein ex-           Management von Gingivitis (und periimplantärer
                zellentes Beispiel, gemeinsame Risikofaktoren in           Mukositis) und als sekundärpräventive Maß-
                der Präventionsarbeit zusammen mit anderen me-             nahme die Rückfallprophylaxe nach Parodontitis-
                dizinischen Disziplinen zu adressieren und so              therapie20. Demnach ist die unterstützende Par-
                durch Fokussierung auf gemeinsame Risikofakto-             odontitistherapie (UPT) als Sekundärprävention
                ren gleich mehrere Präventionsziele zu verfolgen.          zu verstehen. Nach unserer Auffassung ist die un-
                Vorherrschende Ansätze zur Förderung von Ge-               terstützende Parodontitistherapie allerdings eine
                sundheit waren bis vor Kurzem auf einzelne und             Maßnahme der tertiären Prävention, weil sekun-
                spezifische Krankheiten gerichtet und haben die            däre Prävention zu einem Zeitpunkt ansetzt, wo
                Mundgesundheit von der Allgemeingesundheit                 der Betroffene seine eigene Gesundheitsstörung
                getrennt.                                                  noch gar nicht wahrnimmt, aber die Erkrankung
                    Ein alternativer Ansatz, der der Upstream-             bereits diagnostizierbar ist. Im Sinne der Früher-
                Prävention zuzuordnen ist, ist der gemeinsame              kennung betrachten wir also beispielsweise die
                Risiko­faktorenansatz, der Common Risk Factor              Erhebung des parodontalen Screening-Index (PSI;
                Approach (CRFA).                                           Abb. 6) als sekundärpräventive Maßnahme. Wie

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Der Präventionsbegriff in der Parodontologie - IDZ
Jordan / Frenzel Baudisch             Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

Abb. 6 Erhebung des parodontalen Screening-Index (PSI) als   Abb. 7 Häusliche interdentale Plaquekontrolle als Beispiel für
Beispiel für sekundäre parodontale Prävention.               primäre parodontale Prävention.

kommt es aber dazu, dass Tonetti et al.20 die un-
terstützende Parodontitistherapie als Sekundär­                 Primäre parodontale Prävention
prävention ansehen? Wie bereits erwähnt, ist es                 •• häusliche Plaquekontrolle, auch interdental
erforderlich, explizit eine bestimmte Perspektive                  (Abb. 7)
einzunehmen, um die Klassifikation von Präven-                  •• professionelle mechanische Plaqueentfer­
tion sinnvoll mit Bedeutung füllen und eine Maß-                   nung (PMPR/PZR)
nahme widerspruchsfrei einordnen zu können.                     •• Gingivitiskontrolle
Tonetti et al. scheinen eine Zielerkrankung in den
Blick zu nehmen, die der Parodontitis zeitlich und              Sekundäre parodontale Prävention
kausal nachgelagert sein muss. Es spricht viel da-              •• Screening, frühe Diagnose und Therapie
für, dass sie den Zahnverlust als ultimatives Ereig-
nis am Lebensende eines Zahns im Sinn hatten,                   Tertiäre parodontale Prävention
welches es zu vermeiden gilt. Unseres Erachtens                 •• unterstützende Parodontitistherapie (UPT)
ist dies insofern nicht zielführend, als wir Präven-
tion immer im Hinblick auf eine konkrete Erkran-                Quartäre parodontale Prävention
kung definieren würden, nicht hinsichtlich des                  •• Vermeidung unnötiger parodontalchirur-
letztmöglichen Ereignisses. Anderenfalls ergäben                   gischer Maßnahmen
manche übrigen Präventionsbegriffe keinen Sinn
mehr: Aus Patientensicht scheint zwar der Zahn-
verlust das relevanteste Ereignis im Zusammen-
hang mit der Parodontitis zu sein21; wählte man              Abschließend bedarf die Einordnung der unter-
jedoch dieses letztmögliche Geschehnis als Ziel­             stützenden Parodontitistherapie (UPT) als Maß-
erkrankung, dann wären alle vorgelagerten Prä-               nahme der tertiären parodontalen Prävention ei-
ventionsmaßnahmen zwangsläufig als Primär- oder              ner weiteren Erläuterung: Es ließe sich einwenden,
Sekundärprävention einzuordnen und parodon­titis­            dass nach einer aktiven Parodontitistherapie (AIT)
bezogene tertiärpräventive Maßnahmen würden erst             bei einem nun parodontal stabilen Patienten gin-
nach dem Zahnverlust einsetzen, was diesen Begriff           givale Gesundheit vorliegen kann; in einem sol-
unseres Erachtens ad absurdum führen würde.                  chen Fall erscheint es zunächst plausibel, dass eine
    Nach unserer Perspektive können die par­                 zeitlich nachgelagerte unterstützende Parodonti-
odontalpräventiven Maßnahmen der EFP folgen-                 tistherapie der Sekundärprävention zuzuordnen
dermaßen klassifiziert werden:                               wäre, da gemäß Abbildung 4 zwar eine zahnärzt-

Parodontologie 2020;31(1):7–17                                                                                                15
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Jordan / Frenzel Baudisch    Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

                liche Diagnose vorhanden wäre, aber keine Ge-                 5. DiClemente RJ, Raczynksi JM. The importance of health
                                                                                  promotion and disease prevention. In: Raczynski JM,
                sundheitsstörung aus Patientensicht. Eine unter-                  DiClemente RJ. Handbook of health promotion and
                stützende Parodontitistherapie ließe sich aber                    disease prevention. New York: Kluwer Academic, 1999:
                                                                                  3–9.
                ebenso gut als Tertiärprävention auffassen: Lägen             6. Scambler S. The Social Context of Oral Health and Disease.
                                                                                  In: Scambler S, Scott SE, Asimakopoulou K: Sociology &
                zusätzlich eine Zahnhalsüberempfindlichkeit oder                  Psychology for the Dental Team. Cambridge: Polity Press,
                ästhetische Verbesserungswünsche vor, wäre eine                   2016.
                                                                              7. Mrazek PJ, Haggerty RJ. New directions in definitions. In:
                Gesundheitsstörung aus Patientensicht gegeben                     Mrazek PJ, Haggerty RJ. Reducing risks for mental
                und die unterstützende Parodontitistherapie müsste                disorders: Frontiers for preventive intervention research.
                                                                                  Washington: National Academy Press, 1994.
                entsprechend der Tertiärprävention zugerechnet                8. Jamoulle M. Information et informatisation en médecine
                werden. Diese terminologischen Verwirrungen                       générale. In: Les informagiciens. Namur: Press Univ, 1986.
                                                                                  Verfügbar unter: http://hdl.handle.net/2268/170822
                entstehen durch die Tatsache, dass hier implizit die              (letzter Aufruf am 02.12.2019).
                Zielerkrankung gewechselt wird, und lässt sich                9. Leppin A. Konzepte und Strategien der Prävention. In:
                                                                                  Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J. Lehrbuch Prävention und
                folglich vermeiden, wenn konsequent die Par-                      Gesundheitsförderung. Bern: Hans Huber, 2014:36–44.
                                                                              10. Jordan AR, Micheelis W. Fünfte Deutsche Mundgesund­
                odontitis in den Blick genommen wird: Nach einer                  heitsstudie (DMS V). IDZ-Materialienreihe, Bd. 35. Köln:
                aktiven Parodontitistherapie dürfte sich der Patient              Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV, 2014.
                                                                              11. Fries JF. Aging, Natural Death, and the Compression of
                seiner Parodontitis bewusst sein, auch wenn er                    Morbidity. New Engl J Med 1980:303:130–135.
                keine Krankheitszeichen oder Symptome mehr                    12. Schwendicke F, Krois J, Kocher T, Hoffmann T, Micheelis W,
                                                                                  Jordan AR. More teeth in more elderly: Periodontal
                wahrnimmt. Analog dazu wird ein eingestellter                     treatment needs in Germany 1997-2030. J Clin Periodontol
                Diabetes-Patient ebenfalls nicht der Auffas­   sung               2018:45:1400–1407.
                                                                              13. Nettleton S. The Sociology of Health and Illnes. Cambridge:
                sein, dass er nicht mehr an Diabetes leidet. Eine                 Polity Press, 2013.
                nachgelagerte unterstützende Parodontitisthera-               14. Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J. Krankheitsprävention und
                                                                                  Gesundheitsförderung. In: Hurrelmann K, Klotz T, Haisch J.
                pie wäre dann widerspruchsfrei als Nachsorge und                  Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. Bern:
                                                                                  Hans Huber, 2014:13–24.
                somit als Tertiärprävention zu zählen. Entschei-              15. Froom P, BenbassatJ. Inconsistencies in the classification of
                dend für die Einstufung einer Präventionsmaß-                     preventive interventions. Prev Med 2000;31:153–158.
                                                                              16. Kryspin-Exner I, Pintzinger N. Theorien der Krankheits­
                nahme als tertiär ist, dass sie nach der Therapie                 prävention des Gesundheitsverhaltens. In: Hurrelmann K,
                einsetzt (Nachsorge).                                             Klotz T, Haisch J. Lehrbuch Prävention und Gesundheits-
                                                                                  förderung. Bern: Hans Huber, 2014:25–35.
                    „In jedem Fall bleibt der Versuch, einen kom-             17. Deinzer R, Jordan AR. Periodontitis: What People Do (not)
                plexen kontinuierlichen Prozess wie die Ätiologie                 Know – a Telephone Survey? J Dent Res 2019;98 Spec
                                                                                  Issue A:0359.
                (chronischer) Krankheiten in diskrete Kategorien              18. Rose G, Khaw K-T, Marmot M. Rose’s Strategy of
                zu zerlegen, letztlich eine Hilfskonstruktion, die                Preventive Medicine. Oxford: Oxford University Press,
                                                                                  2008.
                Ordnungszwecken dienen kann, aber bis zu ei-                  19. Heilmann A, Sheiham A, Watt R, Jordan RA. Common Risk
                                                                                  Factor Approach – Ein integrierter bevölkerungsbezogener
                nem gewissen Grad auch immer arbiträr ist“ 9.                     und evidenzbasierter Ansatz zum Ausgleich sozialer
                                                                                  Ungleichheiten in der Mundgesundheit. Gesundheitswesen
                                                                                  2016:78:672–677.
                                                                              20. Tonetti MS, Chapple IL, Jepsen S, Sanz M. Primary and
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Jordan / Frenzel Baudisch
      Der Präventionsbegriff in der Parodontologie

  The concept of prevention in
  periodontology

  KEY WORDS
  periodontology, prevention, primary prevention,
  secondary prevention

  ABSTRACT
  The aim of the article is to draw attention to
  problems in the use of the term prevention and to
  sharpen it for its use in periodontology. The article
  consists of three parts. The first part examines the
  fundamental concept of prevention and expounds
  its different implications. The second part deals
  with common problems that generally occur in the
  field of preventive measures. The last part is
  devoted to the application of the term prevention
  in periodontology, bearing in mind the discussed
  pitfalls, and identifies periodontal measures in the
  context of the prevention scheme.

                                    A. Rainer Jordan
                                    Prof. Dr. med. dent.

                                    Nicolas Frenzel Baudisch
                                    Dr. rer. pol., MA

                                    Beide:
                                    Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ)
                                    Universitätsstraße 73
                                    50931 Köln

  A. Rainer Jordan

  Korrespondenzadresse:
  Prof. Dr. A. Rainer Jordan, E-Mail: r.jordan@idz.institute

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